Isola Mortale - Giulia Conti - E-Book

Isola Mortale E-Book

Giulia Conti

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Beschreibung

 Nach einer stürmischen Dezembernacht wird am Ufer des Lago d'Orta die Leiche einer Frau angespült. Schnell ist klar, dass sie nicht bloß mit ihrem Ruderboot gekentert ist. Die Tote ist eine junge und ausgesprochen hübsche Nonne, die erst kürzlich auf die Isola San Giulio gekommen war, um nach ihrer verschwundenen Mutter zu suchen. Hat sie etwas herausgefunden, das sie das Leben kostete? Was verschweigen die Besitzer des nahe gelegenen Reishofs? Als am Grund des Sees zudem ein Autowrack mit zwei Leichen geborgen wird, ist es für Simon Strasser wieder nichts mit dem Dolce Vita. In einem Fall, in dem nichts so ist, wie es zunächst scheint, steht der ehemalige Polizei- und Gerichtsreporter der örtlichen Kommissarin erneut zur Seite.  

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Seitenzahl: 367

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Giulia Conti

Isola Mortale

Ein Piemont-Krimi

Roman

Atlantik

1

Die Nacht war tiefschwarz, der Lago d’Orta unter einem sternenlosen Himmel fast unsichtbar, die Luft von einem stetigen Rauschen erfüllt. Der See toste, es regnete in Strömen. Ein Gewittersturm fegte über das Wasser, türmte düstere Wellen mit weißen Schaumkämmen auf, die wuchtig auf das Dorf zurollten, klatschend an der Ufermauer brachen und Gischt hochschießen ließen. Alle paar Sekunden flackerte ein greller Lichtschein über dem See und den Hügeln rund um ihn herum auf, als hätte jemand ein Streichholz entzündet. Dann hörte man ein langgezogenes Grollen, bis sich die Spannung endlich in einem krachenden Donner entlud.

Wie ein Schiff lag Simons Haus in der Brandung, den Wogen und Böen schutzlos ausgesetzt. Es war ein altes Steinhaus, dreistöckig und mehr als zwei Jahrhunderte alt, und es stand mit den Füßen im Wasser, wie man in Frankreich sagte, ein Ausdruck, der Simon gefiel. Wieder ging ein Blitz über dem See nieder, und fast zeitgleich donnerte es, das Gewitter war jetzt ganz nah.

Simon sah auf die Uhr. Gleich neun. Er blickte hinaus auf die Uferpromenade und in den Regen, der im gelben Schein der Straßenlaternen aus dem Nachthimmel fiel, auf den See prasselte, von den Böen über das Wasser gepeitscht wurde. Es half nichts, er musste los. In einer Stunde würde Luisa mit dem Flugzeug aus Frankfurt in Malpensa landen, und trotz des Unwetters würde sie laut Website des Mailänder Flughafens pünktlich ankommen. Der war nicht weit entfernt, aber bei dem Sturm und dem heftigen Regen brauchte er für die Strecke bestimmt viel länger als sonst. Bevor er zu seiner Regenjacke griff, warf Simon noch einen Blick auf den ungestümen See, auf den gerade wieder ein Blitz niederging, dem sofort ein Donner folgte, dann verließ er sein Haus, zog die Kapuze über den Kopf und nahm den schmalen Fußweg nach oben zum Parkplatz, wo alle aus dem Dorf ihre Autos abstellten. Dicht aneinandergedrängte Steinhäuser zogen sich seitlich den Hang hoch, akkurat gemauerte, schöne alte Gebäude, die jetzt im Regendunst und im fahlen Schein der Laternen düster und unwirtlich aussahen. Die Gassen waren still und ausgestorben, nur aus wenigen Fenstern fiel Licht.

Simons Nachbarn – gerade mal sechzig Menschen waren es, die immer hier lebten – saßen um diese Zeit noch beim Abendessen mit Pasta und Wein oder schon vor dem Fernseher und würden bei dem Wetter keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Es war kurz vor Weihnachten und Ronco ein halb verlassenes Dorf. Viele Häuser, vor allem die an der Uferpromenade, standen leer, da ihre Besitzer, fast alles Ausländer, Deutsche, Schweizer und Franzosen, nur in den Ferien und dann am liebsten im Hochsommer an den See kamen.

Dabei war der Winter, fand Simon, hier oft die schönste Jahreszeit. Es konnte richtig kalt werden, manchmal fiel Schnee in dicken Flocken, bedeckte Dächer, Holzstege und die Palmen am Seeufer mit der weißen Last, bis eine grelle Sonne zurückkehrte, den Schnee abschmolz, den See versilberte und die Landschaft in ein wunderbares Winterlicht tauchte. Jetzt war es Mitte Dezember und ungewöhnlich warm. Bis vor zwei Tagen der Regen einsetzte, hatte Simon seinen Cappuccino noch an jedem Morgen auf seiner Terrasse getrunken, dazu eine Brioche mit crema gegessen, auf seinen See geschaut und das Licht und die laue Luft genossen.

 

Luisa landete pünktlich, aber es dauerte eine Weile, bis sich die Automatiktüren am Gate für die internationalen Flüge für Luisa öffneten und sie mit ihrem vollbeladenen Gepäckwagen erschien. Schon aus der Entfernung entdeckte sie Simon in der wartenden Menge, strahlte über das ganze Gesicht und winkte ihm stürmisch zu. Seit gut einem Jahrzehnt waren sie ein Paar, hatten sich in Frankfurt kennengelernt, aber seit Simon vor ein paar Jahren seinen Job als Gerichts- und Polizeireporter bei den Frankfurter Nachrichten aufgegeben und der Stadt den Rücken gekehrt hatte, lebten sie fast siebenhundert Kilometer entfernt voneinander, sahen sich nur von Zeit zu Zeit und dann meist nur für wenige Tage. Luisa hatte ihn allein nach Italien ziehen lassen, auch wenn das ihr Heimatland war. Sie war Architektin, wollte ihren guten Job in Frankfurt nicht aufgeben, außerdem mochte sie die Stadt am Main. Und Simon war das, wenn er ehrlich war, nicht ganz unrecht. Luisa fehlte ihm, das schon, aber er war ein Einzelgänger, hielt sich die Dinge in seinem Leben gerne offen und das bereits zu lange, um Luisa ganz in sein Leben zu lassen, auch wenn der Wunsch danach immer mal wieder in ihm hochkam.

