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Was, wenn du eines Tages erfahren würdest, dass da mehr ist, als du dir jemals zu träumen gewagt hättest? Du Zutritt zu etwas erlangen könntest, das es nicht geben dürfte? Würdest du es wagen, andere dafür zu kontrollieren? Vielleicht bildest du dir irgendwann ein, dass es nicht richtig ist, was du tust und dass du nicht verdienst, was du erhältst. Wie auch immer du dich in derselben Situation entschieden hättest, dies ist die Geschichte von Cord, der es gewagt hat.
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Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Danie Novak
Text und Cover Copyright © 2017 Danie Novak
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
Die dunklen Flecken an der Decke waren gewachsen. Morgen würde er sich endlich dazu aufraffen müssen, dem ungewaschenen Arschloch von Stock vier die Leviten zu lesen.
Cord schälte sich aus seiner dünnen Bettdecke und setzte Kaffee auf. Bis die kleine, silberne Espressokanne das erwünschte Blubbern von sich geben würde, war Zeit genug die Zeitung von der Fußmatte aufzuklauben. Routine. Tür öffnen, bücken, Tür schließen. Im Stiegenhaus war es eiskalt. Irgendjemand hatte einmal mehr vergessen, über Nacht das riesige Fenster im Gang zu schließen. Cord überflog die erste Seite der offiziell unpolitischen Tagespresse und beförderte das Teil auf die Kommode im Vorzimmer. Er schlüpfte in ein frisches Paar schwarzblauer Jeans und zog sich das Hemd über, das er sich letzte Woche für genau diesen Tag besorgt hatte.
Das behagliche Glucksen der Kaffeekanne hatte sich längst in ein warnendes Brodeln und Fauchen verwandelt, als er in die Küche zurückkehrte, um in der Brotbox nach etwas Essbarem zu suchen. Fehlanzeige. Eine schimmeltreibende Toastscheibe und ein nicht weniger unappetitlicher Kornwecken waren alles, was der Inhalt der emaillierten Box zu bieten hatte. Warum hatte er Samstagnachmittag, nach der Extratrainingseinheit, nicht mehr daran gedacht, seine Vorräte aufzufüllen? Stattdessen war er schnurstracks auf seinen Privatparkplatz in der Tiefgarage zurückgekehrt und hatte sich die wenig einfallsreiche DVD eines Freundes reingezogen.
Die Uhr in der Küche zeigte achtzehn Minuten nach Acht. Zweiundvierzig Minuten und Cord würde dem Scharfrichters jener schwerprogressiven Firma mit dem eingängigen Namen »Deep Space« gegenübertreten. Würde in den verstaubten Winkeln seines ins Abseits geratenen Selbstbewusstseins nach Argumenten suchen, die ihn allein als den einzig wahren Kandidaten für die Position des Webdesigners auszeichneten. Auszeichneten. Cord hatte denkbar wenig Lust dazu, das Ganztagshakeln in der Firma des besten Freundes seines Onkels anzutreten. Es war Pflicht, keine Kür. Und hätte seine Freundin ihn nicht bekniet, seine Eltern ihn in ihre sanfte Mangel genommen und sein ältesten Kumpel so beiläufig mit den Schultern gezuckt, hätte die Welt ihn vielleicht an einer anderen Stelle verschluckt.
Doch noch einmal würde man ihm das nicht gestatten. Und das, obwohl es doch gerademal drei Monate gewesen waren. Drei Monate, in denen er durch das südliche Amerika getrampt war, eine Idee für eine eigene Firma geboren hatte und sie sogleich wieder verworfen hatte. Drei Monate, in denen er die Freiheit des freien Denkens erfahren hatte und süchtig geworden war. Monate, die wie ein einziger Wimpernschlag in sich zusammengefallen waren und sein Selbstwertgefühl in der Luft zerrissen zurückgelassen hatten.
Cord goss den schwarzen Kaffee in die angeschlagene Tasse und stürzte die bittere Flüssigkeit in einem einzigen Schluck hinunter. Noch ein kurzer Abstecher ins Bad, wo er gerade mal das Nötigste über sich ergehen lassen würde und er hatte es geschafft.
Cord warf einen kritischen Blick in den Spiegel und sah zu, wie die dunkelblonden Strähnen so beiläufig hinter den langweiligen Ohren landeten. Sein mittelmäßiges Gesicht starrte ihm teilnahmslos aus dem Jenseits entgegen, bis es sich auf einmal selbst zuzwinkerte und die graublauen Augen für einen Moment dem Rest der Visage die Show stahlen.
Laut klirrend zog Cord den Autoschlüssel über die Glasplatte des Vorzimmertisches und klemmte sich seine Jacke unter den Arm. Etwas in seiner linken Brusttasche gab einen dezenten Ton von sich, unterstützt von einem verstimmten Brummen.
Memo an dich selbst: Du hast nur noch knappe dreißig Minuten!! Ich hoffe, du bist schon auf dem Weg!!
Das war er nicht. Ungehalten steckte Cord das kantige Ding zurück in seine Brusttasche. Eine Brusttasche. Daran könnte er sich gewöhnen. Nicht jedoch an den Kragen, die kleinen Knöpfe und die Tatsache, dass er sich wie das letzte Stück Fleisch fühlte, das in einem Hemd dieser Art Platz finden sollte.
Zwei Stiegen auf einmal nehmend eilte Cord die Treppe hinab ins Untergeschoß und öffnete die schwere Eisentür zur Tiefgarage. Der eiskalte Geruch von Treibstoff und frischer Farbe bezog augenblicklich Stellung im Bereich seiner Nasenwurzel und automatisch tastete Cord nach dem rechteckigen Päckchen in seiner rechten Gesäßtasche.
Fehlanzeige, die zweite. Kurz hatte er verdrängt, dass sein Ich von gestern dem Ich von heute dieser, wie auch immer, schlechten Angewohnheit einen Riegel vorgeschoben hatte. Aus dem zäh tropfenden Sumpf seiner Erinnerungen tauchte die eine Szene, die zu dieser Restriktion geführt hatte, vor seinem geistigen Auge auf. Es war auf der letzten Familienfeier gewesen, als sein Onkel Herby ihn kurz zur Seite genommen und vor dem pedantischen Nichtrauchertum des Personalchefs gewarnt hatte. Diana hatte still neben ihm gestanden und immer wieder zustimmend mit dem Kopf genickt. Übelkeit und der Wunsch nach einer Zigarette in genau diesem Moment hatten sich wie ein grauer Schleier zwischen ihn und seinen Onkel gelegt. Selbst seine Freundin war zum Teil dahinter verschwunden. Aus keinem besonderen Grund erinnerte Cord sich nicht mehr an den Rest des Abends, aber irgendwann in den Tagen darauf war es dann passiert. Diana hatte ihn einen planlosen Phlegmatiker genannt und überstürzt seine Wohnung verlassen.
Cord öffnete die Tür zu seinem Wagen und schloss für eine Sekunde die Augen. Noch zwanzig Minuten. Er würde mindestens fünfundzwanzig brauchen. Um diese Tageszeit vielleicht mehr. Cord legte den Gang ein und trat etwas flott den Weg zur Auffahrt an. Ein grüner Fiat kam ihm aus dem Nichts entgegen und Cord stieg abrupt in die Bremsen. Na klar. Gerade heute musste die sonst so verlassene Tiefgarage aus dem Dornröschenschlaf erwachen. Seelenruhig hatte sich auch noch ein grauer BMW vor ihn gesetzt und tuckerte nun langsam die Ausfahrt empor. Oben angekommen hielt der Fahrer für eine geschlagene Minute am Gehsteigrand, bevor er das riesige Loch nutzte, das sich vor ihm im Straßenverkehr aufgetan hatte. Cord fluchte und dachte angestrengt über eine flottere Route nach. ‚Eventuell wenn er,...‘ Seine Hand ging auf dem abgegriffenen Leder seines Lenkrads nieder. Es hatte keinen Zweck hatte. Die direkte Route war nun mal auch die schnellste und er hatte denkbar wenig Spielraum für Experimente. Unermüdlich schob ihn die Viskosität des städtischen Verkehrs vor sich her durch dichtverbaute Flächen bis an sein Ziel.
Fünf Minuten nach neun fuhr Cord auf dem kleinen Firmenparkplatz ein und parkte seinen Wagen direkt beim Eingang über dem in zukunftsweisendem Design die dunkelblauen Lettern »Deep Space« prangten. Eilig lief er die wenigen Stufen in den ersten Stock hinauf und nahm vor der Tür des Personalchefs Platz.
