Sirenengesang - Isabelle Wallat - E-Book

Sirenengesang E-Book

Isabelle Wallat

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Beschreibung

Epican, die Heimat der Sirene Leyla und der Anderländer, wird mehr und mehr von einer Seuche zerstört. Auf der Suche nach einem Heilmittel begibt sich Leylas Schwester Brina in die Menschenwelt. Als die Lage schlimmer wird, macht sich Leyla auf, um ihre Schwester zu suchen. Als Popstar getarnt, schickt sie in ihren Songs versteckte Botschaften an Brina. Doch statt ihre Schwester findet sie den Reporter Janick und zieht ihn mitten hinein in den Kampf ums Überleben. Schnell kommen die beiden sich näher, doch für Gefühle ist in diesem Krieg kein Platz. Denn wenn Epican fällt, ist auch die Erde verloren.

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Seitenzahl: 366

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Jessica Strang

Stapenhorststraße 15

33615 Bielefeld

www.tagträumerverlag.de

E-Mail: [email protected]

Buchsatz: Laura Nickel

Lektorat/ Korrektorat: Martina König

Umschlaggestaltung: Asuka Lionera

www.asuka-lionera.de/wordpress/

Bildmaterial: © Shutterstock.com

Druck: Printed in Germany

ISBN: 978-3-946843-22-1

Alle Rechte vorbehalten

© Tagträumer Verlag 2018

Isabelle Wallat

Sirenengesang

Erster Teil

Das Lied der Sirene

Prolog

Leyla schloss die Augen. Ihr Rücken brannte, als würde dieser Mistkerl Falk noch immer den glühenden Schürhaken darüber ziehen. Obwohl er sie schon vor Stunden wieder in ihre Zelle gebracht hatte, spürte sie, wie ihr noch immer kleine Blutstropfen über die Haut rannen. Mit offenen Wunden in einer zugigen kalten Zelle zu stehen, war sicher nicht die beste Idee, doch etwas anderes blieb ihr nicht übrig.

Ein weiterer Windhauch drang durch die Ritzen im Mauerwerk und schmerzte an ihrer Haut. Die Wachen hatten ihr die Kleider genommen und ihr nur eine dünne Decke gelassen, in die sie sich einwickeln konnte. Das Ausziehen vor den Wachen hatte zur Demütigung gehört, doch sie würde nicht brechen. Niemals!

Sie würde Falk nicht diese Genugtuung geben.

Ihre Beine schmerzten immer mehr. Jeder Muskel in ihrem Körper schrie nach Entlastung und Ruhe. Aber setzen konnte sie sich nicht.

Leyla müsste nur nach unten sehen, um die dicken schwarzen Adern zu entdecken, die mit Gift gefüllt waren und sich wie eine Seuche durch das Land zogen. Eine davon schlängelte sich dicht an ihren Füßen vorbei. Sie konnte die Wärme und das Pulsieren an ihren Zehen spüren. Nur wenig Druck wäre nötig, um die dünne Haut zu zerreißen und alles in einem Umkreis von mehreren Metern zu vergiften.

Diese Adern zogen sich wie Wurzeln durch die Zelle. Gestern waren sie durch ein kleines Loch in der Wand gewachsen. Dort steckte nun eine Ranke, die so dick war wie Leylas Arm. Würde man all diesen schwarzen Schläuchen zu ihrem Ursprung folgen, würde man direkt vor ihrem Feind stehen, dem Schwarzen Mogul. Diesem Mistkerl, aus dessen Körper das Gift strömte.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Wie war es dem Mogul gelungen, zu so viel Macht zu kommen, ohne dass es jemand gemerkt hatte?

Ein leiser Donner schallte durch den langen Korridor, in dem sich auch Leylas Zelle befand. Verwundert öffnete sie die Augen. Selbst die Gitterstäbe ihres Gefängnisses wurden nicht von den schwarzen Ranken verschont. An einigen Stellen waren diese schon so dick, dass sie mit einer zweiten zu kollidieren drohten.

Stimmengewirr erklang weiter entfernt im Gang. Die wenigen Wachen, die sich noch hier unten aufhielten, eilten auf den Lärm zu. Das schwere Scheppern ihrer Rüstungen vermischte sich mit dem dumpfen Dröhnen ihrer schweren Schritte.