Ihre letzte Begegnung lag fast zwei Monate zurück, und wenn sie sich so lange nicht gesehen hatten, erwartete Simon stets leicht angespannt diesen ersten Augenblick, in dem er sie am Flughafen unter den Ankommenden entdeckte und sie ihm in dieser Sekunde wie fremd erschien. Er malte sich aus, spielerisch, doch nicht ganz ohne Ernst, dass er sie auf einmal nicht mehr anziehend finden könnte. Aber wie immer war die strahlende Frau, die aus dem Gate kam und ihm zuwinkte, die Luisa, in die er sich vor langer Zeit verliebt hatte. Sie hatte sich verändert mit den Jahren, war, wie auch er, etwas fülliger geworden. Aber Simon fand, dass sie das eher noch attraktiver machte. Sie war groß, das volle braune Haar, das meist ein wenig zerzaust war, hatte sie mit einem giftgrünen Tuch gebändigt, ihre Augen darunter waren dunkelgrau, fast schwarz, und sie bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, von der Simon nur träumen konnte. Diesmal würde sie ungewöhnlich lange bei ihm bleiben, bis weit in den Januar hinein, und entsprechend ausladend war ihr Gepäck.

»Mamma mia, che tempo brutto!« Luisa fiel ihm um den Hals. »Ich habe schon gedacht, wir können gar nicht landen. Einmal musste der Pilot durchstarten, es war grässlich.«

»Runter kommen sie immer, das weißt du doch.«

Sie boxte ihm in die Seite. »Du warst auch schon mal origineller! Zur Strafe musst du jetzt meine Koffer ganz allein schieben.«

 

Simon holte den Peugeot vom Parkplatz, sie luden das Gepäck im strömenden Regen in den Kofferraum und fuhren endlich los. Im Auto lehnte Luisa sich tief in den Sitz zurück, schloss die Augen, legte ihre linke Hand in Simons Nacken und ließ sie dort, während sie auf den See zufuhren. Luisa hatte eigentlich immer etwas zu erzählen, aber jetzt war sie still und in sich gekehrt, ihr italienisches Temperament gedämpft. Die Angst vor dem Fliegen hatte sie erschöpft und vermutlich auch die Martinis, mit denen sie an Bord stets dagegen antrank – auch wenn die Flugbedingungen freundlicher waren. Simon konzentrierte sich auf das Autofahren, genoss die Ruhe. Ihm gefiel es, wenn sie sich so wiederfanden, ohne viel zu reden, in stillem Einverständnis.

 

Auch auf der Autobahn stürmte und regnete es heftig, und Simon war froh, dass sein Peugeot wie ein Brett auf der Straße lag; nicht auszudenken, wenn der alte Wagen bei dem nächtlichen Unwetter eine Panne hätte und sie in der Dunkelheit auf der vielbefahrenen Autostrada liegenbleiben würden. Sein Bruder hatte ihm das Auto vor vielen Jahren vermacht, und noch nie hatte es ihn im Stich gelassen. Simon hing an dem Wagen, der eines der wenigen Dinge in seinem Leben war, die ihn noch mit Frankfurt verbanden. Außer Luisa natürlich.

Wind und Regenschauer legten weiter zu, je näher sie dem See kamen, und Simon fuhr so langsam, dass sogar Lastwagen ihn überholten und ihm mit ihren Wasserfahnen die Sicht nahmen. Es war schon fast Mitternacht, als sie endlich in Ronco ankamen, erschöpft und durchnässt von den wenigen Schritten, die sie im noch immer strömenden Regen vom Parkplatz den Weg hinunter bis zu seinem Haus machten. Luisa verzichtete zu Simons Erleichterung für diese Nacht auf ihr Gepäck, hatte nur eine Tasche mit dem Nötigsten in die Hand genommen.

 

Seit gut fünf Jahren lebte Simon nun am See, so lange war es her, dass er seinen Job in Frankfurt aufgegeben, das Haus in Ronco gekauft und sich seinen alten Traum vom Leben am Wasser in Italien erfüllt hatte. Um den Preis des Alleinlebens – wenn es denn für ihn ein Preis war. Bis vor ein paar Monaten hatte noch Nicola, seine Ziehtochter, mit ihm unter einem Dach gelebt. Als sie klein war, war er für sie ein Ersatzvater gewesen, so lange, bis er sich von ihrer Mutter trennte und sie daraufhin den Kontakt zu ihm unterband. Dann war Nico plötzlich wieder bei ihm in Italien aufgetaucht, neunzehn Jahre alt, eine selbstbewusste und extrovertierte junge Frau, die sich schnell in Italien einlebte und, wie Simon fand, mittlerweile fast italienischer war als er. Ein knappes Jahr hatten sie zusammen in Ronco gelebt, und sie war die erste Person, mit der ihm das nicht nach einiger Zeit zu eng wurde, Luisa und seine wenigen ernsthaften früheren Lieben eingeschlossen. Jetzt war Nico in Turin zu Hause, wo sie Tiermedizin studierte. Das war gut so, auch wenn sie Simon fehlte.

 

Bevor er die Tür aufschloss, warf Simon noch einen Blick auf den schmalen, steinigen Strand neben seinem Haus, wo sein Motorboot lag, ein flaches Metallboot mit Außenborder, wie es auch die Angler auf dem See benutzten. Die Wellen erreichten schon knapp das Heck, aber das Boot war gut vertäut und die Knoten hielten, wie Simon beruhigt feststellte.

Luisa war bereits ins Haus gegangen, warf ihren Regenmantel ab, streifte ihr feuchtes grünes Tuch ab und schüttelte ihre Haare wie ein Hund. Der Kamin im Wohnraum brannte nicht mehr, und obwohl es draußen für Mitte Dezember eher warm war und Simons Haus mit seinen dicken Steinmauern eigentlich lange die Wärme hielt, war es ausgekühlt. Aber sie waren beide zu müde, um noch Feuer zu machen. Sie tranken noch ein Glas Rotwein, fielen dann ins Bett und schliefen sofort ein, trotz des Lärms von Wind und Wellen und obwohl sie beide sich ihre erste gemeinsame Nacht nach wochenlanger Trennung anders ausgemalt hatten.

 

Ein knirschendes Geräusch schreckte Simon aus dem Schlaf. Der Wecker zeigte fast halb drei. Schlaftrunken setzte er sich im Bett auf und blickte aus dem Fenster auf den See. Der Sturm hatte nicht nachgelassen, und die Wellen schlugen mit unverminderter Wucht von Norden her gegen sein Haus, aber das Gewitter und der Regen hatten sich verzogen. Die Nacht war jetzt sternenklar, und der Mond warf einen langen, hell schimmernden Streifen auf das tiefschwarze Wasser. Wieder knirschte es.

Simon erkannte sofort, was los war. Die Leinen, die sein Boot am Ufer hielten, mussten sich doch gelockert haben, und es rutschte und schabte nun auf den Kieseln hin und her. Es waren nicht die klatschenden Wellen, die ihn geweckt hatten, sondern dieses Geräusch, für das er inzwischen ein gutes Ohr hatte. Wohl oder übel musste er noch einmal in die Nacht hinaus und nach dem Boot sehen.

