Sind wir nun glücklich? - Bai Yansong - E-Book

Sind wir nun glücklich? E-Book

Bai Yansong

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  • Herausgeber: Riemann
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Wachsen mit dem Wirtschaftsaufschwung auch Zufriedenheit und Glück? China zwischen Optimismus und Ernüchterung

China hat innerhalb weniger Jahre einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt. Seine zielgerichtete, auf niedrige Produktionskosten fokussierte Politik hat es zum stärksten Rivalen der Usa werden lassen. In materieller Hinsicht eine fantastische Erfolgsstory. Aber wie empfinden das die Menschen?

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Bai Yansong

Sind wir nun glücklich?

China auf der Suche nach sich selbst

Aus dem Chinesischen von Karin Betz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die chinesische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »(Are We Happy?)« bei Changjiang Literature & Art Publishing House Bejjing Book Center, China.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

© 2012 der deutschsprachigen Ausgabe Riemann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

© 2010 der chinesischen Originalausgabe Changjiang Literature & Art Publishing House Bejjing Book Center, China

Redaktion: Ralf Lay, Mönchengladbach Umschlaggestaltung: www.buero-jorge-schmidt.de Umschlagmotiv: © Scott Robin Barbour/getty images

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-07378-7V002

www.riemann-verlag.de

Vorwort – Was ist Glück?

Wenn ich unter Menschen bin, schaue ich ihnen gewöhnlich aufs Handgelenk, als verberge sich dort das innerste Geheimnis des modernen China, etwas, worüber zwar nicht offiziell gesprochen wird, was sich aber zunehmend weiter verbreitet: Immer mehr Menschen, Frauen wie Männer, tragen ein Talisman-Armband, einige davon wohl einfach nur zur Zierde, die Mehrzahl allerdings trägt es als Glücksbringer oder zur eigenen Beruhigung. Dieses Armband, irgendetwas zwischen Glaubensbekenntnis und Schmuckstück, ist meist weder das eine noch das andere.

Was bedeutet solch ein Amulett, worin genau besteht seine Funktion für den Träger oder die Trägerin? Oder, anders gefragt, für welche inneren Ängste und Unsicherheiten steht es bei den Einzelnen?

Trägt so ein Armband zu unserer Beruhigung bei? Was sagt dieses scheinbar rein dekorative Objekt über unsere Psyche aus? Und warum macht sich eigentlich niemand über dieses merkwürdige Phänomen Gedanken?

Vielleicht schweigt man sich darüber aus, weil man ratlos ist. Handelt es sich dabei um ein »Zurück zur Tradition« oder um einen Neuanfang? Ob es auf religiöse Rituale zurückgeht, die wir unbewusst verinnerlicht haben, oder einfach ein aus Verunsicherung geborener Hilferuf ist?

Am letzten Tag des Jahres 2006 besuchte ich Ji Xianlin im städtischen Krankenhaus Nummer 301. Ich kam dort vormittags an und fand den alten Herrn Ji, der für gewöhnlich sehr früh aufsteht, längst am Tisch vor. Der Linguist und Historiker war in seine Arbeit vertieft. Er saß an den Korrekturen seines bereits vor einer ganzen Weile veröffentlichten Werks Fünfzehn Abhandlungen zum Buddhismus. Er sagte: »Ich glaube, das sind Fragen, mit denen ich mich ganz gut auskenne.«

Und damit hatten wir unser Gesprächsthema. Das hatte ich nicht erwartet, und es ist auch kein Thema, das man mit einem Satz abhandelt, es zog sich durch unsere gesamte Konversation.

»Sind Sie Buddhist?«, fragte ich.

»Wenn ich ja sage, trifft es das vielleicht nicht ganz; aber ich muss gestehen, dass ich ein sehr enges Verhältnis zum Buddhismus habe. Das geht wahrscheinlich vielen von uns Chinesen so«, antwortete mir der alte Ji.

Ich wurde neugierig und fragte weiter: »Wo finden die Chinesen Trost für ihre Seelen inmitten dieses rapiden ökonomischen Wachstums, heute und in Zukunft?«

Herr Ji ging etwas mehr ins Detail und gab mir ein Beispiel. Einmal habe er Besuch von einem hohen Kader bekommen, und auch dabei war es um Bewusstseinsfragen gegangen. Der Besucher fragte ihn: »Was wird unter den Menschen zuerst aussterben, die Doktrinen oder die Religionen?«

Ji antwortete dem hohen Kader, ohne zu zögern: Einmal angenommen, dass die Leute es nicht schaffen werden, die Angst vor dem Tod zu überwinden, dann werden es wohl zuerst die Doktrinen sein, die noch einen Tag vor der Religion verschwinden.

Ich war beeindruckt von der Weisheit, dem Mut und dem Glauben, die aus dieser scheinbar prosaischen Antwort sprachen. Natürlich ließ die Aussage »einen Tag vorher« viel Spielraum für Interpretationen.

Es ist nun schon eine Weile her, dass ich Ji im Gespräch gegenübersaß. Es waren nur ein paar Stunden. Das Licht der Wintersonne auf dem Gesicht des alten Mannes erfüllte mich und alle anderen Personen im Raum mit seiner Wärme. Fröhlich und friedlich wirkte Ji an jenem Tag. Ich und die Leute ringsum waren es ebenfalls.

Neulich blätterte ich durch ein Buch über den Philosophen Liang Shuming mit dem Titel Wie kann diese Welt eine bessere werden?. Als ich auf das Nachwort stieß, einen Auszug aus den Schriften von Liang Shuming selbst, klopfte mir bei der Lektüre unwillkürlich das Herz schneller.

Der weise Liang war der Meinung, die Menschheit stehe drei großen Fragestellungen gegenüber, und zwar genau in dieser Reihenfolge: Zuerst gelte es, die Probleme zwischen den Menschen und den Dingen zu lösen, dann die Probleme der Menschen untereinander und schließlich die Probleme zwischen dem Menschen und seinem inneren Selbst.

Genau so ist es. Machen wir denn von den frühesten Studien der Kindheit an bis zum hohen Alter etwas anderes, als die Probleme zwischen uns Menschen, die wir unseren Platz in der Gesellschaft gefunden haben, und den Dingen ringsum zu lösen? Ohne Stundenpläne, Wissen, Arbeit, Geld, Häuser, Autos und dergleichen mehr, wie könnte man sich da einen erwachsenen Menschen nennen? Und wer wird sich nicht ernsthaft und mit aller Sorgfalt mit seiner Rolle als Vater, als Mutter, als Sohn oder Tochter, als Ehemann oder Ehefrau, als Vorgesetzter oder Untergebener, als Freund oder Feind, mit all diesen zwischenmenschlichen Fragen auseinandersetzen?

Aber wenn man dann auf dem Pfad des Lebens voranschreitet, immer weiter und weiter, kann man den roten Faden, den letzten Sinn des Lebens, nur vage erkennen, alles ist veränderlich, aber dass das Leben nun einmal wesenstypisch eine Einbahnstraße ist, daran lässt sich nichts machen. Daher stellen sich dann nach und nach Unsicherheit, Furcht, Zweifel und Pessimismus ein. Es bleibt bei den alten Fragen des menschlichen Bewusstseins: Woher komme ich und warum gehe ich immer weiter? Und wohin?

In unseren komplexen und komplizierten Zeiten ist es noch viel schwieriger geworden, sich als umtriebiger Mensch mit Fragen nach dem inneren Selbst und Ähnlichem auseinanderzusetzen. Trotzdem sind sie umso dringlicher. Wir alle brauchen eine Antwort darauf.

Je gründlicher wir darüber nachdenken, umso wichtiger erscheint es zu klären, worin die Herausforderung dieser drei Fragen an unser Leben besteht.

In den ersten zwanzig Jahren der vor mittlerweile über dreißig Jahren angestoßenen chinesischen Reformpolitik lagen unsere persönlichen Ziele im rein Materiellen, in der Sicherung eines gewissen Lebensstandards, gutem Essen und warmer Kleidung, darin, das Einkommen zu verdoppeln und zu vervierfachen. Die Lösung der Probleme zwischen dem Menschen und den Dingen war eine Frage des Überlebens. Und jeder Einzelne vertraute sein persönliches Glück den materiellen Gegenständen an, die in der nahen Zukunft auf ihn warteten.

Diese materialistischen Ziele haben sich für die meisten mit der Zeit erfüllt, aber die Chinesen stellen allmählich fest, dass das Glück sich nicht automatisch mit materiellem Wohlstand einstellt. Überall hört man Klagen, die hochrangigen Beamten beschweren sich genauso wie die kleinen Angestellten, die Armen beschweren sich und die Reichen nicht weniger. Es sieht aus, als ob alle zunehmend beunruhigt sind, aber nicht sagen können, woher dieses Gefühl der existenziellen Unsicherheit kommt. Es breitet sich aus wie eine Epidemie, bei der einer vom anderen angesteckt wird. Die Oberen bangen um die Sicherheit, weil sie Ärger aus dem Volk fürchten, während das Volk darum bangt, was die Oberen aushecken, ohne sich um das Wohl der kleinen Leute zu scheren. Die Reichen sind verunsichert und fragen sich, ob ihr Reichtum eines Tages nichts mehr wert sein wird. Und die Armen sorgen sich darum, ob sich die Situation für sie und ihre Kinder bessern wird. Und aus dieser grassierenden Angst und Unsicherheit heraus nimmt die Gewalt unter den Menschen rapide zu – was sie wiederum noch mehr verunsichert. Das Glück ist letzten Endes zu einem großen Problem geworden.