Was war nur da hinten los?

Leyla zischte leise, als sie einen Fuß hob und vorsichtig einen Schritt nach vorn machte. Jeder Muskel schrie vor Schmerz, als sie ihren geschundenen Körper bewegte.

Kurz vor den Gitterstäben blieb sie stehen und versuchte, nach draußen zu schauen, ohne mit den giftigen Adern in Berührung zu kommen.

Eine Explosion an der Ecke, nur wenige Meter von ihrer Zelle entfernt, ließ sie vor Schreck zurückzucken. Nur knapp wich sie einer besonders dicken Ranke am Boden aus. Steine und Staub stoben in die Luft und reizten ihren Hals noch mehr.

»Sie ist hier drüben!«, rief eine ihr sehr vertraute Stimme durch das Chaos, das sich im ganzen Kerker ausbreitete. In weiter Ferne schrien sich die Wärter Befehle zu und der Lärm eines Kampfes drang durch die Rufe anderer Gefangener.

»Fass bloß die Gitterstäbe nicht an!«, knurrte eine andere Stimme, die Leyla schon monatelang nicht mehr gehört hatte.

»Leyla!«, rief die junge Frau vor dem Kerker ihr zu.

Hustend sah sie auf und versuchte, in dem Rauch etwas zu erkennen. Die markanten roten Haare ihrer Freundin Pryme leuchteten regelrecht. Ihr strahlendes Lächeln erhellte ihr dünnes Gesicht. Trotz der dicken Jacke konnte Leyla deutlich sehen, dass ihre Freundin abgemagert war. Wer auf der Flucht war, bekam eben nicht immer etwas zu essen. Doch ihre Lebensfreude hatte sie nicht verloren.

»Halt durch. Wir holen dich da raus«, versicherte sie Leyla und steckte die Hand tief in ihre Umhängetasche.

Neben ihrer Freundin tauchte Crane auf, der seine natürliche Wildheit mal wieder deutlich zur Schau stellte. Sein Haar stand ihm wirr vom Kopf ab und seine Kleidung sah aus, als hätte sie eine Weltreise mitgemacht. Kratzspuren und Platzwunden zierten seinen Körper.

Leyla war noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen, ihre Freunde zu sehen.

»Du gehst lieber ein paar Schritte zurück«, warnte Crane sie. »Pryme ist heute ein wenig zappelig.«

Leyla brannten die Augen vor Tränen, dennoch schaffte sie es, in ihrer Zelle bis zur Wand zurückzustolpern, ohne dabei eine der Adern zu berühren.

Pryme zog ein kleines Fläschchen mit einer giftgrünen Flüssigkeit aus ihrer Tasche. Ihre Finger zitterten, als sie den Verschluss aufschraubte. Der beißende Gestank raubte Leyla selbst auf diese Entfernung den Atem.

Ihre Freundin drückte sich ihren Arm vor Mund und Nase, als sie das Fläschchen von sich weghielt und die Flüssigkeit vorsichtig auf das Schloss der Gittertür träufelte. Zischend fraß sich die Säure durch das Metall und zerstörte selbst die dicken Adern, die sich um das Schloss geschlungen hatten.

Crane holte mit dem Fuß aus. Ein schwerer Stiefel traf die Gittertür, die scheppernd aufschwang.

»Leyla!«, rief Pryme und eilte zu ihrer Freundin. Stürmisch fiel sie ihr um den Hals, was Leyla dazu brachte, vor Schmerz zusammenzuzucken. Pryme ließ sie erschrocken los. »Tut mir leid. Habe ich dir wehgetan?«

Leyla biss die Zähne zusammen und lächelte. Um nichts auf der Welt wollte sie diesen glücklichen Moment zerstören. »Wie habt ihr mich gefunden?«, fragte sie stattdessen. Das letzte Mal hatte sie ihre Verbündeten vor über einem Monat gesehen. Kurz darauf hatte Falk sie gefangen genommen und in seine persönliche Folterkammer gebracht. Eine von vielen, wie man sich erzählte.