Auf einem kleinen Tisch lagen ordentlich aneinandergereiht einige Computerfachzeitschriften. Schräg neben ihm hatte ein rothaariger Blickfang mit übereinandergeschlagenen Gazellenbeinen Platz genommen und saß in eines der Magazine versunken da. Cord warf einen Blick auf den Titel und blieb an den bordeauxfarbenen Fingernägeln seiner Konkurrentin hängen. Für einen Moment hatte er Mühe, seine Aufmerksamkeit irgendeiner anderen Sache, als ihrer markanten Person und den außerordentlichen Attributen, die sie dazu nominierten, zuzuwenden. Der Raum, der sie beide umgab, enthielt wenig dekorativen Inhalt. Die Wände der kleinen Nische im Gang waren in Weiß gehalten und nur ein einzelner, orangefarbener Farbstrich führte, unterbrochen von grauen Türstöcken, zu beiden Seiten in die Unendlichkeit. Die gummiartigen Blätter der Pflanze zwischen ihnen schimmerten wie aus einem Wohnhauskatalog in einheitlichem Dunkelgrün und wurden allem Anschein nach einwandfrei versorgt.
Cord rutschte auf dem tiefliegenden Stuhl nach vor, bis seine Knie die scharfe Kante des Tisches zu spüren bekamen, und wandte sich ihr zu.
„Schon jemand bei ihm?“
Die Rothaarige nickte kurz und schenkte ihm nicht mehr als ein höfliches Lächeln über den Seitenrand ihres Hochglanzprodukts. Cord ließ seine Bewerbungsunterlagen auf den Tisch vor ihm gleiten und massierte seine Finger. Seine Hände zitterten leicht. Der Nikotinentzug, beruhigte er sich selbst und suchte nach einer Position, in der es möglichst wenig auffiel.
Die rote Erscheinung räusperte sich verhalten und legte das Magazin zurück auf den Stapel neben seinen Unterlagen. Mit makelloser Eleganz fischte sie sich ein nächstes und vertiefte sich darin. Ihre kurzen Haare saßen perfekt. Der modische, halblange Rock unter der blütenweißen Bluse wirkte jugendlich und verhalten zugleich. Es stand außer Zweifel, rein optisch hatte sie den Vogel abgeschossen. Cord konnte nur hoffen, dass der Personalchef eventuell auf die Frauenquote pfiff und tatsächlich allein dem vielerorts üblichen Vitamin B den Vorzug gab.
Die Unterarme auf die Knie gestützt, machte es sich Cord auf der rein zweckmäßigen Sitzgelegenheit so gut es ging bequem und betrachtete das wenig inspirierende Muster der Linoleumfliesen zu seinen Füßen.
Nach endlos langen zwanzig Minuten öffnete sich die Tür und ein älterer Herr trat, gefolgt von zwei jüngeren Männern, aus dem Büroraum dahinter. Er verabschiedete sich von ihnen und nickte Cord und dem fuchsigen Prachtexemplar wohlwollend zu. Mit einer einzigen, eleganten Bewegung erhob sie sich von dem kantigen Plastikteil und kam zu ihm getreten. In einer weit höheren Stimmlage als erwartet, riss er Cord aus seinen Gedanken.
„Sie sind auch gemeint, junger Mann. Wie ihnen gerade eben vielleicht nicht entgangen ist, bevorzuge ich den Trialog.“
Trialog. Das passte hierher, in diese unendlichen Weiten der medialen Avantgarde. Cord rappelte sich deutlich weniger anmutig von seinem Stuhl hoch und gesellte sich zu ihnen. Die Aussicht mit Rotkäppchen gemeinsam ins Kreuzverhör genommen zu werden, ließ seine kühnsten Erwartungen zu einem läppischen Klumpen Hoffnung zusammenschrumpfen. Möglichst gelassen folgte er den beiden in das kleine Büro und nahm auf einem der Stühle an dem großen Schreibtisch Platz.
Cord konnte nicht sagen, was dort oben, in dem luftarmen Raum des Personalchefs soeben passiert war. Das Gespräch war allerhöchstens mittelmäßig verlaufen und die junge Frau zu seiner Linken hatte ihm, seiner Meinung nach, in so ziemlich allen Belangen die Show gestohlen.
Cord selbst hatte die meiste Zeit über in dieser dynamischen, aber unbequemen Haltung auf dem Sessel verharrt und sämtliche Fragen, die man an ihn gerichtet hatte, mit einer öden Ehrlichkeit beantwortet, die nicht einmal das anspruchsloseste Erdmännchen aus seinem Bau gelockt hätte. Dennoch hatten ihn die aufmerksamen Augen des Personalchefs stets unvoreingenommen ins Visier genommen und eine Frage ehrlichen Interesses an die nächste gereiht. So gut wie alles an der ganzen Situation hatte Seltenheitscharakter besessen.
Irgendwann, war es eine Stunde oder mehr gewesen, hatte man sie beide genauso galant, wie die Kandidaten zuvor, vor die Tür gesetzt und taktvoll den nichtssagenden Wänden des Ganges übergeben.
Ohne ein weiteres Wort hatte Rotkäppchen die Treppe ins Erdgeschoß genommen und war durch die gläserne Flügeltür ins Freie verschwunden. Cord hatte seine schläfrigen Beine zur Eile getrieben, nur um im letzten Moment dem panischen Drängen seiner Blase nachzugeben. Als er zwei Minuten später aus der Toilette gekommen war, hatte er nur noch beobachten können, wie das Heck ihres buttergelben Minicooper vom städtischen Mittagsverkehr verschluckt worden war.
„Bescheuerte Tussi!“, schimpfte Cord, als er wieder in seinem Wagen saß und den Motor startete. Er konnte jedoch nicht genau sagen, auf wen von ihnen beiden er sich tatsächlich bezog.
Die kleine Digitaluhr in seinem Ford zeigte 10 Uhr 45 und sein Magen machte sich mit einem deutlichen Krächzen bemerkbar. Als er sich endlich außer Sichtweite währte, zündete er sich eine Zigarette an und atmete tief durch.
Er hatte es versucht und er hatte sein Bestes gegeben. Cord hatte sich nichts vorzuwerfen. Dennoch zehrten die Anstrengungen des Vormittags an seinen Nerven und er hatte das Gefühl, die Anspannung auf der Stelle in Energie umwandeln zu müssen.
An einem ihm unbekannten Park hielt er an und sah aus dem Fenster. Schüler einer angrenzenden Schule hatten sich in kleinen Gruppen hinter dem fragwürdig hohen Maschendrahtzaun postiert und bibberten in der Kälte. Cord stellte den Motor ab, zog sich seine Jacke über und stieg aus dem Wagen. Frischer Wind gepaart mit einer Idee des herannahenden Frühlings schlug ihm entgegen. Gemächlich schlenderte Cord den Gehsteig bis zum Eingang des Parks entlang. Bis auf einige Hundebesitzer und jene, die es mal waren, wirkte der Park inmitten der endlosen Fronten wie leergefegt. Das kahle Buschwerk zwischen den immergrünen Nadelbäumen gab der Trostlosigkeit seinen Zündstoff.
Cord setzte sich auf eine abseits gelegene Bank zwischen zwei Rotföhren und zündete sich seine zweite Zigarette an. Ungewollt verfingen sich seine Gedanken in der Vergangenheit. Diana. Eine hatte sie in ihrer Gegenwart stets akzeptiert, zwei hintereinander hingegen hatte sie bereits den Beginn einer Kette genannt. Cord musste schmunzeln und inhalierte das beruhigende Kraut und mit ihm die Freiheit, die ihm von jetzt an zustehen würde. Würde sie das? Rein objektiv gesehen, konnte er nicht sagen, wo in der komplexen Welt der Beziehungsebenen sie sich gerade befanden. Seit Dianas übereiltem Verschwinden hatten sie nur noch oberflächliche Floskeln auf ihren smarten Begleitern ausgetauscht und sein Interesse an ihr war zu einem Tiefststand gesunken. Die elendige Wahrheit war, Cord wartete nur noch darauf, dass sie ihm endlich ein für alle Mal den Laufpass gab.
Entspannt ließ er seinen Blick über die zertretenen Wiesen gleiten, beobachtete Hund und Frauchen Herrl dabei, wie sie den periodischen Gang ins Freie über sich ergehen ließen. Alles Routine. Beschissene, ewig wiederkehrende Routine. Für Mensch und Tier.
„Kannst du haben, du feige Sau!“
Cord wandte den Kopf und verfolgte ein zusammengeknülltes Stück Papier, das neben ihm im Mistkübel landete. Eine junge Frau hielt ihr Mobiltelefon zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und kramte in ihrer Umhängetasche. Nach einem mürrischen Blick ins Innere des Stoffbeutels, gab sie ihr Vorhaben auf und trat den Rückweg an. Doch nach wenigen Schritten drehte sie sich plötzlich um und sah Cord direkt ins Gesicht. Die schwarzen Augen funkelten und er spürte, wie sie sich zu dem aufgesetzten Lächeln hatte zwingen müssen, wie zu einem Schnaps, in den jemand ein rohes Ei geleert hatte.