Und in diesem Moment kommt das Verlangen nach einer harmonischen Gesellschaft ins Spiel, das nichts anderes ist als die Suche nach einer Antwort, wie wir zwischenmenschliche Probleme lösen und uns bemühen können, dem Glück ein Stück näher zu kommen. Allerdings entstehen im Zuge dieser Bemühungen immer größere Herausforderungen.

Auf welche Weise sollen wir für ein Volk von 1,3 Milliarden Menschen die Frage nach unserem inneren Selbst beantworten? Gibt es einen gemeinsamen Nenner, grundlegende Wertvorstellungen, die im Kern dieser Masse von Menschen stecken? Wo liegt unsere geistige Heimat? Woran glauben wir? Glauben wir alle an den Renminbi?

Haben unsere Sorgen und Nöte, das Chaos und die Profitgier in unserer Gesellschaft nicht alle mit dieser Frage zu tun? Und hat nicht auch die Tatsache damit zu tun, dass wir offenbar alles haben – außer Glück?

Das Glück, das gegenwärtig zu unserem größten Problem geworden ist, ist gleichzeitig zur größten Herausforderung für unsere Zukunft geworden. Aber wo liegt das Glück? Diese Frage lässt sich momentan nicht beantworten. Sicher ist nur, dass wir uns ständig unglücklich fühlen.

Immer wieder sehen wir die Grundfesten dieser Gesellschaft erschüttert. Mal finden sich Melamine im Milchpulver, mal gesundheitsbedrohliche Pestizide im Gemüse. Nur weil es dem einen in den Kram passt, nimmt er anderen, mit denen er nichts zu tun hat, die Lebensgrundlage. Um Geld zu machen, wird in einem fort betrogen, es geht allein um den persönlichen Profit. Andere dienen bestenfalls als die Sprossen der Leiter, über die man auf dem Weg zum Erfolg steigen muss. Wer von Idealen redet, macht sich lächerlich. Und dabei handelt es sich nicht um Ausnahmefälle, sondern um etwas ganz Alltägliches.

Da ist nichts zu machen. Menschen ohne Glauben in einer Gesellschaft ohne Glauben schlagen in ihrer Unerschrockenheit und Zügellosigkeit sämtliche von ihren Vorfahren überlieferten Maximen in den Wind und machen in ihrem eigennützigen Profitinteresse anderen das Leben zur Hölle.

Manch einer sagt, wir müssten darauf achten, unsere Grundsätze zu wahren. Doch schon bald gibt es keine Grundsätze mehr, oder – besser gesagt – die Grundsätze werden immer wieder nach Lust und Laune aufgegeben, warum also noch von Grundsätzen sprechen? Wo sind die Leitprinzipien, die sich bewahren lassen?

Eines Nachmittags fuhr ich, hinter mir ein weiterer Wagen, ganz normal die Straße entlang, als uns plötzlich eine Luxuskarosse gegen die Fahrtrichtung entgegenkam und uns mit lautem Hupen zur Freigabe des Wegs nötigen wollte. Es gab aber keinen Weg, auf den wir hätten ausweichen können. Deshalb fühlte sich die Fahrerin des Wagens, als sie sich an uns vorbeidrängte, bemüßigt, die Fensterscheibe herunterzulassen und uns lautstark zu beschimpfen. Ich war bestürzt über dieses gegen die Fahrtrichtung fahrende Auto und seine völlig aufgebrachte Besitzerin. Es handelte sich um eine junge Frau mit hübschem Gesicht, augenscheinlich war sie wohlhabend und stammte aus einer angesehenen Familie. In diesem Augenblick jedoch entstellte die Wut ihre lieblichen Gesichtszüge.

Ich selbst verspürte erstaunlicherweise, während ich so ausgeschimpft wurde, jedoch nicht den geringsten Zorn. Stattdessen fühlte ich eine unglaubliche Trostlosigkeit. Frust, weil sie und ich in der gleichen Zeit und der gleichen Welt leben und weil jeder von uns sich manchmal so verhält wie sie: Wir haben alle keinen Ort, an den wir ausweichen können. Ob man es nun mit schlichter Sittenlosigkeit zu tun hat oder mit extremer Güte, das spielt dabei oft gar keine Rolle. Wir leben in einer sehr komplexen Zeit.

Ein Arzt nimmt Umschläge mit Geldgeschenken an, aber er erledigt auch eine Operation nach der anderen, bis er todmüde auf dem Operationstisch zusammenbricht. Ein Lehrer verhängt Gruppenstrafen über seine Schüler und hält an strikten Examensmethoden fest, während er jahrelang seine Familie und seine eigenen Kinder vernachlässigt, weil er nur seine Arbeit im Sinn hat. Ein Politiker ist möglicherweise im Sumpf der Korruption verstrickt, während er gleichzeitig kein einziges Wochenende frei hat und sein Amt de facto gar nicht so schlecht erfüllt. Wen wundert es da, wenn die Leute sagen: »Ist mir egal, ob einer korrupt ist, Hauptsache, er kümmert sich um seine Aufgaben!«?

Und, Hand aufs Herz, wenn wir ehrlich sind – wer von uns ficht nicht fortwährend einen Kampf mit sich selbst aus? Wie lassen sich Richtig und Falsch unterscheiden? Wie lässt sich sagen, was gut und was böse ist? Wo ist das rettende Ufer?

Es heißt, unter den 1,3 Milliarden Chinesen bekennen sich mehr als hundert Millionen zu einer bestimmten Religion wie dem Buddhismus, dem Katholizismus und anderen christlichen Kirchen oder dem Islam. Weitere hundert Millionen geben an, sie glauben an den Kommunismus. Danach kommt nichts mehr. Das heißt, fast 1,1 Milliarden Chinesen glauben an gar nichts. Ist das ein Grund zur Sorge?

Nun haben sich auch in den vergangenen Jahrhunderten die Chinesen nie einheitlich zu einer bestimmten Religion bekannt. Die meisten von uns pflegen in der Regel erst im letzten Moment nach der helfenden Hand Buddhas zu greifen. Wer Hilfe braucht, zündet Räucherkerzen an und begibt sich mit Geldgeschenken ausgestattet in den Tempel, um sich dort vor den Heiligen auf die Knie zu werfen. Wenn es funktioniert, erfüllt man das im Austausch gegebene Versprechen, und damit hat es sich.

Andererseits hat es den Chinesen nie an Glauben gefehlt. Ganz gleich, ob man kulturelle Bildung hat oder nicht, hinter dem komplexen Gebilde der chinesischen Kultur lag doch immer auch unser Glaube verborgen: in den Geschichten, die uns unsere Großeltern erzählten, in den Gedichten der Tang- und Song-Zeit und auch in der überlieferten Etikette und den Ritualen unseres Lebens. Entsprechend haben die Chinesen seit jeher die Natur geachtet und nach einer Einheit von Mensch und Natur gestrebt, Respekt vor Erziehung und Bildung gepflegt und sich darauf verstanden, stets das rechte Maß zu halten. Wenn man also in China über Glauben redet, hat das zwar manchmal, aber nicht unbedingt etwas mit Religion zu tun. Es ist eine Ethik, ein »Glaube ohne Religion«, deren Besonderheiten allein wir Chinesen kennen, aber es ist gut möglich, dass unsere Generation das gar nicht mehr begreift.

Aus den Ruinen der Zerstörung, die uns das 20. Jahrhundert von der Bewegung des Vierten Mai (1919) bis zur »Kulturrevolution« der sechziger Jahre hinterlassen hat, ist eine Horde von Kindern ohne jeden Glauben hervorgegangen. In unserer Zeit, wo sich die Tür zu Reformen geöffnet hat, ist mit dieser Öffnung die Gier auf den Plan getreten. Sie hat unser Leben verändert und trampelt obendrein ungehemmt auf der Leere unserer »glaubenlosen« Seelen herum.

Deshalb sind wir alle die Urheber dieser befremdlichen Geschichten, von denen jeder schon eine gehört hat, sie widerfahren uns tagtäglich selbst, wir sind ihre Ursache und ihre traurigen Opfer zugleich.

Wie kann unter diesen Umständen das Glück zu uns finden?

Macht und Geld werden zunehmend zu unserem Glaubensbekenntnis. Sie stehen ganz eindeutig in enger Verbindung mit der Befriedigung unserer Bedürfnisse.

Ich habe einmal ein Mitglied der Auswahlkommission für Nationalsportler erlebt, wie es beim Betrachten eines Athleten, der auf der Bühne mit aller Kraft sein Können zeigte, mit einem lauten Seufzer ausrief: »Wie kommt es bloß, dass ich in seinen Augen statt Aufrichtigkeit und Ernst nur einen BMW und eine große Villa sehe?«

Diese Erkenntnis hat wenig mit jenem einen Athleten zu tun, sie ist ein verbreitetes Problem unserer Zeit. Wie viele andere haben in einer x-beliebigen Gruppe von Menschen nicht den gleichen Ausdruck in den Augen? Wer wagt noch, sich nachts in aller Stille im Spiegel in die eigenen Augen zu sehen?

Macht ist und bleibt ein Problem. Selbst wenn der Persönlichkeitskult abnimmt, scheint der Kult um die Macht dagegen nur noch mehr zuzunehmen.