»Das war ziemlich schwer«, antwortete Crane. »Aber als wir endlich nah genug an ihn rankamen, damit ich seinen Geruch aufnehmen konnte, bin ich seinem Gestank durch ganz Epican gefolgt.«

Pryme trat einen Schritt um ihre Freundin herum, sodass sie einen Blick auf ihren Rücken werfen konnte. Leyla hörte nur ein Keuchen von ihr.

»Keine Sorge, das haben wir gleich«, erklärte Pryme mit zitterndem Unterton.

»Wir müssen hier weg!«, knurrte eine tiefe Stimme durch den Korridor. Nur Sekunden später tauchte der riesige Leib von Aaron hinter Crane auf. Der ehemalige Leibwächter hatte sich vollkommen in Schwarz gekleidet. Sein kantiges Gesicht war von Sorgen gezeichnet.

Leyla hörte, dass Pryme ein weiteres Fläschchen aufschraubte, und spürte, wie sie den Inhalt auf ihren Rücken schüttete. Augenblicklich ließ der Schmerz nach. Ihre Haut fühlte sich endlich wieder warm an und spannte nicht mehr bei jeder Bewegung. Fast wäre Leyla vor Erleichterung zusammengebrochen.

Crane schob einen Arm um ihren Rücken und hielt sie aufrecht. Mit einem Mal fühlten sich ihre Knie an wie aus Pudding.

»Das wird nicht lange wirken«, murmelte Pryme, während sie hastig Leylas Arme durch die Ärmel eines dicken und wunderbar warmen Mantels schob. Der weiche Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper.

Ihre Freundin tauchte neben Leyla auf und schob ebenfalls einen Arm hinter ihren Rücken. Zusammen brachten sie sie aus der Zelle. Leylas Füße schmerzten bei jedem Schritt, doch sie durfte auf keinen Fall stehen bleiben.

Aaron zog die drei regelrecht hinter sich her und schleppte sie durch den Korridor. Leyla fielen fast die Augen zu. Undeutlich nahm sie wahr, dass um sie herum heftige Kämpfe tobten. Immer wieder sah sie jemanden aus der Leibwache, der es mit den Wärtern des Kerkers aufnahm. Selbst einige der Gefangenen mischten sich in den Kampf ein.

Erst als sie von kalter Luft umfangen wurde, kam Leyla wieder zu sich. Doch was sie vor sich sah, war schlimmer, als sie es erwartet hatte.

Ihre Heimat war über und über von den schwarzen Adern des Moguls durchzogen. Wie ein Netz aus Blutgefäßen breiteten sich die fleischigen Ranken aus. Je näher man dem Schloss kam, dem Ursprung des giftigen Bewuchses, desto dicker wurden die schwarzen Wurzeln, die direkt aus dem Körper des Schwarzen Moguls wuchsen. Sein Gift breitete sich schneller aus, als sie gedacht hatte.

Crane und Pryme mussten Leyla zeitweise hochheben, damit sie nicht versehentlich auf eine der zahlreichen Giftschläuche trat, die sich durch die Erde zogen. Selbst an den Bäumen wuchs das schwarze Gift empor. Die Adern schmolzen sogar den Schnee um sie herum.

Leylas Zehen brannten vor Kälte, als ihre Füße glatten Stein berührten. Verschwommen entdeckte sie vor sich die Tore einer alten Schule, die schon vor Jahren verlassen worden war. Die Fenster waren eingeschlagen und schwarze Adern zogen sich durch das Mauerwerk.

Aaron drückte eine der beiden Flügeltüren auf, die ein Knarzen und Quietschen von sich gab. Schon nach wenigen Zentimetern musste er aufgeben. Die Tür steckte fest.

Einer nach dem anderen quetschten sie sich durch den Türspalt und landeten in einer Eingangshalle, die vor Jahren durch ein Deckenfenster erhellt worden war. Mittlerweile hatten sich so viel Laub und Dreck auf dem Glas angesammelt, dass selbst bei hellstem Sonnenschein kein Licht mehr hindurchdringen würde.

In der Halle sah es nicht besser aus. Der Parkettboden war von schwarzen Ranken aus dem Boden gedrückt worden. Tische und Holzbretter waren über die ganze Fläche verteilt. Nicht mal die Treppe ins Obergeschoss war vom Verfall verschont worden.