„Hättest du eventuell eine für mich?“
Cord hielt ihr das Päckchen hin und sie zündete sich die Zigarette an, indem sie sich von ihm und dem stärker werdendem Wind abwandte.
„Danke.“
„Keine Ursache.“
Sie schenkte ihm ein erstes aufrichtiges Lächeln und hob den Arm zum Gruß. Auf halber Höhe setzte die Schwerkraft ein und der Arm in dem grauen Ärmel sackte zurück in ihre Manteltasche.
Cord fröstelte. Dennoch hatte er noch keinen Plan, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Den Aushilfsjob im Fahrradshop eines Freundes hatte er für heute ausgesetzt. Seine höchstwahrscheinlich zukünftige Ex kam nicht in Frage. Ebenso wenig sein Bruder, der, wie man es von jemandem in seinem Alter und mit seinem gesellschaftlichen Status erwartete, einer geregelten Beschäftigung nachging. Cords schwangere Schwester war vor wenigen Monaten zu ihrem Freund nach Deutschland gezogen. Der Rest der Belegschaft würde bis zum Abend wohl ebenfalls unerreichbar bleiben.
Mit den Fersen malte Cord Muster in den erdigen Boden und beobachtete noch einmal das Spiel der Hunde. Als einer zu ihm gelaufen kam, kraulte er ihn am Kopf und klopfte ihm an die Seite. Er mochte Hunde. Er mochte Tiere. Sie waren unkompliziert und direkt. So anders als Menschen.
Etwas steif erhob sich Cord von der Bank und wanderte zum anderen Ende des Parks, wo der Ausgang beinahe direkt in einen türkischen Supermarkt zu münden schien. Cord besorgte sich eine kleine Stärkung und schlenderte weiter durch die ihm unbekannten Schluchten und Täler in diesem Teil von Wien. Lärmende Kinder schossen an ihm vorbei und ein kugeliges mit roten Backen entschuldigte sich rotzfrech, nachdem es Cord mit voller Wucht am Arm erwischt hatte.
Sein Mobiltelefon spielte die stimmige Nummer, die anzeigte, dass es sich um einen Familienangehörigen handelte und Cord hob ab.
„Ja?“
„Ganz ok.“
Er nahm einen langen Zug und schickte die graue Wolke von Nummer drei dem unverschämt blauen Himmel entgegen.
„Nein. Habe ich nicht. Sonst noch was?“
„Bin ich nicht. Mama...“
„Ist gut, bis demnächst.“
Während des kurzen Gesprächs hatte ein unscheinbares Klickgeräusch den gleichzeitigen Anruf seiner Freundin angezeigt. Ein leises Klicken. Nur das. Vor dem Gewitter dahinter hatte es ihn tunlichst verschont. Cord ignorierte ihren Anruf und schob den Rückruf auf seiner Liste der unangenehmen Dinge weiter nach hinten.
Die Wohnung wirkte einsam und verlassen, als er am späten Nachmittag zu ihr zurückkehrte. Cords Onkel hatte ihn überraschend auf einen ausgiebigen Lunch beim Italiener eingeladen und ihm druckfrisch von den rosigen Aussichten berichtet, die ihn offenbar ohne den geringsten Umweg erreicht hatten. Zwischen Rückwand und Tischplatte geklemmt, hatte sich Cords Hemd immer enger um seine Brust gelegt und seine ruhelosen Finger waren bald unter der schweren, dunkeln Tischplatte verschwunden.
„Freddy hat mich gleich nach seinem Gespräch mit Magister Gunther angerufen. Und du bist definitiv unter den Top-Drei.“
Sein Onkel nahm einen doppelten Bissen seiner Pizza Diavolo und steckte ihn sich genüsslich in den Mund.
„Hast dich auch fein rausgeputzt.“
Mit der Gabel markierte Onkel Herby die Strähnen seiner Haare, die dem Gel sei Dank noch immer an Cords Kopfhaut klebten, wie eingetrocknete Nudeln im Kochtopf. Cord würgte einen letzten Happen Pasta hinunter und spülte mit einem großen Schluck Bier nach.
„Na, was sagst du!? Das ist doch was für dich!? Geradezu ideal!“
Cord musste zugeben, dass er sich darüber bisher noch wenig Gedanken gemacht hatte. Der Job entsprach seinem Profil. Er entsprach seinem Können. Seiner Ausbildung. Aber entsprach er auch seiner Persönlichkeit?
„Klar. Aber ich möchte mich nicht zu früh...“
„Hah! Selbstverständlich, aber keine Sorge...“
Wie immer, konnte sich Onkel Herby einen seiner unvermeidlichen Gesichtsausdrücke aus diesen schwermütigen Schinken nicht verkneifen und Cord kam nicht umhin, dem Mienenmassaker gehorsam standzuhalten.
„...unter uns, hast du den Job so gut wie in der Tasche.“
„Ich bin mir da nicht so sicher. Die Konkurrenz war doch...“ Cord suchte nach Worten, um der Erscheinung dieses fuchsroten Fabelwesens und ihrer makellosen Nägel auch nur annähernd Genüge zu tun. Es klappte nicht.
„...naja, auffallend gut.“
Onkel Herby, der gerade noch den Paten gemimt hatte, lachte ungezügelt auf.
„Und wie es das Schicksal so will, weiß ich diesbezüglich auch etwas mehr als du. Freddy plant für sein nächstes Großprojekt gleich zwei Webdesigner einzuschulen.“
Das hatte gesessen. Mit einem Mal konnte sich Cord zum ersten Mal echte Chancen ausrechnen. Chancen, die zu einem winzigen Teil sogar auf seinem eigenen Mist gewachsen sein könnten. Er leerte sein Glas Bier in einem letzten Schluck und spielte mit dem Gedanken, ein drittes zu bestellen.
Die leicht muffelnde, unaufgeräumte Küche lechzte nach seiner Aufmerksamkeit. Cord ließ die Bewerbungsunterlagen auf den Küchentisch fallen ließ und sackte auf den Sessel daneben. Selbst wenn er genug Zeit dafür hätte freischaufeln können, hätte er sie anders genutzt. Doch das Training würde um fünf beginnen und es gab noch etwas, dass seine Gefälligkeit benötigte.
Diana. Der ereignisreiche Vormittag hatte Cord bisher davor verschont, sie zurückzurufen, doch nun schwebten ihre verpassten Anrufe wie dunkle Gewitterwolken über seinem Gemüt. Verpasste Anrufe, „Anrufe“ waren etwas, das nicht zu ihr passte. Einmal, dann ließ es bleiben. Diana war die Art von Frau, die es sich stets hatte leisten können, niemandem nachzulaufen. Schwachsinnig wie er gewesen war, hatte er genau das getan. Cord war ihr nachgelaufen. Hatte sie angehimmelt und sie umgarnt wie eine affektierte Heldin. Irgendwann war sie dann schwach geworden. Hatte es auf seine blauen Augen geschoben und die unvermeidlichen Lachfalten um seinen Mund.
„Diana?“
Seine Knöchel bohrten sich in seine Stirn. Der Beginn ihrer Mailboxansage hatte ihn schon mehr als einmal aufs Glatteis geführt.
„Hey. Hör zu, ich muss gleich zum Training, aber wenn‘s ok ist, meld‘ ich mich später bei dir? Gut, dann... bis später.“
Cord hasste seine Mailboxmeldungen. Er hasste seine Stimme am Telefon. Nur selten klang sie annähernd so, wie er es sich vorstellte. Schnell packte er frisches Gewand in die dunkelblaue Sporttasche und verließ das Wohnhaus durch die Eingangstür im Erdgeschoß.
„Hey Cord! Ultimate Frisbee again?“
Cord nickte und erntete eine Handbewegung, die wohl so etwas Ähnliches wie Anerkennung und Coolness ausdrücken sollte. Der etwa achtzehnjährige Afghane sprang die wenigen Stufen in den ersten Stock hinauf und verschwand in der Wohnung, aus der zu so gut wie jeder Tageszeit aromatische Gerüche drangen.
Cord nahm die U-Bahn zu der modernen Trainingshalle, inmitten einer weitläufigen Wohnhausanlage und begrüßte seine Mitstreiter in der Umkleidekabine.
„Paul schafft‘s heute nicht. Kein Babysitter oder so ähnlich.“
Georg zog das dunkelgrüne Shirt über und stopfte sich einen Müsliriegel in den Mund. Seit Paul Vater geworden war, hatte sich vieles verändert. Sie waren kein eingeschworenes Team mehr. Waren seither mehr oder weniger wie die vier Säulen einer einbruchsgefährdeten Konstruktion, die es sich nicht eingestehen wollte, dass der Zahn der Zeit an ihnen nagte. Cord konnte nicht leugnen, dass er sie vermisste, jene unbeschwerlichen Abende, die Ideen einer Fortsetzung, die es von seinem jetzigen Standpunkt aus kaum zu erreichen gab.