Ich weiß nicht, seit wann es so ist, dass zwischen den Kategorien und Ebenen der Macht so viel Kalkül und so wenig Intelligenz im Umgang miteinander im Spiel sind. Seit wann sind die Untergebenen ihren Vorgesetzten gegenüber so übertrieben gehorsam und haben überhaupt keine eigene Meinung mehr? Die Macht der Macher ist immer größer geworden, und entsprechend haben auch die Diskurse über die Machthabenden zugenommen, während die Möglichkeiten zum Diskurs um wichtige Angelegenheiten mit den Machthabern schwinden.

Ist es wirklich so, dass die Untergebenen die Macht verherrlichen? Ein genauerer Blick hinter die Kulissen verrät, dass das nicht unbedingt der Fall ist. Die Untergebenen sind doch längst viel zu intelligent und viel zu gut ausgebildet dazu. Wenn eine zur Schau getragene Unterwürfigkeit zum eigenen Vorteil gereicht oder zumindest größere Nachteile verhindert, wer würde sich dieser Strategie dann nicht bedienen?

Bleibt die Frage, wer oder was den Untergebenen zu diesem Verhalten rät.

Die Jugend einer jeden Generation hat es nicht leicht. Unsere gegenwärtige Jugend hat aber hat ganz offensichtlich mit besonders großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Unser Zeitalter fordert von jungen Leuten unbedingten Erfolg, und Erfolg bedeutet ein Haus, ein Auto und überdurchschnittliche Leistungen im Beruf. Aber von dieser Art von Erfolg lässt sich leicht reden, verwirklichen lässt er sich nicht immer. Es ist, als hätten wir drei neue »hohe Berge«1 errichtet, deren Überwindung solchen Druck auf unsere Jugend ausübt, dass sie kaum mehr zum Luftholen kommt und selbst die Liebe zu einem Problem werden lässt.

Die Jugend sollte Raum für die Romantik haben und nicht allein von Erfolgsstreben und Opportunismus geprägt sein, aber die jungen Leute können sich nicht davon freimachen, oder sie wagen es nicht. Die Wohnungspreise steigen immer weiter, und daraus ergeben sich bisweilen trügerische Schlussfolgerungen wie: »Der Ministerpräsident macht falsche Versprechungen, also kann man sich nur auf das verlassen, was der Präsident sagt.« Doch dann stellt sich später heraus, dass der Präsident maßlos übertrieben hat, und der Ministerpräsident beeilt sich, Schritte zu unternehmen, um das Steigen der Kaufpreise eiligst wieder einzudämmen – wie kürzlich geschehen. Die Wohnungspreise sind schon keine wirtschaftliche Frage mehr, sondern eine gesellschaftliche und politische. Selbst wenn die Preise für Wohnungen kurzfristig fallen, kann man auf lange Sicht kaum optimistisch davon ausgehen, dass sie real sinken werden. Ganz abgesehen von der Frage, ob das Fallen von Wohnungspreisen, die sich um 30 000 bis 40 000 Yuan2 pro Quadratmeter bewegen, normale Leute überhaupt betrifft. Kein Wunder, dass die Fernsehserie »Enge Behausung« derzeit so beliebt ist.

Und auch die Popularität des TV-Dramas »Verschwörung« zeugt doch nur davon, wie viele Chinesen Probleme mit ihrem beruflichen Umfeld haben. Das alte System, Posten nach dem Senioritätsprinzip zu vergeben, schien für eine kurze Zeit ausgedient zu haben. Es gewinnt aber schon wieder die Oberhand, und den jungen Leuten bleibt nichts anderes übrig, als die kleinen Intrigen am Arbeitsplatz hinzunehmen, ohne laut dagegen aufzubegehren. So werden aus den noch jungen Arbeitskräften schon wieder die alten Zhangs und Lis gemacht.

Diejenigen, die zur ameisengleichen Masse gehören und sich steigenden Wohnungspreisen und nur schwer zu verwirklichenden Idealen gegenübersehen, können den alten Schlager schon nicht mehr hören: »Die Welt da draußen ist wunderbar, die Welt da draußen ist undankbar …« Ja, die Welt da draußen ist undankbar, aber welcher Ausweg bleibt? Kann man sich dann nur noch auf und davon machen in die Wildnis des Nordens, zurückkehren in die vermeintlich friedliche, gute alte Heimat?

Romantik hat sicher ihr Gutes. Wenn man sich aber angesichts des verächtlichen Lächelns der Freundin nur noch umdrehen und verlegen davonstehlen kann, wie viel Trost liegt dann für die heutige Jugend noch in der Romantik?

Wenn in einer Generation alles, was Jugend ausmacht, so extrem unterdrückt wird, wie kann ein solches Zeitalter dann lebendig und von jugendlicher Vitalität erfüllt sein? Hat eine Generation überhaupt eine Zukunft, wenn unter allen Leuten ausgerechnet die Jugendlichen zuvörderst anfangen, sämtliche Ideale aufzugeben?

Wir haben in den vergangenen mehr als dreißig Jahren Reformperiode eine Vielzahl von Fortschritten gemacht, die Zahlen und Fakten beweisen es. Aber wie viele Fortschritte haben eigentlich die Nachrichten gemacht?

Natürlich sind Fortschritte im Bereich der Medien nichts, was sich durch Zahlen und Fakten belegen ließe. Aber es bleiben immer noch eine Menge anderer Kriterien. Zum Beispiel, ob genug ausgezeichnete Talente bereit sind, in den Medien für ihre Ideale einzutreten. Ob jemand, ganz gleich wie bitter die Erfahrungen des täglichen Lebens auch sein mögen, nach einem gewissen Zeitraum einen winzigen Erfolg beim Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt verzeichnen kann.

Und wenn das nicht der Fall ist?

Ein Medienmensch, der wirklich Ideale und Verantwortungsgefühl zeigt, wird dafür niemals etwas anderes als Bitterkeit ernten, selbst den Politikern wird er nur ein Dorn im Auge sein, ein Unruhestifter und Nestbeschmutzer. Wie lange wird jemand an seinen Idealen festhalten, solange Ideale und verantwortliches Handeln für ihn selbst und andere zu einem Unsicherheitsfaktor werden?

Wenn aber alle Idealisten unter dem enormen Druck und den Verlockungen des Lebens zu Realisten werden? Und alle Realisten zu Utilitaristen und die Utilitaristen zu Opportunisten …? Kann Hoffnung zu Verzweiflung werden? Ideale zu leeren Träumen?

Noch sind das reine Hypothesen. Dennoch können sie die Menschen wie ein Albtraum, auch wenn er noch so fabriziert ist, selbst im Wachzustand in Schrecken versetzen.

Auch für die Zukunft des Journalismus braucht es Glauben.

Die Gesellschaft hat ihre Probleme, doch wir alle haben auch unsere ganz persönlichen Schwierigkeiten.

Am Vorabend des Jahres 2000 bat mich eine Shanghaier Zeitung um ein Grußwort zum neuen Jahrtausend. Ich stellte damals zwei Schlüsselbegriffe in den Mittelpunkt: »Ruhe« und »Reflexion«.

Was »Reflexion« heißt, ist nicht schwer nachzuvollziehen. Es heißt nicht, da unsere Existenz schwer zu ertragen ist, einfach hastig ein Pflaster über die Wunden, die wir auf dem Weg davongetragen haben, zu kleben, wenn die Monate und Jahre der Ausschweifungen zu einem Ende gekommen sind. Es heißt, Probleme auf verantwortliche Weise zu lösen. Doch in der Regel hasten wir eilig auf unserem Weg weiter. Und das kann man auch niemandem verübeln, denn es ist nahezu der einzige Ausweg, der bleibt, wenn die Existenz in eine Krise gerät.

Nach dem ökonomischen Fortschritt dieser letzten dreißig Jahre ist das Überleben schon nicht mehr unser größtes Problem. Vielmehr müssen wir wohl eines Tages in unserem Schritt innehalten, unsere Wunden vom Schmutz säubern und mit Alkohol oder Desinfektionsmittel versorgen. Mag das auch schmerzen oder irritieren, es wird der einzige Weg sein, um unsere Wunden zu heilen, und erst dann können wir unbeschwert in die nächste Schlacht ziehen. So sähe eine verantwortliche Haltung gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft aus.

Meine Motive für den zweiten Schlüsselbegriff, den der Ruhe, sind auch nicht gerade schwer nachvollziehbar, denn Frieden für unsere Seelen zu finden wird das größte Problem unserer Zukunft sein.

Im Zeitalter der großen Kriege des vergangenen Jahrhunderts kam das chinesische Riesenreich nicht zur Ruhe, und heute fällt es unserem riesigen Land noch immer schwer, Frieden für seine Psyche zu finden.

Wer keine Ruhe findet, kann auch nicht glücklich sein. Und auch deshalb ist in der Gegenwart Ruhe der größte Luxus.

Solange wir weiter nach Frieden und Glück suchen müssen, werden die Fragen, die uns auf der Seele brennen, nicht verschwinden.

Die Menschen des chinesischen Altertums waren klug. Sie versteckten in den chinesischen Schriftzeichen viele Mahnungen, die dort ihrer Entdeckung harren. Aus lauter Angst, dass die Mahnungen unbemerkt blieben, brannten unsere Urväter sie den Schriftzeichen ganz besonders deutlich ein. Nimmt man das Schriftzeichen mang für »blind« auseinander, erhält man die Bestandteile mu (»Auge«) und mang (»Verlust«); das heißt also, die Augen sind gestorben, und deshalb sieht man nichts mehr. Wenn man das Schriftzeichen »beschäftigt« auseinandernimmt, das ebenfalls mang gelesen wird und aus den Zeichen für »Herz« und »Verlust« besteht, könnte das also bedeuten: »Das Herz ist gestorben«? In der Tat sind alle Chinesen heutzutage sehr beschäftigt um des Erfolgs und des Ansehens willen. Deshalb wage ich selbst kaum das Wort mang wie »beschäftigt« in den Mund zu nehmen, denn wenn unser Herz gestorben ist, was soll dann noch die ganze Herumrennerei?