Leyla bemühte sich, die faulige Luft nicht zu tief einzuatmen. Aaron führte sie zu einer unscheinbaren Tür unter der Treppe. Sie musste sich an Pryme und Crane festklammern, um sich auf den Beinen zu halten.

Aaron zog einen silbernen Schlüssel aus seiner Tasche. Rasch öffnete er das marode Schloss und zog an der Tür. Sie gab keinen Laut von sich, als er sie öffnete.

Dahinter leuchtete die Barriere auf. Wie ein Vorhang aus flüssigem Silber hing sie im Türrahmen und bildete den Übergang zur anderen Welt. Sie umschloss ganz Epican und trennte es von der anderen Seite, aber an manchen Stellen, so wie hier, wurde die Barriere dünner, sodass man hindurchgehen konnte.

Leyla erkannte im Zwielicht, dass sich die giftigen Adern durch den Parkettboden und die Türschwelle zogen. Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken. Das Gift hatte schon die Barriere überwunden!

Crane zog sie mit sich über die Schwelle. Kurz spürte sie den Widerstand der Barriere, der gegen ihren Körper drückte. Es fühlte sich an, als würde sie durch einen Wasserfall laufen. Schon nach einem weiteren Schritt war der Widerstand verschwunden und Leyla fand sich in einer hell erleuchteten Halle wieder, dem Spiegelbild zu der, die sie gerade hinter sich gelassen hatten.

Ein kunstvolles Mosaik zog sich über den Boden. Ein Leuchter erstrahlte an der Decke und hüllte den Raum in ein warmes Gelb. Der Duft von Blumen hing in der Luft.

Leylas Augen schmerzten, ehe sie sich an das helle Licht gewöhnt hatte. Warme Luft umspielte ihr Gesicht. Ihre nackten Füße tappten unbeholfen über den glatten Marmor.

Vorsichtig führte Pryme sie zu einem kleinen Sofa, das gegenüber der Treppe an der Wand stand. Voller Erschöpfung ließ sie sich auf die weichen Polster sinken und seufzte vor Erleichterung. Die Luft hier war sauber und süß.

Auf dieser Seite der Barriere wirkten ihre Kräfte vollkommen anders, das hatte sie schon vor Jahren bei ihrem ersten Besuch in dieser Welt festgestellt. Nur hier konnte sie eine Botschaft senden, die ihre Feinde nicht verstehen würden.

»Wie geht es dir?«, fragte Pryme besorgt und ließ sich neben ihr nieder.

»Das wird schon wieder«, raunte Leyla. »Wir müssen von hier verschwinden, bevor Falk ganz Spandau nach uns absucht.«

Ein lautes Knacken lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Tür, durch die sie gerade in diese Welt gekommen waren. Aaron hatte den Knauf abgebrochen und machte sich nun daran, eine Kommode vor die Tür zu schieben. Das würde die Wärter davon abhalten, ihnen zu folgen, doch ihre Feinde würde es nicht aufhalten.

Ein kalter Klumpen Angst bildete sich in Leylas Magen, als sie die schwarzen Ranken sah, die sich wie ein unheimliches Graffiti über den Marmor zogen. Wie ein Spinnennetz bedeckte dieses grausige Bild den gesamten Boden. Fast hätte Leyla es für die Zeichnung einer Pflanze gehalten. Einem Baum gleich, flossen alle Ranken zu einem Stamm zusammen, der seinen Ursprung unter der Türschwelle hatte, die zurück in ihre Heimat führte. Noch waren sie nur Abbildungen und für Menschen nicht zu sehen, aber das würde sich bald ändern.

1

Karrieresprung

Ja, ich bin bereit

und suche nach dir.

Doch er ist so weit,

der Weg zu dir.

Die süße Stimme, begleitet von den schnellen Rhythmen eines neuen Popsongs, holte Janick langsam aus seinem Schlaf. Müde rieb er sich die Augen. Der Radiowecker auf seinem Nachttisch gab noch immer die Töne des Hits von Leyla wieder, dem neuen Shootingstar aus Deutschland.