Luisa schlief fest, das Gesicht in ihr Kopfkissen geschmiegt, atmete leise. Simon beneidete sie um ihren tiefen Schlaf, aus dem sie durch nichts aufzuschrecken war. Diese Zeiten waren bei ihm vorbei. Sogar wenn er erst sehr spät ins Bett ging, wachte er schon am frühen Morgen wieder auf. Das war einer der Tribute, die er seinem fortgeschrittenen Alter zollen musste. Er war jetzt Mitte fünfzig, fast zwei Jahrzehnte älter als Luisa, und auch wenn er noch gut in Form war und sich wie die meisten seiner Altersgenossen viel jünger fühlte, hatte er Angst vor dem Älterwerden und registrierte peinlich genau jedes Anzeichen dafür. Hin und wieder raste sein Herz und versetzte ihn in Todesangst, doch diese Attacken waren seltener geworden, seit er in Ronco lebte.

Er machte kein Licht im Schlafzimmer und zog sich vorsichtig aus der Bettdecke, um Luisa nicht zu wecken, dann tastete er sich die Treppe hinunter, drückte den Lichtschalter, aber die Deckenlampe unten im Wohnraum blieb dunkel. Der Strom war ausgefallen. Auch die Straßenlaternen an der kleinen Uferpromenade von Ronco waren erloschen; das ganze Dorf lag im Dunkeln, wie so oft, wenn Unwetter von den Alpen her über den See zogen. Meistens dauerte es allerdings nicht lange, bis mit einem Schlag der Strom von selbst wieder zurückkam.

Simon streifte eine Jacke über, schlüpfte in seine Gummistiefel, nahm eine Taschenlampe und lief die paar Meter zum Strand, wo das Boot tatsächlich ein Stück nach unten gerutscht war, mit dem Heck jetzt im Wasser lag und die Wellen über den Außenborder schwappten. Wie er vermutet hatte, war das kürzere der beiden am Bug befestigten Taue gerissen. Er beugte sich hinunter, wollte sich das genauer ansehen, als es hinter ihm einen Schlag tat. In seinem Rücken hatte sich etwas bewegt. Was war das? Er wandte sich abrupt um. War da jemand? Lauerte ihm im Dunkeln jemand auf? Mit der Taschenlampe leuchtete er den Strand ab, und jetzt sah er, was ihn erschreckt hatte. Auf einem der anderen Boote saß ein großer, grauer Kater und starrte ihn aus sehr hellen Augen an. Eine von den halbwilden Dorfkatzen, die sich mit einem Sprung vor ihm in Sicherheit gebracht hatte. Er rief dem Kater etwas zu, der machte einen Buckel und verschwand mit einem weiteren Satz über die hohe Mauer auf das Nachbargrundstück.

Ein wenig irritiert über seine ihm ungewohnte Schreckhaftigkeit – machte ihn Luisas Anwesenheit empfindsamer? –, widmete sich Simon wieder seinem Boot, zog es ein Stück höher, befestigte es mit einer weiteren Leine am Stamm der Palme, deren Blätter jetzt fast gestreckt im Sturm standen, der nur noch aus einer einzigen, andauernden Bö zu bestehen schien.

2

Um Viertel nach sieben klingelte Simons Handy und holte ihn erneut aus dem Tiefschlaf. Diesmal wurde auch Luisa von dem Geräusch wach, richtete sich im Bett auf, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich ihm verschlafen zu. »Porca miseria! Wer ruft denn so früh bei dir an? Geh da nicht ran, Simon. Das ist bestimmt irgendein Verrückter. Lass uns weiterschlafen, amore.«

Simon ignorierte den Einwand, er war zu neugierig. Wer konnte das um diese Zeit sein? Es war noch dunkel, und er streckte suchend seine Hand zu seinem Handy auf dem Nachttisch aus, nahm mit müder Stimme den Anruf entgegen. Carla. Maresciallo Carla Moretti. Sofort war Simon hellwach.

»Buongiorno, Simone«, sagte sie, und ihre Stimme klang noch tiefer und rauer als sonst, »entschuldigen Sie die frühe Störung, ich habe Sie wohl geweckt, das tut mir leid. Ich bin am Strand von Lagna, und es scheint, ich könnte mal wieder Ihre Unterstützung gebrauchen.«

Simon verschlug es einen Moment die Sprache. Das war wirklich eine frühmorgendliche Überraschung. Er kannte Carla Moretti seit zwei Jahren, und schon zweimal war er ihr mehr zufällig bei der Aufklärung von Mordfällen nützlich gewesen. Allerdings hatte er sich dabei im Übereifer nicht nur mit Ruhm bekleckert. Umso schneller wich seine Überraschung nun der Freude darüber, dass sie sich wieder bei ihm meldete und ihn um Hilfe bat. »Kein Problem«, sagte er. »Was ist denn los?«

»Hier ist die Leiche einer Frau angespült worden. Wahrscheinlich war sie bei dem Sturm heute Nacht auf dem See unterwegs und ist gekentert. Ihr Boot trieb noch auf dem Wasser. Ein Ruderboot mit einem kleinen Außenborder. Es sieht jedenfalls so aus, als ob es ihres ist.«

»Und was genau ist passiert?«

»Ich weiß es noch nicht, und auch nicht, wer sie ist. Sie hat eine Kopfverletzung und es könnte eine Deutsche sein. Sie trägt ein Amulett mit einer deutschen Gravur, vielleicht können Sie das entziffern und uns dabei helfen, sie zu identifizieren?«

»Ja, natürlich, ich komme. In einer knappen Dreiviertelstunde bin ich bei Ihnen.«

Luisa hatte mitgehört oder zumindest aufgeschnappt, worum es ging, und sie kannte Simon gut genug, um gar nicht erst zu versuchen, ihn von diesem Aufbruch abzuhalten. Sie blieb stumm, vergrub sich wieder in den Kissen, als er im Dunkel des Schlafzimmers in seinen Bademantel schlüpfte. Er strich ihr noch einmal sanft über das Haar und verschwand nach unten in das Badezimmer.

Beim Zähneputzen fiel sein Blick durch das Fenster auf die Palme am Strand, die langsam aus der Morgendämmerung auftauchte, mit ihren langen, schmalen Blättern, die nun reglos am Stamm hingen. Der Sturm hatte sich verzogen, es war vollkommen windstill. Er könnte also das Boot nehmen und wäre damit schneller am Fundort der Leiche, in Lagna im Süden des Sees, als mit dem Auto, überlegte Simon.