Dennoch sind alle immerzu beschäftigt und wissen nicht, was sie eigentlich so umtreibt. Und entsprechend hetzen sie weiter. Auf der Straße kann man oft beobachten, wie die Leute noch schnell über rote Ampeln fahren, nur um auf der anderen Seite schon wieder anhalten und warten zu müssen. Eigentlich haben sie gar keinen Grund zur Eile, aber es gehört einfach dazu zu hetzen, es ist längst eine verbreitete Gewohnheit.

Einer solchen Atmosphäre ist es geschuldet, dass offensichtlich die meisten Chinesen keine Geduld mehr aufbringen. Wer liest schon noch ein Buch zu Ende? Früher hatte jeder Zeit, Briefe zu schreiben oder Tagebuch zu führen. Später wurden daraus Kurznachrichten oder Blogs. Inzwischen haben wir es bereits nur noch mit Twittermeldungen zu tun, in denen jede Mitteilung auf 140 Zeichen reduziert ist, Austausch und Kommunikation werden kürzer und kürzer. Und selbst diese 140 Zeichen sind vielen noch nicht kurz genug, ihnen reicht es, einfach Schlagzeilen zu lesen, weswegen es nun bereits eine »Schlagzeilen-Community« gibt. Und was wird der nächste Schritt sein?

Ein älterer Herr sagte mir zu diesem Thema einmal: »Uns alle erwartet das gleiche Ende, und niemand kann ihm entkommen. Auch in aller Langsamkeit kommt uns das Leben kurz vor. Warum wollen dann die Chinesen bloß mit solcher Hast auf ihr Ende zueilen?«

In Mexiko kennt man eine Parabel, die uns sehr weit weg vorkommen mag und doch sehr nahe ist: Eine Gruppe von Leuten eilt eine Straße entlang. Plötzlich bleibt einer von ihnen stehen. Die anderen wundern sich und fragen: »Warum bleibst du stehen?« Er antwortet: »Ich war zu schnell, meine Seele ist hinter mir zurückgeblieben, ich möchte auf sie warten.«

Genau so ist es. Wir laufen viel zu schnell. Doch wer kommt darauf, einfach einmal innezuhalten? Wer zu weit gelaufen ist, vergisst womöglich, warum er überhaupt losgegangen ist.

1 Eine Anspielung auf »die drei hohen Berge«, die es nach Ansicht der Kommunistischen Partei Chinas in den fünfziger Jahren zu überwinden galt: Imperialismus, Feudalismus und Kapitalismus.

2 Etwa 3450 bis 4600 Euro (Stand Februar 2012).

Kapitel 1 – Kapitän und Passagier zugleich

Es sind mittlerweile fast zwei Jahrzehnte vergangen, seit ich 1993 bei CCTV (China Central Television) angefangen habe. In diesen Jahren ist aus dem 25-jährigen jungen Mann von damals ein reiferer Mann in seinen Vierzigern geworden. Es ist nicht verkehrt zu sagen, dass diese Jahre zu den wertvollsten Jahren meines Lebens gehören. Gleich, ob die Zeitspanne mir kurz oder lang vorkommt – diese Jahre nehmen innerhalb der Geschichte des Nachrichtensenders, der 2009 sein fünfzigjähriges Bestehen feierte, gerade einmal ein Drittel ein. Auf dem großen Schiff von CCTV, so könnte ich nicht ohne Stolz behaupten, bin ich einer der Kapitäne. Es wäre jedoch ebenso angemessen zu sagen, dass ich nichts weiter bin als ein Passagier. Es fiel mir schon immer schwer, diesen ambivalenten Gemütszustand zu beschreiben. Ich möchte daher bei einem besonderen Vormittag beginnen.

Der stumme »9/11«

Am 12. September 2001, etwa um halb elf Uhr vormittags, stieß eine Dame mittleren Alters aufgebracht die Tür zu meinem Büro auf und kam gleich zur Sache: »Heißt es nicht, wenn etwas Wichtiges passiert, dann bist du zur Stelle? Und wo warst du gestern?«

Das kam völlig überraschend. Ich erhob mich schweigend, und auch meine Teamkollegen im Raum waren perplex. Niemand sagte ein Wort, das Schweigen erfüllte den ganzen Raum. Dieser Moment schien eine Ewigkeit zu dauern.

Die Dame hatte offensichtlich nicht vor, lange zu bleiben, sie wollte nur ihrem Ärger Luft machen. Ohne einen weiteren Ton zu sagen, fixierte sie mich streng und verließ wutschnaubend den Raum.

Ich befand mich damals nicht etwa im Sender, sondern in einem Büro des Gebäudes der Scientific News, das gegenüber dem Westtor von CCTV liegt. Das Gebäude verfügte über keine besonders strengen Sicherheitsvorkehrungen, und es gab dort eine Menge Büros verschiedener Firmen. Allein deshalb war es möglich, dass die Dame so unvermittelt in unser Büro gerauscht kam.

Ich kannte sie überhaupt nicht, und das Merkwürdige ist, dass ich sie auch nachher nie wieder gesehen habe. Mag sein, dass ich mich entweder vor lauter Scham über die öffentliche Bloßstellung nicht an ihr Gesicht erinnern kann oder dass sie gar nicht im selben Gebäude arbeitete und nur deswegen dort eingedrungen war, um ihre Kritik loszuwerden. Oder ich kann mich ihrer Gesichtszüge einfach deshalb nicht entsinnen, weil allein schon ihre Worte mir ein Leben lang unvergesslich bleiben werden.

Sie hatte recht, und es gab auf ihre Kritik nichts zu erwidern. Im Grunde galt die Kritik auch gar nicht mir, sondern dem Nachrichtensender CCTV, für den ich arbeite.

Der Grund für diesen Vorfall war, dass CCTV den Terroranschlägen und der Zerstörung der Twin Towers, die am Vorabend die ganze Welt erschütterten, nur eine winzige Meldung gewidmet, »9/11« so gut wie totgeschwiegen hatte. Und gleichzeitig berichteten die anderen Sender inklusive Phoenix TV rund um die Uhr in voller Bandbreite über nichts anderes und ließen CCTV ziemlich alt aussehen. Was war der Grund für diese seltsame Aphasie?

Wenige Minuten nach den katastrophalen Ereignissen in New York erhielt ich zu Hause den Anruf eines alten Studienfreundes aus Fujian, der möglicherweise von Medienberichten aus dem nahen Taiwan davon gehört hatte. Er erzählte mir: »In den USA ist eine Riesensache passiert, bei allen Medien herrscht große Aufregung, und die Ticker laufen heiß.« Er fragte: »Werdet ihr live darüber berichten?«

Ich schaltete sofort den Fernseher ein und zappte mich durch die Kanäle, aber bislang berichtete bei uns noch kein einziger Sender über die Ereignisse.

Ich griff zum Telefon und rief zwei verantwortliche Leiter des Senders an, einer war der Chefredakteur der aktuellen Nachrichtensendung »Oriental Horizon«, der andere war Chen Ha, Vizedirektor der Abteilung »Zeitgeschehen und Kommentar«.

Die Gespräche waren sehr kurz, ich fühlte mich wie ein Soldat, der bittet, in den Krieg ziehen zu dürfen: »In den USA ist etwas Großes passiert, sieht so aus, als sei es wahr. Wenn ihr live berichten wollt, lasst es mich sofort wissen, ich bin bereit und kann jederzeit loslegen.«

Ich hatte kaum aufgelegt, da kamen im Fernsehen die ersten Meldungen durch Shanghai Dragon TV und Phoenix TV, und ich meine, auch ein Provinzsender war dabei. Die Bilder der Nachricht, die die Welt wie ein Erdbeben erschütterten, liefen über den Bildschirm, und ich sah noch größere Eile geboten. Meine Intuition sagte mir: Dieses Ereignis wird Geschichte schreiben, das dürfen wir unter keinen Umständen verpassen.

Meine Wohnung lag nur fünf bis zehn Autominuten vom Sender entfernt, für eine aktuelle Sendung bin ich im Handumdrehen an Ort und Stelle. Aber das Telefon wollte eine Ewigkeit lang nicht läuten. Wenn sich eine Nachricht ereignet und man auch nur eine Minute davon verpasst, bedeutet das für einen Medienmenschen, die Nachricht ist gestorben und längst Schnee von gestern. Das Schweigen eines Telefons auf der einen Seite bedeutet zumeist ein fortlaufendes Klingeln des Telefons auf der anderen Seite, Diskussionen, Überzeugungskunst, Sorge, Hoffnung … Alle sind sie Medienleute wie ich, alle werden von den gleichen Impulsen und Befürchtungen getrieben. Ich vertraute auf die Zeit und auf Chen Ha, und ich verließ mich darauf, dass bei CCTV angesichts einer solchen Nachricht diese elementaren Impulse zum Zuge kommen würden.