Etwas matt trottete er hinter Leo in die grell beleuchtete Halle hinauf. Die Aussichten eines ruhmreichen Trainings waren diesmal alles andere als rosig. Sein rechter Knöchel spielte den eingebildeten Kranken und Cord bezweifelte stark, dass ihn die gierig eingeworfene Mahlzeit vorhin in irgendeine andere Richtung ziehen würde, als nach unten.
Und er sollte Recht behalten. Das Aufwärmtraining nahm kein Ende und das Freundschaftsspiel danach versetzte ihm und seinem Team einen herben Schlag in die Magengrube.
„Na, das haben wir ja grandios an die Wand gefahren! Oder wie es unser Trumpianer Paul formuliert hätte: «Männer, wir haben richtig abgelost!»“
Cord schenkte Leo und seinem unerschütterlichen Humorzentrum einen vernichtenden Blick. Dennoch brachte dieser es noch fertig, mit einem letzten, unpassend einsetzenden Energieschub die übrige Truppe dazu zu überreden, das Trauerspiel in der nahegelegenen Bar zu begießen.
Gemeinsam mit den Mädels aus der anderen Garderobe machten sie sich auf in die ehemalige Spielhölle, die, wenn es nach dem Betreiber der Wohnhausanlage ging, wohl bald einer Spielhalle für Milchtrinker würde weichen müssen.
Anders als in Cords womöglich zukünftiger Firma stellte sich die Frage nach Raucher- oder Nichtrauchertum hier nicht. Hatte man ein Problem mit der dicken Luft, wurde man von dem brummigen Betreiber auf das pinklastige Szenetreff gegenüber verwiesen. Aktuellen Gesetzeseinfälle hin oder her.
Cords rechte Hand verschwand in seiner Jeanstasche, noch ehe sich das weiche Polstermaterial an seinen Hintern zu schmiegen begann. Auch der nächste Handgriff saß. Routine. Erneut. Diese allesvereinnahmende, überall lauernde Eintönigkeit.
„Darf ich mir eine schnorren.“
„Du schuldest mir noch mindestens zwei Packerl.“
„Cord..?“
„Sicher. Hier.“
Er reichte ihr eine und sie lächelte ihn dankbar an. Nicht schüchtern. Nicht frech. Ein aufrichtiges Lächeln ohne Geschmacksverstärker. Leila schlüpfte aus ihrer Sportjacke und setzte sich zu ihm.
„Habe Diana vorhin beim Shoppen getroffen. Läuft nicht so, mh?“
„Nicht wirklich.“
„Hast du ne neue?“
Cord konnte nur hoffen, dass sie Diana dieselbe Frage gestellt hatte.
„Nein.“
Leila nickte stumm.
„Einfach auseinandergelebt.“
Wie langweilig das klang. Wie alltäglich. Cord nahm einen tiefen Zug und drehte das eiskalte Bierglas zwischen den Fingern.
„Das wird schon wieder!“
Cord warf ihr einen ungläubigen Blick zu und sie zwinkerte ihn an.
„Sonst machst du’s einfach wie die Finnen.“
„Und was machen die Finnen so?“
„Naja, Sauna und dann raus ins Eisloch. Soll Wunder wirken gegen jede Art von Beziehungsengpass.“
Cord bezweifelte das stark und hielt sich lieber an Lateinamerika. Tanzen, Trinken und ab und zu an ortsansässigen Substanzen kauen.
„Leila?! Dori hat sich gerade gefragt...“
Leila war abgetaucht. Wie ein Delfin war sie den Rufen auf der anderen Seite des Tisches gefolgt und in die Wogen des neuen Gesprächs eingetaucht. Cord lehnte sich zurück und sah zu Leo hinüber.
„Wie war’s heute? Irgendwelche Chancen?“
„Vielleicht, wenn’s nach den Insiderkanälen meines Onkels geht.“
„Tatsache? Nicht schlecht! Wieviel würde da denn so rausspringen?“
„Anfangs an die zweitausend Netto.“
„Zweittausend haben oder nichthaben!“
Cord musste ihm Recht geben. Er konnte das Geld gut gebrauchen. Die Ersparnisse in seinem Geldbunker zierten, wenn überhaupt, nur noch den spiegelglatten Metallboden und funkelten ihm verächtlich entgegen.
Dennoch. Etwas fehlte. Etwas Großes. Etwas Farbiges. Etwas Unfassbares.
Cord schlief schlecht in dieser Nacht. Im Schlaf wand er sich durch einen Strudel aus durchwachsenen Träumen, vorbei an starren, unbekannten Gesichtern und fremden Orten. Sein Kopf war zum Bersten gefüllt mit mehr als einem Informationsstrang, den sein Körper in die Ewigkeit zu verbannen versucht hatte.
Der Rasierer kratzte und malte ihm blutige Sterne ins Gesicht. Im Badezimmerspiegel folgte er den Bewegungen seiner Hand, die hoffnungslos versuchte, dem Jammerspiel ein Ende zu bereiten. Als er fertig war, sah Cord nach der etwa fünf Zentimeter großen Brandblase, die er sich tags zuvor auf dem Handrücken zugezogen hatte. Aber sie war verschwunden. Seine Hände waren makellos, nur ein winziger Kratzer, als er in seinem Kasten nach einer Hose gekramt hatte und dabei an eine hervorstehende Schraube geschrammt war. Keine unschöne Rötung, die dünnwandige Blasen geschlagen hatte.
Cord suchte in seiner Erinnerung nach einer Erklärung. Er hatte die Szene vor sich. Wie er ohne Handschuhe das Backrohr geöffnet hatte, den Nudelauflauf mit einer Gabel getestet und dabei zu nah an die heiße Kante des Backrohrs geraten war. Nudelauflauf? Gestern Abend hatte er mit Sicherheit nichts Derartiges mehr zustande gebracht. Er hatte um Punkt 23 Uhr die Tür zu seiner Wohnung aufgeschlossen und im selben Moment auf das Display seines Handys gesehen. Ein Anruf in Abwesenheit.
Verwirrt blickte er sich in der Küche um. Der Anruf! Natürlich hatte er sein Versprechen, Diana nach dem Training zurückzurufen, nicht eingehalten. Zweifelsohne würde sie stocksauer sein. Cord suchte nach seinem Telefon, das sich im Badezimmer auf der weichen Duschmatte unter seiner Hose aalte.
Ein Anruf. Eine Nachricht.
Der Anruf war wie erwartet von Diana gekommen. Er öffnete die Nachricht. Die Nummer direkt darüber war ihm unbekannt.
„Findest du das lustig? Wer bist du?“
Sonst nichts. Cord starrte auf die wenigen Buchstaben der kurzen Nachricht. Die Versuchung, darauf zu antworten, war groß. Doch noch größer war die Leere in seinem Hirn, was den diesbezüglichen Text anbelangte. Cord tat das erste, das ihm in den Sinn kam. Er tippte die Nummer in ein Onlinetelefonbuch und klickte die stilisierte Lupe rechts davon an.
»Ihre Suche lieferte 0 Ergebnisse.«
War ja klar.
In diesem Augenblick läutete Cords Telefon erneut. Geistesabwesend hob er ab.
„Ja?“
„Guten Morgen Cord.“
Ihre Stimme klang wie das Packeis, das sich an die Eisbrecher Sibiriens heftete.
„Diana! Es tut mir leid...“
„Spar’s dir. Ich rufe nur an, weil ich von Schlussmache per SMS noch viel weniger halte...“ Im Grunde hielt sie nicht viel vom SMS-Schreiben im Allgemeinen. „...also, so wie ich das sehe, sind wir Geschichte.“
Cord atmete möglichst unauffällig aus und stierte zu der Kaffeekanne, die immer noch ungewaschen auf dem Herd auf ihren neuerlichen Einsatz wartete. Er war sich ziemlich sicher, dass er sie ausgewaschen hatte.
„Wow, mehr kommt da nicht?!“
Cord riss sich zusammen und dachte angestrengt über eine Antwort nach.
„Wie gesagt, Diana, es tut mir leid. Vielleicht sollte es einfach nicht sein.“
Ein Klicken und die Leitung war tot.
Cord warf das Handy auf sein Bett, schlüpfte in T-Shirt und Hose und reinigte die Kaffeekanne ein weiteres Mal. Dabei verfing sich sein Blick an seinen Fingernägeln. Seine Fingernägel waren dunkelblau gewesen. Er wusste das so genau, weil ihn etwas an dem Bild an einen Schwarzindianer der Metal-Szene erinnert hatte oder auch an einen dieser, aus der Mode gekommenen Emotionalen. Cord betrachtete seine Nägel. Keine Spur von Nagellack, egal welcher Farbe.
Auf dem Tisch lagen die Bewerbungsunterlagen von gestern. Er fischte sich einen Stift aus der Küchenschublade und notierte die Worte «Brandwunde, Nagellack und Nudelauflauf» darauf.