Es widerstrebte ihm, die Hand nach dem Wecker auszustrecken, doch er musste aufstehen. Die Arbeit rief.

Der Knopf an der Rückseite gab ein Klacken von sich, dann verstummte die süßeste Stimme, die Janick je gehört hatte. Wie konnte ein Mensch nur so eine bezaubernde Stimme haben? Das musste doch verboten sein.

Janick streckte sich noch einmal, dann erhob er sich aus dem Bett. An den Rändern der Vorhänge drangen die Lichter der Straßenlaternen ins Zimmer. Von draußen war das Brummen der Räumfahrzeuge zu hören, zusammen mit dem Hupen genervter Autofahrer, die zur Arbeit wollten. Der ganz normale Alltagslärm in Berlin.

Nachdem er sich ins Badezimmer geschleppt hatte, schaute er müde aus dem winzigen Fenster. Eiskristalle hatten sich über Nacht auf dem Glas gebildet und zogen sich über die ganze Scheibe. So konnte er wenigstens nicht das Schneechaos vor dem Haus sehen.

Das war doch verrückt! Es war schon April. Ostern stand vor der Tür und noch immer schneite es wie im tiefsten Winter!

Die Schwarzseher von Greenpeace hatten wohl doch recht. Mit der Welt ging es zu Ende und die Menschen waren schuld.

Nachdem Janick auf der Toilette fast wieder eingenickt wäre, schaltete er das Radio in der Dusche an. Zum Glück lief ein neuer Song von Leyla. Ihre süße Stimme erfüllte das ganze Bad.

Im Takt der Musik schunkelnd, putzte sich Janick die Zähne. Doch seine Gedanken galten nur der Frau mit der wundervollen Stimme.

Leyla.

Vor einem Monat war sie mit ihrer ersten Single in den Charts aufgetaucht und seitdem aus den Radio- und Musiksendern nicht mehr wegzudenken. Alle liebten sie und ihre fantastische Stimme. Wie könnte jemand sie auch nicht lieben? Allein dieses wundervolle Gesicht!

Janick war klar, dass die Bilder auf dem Albumcover und in den Zeitschriften am Computer bearbeitet wurden, dennoch konnte er sich nur schwer von ihrem Anblick losreißen. Diese himmlischen braunen Augen und das kastanienbraune Haar. Wie gern würde er einmal mit ihr ausgehen.

Er spuckte die Zahnpasta ins Waschbecken und lachte über sich selbst. Als ob er jemals auch nur in die Nähe dieser Klassefrau kommen würde!

Noch einmal betrachtete er sich im Spiegel. Sein kurzes hellbraunes Haar stand mal wieder in alle Himmelsrichtungen ab. Aber wenigstens hatte er nicht wie sonst schon wieder Ringe unter den Augen.

Nach einer kurzen Dusche und frisch umgezogen ging er in die Küche, oder wie er es nannte: das nukleare Sperrgebiet. Das schmutzige Geschirr von über einer Woche stapelte sich in der Spüle. Im Backofen hatte sich von den vielen Fertigpizzen eine so dicke Kruste gebildet, dass Janick davon überzeugt war, darin eine eigenständige Kultur winziger Lebewesen entdecken zu können. Als er den Kühlschrank öffnete, erwartete ihn gähnende Leere. Nur ein einsamer Joghurtbecher vom letzten Jahr stand noch darin. Durch das dünne Plastik konnte Janick erkennen, dass sich der Inhalt schwarz verfärbt hatte.

Um weiteren Überraschungen vorzubeugen, schloss er den Kühlschrank und verließ die Küche. Das hieß dann wohl, dass er unterwegs frühstücken würde. Mal wieder.

Eingehüllt in eine dicke Jacke und mit gefütterten Stiefeln an den Füßen, verließ er seine Wohnung. Doch kaum dass er hinter sich abgeschlossen hatte, öffnete sich die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenhauses und ein grauhaariger Lockenkopf streckte sich in den Flur.

»Oh, guten Morgen, Janick«, krächzte die alte Frau Birkenhain, die ihr Leben lang geraucht hatte und nun die Konsequenzen dafür tragen musste.