Als das Telefon nach einer Weile noch immer nicht läutete, schaltete ich den Computer ein. Im Internet ging es hoch her. Was einem wirklich das Herz brach: Beinahe sämtliche Kommentare im chinesischen Netz waren von Schadenfreude geprägt. In diesem Augenblick wusste man noch nicht genau, wie viele Menschenleben die Anschläge gekostet hatten, und auch nicht, wie viele Chinesen sich unter den Opfern befanden. Es war noch nicht allzu lange her, dass die USA versehentlich die chinesische Botschaft Ex-Jugoslawiens bombardiert hatten, und der Ärger darüber war noch nicht verflogen, sodass das unerwartete Geschehen am 11. September für viele ein Ventil für ihre schwelenden Hassgefühle gegen die USA öffnete. Aber dennoch war die völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenleben, die sich in diesen furchteinflößenden Hassgefühlen äußerte, einfach erschreckend. Angesichts dieser Kommentare überlegte ich: Wenn ich nun live hierüber berichtete, mit welchen Worten sollte ich das tun und auf welche Weise die Trauer um die Toten ausdrücken?

Aber die Gelegenheit dazu wurde mir nicht gegeben. Das Schicksal wollte es, dass bei CCTV keine Berichte über die Ereignisse des 11. September über den Bildschirm liefen und der Sender aus diesem Grund eine lebenslange Bürde mit sich herumschleppt, die sich schwer schultern lässt.

Als endlich das Telefon klingelte, berichteten sämtliche Medien bereits seit einer guten halben Stunde ununterbrochen. Der Anruf kam zu spät, und sein Inhalt war denkbar knapp: »Geh ins Bett, es hat keinen Sinn. Sie lassen uns nicht senden.«

Ich konnte aus der Stimme meines Gesprächspartners seinen Frust und seinen Schmerz ebenso gut heraushören wie die Kämpfe und Diskussionen, die diesem Beschluss bei CCTV vorausgegangen sein mussten. Aber alles war endgültig unterbunden worden.

Ein Nachrichtensender, auch wenn es sich um den staatlichen Sender CCTV handelt, hat einen natürlichen Bedarf an großen Nachrichten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Sender aus freien Stücken auf eine Berichterstattung verzichtet, ist gleich null. Luo Ming, der später stellvertretender Chefredakteur für die Nachrichtenabteilung wurde, war damals gerade in den USA. Er bestätigte unmittelbar nach dem Eintreten der Ereignisse deren Richtigkeit und nahm Kontakt mit China auf – in der Hoffnung auf das Okay für eine mögliche Berichterstattung vor Ort.

CCTV musste sich jedoch an die internen Weisungen halten. Für mich als kleinen Soldaten schien es eine triviale Angelegenheit, einfach in den Kampf zu ziehen. Vielleicht hegte da jemand die Befürchtung, wir könnten uns mit unseren Kommentaren über die Amerikaner lustig machen und es wäre besser, aus reiner »Großherzigkeit« erst gar nicht zu berichten. Doch diese vermeintliche Großherzigkeit war nichts als eine große Kleinmütigkeit, mit der man sich ein wahres Stück Geschichte durch die Lappen gehen ließ.

Natürlich gibt es noch eine weitere grundlegende Erklärung dafür: Der zuständige Nachrichtenchef war nicht in China, konnte keine direkte Verbindung zu den entscheidenden Stellen aufnehmen und musste selbst entscheiden … doch ganz gleich, woran es lag, das Ergebnis bleibt dasselbe. Wir verpassten »9/11«.

In jener Nacht tat ich kaum ein Auge zu, und ich bin sicher, dass ich nicht der Einzige bei CCTV war, der schlaflose Stunden verbrachte.

Als ich 2009, acht Jahre später, die Reportage »Yansongs Blick auf die USA« machte, sah ich in Washington auf einer Ausstellungswand im Pressemuseum die Titelseiten der wichtigsten internationalen und nationalen Zeitungen vom 12. September 2001. Alle brachten, unabhängig vom Ursprungsland der Zeitung, beinah ausschließlich die gleiche Titelgeschichte, die Ereignisse des Vortags, »9/11«. Die einzige Ausnahme bildete eine große chinesische Zeitung, die mit anderen Titeln aufmachte. Der 11. September war dort nur eine winzige Randnotiz, verborgen inmitten anderer Beiträge.

Diese Ausnahme stach gehörig ins Auge. Es sah so aus, als ob diese amerikanische Tragödie es nicht geschafft hätte, an unsere »Großherzigkeit« zu rühren. Und nun konnte man dieser Ausstellung die Irritation über unser peinliches Schweigen ablesen.

So hinterließen die Terroranschläge vom 11. September in den USA ebenso im fernen China eine »Wunde«, wenn auch anderer Art. Wir können dieser Wunde immerhin dankbar sein, dass sie uns zum Nachdenken über die wahre Aufgabe und Verantwortung der Medien gebracht hat.

Die Standpauke, die mir die Dame hielt, welche ich am Anfang dieses Abschnitts erwähnte, war Ausdruck der Enttäuschung, die unweigerlich auf eine bestimmte Erwartungshaltung folgt, und auch der Ausdruck eines Verantwortungsgefühls, das über die eigenen Interessen hinausgeht. Ich werde ihre Worte mein Leben lang im Gedächtnis behalten. Obwohl es nicht genügen wird, wenn ich der Einzige bin, der sich daran erinnert.

Der Irakkonflikt

Es war 2003, und der Konflikt war noch nicht offen ausgebrochen, als alle Welt bereits witterte, dass ein militärischer Angriff kurz bevorstand. Obwohl man immer noch von Verhandlungen und Sanktionen redete, war so gut wie jedermann klar: Ein Krieg war unvermeidlich.

Vielleicht weil die Kritik und die Unzufriedenheit mit CCTV nach dem 11. September zu groß war oder auch weil diese Unzufriedenheit Leute auf verschiedenen Ebenen endlich dazu gebracht hatte, über den eigenen Standpunkt nachzudenken und ihn zu revidieren, bereitete der Sender sich im Fall des Irakkriegs schon frühzeitig auf eine Liveberichterstattung vor. Das Neujahrsfest war kaum vorüber, als ich persönlich vom stellvertretenden Nachrichtenchefredakteur Luo Ming die Weisung erhielt: »Ab sofort beschränkt sich dein Aktionsradius auf fünfzehn Autominuten Entfernung von der Sendezentrale, damit du im Fall eines Kriegs im Irak jederzeit mit der Reportage loslegen kannst.«

Das klang so leicht dahingesagt, aber die Entschlossenheit hinter dieser vermeintlichen Leichtigkeit war unüberhörbar. In den langen Jahren bei CCTV hatte ich noch nie einen so herausfordernden Befehl erhalten. Auf jeden Fall machte ich mich mit Verve ans Werk.

Als sich am Vormittag des 20. März der Vorhang zum Drama des Irakkriegs hob, war CCTV sofort live dabei, und ich war anschließend für zwanzig Tage fester Bestandteil der Sendungen. Damals gab es noch keinen 24-Stunden-Nachrichtenkanal, die Beiträge kamen wie gewohnt in den konventionellen Nachrichtensendungen. Für CCTV bedeutete das dennoch zum ersten Mal in der Geschichte des Senders die umfassende Berichterstattung über einen Krieg mit unberechenbarem Verlauf und Ausgang, über ein sich im Ausland abspielendes Ereignis, das ein Medienereignis wurde, weil sämtliche Medien der Welt daran teilhatten.

Im Gespräch mit einem Reporter der Zeitschrift Southern Weekly schilderte ich meinen persönlichen Eindruck:

»Wir berichten derzeit über eine Tragödie. Dieser Konflikt dauert bereits viel länger, als sich die meisten Menschen vorgestellt hatten, und er wird vermutlich auch in absehbarer Zeit noch nicht zu Ende sein. Was die Berichte des Fernsehens angeht, liegt unsere größte Herausforderung darin, vorsichtig und überlegt zu beurteilen, welche Informationen richtig und welche falsch sind. Denn es gibt hier den wirklichen Krieg und den Krieg, auf den die Medien direkt Einfluss nehmen, und aus diesem Grund bedienen sich beide Seiten der Medien, um die andere Seite zu verwirren. Das bringt für uns eine enorme Herausforderung mit sich. Doch die wahre Herausforderung habe nicht ich hier in Peking zu bewältigen. Für mich genügt es, ruhig und zuverlässig zu kommentieren, nichts weiter. Die größere Herausforderung liegt bei unserem Korrespondenten Shui Junyi, der sich jetzt schon seit einer ganzen Weile vor Ort im Irak befindet und der nicht nach vorgegebenen Mustern arbeiten kann.«

Anfang Februar war Shui Junyi nach Bagdad gefahren, und wir beide hatten nachfolgend die Sendung »Der Draht nach Bagdad« auf die Beine gestellt. An der wolkenverhangenen Kriegsfront fabrizierte Shui Junyi in großem Stil Reportagen und Interviews und kümmerte sich um die Nachrichtenübermittlung an den Sender wie auch die Liveberichte über die Kriegsvorbereitungen.

Und dann geschah das Unerwartete: Als der Kriegsausbruch unmittelbar bevorstand, informierte man Shui Junyi, dass er aus Sicherheitsgründen den Irak sofort zu verlassen habe. Die Mitteilung kam einem Befehl gleich. Da die Weisung von ganz oben kam, machte es für Shui Junyi und sein Drehteam keinen Sinn, sich ihr zu widersetzen.

Alle zerbrachen sich den Kopf darüber, wie es zu diesem Befehl hatte kommen können, und kamen auf vielerlei mögliche Erklärungen. Wenige Jahre zuvor hatte die versehentliche Bombardierung der chinesischen Botschaft in Jugoslawien durch die USA in China bereits heftig die Gemüter erhitzt. Wenn nun im Eifer des Gefechts, zumal es sich um eine Kriegssituation handelte, versehentlich Shui Junyi und andere chinesische Journalisten verletzt würden, würde dann vielleicht sogar das neutrale China in den Krieg verwickelt werden? Konnte man sich leisten, noch einmal eine Welle USA-feindlicher Emotionen innerhalb der chinesischen Bevölkerung zu wecken?