Er griff zu einer Bürste, fuhr sich damit durch die Haare und schaute in den Spiegel. Müde sah er aus. Die Strapazen der Nacht, und, wenn er ehrlich mit sich war, des ganzen Lebens, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Zwar war sein rotblondes Haar noch voll und fast nicht ergraut, aber er bekam immer mehr Sommersprossen und rund um die Augen kleine Falten, darunter lagen Schatten, die ihm an diesem Morgen besonders dunkel vorkamen. Vom Aussehen her schlug er nicht nach seiner italienischen Mutter, sondern nach seinem deutschen Vater, der ein attraktiver Mann gewesen war, jedoch mit zunehmendem Alter immer fülliger wurde, weshalb Simon seinen eigenen Leibesumfang stets wachsam im Blick behielt.

 

Mit sieben dunklen Schlägen und einem hellen holten die Kirchenglocken von Ronco Simon aus seinen Gedanken zurück. Halb acht. Es wurde Zeit, dass er sich auf den Weg machte. Noch einmal sah er in den Spiegel. Den Dreitagebart, der tatsächlich schon ein Fünftagebart war, ließ er stehen, nahm noch eine schnelle heiße Dusche. So könnte er Carla begegnen. Aber auch für einen Cappuccino musste noch Zeit sein. Der Strom war zurück im Dorf, und Simon warf die Espressomaschine an, überlegte, ob er nicht Luisa auch eine Tasse ans Bett bringen sollte, um sie zu versöhnen, ließ es aber doch sein. Bestimmt war sie schon wieder in ihren Tiefschlaf gefallen.

Mit dem Cappuccino in der Hand und einer Brioche trat er hinaus auf die Terrasse. Die Sonne war jetzt aufgegangen, stand knapp über den bewaldeten Hügeln und verstreuten Dörfern auf der anderen Seite, warf einen hellen Lichtschein auf den See und einen rosa Schimmer auf Ronco. Es war etwas kälter geworden, der Himmel blassblau und wolkenlos, und über der Insel in der Mitte des Sees hingen hinreißend schön ein paar Dunstschleier.

In diesem Jahr hatte es im November viel geregnet, und der See war prallvoll wie ein bis an den Rand gefüllter Pool. Hinter der Insel, fast schon an der Südspitze, lag Lagna, der Fundort der Leiche, und Simon hatte die Bilder vor Augen, wie Carla und ihre Leute dort jetzt das Gelände sicherten und erste Indizien und Hinweise sammelten. Er kannte diese Abläufe nur zu gut, zu oft hatte er sie in seiner Frankfurter Zeit als Polizeireporter und dann in Italien an der Seite von Carla erlebt. Und doch war er gespannt, was nun auf ihn zukam. Jetzt bewährte sich immerhin, dachte Simon, dass er seit einem halben Jahr offiziell als Übersetzer zugelassen war. Carla hatte ihm das nach ihrer letzten gemeinsamen Ermittlung vorgeschlagen, überzeugt davon, dass er ihr womöglich immer mal wieder mit seiner Zweisprachigkeit würde nützlich sein können. Er hatte eigentlich keine Lust gehabt, sich in seinem Alter wieder auf eine Schulbank zu setzen. Aber schließlich hatte er sich durchgerungen, weniger aus Überzeugung, sondern weil der Vorschlag von Carla kam. Sogar eine Prüfung bei der Handelskammer hatte er abgelegt. Und schließlich war der ganze Aufwand also nicht umsonst gewesen.

 

Langsam wurde es wirklich Zeit für ihn. Er trank noch einen Schluck von seinem Cappuccino, warf einen letzten Blick auf den See. Von dem Unwetter der Nacht war nichts mehr zu spüren; vollkommen still und spiegelglatt wie eine frisch präparierte Eisfläche lag er vor ihm, nur hier und da trieben ein paar Zweige und Äste auf dem Wasser, die der Sturm hineingeschwemmt hatte. Er würde also doch besser mit dem Auto fahren, denn mit dem schnellen Boot womöglich auf eines dieser schwimmenden Hindernisse zu treffen, die man manchmal erst im letzten Moment sah, war ihm ein zu großes Risiko.

Fünf Minuten später war er mit seinem Peugeot auf der Uferstraße unterwegs. Für seine Verhältnisse fuhr er zügig und war schnell in Pella, einem außer seiner sehr schönen Hafenpromenade eigentlich eher schmucklosen Ort, dem man vor ein paar Tagen das Weihnachtskleid angelegt hatte. Mit Sternen bestückte Girlanden bogen sich über der Straße, die durch die Ortsmitte und dann am See entlang weiter in den Süden führte, an den Häusern erklommen hier und da rot-weiß bemützte Weihnachtsmänner die Fassaden, saßen breitbeinig auf den Balkonen oder schoben einen Schlitten durch den Garten. Das ganze Spektakel würde sich erst bei Dunkelheit richtig entfalten, wenn die Lichteffekte zum Einsatz kamen, es überall vielfarbig blinkte und glitzerte. Allerdings war der Elan zum weihnachtlichen Schmücken in den letzten Jahren etwas erlahmt, die Dekoration bescheidener geworden. Die Dauerkrise, in der sich Italien seit einiger Zeit befand, ließ auch die italienische Weihnacht nicht unberührt.

 

Auf dem Parkplatz in Lagna standen ein paar Polizeifahrzeuge, und Simon erkannte Carlas Fiat. Er stellte sein Auto neben ihrem Wagen ab und nahm den asphaltierten Fußweg, der von dort hinunter zu dem großen Strand führte, den vor allem Einheimische gerne im Sommer besuchten. Bevor er den See erreichte, war der Weg mit Flatterband abgesperrt, und ein Carabiniere verwehrte ihm den Zutritt. »Sie können hier nicht durch«, sagte er in barschem Ton: »Sie sehen ja, dass hier abgesperrt ist.«

»Maresciallo Moretti erwartet mich«, erwiderte Simon betont höflich.

»Das kann ja jeder behaupten. Wer sind Sie denn? Können Sie sich ausweisen?«

»Rufen Sie doch einfach Maresciallo Moretti an, sie wird nicht erfreut sein, wenn Sie mich noch länger aufhalten.« Simons Ton war jetzt auch eine Spur weniger höflich, aber er zog doch gütlich seinen deutschen Personalausweis. Der durfte dienlicher sein als sein Presseausweis, den vorzuzeigen ihm den Zugang zum Strand wahrscheinlich erst recht verschlossen hätte.

»Strasser ist Ihr Name? Sie sind also kein Italiener, sondern Deutscher?«

»Ja, richtig.« Simon ließ es sich nicht anmerken, aber insgeheim freute er sich jedes Mal, wenn jemand ihn für einen Italiener hielt, auch wenn das in diesem Fall ein nicht besonders helle wirkender Carabiniere war. Zwar war Simons Mutter Italienerin, aber sie hatte mit ihren Söhnen Deutsch gesprochen und er hatte fast sein ganzes Leben in Frankfurt verbracht, seine zweite Muttersprache erst spät entdeckt, sprach sie noch immer nicht perfekt. Wenn der Polizist seinen deutschen Akzent nicht heraushörte, machte er jedoch offenbar Fortschritte. Dass er die Pässe beider Länder besaß, ging den Carabiniere, fand Simon, nichts an.