Das Telefon meldete sich erneut. Es war Magister Gunther, der Personalchef von gestern.
»Eine gewisse Frau Scarlett Wyss und er werden gebeten, sich morgen um zehn in der Firma einzufinden. Der Firmenchef und sein Adjutant möchten sich gerne höchstpersönlich von ihren Fähigkeiten überzeugen.«
Scarlett. War das wirklich ihr Name? Sie hatte ihn jedenfalls zum Programm gemacht. Das weißlich glühende Actionmännchen wechselte in die rotleuchtende Hand einer Inderin. Cord schüttelte den Kopf. Was sollte das? Er hatte das Bild dieser Ampel schon einmal irgendwo gesehen Aber wo war das gewesen?
Diesmal zog er für seine Recherche die Suchmaschine auf seinem Laptop dazu heran. Don’t Walk. Walk. Cord betrachtete die unterschiedlichen Fotos US-amerikanischer Leuchtsymbole, die der Computer für ihn ausgespuckt hatte. Ein Sammelsurium aus bunten Verkehrsreglern und ebenso farbenfrohen Gehäusen. Er klickte eines der Bilder an, das exakt dasselbe zeigte, wie es ihm zuvor vor seinem inneren Auge erschienen war. New Jersey.
Cord kaute die Spitze des Kugelschreibers in seiner Hand. Er brauchte eine Zigarette. Und er brauchte endlich seinen Kaffee. Fahrig öffnete Cord den Kasten über der Spüle und griff nach der Metalldose, die er seit Wohnungsgedenken an dieser Stelle aufbewahrte. Es herrschte elende Leere. Verdammt! Auch das noch.
Genervt zwängte sich Cord in seine Jacke und steckte die Geldbörse in die Tasche seiner Jogginghose. Normalerweise nutzte er jede Ausrede, um sich einen überteuerten Kaffee in der amerikanischen Kette im Nachbarhaus zu genehmigen. Heute hätte er darauf verzichten können. Er hatte kein Interesse an dem Aufdruck des Bechers, an der Preissparte der Kaffeemaschine oder an den Handelswegen der gerösteten Wachmacher. Was er brauchte, war eine parate Lösung für seine auf- und abschwellenden Erinnerungen, die ihm genauso fremd, wie tief vertraut vorkamen.
Cord stolperte die Stufen hinab ins Erdgeschoß und zündete sich noch im Haus seine Zigarette an. Zu spät setzte die Erkenntnis ein, irgendwo in seiner Handlungskette einen Fehler begangen zu haben. Bevor er noch das vor Rostaroma triefende Lokal erreichte, machte er kurzerhand kehrt und schlenderte für die Dauer seiner ersten Zigarette die Straße entlang.
Die Erinnerungen der letzten Tage schwirrten wie ein aggressiver Bienenschwarm um seinen Verstand. Cord beschleunigte seine Schritte, als würde ihm die Geschwindigkeit dabei helfen, den Insekten den Wind aus den Flügeln zu nehmen.
Sofort drängten sich Bilder ausladender Gehsteige seinem offenen Auge auf und ein dunkelhäutiger Mann rief nach einem Mädchen, das mit einer schweren Schultasche beladen, die Straße entlanglief. Der Geruch von fettigem Essen und das Klirren der Schöpfkelle in der heißen Metallwanne bewegten sich in rasender Geschwindigkeit auf ihn zu und verschwanden ebenso schnell in einem schwarzen Tunnel aus Nichts. Cord blieb stehen und legte die Hände an die Stirn.
Wahnsinn. Fühlte er sich so an. Der Wahnsinn.
Er drückte die Zigarette am nächstbesten Abfallkübel aus und schnipste den Stummel auf einen entstellten, noch lose in Papier gewickelten Hotdog.
Der doppelte Espresso in der bauchigen Tasse brachte einen Teil seiner Lebensgeister zurück. Systematisch begann Cord die einzelnen Erinnerungsstränge in Schubladen zu verteilen. Er identifizierte Tagträume, Albträume und geheime Wünsche. Übrig blieb ein Produkt von unerreichtem Detail. Wie ein scheinbar unzusammenhängendes Kunstwerk reihten sich markante Gesichtszüge fremder Personen an Perlen loser Satzteile. Cord sah aus dem Fenster und sein Steckenpferd legte für einen Moment eine Pause ein.
„Lässt dich auch wiedermal hier blicken?“
Benommen schwenkte sein Kopf in die entgegengesetzte Richtung und Cord starrte in das sonnengegerbte Gesicht eines Mittvierzigers. Da waren dichte Bartstoppeln, nachtschwarze Augen und bläulich schimmerndes Haar.
„Kenji! Wie geht‘s dir?“
„Ja, es geht und dir? Warst auf Reisen, wie man munkelt!“
„War ich. Südamerika und... und auf dem Heimweg noch ein kurzer Abstecher in die Staaten.“
„Sehr gut! Sehr gut... Solltest wirklich wiedermal bei uns vorbeikommen. Die neue Gruppe hat‘s wirklich drauf.“
„Glaub ich dir aufs Wort. Aber ich fürchte, dass ich da nicht mehr mithalten kann und...“
„Keine Zeit. Jaja.“
Das Stakkato des Japanischen war für einen Moment mit seiner einwandfreien, deutschen Aussprache verschmolzen.
„Kenn ich. Aber vielleicht gehen wir mal abends auf ein Bier und du erzählst mir von deinen Abenteuern, okay?“
Kenji hatte sich zu ihm gesetzt und seine schwarze Lederjacke über die Lehne des Sessels geworfen.
„Sicherlich, gerne. Jederzeit.“
Cord warf einen Blick in die leere Tasse in seiner Hand und stellte sie vor sich ab.
„Super. Du kannst gerne deine Freundin mitbringen, wie heißt sie noch gleich? Sabrina? Nein, Sabine, hab ich recht?“
„Sandra. Aber das ist passé.“
Es war mehr als das.
Kenji lachte gurgelnd auf.
„Umso besser. Meine Nichte aus New York ist zu Besuch. Sie würde sich sicher freuen, ein bisschen echten Österreicher kennenzulernen.“
Kenjis 180-Grad-Wendung überraschte Cord nicht. Aber ein bisschen echter Österreicher? Rein äußerlich war dem nicht zu widersprechen, aber für den Rest würde sich die Gute wohl oder übel noch anderwärtig umsehen müssen.
„Wenn du meinst.“
„Keine Sorge! Meine Nichte ist erwachsen, etwa so alt wie du. Ich war der Nachzögling in der Familie.“
Noch einmal gab Kenji einen seiner Gluckser zum Besten. Dann ließ er seine Hand auf den Tisch niedersausen, stand auf und verabschiedete sich bei ihm.
Cord antwortete mit einem Nicken und machte sich ebenfalls auf den Weg. Ein Bild der erwachsenen Nichte tauchte auf einmal vor ihm auf, als er hinter dem großgewachsenen Japaner die vielbefahrene Straße betrat. Er schlug die entgegengesetzte Richtung ein und kehrte durch die schwere Holztür in den vertrauten Bereich des Stiegenhauses zurück.
New York. War das nicht auch der Nachbarbundesstaat von New Jersey? Die beiden ungleichen Brüder. Schwestern. Nachdenklich stapfte Cord die Treppe zu seiner Wohnung empor. Das Mobiltelefon vibrierte kurz und meldete eine neue Nachricht. Wann hatte er es in seine Hosentasche gesteckt? Er hätte schwören können, nur nach Schlüssel und Zigaretten gegriffen zu haben. Cord schüttelte den Kopf und las die kurze Nachricht.
„Nein, ich habe keinen Hund. Was soll der Blödsinn?“
Cord las die Nachricht erneut. Die Nummer des Absenders war exakt dieselbe, wie bei der kryptischen Warnung zuvor und nichts an seinem Smartphone deutete darauf hin, dass er jemals eine Nachricht an diese Nummer versandt hatte.
„Wer bist du? Ich habe dir nicht geschrieben.“
Sekunden später tauchte eine neue Nachricht auf.
„Irrtum. Du hast mir geschrieben. Dreimal. Wer bist du?“
Cord wurde es langsam zu dumm. Er überlegte, die wenig zielführende Konversation einfach zu ignorieren und war kurz davor das Telefon aus der Hand zu legen. Dann schieb er.
„Ich heiße Cord.“
Er musste keine Minute warten und eine weitere Sprechblase zeichnete sich auf seinem Bildschirm ab.
„Cord? Auch nicht einfach mit so einem Namen, mh? Ich bin Milk.“
Milk? Eine zweite Sprechblase reihte sich an die erste.
„Miriam. Ist aber fast schon antiquiert. Wo bist du daheim?“
„Wien und du?“
„Überall. Zurzeit in NYC.“
New York. Das allesverschlingende schwarze Loch.