Sosehr dieser Erklärungsversuch auch nahelag – für Shui Junyi kam die Entscheidung einem Todesstoß gleich. Er war als einziger unserer Journalisten vor Ort, an der Front wie ein Soldat. Einfach abzuziehen bedeutete, ganz gleich, was die Gründe dafür waren, zu kapitulieren. Er musste sich fühlen wie ein Deserteur. Aber natürlich blieb ihm nichts anderes übrig, als zu akzeptieren.

In jenen Tagen telefonierte ich nach der Sendung »Draht nach Bagdad« mit Shui Junyi, der seinen Argwohn und seinen Ärger kaum verbergen konnte. Er suchte nach Auswegen, fragte sich, ob er sagen solle, er habe seinen Reisepass verloren, er würde seinen Posten bei CCTV in Peking kündigen und dergleichen. Aber bei einer Weisung von oberster Stelle war nicht nur Shui Junyi, sondern auch der Sender schlicht machtlos.

Unter strenger Eskorte durch die beiden chinesischen Botschafter im Irak und Bahrain wurden Shui Junyi und sein Team kurz vor Kriegsausbruch widerwillig aus dem Irak nach Hause geschickt.

Als dann der Krieg ausbrach, hatten wir zwei seit zwei Tagen die Verbindung zu Shui Junyi verloren, gleichzeitig berichtete aber die Reporterin Lüqiu Luwei von Phoenix TV weiter aus Bagdad. Die Internetgemeinde und die Zuschauer reagierten mit Unverständnis: »Shui Junyi ist zum Deserteur geworden!«, hieß es. Oder: »Eine Frau bleibt an der Front, während der männliche Reporter den Rückzug antritt. So was nennt sich Mann!«

Wir kannten den wahren Hintergrund und konnten unserem Korrespondenten dennoch nicht zur Verteidigung beispringen.

Verbittert und enttäuscht fasste Shui Junyi, der sich noch im Nahen Osten befand, einen gewagten Entschluss.

Nachdem wir nichts von ihm gehört hatten, erhielt ich nach diesen zwei Tagen überraschend einen Anruf, in dem er mir mitteilte, dass er und sein Team heimlich, entgegen der Weisung, in den Irak zurückgekehrt seien. Er forderte mich auf, persönlich den Direktor der Nachrichtenzentrale darüber zu informieren und für sein Recht auf Berichterstattung zu streiten.

Ich war mir der Bedeutung dieses Anrufs und der Mission wohl bewusst, hielt mich aber nicht lange damit auf, mir über die Schwierigkeiten und Gefahren dieses Vorgehens Gedanken zu machen, sondern begab mich schnurstracks mit Shuis Kollegen Zhang Huan auf die Suche nach dem verantwortlichen Nachrichtendirektor Li Ting.

Wir trafen uns mit ihm im alten Verhandlungszimmer der Nachrichtenzentrale, nur wir drei, allein im schummrigen Licht des Zimmers. Als ich dem Direktor von der vorschriftswidrigen Rückkehr des Teams um Shui Junyi in den Irak erzählte, entfuhr es Li Ting spontan: »Verdammtes Schlitzohr!«

Danach sagte er erst einmal gar nichts mehr, zündete sich eine Zigarette an, saß wie angewurzelt auf dem Sofa und nahm hastig ein paar Züge. Plötzlich erhob er sich, klopfte die Zigarette aus und sagte: »Ich gehe und berichte Intendant Zhao davon.«

Nervös blieben Zhang Huan und ich im Zimmer zurück und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Es handelte sich schließlich um einen Fall von »vorschriftswidrigem Verhalten«.

Li Ting kam ziemlich schnell wieder zurück und informierte uns aufgeregt, er habe sich mit dem Intendanten Zhao Huayong verständigt und der habe ihn angewiesen, da er nun schon einmal wieder vor Ort ist, solle er uns schleunigst Berichte senden, aber in zwei Tagen müsse er das Land endgültig verlassen. Eine Entscheidung, die meine schlimmsten Befürchtungen zum Glück nicht bestätigte.

Schnell kehrte ich ins Studio zurück, und wir nahmen sogleich die Sonderberichterstattung wieder auf. Da ich wusste, was es Shui gekostet hatte, in den Irak zurückzukehren, nahmen wir es in der Geschichte unserer Zusammenarbeit zum ersten Mal in Kauf, die Sendezeit mit unserer fortlaufenden Berichterstattung um zwanzig Minuten zu überziehen. Ich wollte einfach jede Minute seiner Anwesenheit im Irak nutzen, nicht, um damit irgendetwas zu beweisen, sondern aus journalistischem Verantwortungsgefühl.

Einige Tage später musste Shui Junyi auf Weisung des Senders erneut und endgültig den »Rückzug« aus dem Irak antreten. Diesmal ließen sich zwar nicht ganz so viele kritische Stimmen vernehmen, ganz verstummt waren sie trotzdem nicht. Niemand hatte Verständnis dafür, dass Shui Junyi so mir nichts, dir nichts wieder im Irak auf der Bildfläche erschienen war, nur um kurz darauf erneut genauso sang- und klanglos zu verschwinden. Die Leute machten ihrem Unmut Luft, während Shui Junyi leider selbst keine Stellungnahme zu seiner Verteidigung abgeben durfte. Sein Weggang geschah auf einen Befehl, dem er sich nicht widersetzen konnte, und sein Wiederauftauchen wiederum war dem Drängen seines eigenen Gewissens geschuldet. Seinen Ruf konnte er ohnehin nicht mehr retten, aber auf diese Weise konnte er ein bisschen mehr mit sich selbst im Reinen sein.

Das war nur eine kleine Anekdote am Rande unserer Berichterstattung über den Irakkrieg. Eigentlich kaum der Rede wert, aber viele von uns werden sie nie vergessen.

Noch lange Zeit war der Krieg mit wechselndem »Schlachtenglück« im Gange, wobei der Irak bei weitem nicht so auf Leben und Tod zu kämpfen schien, wie Saddam Hussein es darstellte. Allein sein Propagandaminister schien die Rolle des übermächtigen Gegners weiterzuspielen und brüstete sich damit, dass der Krieg nicht mehr lange dauern werde. Eines Nachmittags, wir waren nicht auf Sendung, befand ich mich auf dem Weg vom Fernsehsender zu einem Vortrag in der Parteischule des Zentralkomitees, aber ich war noch nicht lange unterwegs, als ich einen Anruf erhielt: Die amerikanischen Truppen haben Bagdad erreicht, wir berichten, komm sofort zurück.

Nur wenige Minuten später war ich vor Ort im Sendesaal und moderierte die Sendung. Da die US-Truppen nun bereits Bagdad angriffen, würde das Ende des Krieges wohl tatsächlich nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Nach dem Ende der Sendung machte ich mich eilig auf den Weg zur Parteischule, wo über tausend Lehrer und Schüler bereits seit einer ganzen Weile auf mich warteten. Dennoch machte mir niemand einen Vorwurf. Hier konnte jeder verstehen, dass eine wichtige Angelegenheit auch einmal eine massive Verspätung entschuldigt.

Als dann einige Tage später die Berichterstattung über den Irakkrieg eingestellt werden konnte, hatte auch CCTV sowohl bezüglich der Einschaltquoten als auch hinsichtlich der öffentlichen Meinung seine ganz persönliche Schlacht geschlagen. Wie die Realität bewies, müssen bei der Weiterentwicklung unseres Nachrichtenprogramms zwar die Regeln respektiert werden, aber bei Chinas tagtäglicher Zunahme an Bedeutung als Großmacht können sich weder das Land noch das staatliche Fernsehen leisten, sich von den wichtigen Ereignissen in der Welt fernzuhalten. Die direkte Berichterstattung ist ein Zugeständnis an unsere Zuschauer wie an unser Zeitalter.

Während unsere Aufmerksamkeit vom Krieg im Irak abgelenkt war, hatte sich in China das SARS-Virus so geschickt, als sei es ein vernunftbegabter Geist, von Süd nach Nord ausgebreitet. Nun hatte offensichtlich auf unserem eigenen Territorium ein Krieg ganz ohne Rauchschwaden seinen Lauf genommen. Aber davon später.

Der Horizont des Ostens ist nicht länger rot

Winter 2009. Ich halte eine Rede in einem Pekinger Gymnasium, als ein Student aufsteht und fragt: »Ich habe im Internet eine Videosequenz Ihres Programms ›Red Oriental Horizon‹ gesehen, es handelte sich offenbar um eine interne Jahresfeier der Mitarbeiter der Sendung. Ich war ziemlich erstaunt darüber, Sie und Ihre Kollegen dort zu sehen, wie sie singen, lachen und Possen reißen. Was soll man davon halten?«

Ich lächelte. Diese Fragen sind mir nicht fremd. Ich habe sie in den vergangenen Jahren immer wieder zu hören bekommen und bin längst daran gewöhnt. Ich antwortete:

»Ich wundere mich weniger über Ihre Frage als über Ihre Verwunderung. Kein Mensch ist eindimensional, schwarz oder weiß, wir alle sind komplexe Wesen mit vielen Facetten. Wenn wir in unserem Privatleben die gleiche Miene zur Schau trügen wie während unserer Nachrichtensendungen, wäre unser Leben ganz schön langweilig. Anders gesagt, wir alle haben zwei Seiten, genauso wie jeder andere Mensch. Was Sie gesehen haben, war das Darbietungsprogramm zu unserem alljährlichen Jahresabschlussfest, bei dem wir uns von unserer kreativen Seite zeigen. Ich denke immer wieder gern an diese Zeit zurück. Seit ›Red Oriental Horizon‹ im Internet heftig von allen Seiten attackiert wurde, gibt es diese Jahresfeier in ihrer Atmosphäre von Gleichheit und Kreativität nicht mehr. Damit scheint auch die kreative Kraft dahin. Ich finde das sehr bedauernswert.«

Meine Antwort war ehrlich gemeint. Die Frage hatte in mir zum wiederholten Mal Erinnerungen an die Zeiten geweckt, als wir alle noch voller Enthusiasmus waren.