»Ho capito. Ich schicke den Signore zu Ihnen.« Der Polizist hatte nun doch zu seinem Diensthandy gegriffen und Carla angerufen. Dabei veränderte sich sein Ton, klang sehr respektvoll, um sich dann schließlich auf ein paar kurze sì, sì Maresciallo zu beschränken, und als das Gespräch mit Carla beendet war und er das Flatterband hob, schenkte er Simon sogar ein Lächeln, um ihn dann mit einer wahrscheinlich gewohnheitsmäßig herrischen Geste aufzufordern, weiter zum Fundort der Leiche zu gehen.

 

Der Strand war verwaist, auch der große Holzsteg, an dem die drei Verkehrsschiffe anlegten, die von Ostern bis in den Oktober hinein auf dem See unterwegs waren, war jetzt im Winter mit einer Kette versperrt. Rechts von Simon, unter dicht stehenden, schmal in den Himmel wachsenden Kiefern, lag eine Holzbude, an der im Sommer Eis und Getränke verkauft wurden. Simon kamen Bilder aus dem vergangenen August zurück. Es war ein Jahrhundertsommer gewesen, der Strand immer prallvoll, stets hatte ein Grillgeruch in der flirrenden Luft gehangen, unter einem hellblauen Himmel und einer gelben Sonne, die so heiß war, dass es einem schwindelig davon wurde. Kinder mit bunten Schwimmnudeln, die größer waren als sie selbst, schweratmende Französische Bulldoggen, die zurzeit in Mode waren, Mädchen in knapp sitzenden Jeansshorts und Jungs mit lautstarken CD-Playern – sie alle waren an diesen Strand geströmt, stahlen sich für ein paar Stunden aus der Hitze, schwammen, planschten und alberten im See herum. Jetzt waren die Fensterläden der Bude verrammelt und an ihrer Seite ein paar rote und blaue Klappstühle nachlässig zusammengestellt. An den zwei Kakibäumen daneben hingen überreife orangerote Früchte, die einfach nicht abfallen wollten, sich an die knorrigen Zweige klammerten wie alte Menschen an das Leben.

 

Ganz am Ende, wo der Strand in ein Wäldchen überging, sah Simon eine Gruppe Uniformierter, darunter eine Frau und einen Mann in weißen Schutzanzügen. Dort musste der Fundort der Leiche sein. Jetzt kam ihm schon Carla mit schnellen Schritten entgegen. Ein eleganter Anorak über der dunkelblauen Uniform, eine Sonnenbrille auf der Nase, die kurzen pechschwarzen Haare über der hohen Stirn etwas zerzaust.

Als sie näherkam, sah Simon, dass sie ihren linken Arm in einer Schlinge trug. »Buongiorno, Carla, was ist passiert? Hatten Sie einen Unfall?«, fragte er, als sie ihn erreichte, mit ihren grünen Augen anlächelte, ihm die rechte Hand entgegenstreckte und ihn warmherzig begrüßte.

»Sì, Simone. Leider ja. Ich bin beim Skilaufen gestürzt. Der Arm ist etwas angeknackst, aber es ist nicht weiter der Rede wert. Grazie, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich habe Sie ja wohl aus dem Bett geholt?«

»Nein, das heißt, ich wollte ohnehin gerade aufstehen, also machen Sie sich bitte keine Gedanken. Sie wissen ja, ich helfe gern.«

Carla lächelte ihn wieder an, jetzt etwas verschmitzt, fand Simon, oder täuschte er sich? Bestimmt hatte sie seine Alleingänge bei den letzten beiden Fällen nicht vergessen. »Die Staatsanwältin ist schon weg«, sagte sie, in einen professionellen Ton wechselnd. »Kommen Sie mit, die Tote wird gleich abgeholt. Sie können sie sich noch schnell ansehen und vor allem ihr Amulett. Es ist eine Madonnenmedaille.«

Wie immer kam Carla schnell zur Sache. Das gefiel Simon, wie er ihr überhaupt sehr zugetan war. Aber sie hielten professionellen Abstand, als wären sie tatsächlich Kollegen, siezten sich, allerdings mit einem vertrauten, fast intimen Unterton. Sie war auch die Einzige, der er es durchgehen ließ, sogar mit Wohlgefallen, dass sie ihn Simone nannte. Sein Taufname war Simon, aber seine Mutter hatte daraus den italienischen Männernamen Simone gemacht, eine zärtliche Geste, die ihm jedoch als heranwachsendem Jungen in Frankfurt stets peinlich gewesen war. Der deutsche Frauenname war ihm daher bis heute unangenehm. Außer eben, wenn er von Carla kam.

Es war eine Weile her, dass sie sich zum letzten Mal gesehen hatten, und Simon war gar nicht mehr bewusst gewesen, wie sehr ihm diese Polizistin gefiel. Und so kam es, dass er sich an diesem frühen Morgen an diesem winterlichen Strand, an dem eine tote, wahrscheinlich ermordete Frau lag, ganz und gar unpassend fühlte: Er freute sich, Carla wiederzusehen.

 

Die Leiche lag auf einem Wiesenstück unter den Bäumen und war mit einem Tuch abgedeckt. Der Mann und die Frau von der Spurensicherung waren offenbar schon mit ihrer Arbeit fertig, hatten die Kapuzen ihrer Schutzanzüge abgenommen und packten ihre Sachen zusammen, wie es auch der Arzt tat, der die Tote untersucht hatte. Unten am Strand lag ein Ruderboot, ein schlankes Holzboot mit einem kleinen Motor, wahrscheinlich das, das die Tote benutzt hatte. Wieso war sie bei dem Sturm auf den See gefahren? Das war doch irrwitzig und glatter Selbstmord, dachte Simon.