Der Bildersturm in seinem Kopf hatte sich gelegt. Etwas, so zart wie eine sommerliche Blumenwiese hatte sich vor ihm aufgetan und die Gelassenheit zurückgebracht. Nachdem er die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte, schloss Cord die Augen und griff nach einer Zigarette.
Milk? Auf die Couch gelehnt schielte er auf das Handy, das arglos auf dem massiven Holztisch vor ihm lag. Nein, es war kein Traum gewesen. Die Nachrichten waren real. So real wie sein Telefon, ein digitales Drum, dem keinerlei Kreativität zuzusprechen war. Jedenfalls keine, die nicht auch vom Hersteller beabsichtigt worden wäre.
Cord starrte an die Decke. Ein langer, einsamer Tag stand ihm bevor. Der Dienstag war sein trainingsfreier Tag und zu allem Überfluss war es Dianas Tag gewesen. In den letzten Wochen seit seiner Rückkehr aus den beiden Amerikas hatte er sie dienstags stets direkt von der Arbeit abgeholt und zu einem Mittagslunch in ein jeweils anderes Innenstadtlokal geschleppt. Sie hatte es genossen, auswärts zu essen, bis zur Vergasung von den begriffsstutzigen Kunden des Tages erzählt und ab und zu von seinem Bier genippt.
Cord schnappte sich den Laptop und setzte ihn wenig galant vor sich auf dem Holztisch ab. Vielleicht würde es helfen, sich von diesem Bruch mit der Routine mit ein klein bisschen Arbeit abzulenken. Der mattschwarze Kasten brachte stets genug Unerledigtes zum Vorschein, ließ man sich erst darauf ein. Etwa die Homepage eines Freundes, die auf Vordermann gebracht werden musste, oder Cords eigener Email Account, der bereits Gefahr lief in Vergessenheit zu geraten. Es klopfte zweimal.
„Bist du nicht neugierig?“
Dieselbe Nummer.
Das war er. Und auch wieder nicht.
„Ich meine, was du mir in den drei Nachrichten davor geschrieben hast?“
Zugegeben, daran hatte er bisher noch keinen Gedanken verwendet. Ja, er war neugierig. Die Blumenwiese begann sich langsam in eine riesige Parkanlage zu verwandeln, an deren Rändern das Grau der Häuser mit den grünlich spiegelnden Fenstern um die besten Plätze stritt.
„Doch. Sehr.“
Er rechnete damit eine Weile auf die nächste Meldung warten zu müssen und machte sich auf in die Küche, um nach etwas Essbarem zu suchen. Die Brotbox war so leer wie am Tag zuvor. Zum Glück war sein Cornflakesvorrat zum Bersten gefüllt. Cord schüttelte eine große Portion vitaminbeladener Zerealien in eine der bunt bemalten Schüsseln, die seine Schwester für ihn getöpfert hatte und goss sich den letzten Rest der Haltbarmilch darüber. Als er damit auf der Couch Platz nahm, zeigte sein Smartphone drei neuen Nachrichten.
„Das Bild der Steine vor dem verschwommenen Basketballplatz hat mir gefallen.“
„Rot. Grün. Rot. Grün. Stehen. Gehen. Stehen. Gehen.“
„Ich hatte auch mal einen Hund wie diesen. Ein Border Collie namens Leika. Hast du einen Hund?“
Cord las die Texte ein zweites Mal. Das sollte er geschrieben haben? Nichts an den drei Nachrichten kam ihm bekannt vor.
Nur eine Sache verunsicherte ihn. Nein, sie tat sogar mehr als das. Sie verpasste ihm einen Stich in der Brust, als eine alte Narbe wehmütig riss. Cord hatte einen Border Collie namens Leika gehabt. Und sie war seine beste Freundin gewesen, die ganze schwierige Zeit hindurch, als seine Eltern um die Vorherrschaft über das Sorgerecht gekämpft hatten und dann doch des lieben Geldes wegen zusammenblieben waren. Das war mittlerweile zehn Jahre her. Leika dagegen fristete ihr Nichtmehrdasein seit etwas mehr als fünf Jahren auf dem Hundefriedhof, ganz in der Nähe vom Haus seiner Großmutter.
„Scheiße!“
Cord warf das stumme Gerät, von dem keine Hilfe zu erwarten war, neben sich auf die Couch und ließ den Kopf in die Arme sinken. Die Tränen hatten ganz vorsichtig angeklopft und er hatte ihnen wie immer sofort die Tür vor der Nase zugeschlagen. Mit dem Geflenne konnte er nicht umgehen. Nicht mit dem der anderen und schon gar nicht mit seinem eigenen.
„Tut mir leid. Kann mir das nicht erklären.“
„Mach dir keinen Kopf. Ist mein österreichisches Handy, vermutlich war alles nur ein simples »number jumble«.“
Vielleicht.
Die Homepage seines Freundes verschwamm vor seinen Augen und die Ampeln aus seinen Träumen tauchten stattdessen vor ihm auf. Dann riss ihn die laute Melodie seines Telefons jäh ins Diesseits zurück. Es war Onkel Herbys Nummer unter dem Kopf von Dagobert Duck.
„Hi.“
„Ja, hab ich schon. Mhh. Sicher.“
„Wenn du meinst. Danke, das ist ehrlich... Danke.“
Cord stand auf und streckte sich. 12 Uhr 34. Vielleicht war es an der Zeit, eine Runde um die Häuser zu joggen, bevor er sich endlich zum Supermarkt aufmachen würde, um in den kommenden Tagen nicht in die Cornflakesfalle zu tappen. Etwas unschlüssig schlüpfte Cord in seine Laufschuhe und verabschiedete sich von der Leere, die in seinen eigenen vier Wänden Quartier bezogen hatte.
Der wenig schmeichelhafte Weck-Ton seines Handys beförderte ihn mit einem Ruck ans Tageslicht. Cord schloss die Jalousie und zog die Decke über den Kopf. 9 Uhr. 9 Uhr und das Vorgestern kehrte wie ein ungemütliches Déjà-vu in sein Bewusstsein zurück. Noch einmal. Noch einmal würde er sich im schlimmsten Fall ein Kopf an Kopf Rennen mit der attraktiven Scharlachroten liefern, das in Wahrheit nur einen fairen Ausgang finden konnte.
Bleischwer schleppte sich Cord ins Badezimmer und tat sein Bestes, um die Spuren des gestrigen Abends aus seinen Gliedern zu verbannen. Wein, Bier und der japanische Reisschnaps, den er wie schon einmal unterschätzt hatte, hatten ihr Übriges dazu beigetragen, dass Cord von Glück sprechen konnte, heute Morgen in seinem eigenen Bett aufgewacht zu sein. Die Erinnerung an das schrille Lachen der japanischen Nichte hallte in seinem Kopf wieder und ließ ihn den langen Metallgriff in der Dusche umklammern, um nicht mit dem Kopf gegen die Fliesen zu prallen. Halbfertig stieg er auf den fusseligen Badezimmerteppich hinaus und suchte nach seinem Handtuch. Ja, er hatte eindeutig die besten Voraussetzungen, um das Talentstechen heute so richtig in den Sand zu setzen.
Cord verzichtete auf seine Kanne Kaffee, nicht aber auf seine erste Zigarette und setzte sich mit einem Schädel, dessen wahre Größe wohl eher der eines Michelinmännchens entsprach, in Bewegung. Ampeln. Quietschende Reifen. Ein Altmetallhändler am Eck. Zweimal Drive-In. Einmal bog er ab. Bei einer braunen Skulptur, deren düstere Vertiefungen wohl den Inhalt seiner Worte einfangen sollten, bestellte er einen doppelten Espresso und erhielt wenig später zwei kleine Pappbecher gefüllt mit dem Inhalt seiner Bestellung.
„Danke.“
War der Typ neu oder waren dem Laden tatsächlich die großen Becher ausgegangen? Cord fuhr auf den Parkplatz und stürzte den ersten Becher in einem Zug hinunter. Den zweiten klemmte er zwischen die Sammlung an Rechnungen und den MP3-Player in der Mittelkonsole und legte den ersten Gang ein. Zehn Minuten vor zehn.
Auf dem Parkplatz seiner vermutlich nicht zukünftigen Firma nippte er an dem zweiten Becher und griff nach dem Deo, das er immer in der Tasche hinter seinem Beifahrersitz mitführte. Dann sprang er die moderne Marmorstiege ein zweites Mal in den ersten Stock empor und suchte nach dem Hinweisschild zum Büro des Chefs. Das Schild existierte nicht. Niemand, außer dem Personalchef, schien über ein Namensschild an der Tür zu verfügen und so setzte sich Cord erneut auf einen der unbequemen Sessel davor und schnappte sich ein Magazin.
„Herr Gregori?“
Cord zuckte zusammen. Auf dem feingliedrigen Gesicht der roten Nymphe machte sich ein Hauch von Belustigung breit.