Die bei den Außenstehenden in die Kritik geratene Jahresfeier war hinter den Kulissen ein Stück kultureller Avantgarde gewesen, die das Besondere des brillanten Moderatorenteams von CCTV ausmachte, ein Ausdruck von Kreativität, Freiheit und Demokratie, der unsere Augen bei der Erinnerung daran zum Leuchten brachte.

Die Ursprünge hatten mit dem Nachrichtenprogramm »Oriental Horizon« zu tun. Als im Sommer 1993 zur Feier von hundert Tagen »Oriental Horizon« das Medienzentrum eine Preisverleihung ausrichtete, war das die erste Gelegenheit, bei der dem Team, das aus gerade einmal knapp über zwanzigjährigen Pionieren bestand, öffentliche Anerkennung zuteilwurde. Für die ersten hundert Tage der Sendung hatte es unaufhörlich Lob geregnet, was den damaligen Intendanten Yang Weiguang so freute, dass er es sich nicht nehmen ließ, nicht nur den Abteilungsleiter persönlich einzuladen, sondern noch Leute in sein Büro schickte, um von dort ein paar besondere Geschenke holen zu lassen, die er dem Team von »Oriental Horizon« als Auszeichnung überreichte.

Und am Ende des Jahres wurde offiziell besagte Jahresfeier eingeführt. Die offene und freie Atmosphäre in unserer Sparte »Kommentar« trug zum besonderen Profil dieser Jahresfeier bei: Die Leiter feierten gemeinsam mit den einfachen Angestellten. Es gehörte zu den Geboten der Feier, dass sich die Senderleitung einige Attacken gefallen lassen musste und sich hier einmal ganz den Angestellten unterordnete, Sticheleien, Streiche und Satire eingeschlossen. Während der ersten Jahresfeier legte sich einer unserer oberen Chefs, Sun Yusheng, aus freien Stücken bäuchlings auf den Boden, um sich einen Luftballon-Werfwettkampf mit den Angestellten zu liefern. Dergleichen »Folterspiele« für die Chefs wurden zu einer der Traditionen dieser Feiern.

Die Jahresfeier zu organisieren machte viel Arbeit. Jedes Jahr, sobald der Termin näher rückte, versammelte sich die Elite der Nachrichtenkommentatoren zu mehreren Organisationstreffen, in denen sie das jeweilige Motto festlegte und die thematische Ausrichtung der zahlreichen Darbietungen. Anschließend wurde dann ein Planungs- und Organisationsstab eingeteilt. Schon lange vor dem eigentlichen Termin fieberte die gesamte Abteilung ungeduldig der Feier entgegen und überlegte sich, wie sie an diesem Tag all ihrer Unzufriedenheit mit den Chefs Luft machen würde (die sich darüber nicht beschweren durften). Sehr beliebt war die Feier auch deshalb, weil jede besonders gelungene und originelle Darbietung Gesprächsstoff für das ganze folgende Jahr lieferte. Das befeuerte nämlich den Ideenreichtum umso mehr. Am Ende waren auch die einfachen Mitarbeiter nicht mehr vor den Streichen der Kollegen sicher.

In einem Jahr zum Beispiel fand die Feier in einem Vorort von Peking statt. In einer ziemlich unbelebten Straße, die die Gäste aber in jedem Fall mit ihren Autos passieren mussten, hatte unser Organisationsteam ein Kontrollhäuschen errichtet, an dessen Wänden mehrere versteckte Kameras installiert waren. Dort postierten wir einen Neuling der Abteilung, der den anderen noch unbekannt war, in einer geliehenen Polizeiuniform, der jedes passierende Fahrzeug auf dem Weg zur Jahresfeier kontrollierte. Je hochrangiger die Person im Auto, desto strenger war die Kontrolle, und desto mehr Schwierigkeiten machte der vermeintliche Ordnungshüter. So ließ er beispielsweise Shui Junyi persönlich die Nummer seines Motors abschreiben, und die Wagen der Direktoren Chen Ha und Guan Haiwing wurden gleich beschlagnahmt. Jeder der Betroffenen versuchte auf seine Weise, mit der Situation umzugehen, der eine bemühte sich, über einen guten Bekannten bei der Polizei etwas auszurichten, der andere fing an zu streiten, und wieder andere, wie Shui Junyi, fügten sich in ihr Schicksal und waren duldsam kooperativ.

Und dann kam die Pointe. Der Gastgeber fragte Shui Junyi zu Beginn der Veranstaltung: »Ich habe gehört, dass dein Wagen inspiziert wurde.«

Und Shui Junyi antwortete ganz entspannt: »Kein Problem, ist schon alles gütlich geregelt.«

Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass in diesem Moment das Video davon über die Leinwand flackerte – wie er brav aus dem Auto steigt und gehorsam seine Motornummer notiert. Natürlich brach der ganze Saal in schallendes Gelächter aus.

Das Filmen mit versteckter Kamera wurde forthin zu einem der beliebtesten Mittel, um sich über die Verhältnisse in unserer Abteilung lustig zu machen. Gerade in diese Zeit fiel der Sendestart der Serien »Reis« und »Trennung im Oktober«, von denen sich unser Team einen großen Erfolg erhoffte. Das Publikum nahm die Sendungen mit Begeisterung auf, und sie gehörten zu den vielfältigen Produktionen jeglicher Couleur, die ein Ausdruck der Fähigkeiten unserer Programmmacher waren.

Die vollkommen ungezwungene Atmosphäre der Jahresfeier war für die Mitarbeiter, die unter zunehmendem Druck litten, wie eine Therapie. Sie beruhigte ihre Ängste, war ein Ventil, um unterdrückten Gefühlen freien Lauf zu lassen, eine Möglichkeit, sich mitzuteilen. Sie gab ihnen ein Gefühl von Gleichheit und ermöglichte einem jeden, am nächsten Tag wieder guten Mutes im alltäglichen Konkurrenzkampf zu bestehen.

Doch hat man einmal den Gipfel erreicht, kann es nur noch bergab gehen.

Für die Jahresfeier 2002 übernahm ich die Planung. Als Produktionsmanager der Sendung »Shikong Lianxian«3 war ich quasi naturgemäß für alles zuständig, was als große Sache galt, und dazu gehörte eben auch die Jahresfeier. Cui Yongyuan, ich, Yang Jihong und Chen Ha, die wesentlichen Kräfte hinter dem, was im Nachhinein als »böse Machenschaften« gebrandmarkt wurde, trafen uns schon frühzeitig und hielten unzählige Planungskonferenzen ab, bei denen eine Idee nach der anderen auf den Tisch gebracht und wieder abgelehnt wurde. Schließlich setzte sich eine kühne Idee durch: Auf Basis eines Wortspiels mit dem bekannten Gedicht »Der Osten ist rot« wollten wir eine fingierte Sendung namens »Der Rote Östliche Horizont« auf die Beine stellen, in der sämtliche Mitarbeiter der internen Abteilung der Nachrichten auftreten würden.

Wir waren alle so aufgeregt, dass die viele Arbeit, die wir investierten, uns gar nicht anzumerken war. Und das, obwohl wir in unserer Funktion als Organisationsteam alles vom Programm bis zu den Plakaten im poppig bunten Stil selbst entwarfen. Das Ergebnis von »Red Oriental Horizon« war ein nie da gewesener Erfolg. Was für ein enthusiastisches Spektakel, sprudelnd vor Ideen und Originalität, dabei herauskam, davon kann man sich heute noch im Internet überzeugen.

Doch das war dann auch schon unsere letzte Verrücktheit. Wir waren inzwischen bereits im Internet-Zeitalter angelangt. Niemand von uns hatte eine Ahnung, wer der Wichtigtuer war, der sich bewogen fühlte, seine Brillanz mit der Öffentlichkeit teilen zu müssen, und voreilig das Video mit unserer Show ins Netz stellte. Damit jedenfalls war der Ärger programmiert. In diesem weithin von Humorlosigkeit geprägten Land wurde die Performance der Programmleiter als Vergehen betrachtet: »Eine Schamlosigkeit ohnegleichen«, »Seht nur, die Hofberichterstatter der Partei«, »Zweideutig«, »Liberalistisch«, »Eine Schande für die Journalisten« und dergleichen Kommentare mehr prasselten auf uns ein. Sie nahmen tagtäglich an Heftigkeit zu und wurden für die Funktionäre des Senders zu einer immensen Belastung. Offenbar kam niemandem in den Sinn, dass ebendiese Leute 364 von 365 Tagen im Jahr für die Sendungen »Oriental Horizon«, »Fokus Interview«, »Nachrichten unter der Lupe« oder »Nachrichten direkt« unterwegs waren, ihr Bestes gaben und alles aus- und zusammenhielten. Und wenn sie dann einmal an ihrem einzigen Festtag ein Programm nach Lust und Laune als Jux zusammenstellten, wurden sie dafür öffentlich abgestraft.