Carla bemerkte seinen Blick und erahnte seine Gedanken. »Sie werden sehen, Simone, sie hat sich nicht umgebracht. Sie ist auch nicht ertrunken. Sie hat eine Kopfverletzung und ist wahrscheinlich erschlagen worden. Der Arzt will sich zwar noch nicht hundertprozentig festlegen, aber er ist sich ziemlich sicher. Natürlich könnte sie bei dem Wellengang auch mit dem Kopf irgendwo gegengeschlagen sein, zum Beispiel an die Ufermauer dahinten, wo die Schiffsanlegestelle ist. Die Wunde an ihrem Hinterkopf sehe aber ganz nach einem Hieb mit einem flachen Gegenstand aus, meint der Arzt, und sie sei höchstwahrscheinlich schon tot gewesen, als sie ins Wasser gefallen ist. Den Bericht von der Gerichtsmedizin bekomme ich spätestens morgen Vormittag. Jetzt versuchen wir erst mal herauszufinden, wer sie ist.« Carla hielt ihm ihre Handschuhe hin. »Helfen Sie mir mal, die anzuziehen?«

Sie hatte sehr schmale Hände, mit langen Fingern ohne Ringe und kurz geschnittenen Nägeln, und obwohl es nur diese scheußlichen Latexhandschuhe waren, die er ihr anlegte, berührte ihn dieser fast schon intime Vorgang. Die Polizistin reichte ihm nun ebenfalls Handschuhe, dann zog sie mit der rechten Hand das Tuch zur Seite, das die tote Frau abdeckte. Simon hatte schon viele Leichen gesehen, doch diese hier war außergewöhnlich. Es war eine Nonne, und obwohl sie im Wasser gelegen hatte, sah man, dass sie ausgesprochen schön war, groß, aber schmal und sehr zart. Sie trug eine Kutte, ihren Schleier musste sie im See verloren haben. Simon blickte in ihre dunkelgrauen, starren Augen, in ihr fahles Gesicht, berührte spontan ihr fast weißblondes Haar, das in langen, nassen Strähnen an ihrem Kopf klebte. Er schätzte sie auf höchstens Mitte zwanzig. Sie war bleich, aber nicht aufgedunsen, konnte also nicht allzu lang im Wasser getrieben sein, bevor die Wellen sie an diesen Strand geschwemmt hatten. Die klaffende Wunde am Hinterkopf sah Simon erst auf den zweiten Blick.

Carla riss ihn aus seinen Betrachtungen. »Heben Sie bitte mal ihren Kopf an, Simone?« Ohne zu zögern, folgte er ihrer Bitte, und Carla griff zu der Silberkette mit dem Amulett, die die Nonne um den Hals trug, öffnete routiniert den Verschluss, nahm sie ihr behutsam ab und reichte sie Simon, der das Amulett in seiner Hand wog. Es war nicht besonders schwer, sah aber nach echtem Silber aus. In der Mitte etwas erhaben ein kleiner Kopf in Gold, der eine betende Jungfrau Maria darstellte. Um sie herum lief am Rand eine Schrift. Simon las laut: »Der HERR erlöst das Leben seiner Knechte, und alle, die auf ihn trauen, werden frei von Schuld. München 2006.«

»Ist das eine Spezialanfertigung oder haben Sie solche Amulette schon häufiger in Deutschland gesehen?«, fragte Carla. »Und hat der Text irgendeine besondere Bedeutung?«

»Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung. In Religionsfragen bin ich nicht besonders bewandert und erst recht nicht bibelfest, das können Sie sich ja denken, so gut kennen Sie mich ja inzwischen«, erwiderte Simon. »Das sieht aber wertvoll aus, das ist nicht irgendein Tand, der an jeder Ecke als Massenware verkauft wird.«

 

Inzwischen waren die Sargträger angekommen, schauten fragend zu Carla, sie nickte, streifte ihre Handschuhe ab, ging zu ihnen und wechselte ein paar Worte mit den beiden Männern.

Simon setzte sich auf eine niedrige Steinmauer am Ufer und blickte auf das Wasser. Der Tod dieser jungen Frau ließ ihn nicht kalt, die Schutzhaut, die er sich in seinem Beruf über Jahre zugelegt hatte, wurde poröser, seit er in Ronco lebte. Lag das auch an diesem See, der ihm unter die Haut ging und ihn berührbarer machte?

Gerade diese Ecke, den Strand von Lagna und den Uferweg, der sich wunderschön unter Bäumen am Ufer entlang schlängelte, liebte Simon, ging dort gerne spazieren und hin und wieder auch joggen. Der See weitete sich hier, gab den Blick frei auf die Isola San Giulio, die kompakt bebaute kleine Klosterinsel, die sich vor ihm wie ein Schiff aus dem See erhob. War die Nonne von dort mit ihrem Boot gestartet? Das lag nah, und Carla würde es sicher bald herausbekommen.

Simons Blick schweifte weiter über den See, bis in den Norden, wo die erste Alpenkette mit schneebedeckten Zacken in den Himmel ragte. Geradezu bühnenreif war das Panorama, das sich vor ihm auftat, auch wenn die Sturmnacht ein paar hässliche Spuren hinterlassen hatte. Der Strand war übersät von Pflanzen und allem möglichen angeschwemmten Plunder, Blätterbergen, Zweigen und sogar ganzen Ästen, aber auch viel Plastik, Sprudelflaschen und Fetzen durchsichtiger Folie, die wer weiß woher kamen. In einem Rinnsal dümpelten eine Badelatsche und ein kaputter Ball vor sich hin, und auf dem Wasser schaukelte ein roter Kindereimer.

Unübersehbar waren auch die Warnschilder, die darauf hinwiesen, dass dieser Strand nicht bewacht wurde. Die hatte man vor ein paar Monaten angebracht, nachdem hier im Frühjahr, als noch gar nichts los war, ein Unglück passiert war. Zwei Kinder waren an diesem Strand ertrunken, Söhne syrischer Flüchtlinge; beide konnten nicht schwimmen. Der Kleinere, Sechsjährige, hatte sich wohl zu weit vor in den schnell steil abfallenden See gewagt und war untergegangen, der Ältere, Zehnjährige, hatte versucht, seinen kleinen Bruder zu retten und war dabei selbst ertrunken. Das Unglück löste eine Welle von Anteilnahme bei den Menschen am See aus. Zwar brachten die Italiener den Flüchtlingen, die über das Mittelmeer, oft als Schiffbrüchige, in ihr Land kamen, nicht immer Sympathie entgegen, viele unterstützten im Gegenteil die gegen die Migranten gerichteten Parolen eines rechtspopulistischen Politikers, der gerade hier im Norden des Landes seine größten Erfolge erzielte. Aber angesichts dieser Tragödie direkt vor ihren Augen siegten die ausgeprägte Freundlichkeit und das Mitgefühl der meisten Italiener, und man überschlug sich vor Hilfsangeboten für die syrische Familie.

 

Carla kam wieder auf Simon zu, der noch immer gedankenverloren auf der Steinmauer saß, tippte ihm auf die Schulter und holte ihn zurück in das Geschehen am Tatort, wo die Sargträger gerade die Leiche in eine Hülle packten, sie mit Schwung in den Zinkbehälter hoben und mit ihr verschwanden. Die schöne Frau würde nun auf dem Tisch des Gerichtsmediziners landen, eine Vorstellung, die Simon trotz seiner Routine in der Begegnung mit dem Tod immer wieder irritierte.

Carla steckte das Amulett in eine Plastiktüte. »Hier brechen wir jetzt unsere Zelte ab. Vielen Dank, Simone, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich melde mich wieder bei Ihnen, okay?«

Sie gingen noch gemeinsam hoch zum Parkplatz. »Wie kommen Sie denn nach Omegna, können Sie mit dem verletzten Arm überhaupt Auto fahren?«, fragte Simon.