„Herr Doktor Kaltenbrunner meinte, ich solle mal nachsehen, ob Sie sich eventuell im Stock geirrt haben.“
Du, war er versucht zu sagen. Doch das Du war hier genauso situationsfremd, wie die wirren Gedanken in seinem Kopf. Verlegen stieg er hinter ihr die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo jede einzelne Tür über ein piekfeines Namensschild verfügte, das die Insassen wie eine riesige Ansammlung von Führungskräften zum Verkauf anpries.
„Hier entlang.“
Bereits nach dem zweiten Satz ging ihm ihre neckische Art gehörig auf die Nerven. Cord warf ihr einen gehässigten Blick hinterher, der ihr genau das unmissverständlich klar machen sollte. Doch wie schon so oft, versagte das Übersetzungsprogramm und seine blauen Augen bewirkten das genaue Gegenteil. Sie antwortete mit einem freundlichen Lächeln und ließ jegliches Konkurrenzdenken für einen Moment in den Hintergrund treten.
„Ah, Herr Gregori! Sehr erfreut, Sie auch endlich hier begrüßen zu dürfen. Mein Personalchef hat mich bereits darüber informiert, dass Pünktlichkeit wohl nicht zu ihren Eigenschaften zählt.“
Das saß. Cord steckte den ersten Hinweis auf einen schlechten Start mit einem Kopfnicken und einem reuevollen Blick ein und stierte auf den eleganten Kunststoffstuhl neben dem, auf dem Scarlett Platz genommen hatte.
„Setzen Sie sich. Es gibt keinen Grund zur Panik. Im Grunde handelt es sich hierbei nur um eine Kleinigkeit, die ich allerdings gerne von Ihnen beiden gemeinsam erledigt gesehen hätte.“
Scarlett nickte und Cord arbeitete hart daran, es ihr nicht wie ein folgsamer Dackel gleichzutun. Das Wort gemeinsam hatte Doktor Kaltenbrunner betont, als würde der Fortbestand der menschlichen Rasse und seiner bewährten Vorherrschaft davon abhängen. Cord schielte auf die losen Zettel in der Hand des Firmenchefs.
„Ich möchte, dass sie sich folgendes Fallbeispiel vornehmen und gemeinsam eine Lösung erarbeiten. Sie haben dafür zwei Stunden Zeit und dürfen den Computer im Nachbarraum benutzen. Die dazugehörigen Dateien finden Sie ebenfalls darauf.“
Er drückte Scarlett die Zettel in der Hand und deutete mit einem Nicken auf die Durchgangstür hinter ihnen. Cord folgte ihr benommen. Was sollte das werden? War der Raum videoüberwacht und analysierte man von anderswo jede ihrer Bewegungen und Inputs in dieses Projekt. Der kleine Kerl, der seinen Verstand am heutigen Tage koordinierte, zuckte mit den Schultern und tippte wie wild in seine undurchschaubare Rechenmaschine. Cord tat es ihm gleich und versuchte sich bestmöglich zu konzentrieren, um die kleingedruckten Anweisungen auf den A4-Blättern zu erfassen. Immer wieder verschwammen die bockigen Buchstaben vor seinen Augen und Cord fuhr sich mehrmals mit der Hand über die Stirn, bis es endlich soweit war und die Sätze langsam Sinn ergaben.
„Hast du’s?“
Diesmal hatte ihre Stimme nichts Affektiertes gehabt. Keinerlei Anzeichen von Hohn waren darin mitgeschwungen und Cords Alarmglocken läuteten schrill. Wie zu erwarten, hatte die fuchsrote Version der Perfektion alles unter Kontrolle.
„Hab ich. Welchen Teil davon möchtest du machen?“
Du. Da war es wieder. Diesmal war es ganz natürlich gekommen. Oder hatte sie es ihm zuerst angeboten?
„Schritte eins und vier. Zwei überlegen wir uns gemeinsam, ebenso den Abschlussbericht. Drei und fünf für dich?“
Cord überflog die Arbeitsanweisungen und konnte ihr nur zustimmen. Sie hatten noch etwas mehr als eine Stunde und fünfundvierzig Minuten Zeit. Zielstrebig machte er sich an die Arbeit. Er arbeitete wesentlich konzentrierter, als er es sich noch vor einer Stunde zugetraut hätte und die Atmosphäre in dem kleinen Büro entspannte sich zunehmend. Von Zeit zu Zeit betrat der Firmenchef oder einer seiner Adjutanten den engen Raum und stellte eine Frage zu einem der Arbeitsschritte. Doch es war nichts dabei, das Cord aus der Ruhe gebracht hätte. Die gemeinsamen Punkte erledigten sie effizient und schon bald, präsentierten sie abwechselnd den Abschlussbericht und die Handhabe der Mini-Homepage.
Herr Doktor Kaltenbrunner und sein nichtssagender Assistent lauschten ohne Unterbrechung und baten sie gleich darauf für eine Bedenkpause vor die Tür.
Scarlett verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an der gegenüberliegenden Wand zurück.
„Was denkst du? Haben wir ihn?“
Cord zuckte mit den Schultern.
„Warum nicht? Hat doch bestens geklappt.“
„Ja, das hat es.“
Sie hatte leise gesprochen, mehr zu sich selbst und ihre roten Fingernägel waren nicht wieder unter den Ellenbogen hervorgekommen. Alles, das zuvor wie ein überwältigendes Feuerwerk um sie herum erstrahlt war, hatte sich in ein kleines Schneckenhaus zurückgezogen und hatte das schmale Mädchen verletzlich in dem erbarmungslos grellen Licht des Büroganges zurückgelassen.
„Kopf hoch! Wenn’s jemanden erwischt, dann mich.“
Cord lachte. Er konnte nicht fassen, was er gerade eben getan hatte! Hatte er ihr tatsächlich Mut zugesprochen? Etwas an ihrer Ausstrahlung hatte diese unglaubliche Wirkung, ihr Umfeld ständig in einen neuen, andersartigen Bann zu ziehen.
Leicht zuversichtlicher hob sie den Kopf und fuhr sich mit den schmalen Fingern über die Lippen. Die dünnen, langen Beine in den blassen Strümpfen hatte sie ebenfalls überkreuzt und das gab ihrer ganzen Haltung etwas von einer Meerjungfrau.
Der ruckartige Abfall des Adrenalins hatte Cords Kopfschmerzen erneut auf Vormarsch gebracht und er ließ sich auf die einzige Sitzgelegenheit weit und breit sinken. Sollte sein vielleicht zukünftiger Chef doch denken was er wollte.
Im selben Moment flog die Tür hinter ihm auf und der Assistent bat sie beide zurück ins Büro.
Nur langsam realisierte Cord, was das alles wirklich bedeutete.
Sie hatten den Job. Sie beide. Scarlett und er.
Schon kommenden Montag würde er wieder einer geregelten Arbeit nachgehen. Würde seinen Hintern jeden Morgen zur gleichen Zeit aus dem zerwühlten Bett quälen und gemeinsam mit seiner rätselhaften Arbeitskollegin den Anforderungen des Alltags trotzen.
Irgendetwas daran hatte diese belebende Wirkung auf ihn gehabt. Heiter legte Cord den ersten Gang ein und rollte auf die Ausfahrt zu. Noch fünf Tage. Fünf Tage, bis er wieder würde hier sein müssen. Fünf Tage, an denen er alles tun und lassen konnte, wie es ihm beliebte. Zuversichtlich strahlte er den dunklen Schatten entgegen, die der dichte Stadtverkehr vor ihm ausgebreitet hatte.
Sein Telefon gab einen vertrauten Ton von sich. Bei einer Ampel kramte er danach und las die kurze Nachricht.
„Hey Cord! Habe soeben den Border Collie wiedergesehen und musste an dich denken. Wie geht es dir?
Erst Rot, dann Weiß. Die Frauenwelt durfte über einen ausgeprägten Sinn für Signalfarben verfügen.
„Gut und dir? Habe mir soeben einen gut bezahlten Job geangelt.“
„Gratuliere!! That’s my boy! Was machst du?“
„Webdesign.“
Der Verkehr wurde stärker und Cord beschloss kurzerhand auf einem Parkplatz eines Supermarktes anzuhalten. Sie hatten Tag eins von fünf.
„Damit kenn ich mich nicht aus. Meine Homepage fällt unter Ausgaben.“
„Was machst du?“
„Kunst.“
Kurz darauf pochte es erneut.
„Genaueres findest du unterwom.com“
„wom?“
„world of milk, klick mal rein!“
„Werd ich! Ist‘s nicht noch etwas früh bei euch da drüben?