»Guten Morgen, Frau Birkenhain«, erwiderte Janick und hoffte, dass er heute schnell an der alten Dame vorbeikommen würde.

Die Nachbarin öffnete ihre Wohnungstür etwas weiter, sodass er den Flur und einen Teil des Wohnzimmers sehen konnte. Frau Birkenhain trug trotz der frühen Stunde schon wieder ihre Schürze aus Dederon, die wohl noch aus alten DDR-Beständen stammte, und Schlappen an den Füßen, die nur noch durch guten Willen zusammengehalten wurden. Dennoch tauchte ein freundliches Lächeln auf dem faltigen Gesicht auf.

»Sie sind mal wieder so früh auf den Beinen«, begann die Alte. »Die Jugend von heute mutet sich einfach zu viel zu.«

»Sie sagen es, Frau Birkenhain«, erwiderte Janick und setzte sich seine Mütze auf, die seine Haare noch mehr zusammendrücken würde. Seine Tasche hängte er sich um die Schulter.

»Sie müssen sich mehr Ruhe gönnen, sonst werden Sie eines Tages einfach tot umfallen, so wie mein Schwager«, fuhr Frau Birkenhain fort. Allein in diesem Jahr war sie schon auf drei Beerdigungen gewesen. Sie musste einen unheimlich großen Freundeskreis haben, der nun langsam schrumpfte.

Janick band sich den Schal über Mund und Nase und deutete Frau Birkenhain an, dass er sich jetzt auf den Weg machen musste.

»Seien Sie vorsichtig. Im Radio haben sie vorhin gesagt, dass es heute wieder schneien wird«, rief seine Nachbarin ihm nach, als er schon die alte Treppe hinunterrannte. Die Holzstufen knarrten unter seinen Schritten, doch daran hatte er sich längst gewöhnt. Rasch streifte er sich die Handschuhe über und riss die Haustür auf.

Neben einem Schwall Schnee wurde er auch von eisiger Luft empfangen, die ihm Tränen in die Augen trieb. Die Kälte kroch rasend schnell durch seine Kleiderschichten und unter seine Haut. Der Himmel über Berlin war mal wieder grau in grau. Was würde er nur für ein paar Sonnenstrahlen geben!

Er wickelte sich fester in seine Kleidungsschichten ein und machte sich auf den Weg die Straße hinunter. Doch als er die ersten Schritte durch den Schnee gestapft war, bemerkte er das tiefschwarze Etwas, das an der Hauswand emporkroch. Verwundert blieb er stehen. Hinter dem Schneehaufen gleich neben der Tür lugte eine pechschwarze Ranke hervor, wie eine Frühlingsblume. Die tiefschwarze Farbe schien auf dem grauen Untergrund der Hauswand regelrecht zu leuchten.

Das muss ein Graffiti sein, dachte sich Janick. Aber warum war ihm das nicht schon früher aufgefallen? Wenn es sich unter dem Schnee befand, musste es schon seit Wochen an der Hauswand prangen.

Die Jugend von heute wird auch immer frecher, wiederholte er im Geist die Worte seiner Nachbarin und lachte sich innerlich kaputt.

Ein Auto hatte Janick nicht, doch wenn er sich die Fahrzeuge am Straßenrand ansah, war er ganz froh darüber. Das gleichmäßige Geräusch von Dutzenden Eiskratzern, die von verzweifelten Autofahrern über vereiste Fensterscheiben gezogen wurden, begleitete ihn auf seinem Weg.

Um jede Laterne hatte sich ein dicker Fuß aus Schnee gebildet. Ein einsamer Fußgänger mit einem kleinen Hund an der Leine war der Einzige, der ihm um diese Uhrzeit entgegenkam.

An der nächsten Kreuzung blieb Janick stehen. Die Räumfahrzeuge hatten mal wieder den gesamten Schnee der Straße am Fahrbahnrand zusammengeschoben, sodass sich vor ihm ein weißer Wall erstreckte. Der musste sicher einen Meter hoch sein. Wie um alles in der Welt sollte er da durchkommen?

Während er nach einer Lücke im Schneeberg suchte, lief er an der Kreuzung auf und ab. Erst als ein Licht hinter ihm den Schnee erleuchtete, drehte er sich verwundert um.