»Eigentlich schon, aber wenn mich die Carabinieri erwischen, wird das teuer«, antwortete Carla grinsend, und auch Simon musste lachen. »Aber im Ernst, Stefano fährt mich«, fuhr sie fort und zeigte auf den Carabiniere, der oben vor dem Parkplatz das Flatterband bewachte. Auf eine erneute Begegnung mit ihm konnte Simon gut verzichten. Er verabschiedete sich von Carla und verschwand mit schnellen Schritten zu seinem Peugeot.

3

Eine helle Wintersonne holte Simon am nächsten Morgen schon früh aus dem Schlaf. Er richtete sich in den Kissen auf und sah aus dem nur spaltbreit geöffneten Fenster auf die andere Seeseite, wo die Sonne gerade aufging, jetzt knapp über den Hügeln stand und flimmernde Lichttupfer auf die Wand des Schlafzimmers warf. Eine leichte, aber stetige Brise blies wieder über den See, fuhr auch in die Palme neben Simons Haus und brachte ihre harten, langen Blätter zum Klappern wie einen Fächer. Luisa schlief noch. Simon stand vorsichtig auf, um sie nicht zu stören, schloss das Fenster und drehte die Heizung in dem kalten Raum auf.

Sie waren erst spät ins Bett gekommen; Simon hatte gekocht, mit Steinpilzen gefüllte Pasta, ein Kalbsragout mit Salbei und Weißwein, danach Käse mit einer Mostarda aus Feigen und zum Abschluss einen Zitronenkuchen. Dazu waren viel Barolo und hinterher noch Grappa geflossen.

Eigentlich hätte Simon diesen ersten Abend in Ronco gerne mit Luisa allein verbracht, aber sie hatte am Nachmittag mit Tommaso telefoniert und ihn zum Abendessen eingeladen. War das eine kleine Rache dafür, dass er am Morgen zu Carla aufgebrochen war?

Tommaso war Simons bester Freund, ein Rechtsanwalt, der sich erst vor kurzem zur Ruhe gesetzt hatte und in Orta San Giulio lebte, in einem stattlichen Haus am Seeufer, das früher der Sommersitz seiner Mailänder Familie gewesen war. Ohne Zweifel ein imposanter Mann, der den ihm noch ungewohnten Müßiggang wie die meisten Dinge in seinem Leben mit Witz und Ironie bewältigte. Kein Wunder, dass er Luisa gefiel, und sie ihm, so sehr, dass Simon manchmal Zweifel hatte, ob es nicht doch mehr als Freundschaft war, was die beiden zueinander hinzog.

Er ließ sich langsam auf der Bettkante nieder und betrachtete sie, ihren üppigen Körper und ihre auch im Winter leicht gebräunte Haut, ihr widerspenstiges Haar und ihr lebensfrohes, offenherziges Gesicht. Simon hatte Lust auf sie, wollte sie aber nicht wecken. Er näherte sich ihr behutsam, wollte ihre Nase küssen, spürte schon ihren warmen Atem, als sie sich mit einem wohligen Laut im Schlaf umdrehte und von ihm abwandte.

 

Seufzend stand Simon auf und machte sich auf den Weg nach Pella, um etwas Brot zu holen. Er ließ sich Zeit, fuhr gemächlich mit dem alten Peugeot die Uferstraße entlang, geblendet von den Blicken auf den See im gleißenden Winterlicht – diese ihn stets aufs Neue frappierende Schönheit –, aber es gelang ihm nicht, seine Gedanken von dem Geschehen am Morgen zuvor abzulenken. Immer wieder kehrten sie dorthin zurück, zu der Nonne mit der hässlich klaffenden Wunde am Kopf. Was konnte es für einen Grund geben, eine Ordensschwester umzubringen? Und wer konnte das getan haben? Und noch eine andere Frage beschäftigte ihn: Warum hatte Carla ihn an diesem Morgen an ihre Seite geholt? Die Tote zu identifizieren, konnte nicht wirklich schwierig sein. Sie kam aus einem Frauenkloster, und davon gab es nur zwei am See, das auf der Insel und eines in Pettenasco. Aus einem der beiden musste sie stammen, zumindest war das sehr wahrscheinlich. Ihre Herkunft war also kein großes Rätsel, auch wenn sie tatsächlich eine Deutsche sein sollte. Carla hätte ihn also eigentlich nicht gebraucht, überlegte Simon.

Aber was war mit der jungen Nonne passiert? Warum hatte jemand ihr nach dem Leben getrachtet? Und wie war sie auf den See gekommen? Das waren die eigentlichen Fragen, zu deren Klärung Simon gar nichts beitragen konnte. Warum hatte Carla ihn dann angerufen? Wollte sie ihn einfach nur an ihrer Seite haben? Und das Amulett mit der deutschen Gravur war ihr ein willkommener Vorwand gewesen? Das wäre immerhin eine Antwort, die ihm gefiele, dachte Simon, und erwischte sich dabei, dass er bei diesem Gedanken leise lächeln musste und unbewusst ein wenig mehr aufs Gas trat.

Beim Bäcker in Pella holte er eine Tüte Panini und Brioches, schaute danach noch in Linos Bar vorbei, um seine Zeitung zu holen, trank an der Theke einen schnellen Espresso. In der Sonne war es jetzt schon so warm, dass der Barchef sogar Tische und Stühle nach draußen gestellt hatte, an denen ein paar Frauen in wattierten Winterjacken und mit großen Sonnenbrillen saßen, Cappuccino tranken und sich lebhaft unterhielten.

Simon beschloss, noch einen Abstecher hinunter zum Hafen von Pella zu machen, der mit seiner von Bäumen gesäumten Promenade und Inselblick schönsten Ecke des kleinen Ortes. Am Ufer setzte er sich auf eine Bank in die Sonne, direkt vor die Gelateria, die für ihr gutes Eis am ganzen See bekannt, aber jetzt geschlossen war. Vor Simon, am flach in den See abfallenden Kai, lagen abgedeckt und gut vertäut die Tretboote, die im Sommer an Touristen vermietet wurden. Mit denen strampelten sie dann über das Wasser bis nach Orta und gerne auch um die Klosterinsel herum. Simon nahm eine mit Schokolade gefüllte Brioche aus seiner Tüte, biss genüsslich hinein, schaute auf die Insel und versank in Erinnerungen.