Schließlich erhielten wir die Order, sämtliche existierenden Videoaufzeichnungen unseres Neujahrsspektakels zurückzuziehen und zusammen mit den Plakaten sowie den Programmheften einzusammeln und unter Verschluss zu halten. Das Ergebnis war, dass die Jahresfeiern fortan öde Veranstaltungen wurden, die nichts als Friede, Freude, Eierkuchen ausstrahlen durften und bierernst und übervorsichtig daherkamen. Keine Streiche, keine Satire mehr – man hätte es auch ganz bleiben lassen können.

Die Jahresfeier mutierte zu nichts weiter als einer mehr dieser typischen Feiern von Staatsfirmen oder -organen, bei denen die Chefs mit ernsten Mienen auf dem Podest sitzen und das Fußvolk unten applaudieren darf. Fragen wurden vorab hinter den Kulissen diskutiert, erst sorgfältig abgewogen und grundsätzlich nur von der Rednertribüne aus gestellt. In stillschweigendem Einverständnis nahmen alle wieder die längst abgelegt geglaubte Gewohnheit auf, bloß niemandem mit der eigenen Wortwahl auf die Füße zu treten und es jedem recht zu machen. Obwohl ich ursprünglich zu den Machern und regelmäßigen Teilnehmern der Jahresfeiern gehörte, findet sie inzwischen seit vielen Jahren ohne mich statt. Ich habe kein Interesse daran, bei einer so gesetzten und langweiligen Veranstaltung sentimental zu werden und mit eigenen Augen die graue Asche unseres einstigen Enthusiasmus durch den Saal fliegen zu sehen.

Wenige Tage nach der Jahresfeier 2010 erhielt ich ein kurzes Schreiben von einer treuen alten Weggenossin: »Es war wieder keine Feier wie die von früher!«

Das konnte ich mir denken. Allenthalben spürte ich die depressive Stimmung unter den alteingesessenen Nachrichtenkommentatoren, ihre Trauer darüber, dass unser einstiges kleines Refugium von Freiheit, Gleichheit und Demokratie durch die Attacken auf uns »Missetäter« zu einem Nichts geschrumpft war. Ein jeder erinnert sich mit Wehmut und geht gedankenverloren seinen Weg.

Deprimiert bin ich trotzdem nicht, denn immerhin haben wir einmal diese Tage von Freude und Freiheit miteinander genießen können. Ich versuche die jüngeren Kollegen zu trösten, sage ihnen, dass sie sich nicht grämen sollen. Es geht nicht darum, ob das, was jetzt ist, normal ist oder nicht. Das, was war, war offenbar nicht »normal«, und wir hatten einfach Glück, diese Tage der »Anomalität« erleben zu dürfen. Diese Worte scheinen die deprimierten Kollegen immerhin ein bisschen aufzumuntern.

Nachdem der Sender inzwischen im Zuge der Medienreform wieder an Fahrt gewonnen hat, fühle ich mich versucht, diese unvergesslichen Jahresfeiern vielleicht doch wieder ins Leben zu rufen. In meinen Ohren hallen die Rufe der Senderchefs wider: »Mehr Enthusiasmus, Leute!« Wer weiß, ob nicht die Wiederbelebung dieser ganz im Geist der Freiheit und der Kreativität stehenden Jahresfeiern sowohl das Lachen hinter den Kulissen als auch den Enthusiasmus und die Kreativität auf den Bildschirm zurückzaubern könnte.

Ein Feuer im Winter

Am Abend des Laternenfests4 2009 brach in einem Nebengebäude des CCTV-Neubaus ein Großbrand aus. Während die Flammen den Himmel erleuchteten, war ich im Taxi nur 30 Meter davon entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite eingekeilt. Es ging überhaupt nicht mehr vorwärts, und ich war gezwungen, von meinem Standpunkt aus die immer weiter um sich greifenden Flammen zu betrachten. Natürlich beobachtete ich auch das Mienenspiel der umstehenden Menschen.

Da gerade Laternenfest war, gab es ein Fest für die Mitarbeiter der Sendung »Oriental Horizon«, die ehemals »Children of the Orient« hieß. Dieses Treffen war für mich als Mann des Fernsehens eines der ersten und wichtigsten geworden, ein Ort, an dem sich Fernsehjournalisten von überall her zum Austausch von Ideen trafen. Von daher hatten wir alle ein sehr vertrautes Verhältnis miteinander. Wenn man zudem bedenkt, wie sehr jeder von uns auf seine Weise mit dem Verlust jeglicher Begeisterungsfähigkeit in der Realität unzufrieden war, bedeutete dieses Treffen für uns ein wichtiges Forum der Inspiration.

Kurz vor acht hatte ich schweren Herzens vorzeitig aufbrechen müssen, um die Sendung »Nachrichten 1+1« zu moderieren. Durch diesen verfrühten Aufbruch wurde ich zum Zeugen des Großbrands.

Kurz darauf war ich also im Taxi unterwegs auf der Verbindungsstraße zwischen der dritten östlichen und der vierten Ringstraße zum neuen Sendegebäude, als wir plötzlich nicht weiterfahren konnten. Die Straße war voller Menschen, die mit einem befremdlichen Gesichtsausdruck in dieselbe Richtung starrten. Einen kurzen Augenblick lang hatte ich angenommen, sie seien frühzeitig auf die Straßen gegangen, um sich den Anblick des perfektesten Vollmonds im ganzen Jahr nicht entgehen zu lassen. Doch ich erkannte schnell, dass es sich anders verhielt, denn deutlich lag der Glanz des Feuers auf ihren aufgeregten Gesichtern.

Ich schaute nach links und war fassungslos. Die Flammen schnellten an der Südseite des Seitengebäudes immer weiter in die Höhe und wurden dabei von lautem Krachen begleitet.

Ich war mit dem neuen Sendegebäude recht gut vertraut, hatte ich doch schon während der Olympischen Spiele von einem Studio innerhalb dieses Gebäudekomplexes zwanzig Tage lang live berichtet. Unser Team gehörte zu den wenigen Mitarbeitern, die bereits in dem neuen Gebäude arbeiten durften.

Bei dem in Flammen stehenden Gebäude daneben handelte es sich um ein Hotel, das kurz vor der Eröffnung stand, ähnlich dem Media-Hotel neben dem alten Sendegebäude. Außerdem gab es darin noch ein Theater, in dem wahrscheinlich in Zukunft einige Programme des Senders produziert und aufgezeichnet werden sollten. Doch das Feuer durchkreuzte diese Pläne.

Es dauerte eine Weile, bis wir aus dem dichten Verkehr heraus waren, dann rief ich sofort beim zentralen Nachrichtendirektor Liang Xiaotao an. Ich schilderte ihm die Situation des Brands und bot an, darüber zu berichten, doch er sagte mir, dass sie bereits einen Reporter losgeschickt hätten, der umfassend berichtete.

Ich selbst war extrem nervös, nicht nur wegen des Feuers, sondern weil wir um 22.00 Uhr mit »Nachrichten 1+1« auf Sendung sein sollten. Wenn ich weiterhin im Stau stecken blieb, würde ich das Studio kaum erreichen können, bevor dort die Lichter angingen.

In meiner immer brenzliger werdenden Situation erreichte ich den Tian’anmen-Platz ausgerechnet in dem Moment, als die Laternenfestfeier des Zentralkomitees zu Ende ging, und wieder war mein Weg blockiert. In meiner Not bat ich einen Polizisten um Hilfe. Als der hörte, dass ich zur Livesendung ins Studio musste, machte er die Absperrgitter auf, und ich hatte freie Bahn, um aus der Umzingelung herauszukommen. Ich kam im Studio an, da waren es gerade noch vier Minuten bis zum Sendebeginn. So knapp war es bei mir noch nie gewesen.

Ich hatte trotz des Chaos wirklich Glück gehabt. Immerhin war ich Augenzeuge des Großbrands geworden und konnte in der nachfolgenden Sendung »Nachrichten 1+1« die Ereignisse aus erster Hand kommentieren.

Wir waren trotz der schmerzlichen Ereignisse erleichtert. Ich ließ mich sogar noch zu einem Witz mit den Kollegen hinreißen: Ich hatte mir schon überlegt, was ich sagen würde, wenn ich auf Sendung wäre: »Die neuesten Nachrichten unseres Senders, unser Reporter berichtet: Der Sender steht in Flammen …«

Lachen. Es war aber ein ziemlich bitteres Lachen.

Am Ende der Sendung trafen unablässig Kurznachrichten ein. Unter den zahlreichen Solidaritätsbekundungen mit dem Sender gab es eine Ausnahme: »Herr Bai, sind Sie wohlauf?« Da dachte wohl jemand, ich befände mich tatsächlich in dem brennenden Gebäude an der Arbeit. Zum Glück war es bis zum geplanten Umzug noch lange hin, und das brennende Gebäude war auch gar nicht unser zukünftiger Arbeitsplatz, es handelte sich ja um das angrenzende Hotel. Noch mehr Nachrichten trafen ein, zuerst viele besorgte, dann eher sarkastische. Ein typischer Kommentar lautete: »In der Neujahrsnacht zünden sie Xiao Shenyang5, zum Laternenfest zünden sie sich die eigene Unterhose an: Man sieht, dass es CCTV nicht an Geld mangeln kann.« Als ich diese Nachrichten erhielt, war ich doch erstaunt: Was den Leuten so alles einfällt!