„Ja ist es, aber ich musste etwas erledigen. Später hätte es der Verkehr unmöglich gemacht.“
Cord musste schmunzeln. Hier hatte man bereits den zweiten Zenit des Blechgerangels erreicht und die Straßen wurden nun vorrangig von zwei Spezies beherrscht, den kastenförmigen Lieferwägen und allen anderen, die sich glücklich genug schätzen konnten, um diese Uhrzeit nicht den Bürostuhl hüten zu müssen.
Auf einmal hatte Cord die Neugier gepackt und er konnte es kaum noch erwarten, nachhause zurückzukehren. In seine vertrauten vier Wände, die vor allem eines beinhalteten. Sein Herzstück. Seinen Computer. Nervös wechselte er viel zu oft die Spur, nur um an der Ampel im Rückspiegel entnervt in dasselbe Gesicht zu blicken. Nach einer gefühlten Ewigkeit parkte er auf seinem Stellplatz in der Tiefgarage, brachte die Strecke in den dritten Stock hinter sich und betätigte die unbewegliche Zwölf auf seiner Tastatur oben links. Ohne Umschweife tippte er die Adresse ihrer Homepage ein und tauchte ein in ihre »World of Milk«.
Irgendjemand hatte die elf Buchstaben gut in Szene gesetzt, so dass sie leicht durchscheinend und flüssig wie Milch über einer einzigen, großen Schwarz-Weiß-Aufnahme thronten. Die Aufnahme zeigte ein Zimmer in einer verlassenen Wohnung. Der stark gewellte Holzfußboden nahm den größten Teil des Bildes ein und führte wie auf Schienen zu dem gewollten Zentrum. Dort saß elfengleich auf einem zerschlissenen alten Ohrensessel eine zarte Gestalt. Cord konnte nicht sagen, ob sie nackt war, aber ihre langen Beine hingen unbekleidet über die breite Armlehne des Lehnstuhls, während der Rest ihres Körpers im Halbdunkeln lag und nur die Konturen von Oberarm und Schulter sichtbar waren. Schwarze lange Haare bildeten die Grenze zu dem ebenfalls im Schatten liegenden Polsterteil.
Es war schlicht und weg umwerfend.
Und das, obwohl absolut nichts an dem Bild auch nur irgendeinem Schönheitsideal entsprach. Jetzt mal abgesehen von der zarten Silhouette und ihrer zerbrechlichen Nacktheit.
Cord überflog die Rubriken zu beiden Seiten der Aufnahme und klickte auf eine Reihe tanzender Nägel, die das Wort WORKS formten. Augenblicklich füllte sich der Bildschirm mit einer Vielzahl von Aufnahmen in den unterschiedlichsten Farbtönungen. Auf einigen der Bilder war das Gesicht einer Frau zu erkennen und Cord nahm an, dass es sich dabei um Selbstportraits handelte. Er wählte eines davon aus und vergrößerte es.
Die hellen Augen mit dem stechend dunklen Rand zogen ihn sofort in den Bann. Cord schloss die Augen und öffnete sie erneut, um dem Rest des Bildes eine Chance zu geben.
Ihre Haut im Gesicht und an den langen Arme, die einen geblümten Rock umklammert hielten, war beinahe durchscheinend weiß. Cord folgte dem knochigen Elfenbein von der Schulter über den Ellbogen bis zu den dunkelblauen Fingerspitzen. Er stockte. Ihre Nägel waren auf dieser nur schwach farbigen Aufnahme eindeutig dunkelblau lackiert. Cord griff nach seinem Mobiltelefon und tippte eine neue Nachricht ein. Nur wenig später ertönte das erhoffte Pochen.
„Vor drei Tagen. Die Wunde ist nicht schön, aber sie gibt ein erstklassiges Motiv. Deine erste Nachricht betraf mein Bild über die Steine vor dem Basketballplatz.“
Cord konnte es nicht fassen. Vor drei Tagen hatte er noch nicht einmal gewusst, dass sie existierte. Oder etwa doch? Der Gedanke streifte ihn, eine Dokumentation im Fernsehen angesehen zu haben und darüber eingeschlafen zu sein. Doch letztendlich war auch diese Überlegung wenig hilfreich. Es blieb die Frage, woher er ihre Nummer hatte. Und all die Träume.
Angestrengt versuchte Cord sich an die Träume von letzter Nacht zu erinnern. Es hatte Träume gegeben und sie hatten ihm für eine geraume Zeit lang den Schlaf geraubt. Doch je mehr er sich sein Hirn darüber zermarterte, desto rascher zerronnen die spärlichen Bildfetzen zu einer klumpigen Masse aus Brei. Nein, es hatte keinen Sinn. Dezent pochte es ein weiteres Mal.
„Ok. Du hast nun meins. Bekomm ich nun deins?“
Was? Wie damals in der Schule starrte er auf die Formulierung der Fragestellung und wartete auf eine Eingebung. Was wollte sie von ihm?
Und nicht wie damals in der Schule, hatte sich gleich darauf die Erkenntnis in sein Bewusstsein gebrannt. Sie wollte sein Bild, denn er hatte das ihre. Und nicht nur eines davon.
Cord stand auf und blickte in den Spiegel an seinem Kleiderschrank. Fantastisch. Als wäre er der lebendig gewordene Informationspfosten einer Touristensammelstelle, verwiesen sämtliche seiner Haarsträhnen auf eine jeweils andere Sehenswürdigkeit, von Augustinerkirche bis Zentralfriedhof.
Aus reiner Gewohnheit war er sich seit Verlassen des Firmengeländes immer wieder mit den Händen durch die mit Gel versiegelten Haare gefahren und hatte die Ordnung, die den ganzen Vormittag über geherrscht hatte, zunichte gemacht.
„Nicht nachdenken. Einfach abdrücken. Sind die besten.“
Cord konnte nicht glauben, was er hier tat. Verstohlen blickte er ein letztes Mal in den Spiegel, dann drückte er ab. Es war einfach zu komisch. Er hatte einer zum Leben erwachten Elfe aus Nimmerland tatsächlich das wenig beschönigende Portrait seines Hangover-Covers geschickt.
„Wow!“, kam es kurz darauf zurück.
Klar. Er hätte dasselbe getan. Nur ein Witz hatte die Situation jetzt noch retten können. Cord überlegte mit einem angemessenen Smiley zu antworten, dann ließ er es bleiben und verschwand in die Küche, bemüht einen weniger fatalen Gedanken zu fassen.
Mittagessen. Sein Magen hatte nicht darauf vergessen, ihn alle paar Minuten mit seiner Befindlichkeit zu unterhalten. Cord öffnete den Kühlschrank und zog eine Packung eines appetitlich abfotografierten Fertiggerichts heraus. Er entfernte die Kartonschleife und brachte die weniger appetitliche Wahrheit unter einer durchsichtigen Kunststofffolie zum Vorschein. Egal. Sein Telefon spielte eine Melodie und er beeilte sich die Plastikschüssel im Mikrowellenherd zu platzieren.
„Ja?“
„Hey! Ja, klar! Da bin ich dabei.“
Cord ließ den Hörer wieder sinken und wartete auf das erlösende Dong der Mikrowelle.
Gänsehaut. Das Bild der feinen Härchen auf der schimmernden Alabasterhaut war ganz plötzlich in ihm aufgetaucht. Während er wartete, versuchte er daran festzuhalten. Wie in Nebel getaucht, verschwand es aufs Neue. Sie war tatsächlich berauschend schön und Cord ertappte sich dabei, wie er sich vorstellte, wie sie ihre Bilder arrangierte. Das Dong kam und er schnappte sich die Fertigmahlzeit, um sie auf der Couch vor dem Fernseher zu löffeln.
Sie genoss das kribbelnde Gefühl, das der Gedanke an ihn ausgelöst hatte. Heute Morgen war sie viel zu früh aufgewacht und hatte sich sofort mit ihrer Fototasche über der Schulter auf den Weg gemacht. Seine letzten Worte hatten sie neugierig gemacht, hatten sie genau dorthin gebracht, wo er sie hatte haben wollen. Das wusste sie. Und noch etwas wusste sie. Es waren nur noch zwei Tage, bis sie ihm endlich persönlich gegenüberstehen würde. Dann würde das ewige Schreiben und Skypen endlich ein Ende haben und sie könnte endlich sein wahrhaftiges Gesicht sehen, nicht nur jenen digitalen Schein davon.
Vielleicht in einem Café, mit schottischen Memoiren an den Wänden und dem Lärm der gepflasterten Straße im Hintergrund. Milk hätte Luftsprünge machen können, so sehr sehnte sie sich danach, die gemeinsamen Vorbereitungen endlich in die Tat umzusetzen. Das benutzte Ticket in einem Mülleimer im Hotel zu entsorgen und nach Europa zurückzukehren. Zwei Tage noch.
Ihr Mobiltelefon jodelte einmal und sie begann wild in ihrer Tasche danach zu kramen, bis ihre Finger es endlich zu fassen bekamen. Sie hatten sich noch für keinen Treffpunkt entschieden, vielleicht...?