 

Eines der Tretboote, die vor ihm lagen, hatte er gemietet, als er vor Jahren für ein paar Tage mit Luisa am Lago Maggiore war und sie bei einem Ausflug mehr zufällig den Lago d’Orta entdeckten. Es war Anfang Juli und sehr heiß, aber Pella, damals vom Tourismus noch ziemlich unberührt, lag menschenleer in der Mittagssonne. Inzwischen hatte sich das geändert, machten die Reisebusse auch in Pella halt, um ihre Passagiere an der Schiffsanlegestelle zu entlassen, von wo sie mit Wassertaxis oder den drei großen Verkehrsschiffen auf die Insel und auf die gegenüberliegende Seite nach Orta übersetzten. Aber damals war Pella noch ziemlich verschlafen, und es war nicht schwierig gewesen, einen Tisch auf der Terrasse des am Hafen gelegenen Ristorante La Darsena zu bekommen, wo sie eine Pizza aßen. Hinterher tranken sie noch einen Caffè con gelato, einen Espresso, in dem eine Kugel Vanilleeis schwamm. Danach hatten sie das Boot gemietet, waren mitten auf dem See in das glasklare Wasser gesprungen, um dann, wie alle, einen Abstecher auf die Insel zu machen.

Schließlich waren sie noch auf die andere Seite des Sees gefahren, nach Orta, in den italienischen Bilderbuchort, der Perle des Sees, wie es in der Tourismuswerbung hieß, wo es, anders als in Pella, schon damals von Touristen wimmelte, Deutschen, Franzosen und Engländern, aber auch vielen Italienern, die auf der sich wunderbar zum See hin öffnenden Piazza flanierten und bella figura machten. Dort waren sie eine Weile durch die alten Gassen gestreunt, hatten sich noch ein Eis geholt, sich damit einen Platz auf einem der Holzstege gesucht und eng aneinander geschmiegt dem Treiben auf dem Wasser zugesehen, wo ein paar Kinder in kleinen Booten mit bunten Segeln unterwegs waren und um die Wette fuhren. Simon hatte sich leicht gefühlt wie schon sehr lange nicht mehr. Lag es an Luisa? Oder an diesem See? Jedenfalls war hier, an diesem heißen Julitag auf diesem Holzsteg, in Simon zum ersten Mal die Idee aufgekommen, dass der Lago d’Orta der Platz sein könnte, an dem er in Zukunft leben wollte.

 

Als Simon mit Brot und Zeitung nach Ronco zurückkehrte, war Luisa nicht mehr im Bett und auch nicht im Haus. Er ahnte schon, wo sie zu finden war. Mit ein paar schnellen Schritten war er auf der Terrasse, und dort sah er sie sofort. Sie schwamm im kalten See, allerdings nicht sehr weit draußen, vielleicht nur fünfzig Meter von ihm entfernt. Jetzt hatte auch sie ihn entdeckt, streckte eine Hand aus dem Wasser und winkte ihm fröhlich zu. Simon fror unwillkürlich, registrierte aber erleichtert, dass sie zumindest ihren Neoprenanzug übergestreift hatte. Schwimmausflüge im eiskalten See waren bei ihr nicht wirklich etwas Neues. Schon in den letzten Wintern hatte sie einige Male solche Touren unternommen, und im letzten Jahr sogar an einem Winterschwimmkurs an einem schottischen See teilgenommen.

Für eine Italienerin war das ein geradezu exzentrisches Verhalten. Während die deutschen und Schweizer Touristen, vor allem die Männer, gerne bereits im Mai in den dann meist noch sehr kühlen See sprangen, prustend und wild mit den Beinen zappelnd durch das Wasser pflügten und mit blauer Haut, aber in Siegerpose wieder herauskamen, musste der Lago d’Orta schon fast Badewannentemperatur haben, damit die Italiener einen Fuß hineinsetzen, womit viele es dann durchaus auch gerne bewenden ließen.

 

Luisas nasse Haare rochen sumpfig, als sie den Neoprenanzug abstreifte und sich mit ihrem kalten Körper an Simon drückte. Zum Schein protestierte er, und sie löste sich sofort von ihm, griff zu ihrem Bademantel, dann zum Cappuccino, den er für sie zubereitet hatte, und nahm sich eine mit Schokolade gefüllte Brioche. »Was machen wir heute?«, fragte sie gut gelaunt und biss kräftig zu. Mit dem halb aufgegessenen Gebäck noch in der Hand schlang sie ihre Arme um ihn und küsste ihn. Er strich ihr die feuchten Haare aus dem Gesicht und leckte einen Rest Schokolade von den Lippen. Sie ließ ihre Brioche einfach fallen, zog ihn noch näher an sich. Eng umschlungen bewegten sie sich auf den Wohnraum zu, ließen sich auf das große Sofa fallen, und Luisa streifte ihren Bademantel ab. Aber noch bevor auch Simon aus seinen Kleidern war, meldete sich sein Handy. Einen Moment zögerte er, dann ging er doch ran. Carla.

»Buongiorno, Simone, ich störe wohl?« Carla Moretti schien einen siebten Sinn dafür zu haben, dass ihre Anrufe im falschen Moment kamen.

»Nein, natürlich nicht«, log Simon.

»Könnten Sie vielleicht nach Omegna kommen?«

»Wegen der Nonne, oder worum geht es?«

»Ja, wegen der Nonne. Es steht jetzt fest, dass sie ermordet wurde. Und sie ist tatsächlich eine Deutsche. Sie hat im Kloster auf der Insel gelebt. Da muss ich gleich hin, und es wäre eine große Hilfe, wenn Sie mich dorthin begleiten würden.«

Simon sah zu Luisa, die schnell begriffen hatte und schon wieder im Bademantel war. Er warf ihr ein entschuldigendes Lächeln zu. »Va bene«, antwortete er dann, »ich komme mit. Wo treffen wir uns?«

»In einer halben Stunde? In der Piccolo Bar? Schaffen Sie das? Wir könnten da noch einen Espresso trinken und dann fahren wir zusammen mit dem Polizeiboot auf die Insel.«

»Geben Sie mir noch zehn Minuten mehr, dann bin ich da.«

Simon holte seine Autoschlüssel, kehrte auf die Terrasse zurück, um sich von Luisa zu verabschieden, aber sie stand schon unter der heißen Dusche. Er ging in das dampfende Bad, wollte den Kopf zu ihr stecken, aber sie seifte sich weiter ein und wehrte ihn ab. Dann drehte sie plötzlich den Duschkopf ein Stück in seine Richtung, als ob sie gleich mit dem Strahl der Brause auf ihn zielen würde. Simon duckte sich weg, kam dann lächelnd wieder hoch. »Ich beeile mich, bin bald wieder zurück«, sagte er zärtlich und machte sich auf den Weg.

4

Carla saß schon in der Bar, als Simon ankam. Sie erwartete ihn an einem Fenstertisch in ihrer dunkelblauen, gut geschnittenen Uniform, in der sie noch schmaler wirkte, als sie ohnehin war, einen Espresso und eine Flasche Wasser vor sich. »Buongiorno Simone, danke, dass Sie sofort gekommen sind. Ich hoffe, Sie hatten nichts Wichtigeres vor?«