Er stand genau vor der kleinen Buchhandlung in seiner Straße. Es war noch viel zu früh am Morgen, die Buchhandlung würde erst in ein paar Stunden aufmachen. Normalerweise war die Buchhändlerin Silke die Einzige in dem Laden, doch seit einiger Zeit hatte sie eine Aushilfe zur Unterstützung.

Ihm blieb die Luft weg, als er hinter der Schaufensterauslage eine junge Frau zwischen den Regalen entlanglaufen sah. Ihr schwarzes Haar fiel ihr wie ein samtener Vorhang über den Rücken. Sie fuhr mit den Fingern über die Einbände, als würde sie nach einem bestimmten Buch suchen.

Sie war schon so früh in der Buchhandlung? War sie gestern Abend eingeschneit worden und hatte im Laden übernachtet? Wundern würde ihn das nicht.

Plötzlich drehte sie sich zum Fenster um, als hätte Janick sie gerufen. Er hielt den Atem an. So unglaublich blaue Augen hatte er noch nie gesehen. Das schmale Gesicht der jungen Frau wurde von leuchtend roten Lippen dominiert. Eine süße Stupsnase zierte es. Doch als sie ihn sah, drehte sie sich um und ging eilig in den hinteren Teil des Ladens, den man durch die Fenster nicht erkennen konnte.

Wieder mal gut gelaufen, dachte sich Janick frustriert. Sie war vermutlich gegangen, weil er mit dem Schal über Mund und Nase und der tief ins Gesicht gezogenen Mütze wie ein Schwerverbrecher aussah. Er würde bei seinem Anblick vermutlich auch das Weite suchen.

Leise vor sich hin fluchend, drehte er sich wieder um und bahnte sich einen Weg durch den Schneewall. Kleine Mengen Schnee rieselten von seiner Hose in seine Stiefel. Doch das würde er ignorieren, bis er sich in der U-Bahn aufwärmen konnte. Bis zur Station Hallesches Tor war es nicht mehr weit.

Die Fahrt zur U-Bahn-Station Oranienburger Tor dauerte zwar nicht lange, doch als er die Straße erreichte, hatte er das Gefühl, auf dem Eisplaneten von Star Wars gelandet zu sein. Die Straßen waren zwar geräumt, doch irgendwie schien es in Berlin Mitte kälter zu sein als in Kreuzberg.

Janick schlang die Arme fester um sich, als er sich einen Weg über den kaum geräumten Fußweg zur Torstraße bahnte.

Die Büros der Redaktion Spotlight, einem sehr beliebten Onlinemagazin für Klatsch, Tratsch und ganz große reißerische Storys, befand sich im oberen Stockwerk eines grauen und schmucklosen Gebäudes. Als er auf den Eingang zum Treppenhaus zusteuerte, fiel sein Blick auf das kleine Stück Hauswand, das neben dem Eingang zwischen Fenstern und Werbeplakaten zu sehen war. Er traute seinen Augen kaum, als zwischen den Schneewehen die gleichen schwarzen Ranken zu sehen waren, die er auch an seinem Wohnhaus entdeckt hatte.

War etwa eine Graffiti-Bande unterwegs, die ganz Berlin mit diesen Ranken überzog? War das so ein verkorkster Werbetrick, der an Peter Fox und seine Videoclips erinnern sollte? Hoffentlich nicht, denn er fand diese schwarzen Ranken geschmacklos. Wenn schon Graffiti, dann bitte schön bunt. Das brachte wenigstens gute Laune.

So unscheinbar und trist das Gebäude der Redaktion auch war, so modern und hell erleuchtet waren die Büros. Weite Räume und geschickt angebrachte Leuchten an den Wänden und der Decke brachten zu jeder Tageszeit genügend Licht in die Räume, sodass niemand vor seinem Computer brennende Augen bekam.

Um diese Uhrzeit herrschte in der Redaktion noch Ruhe, doch das würde sich bis etwa acht Uhr geändert haben. Dann saßen die regelmäßigen Leser des Onlinemagazins beim Frühstück und wollten die neuesten Schlagzeilen auf ihrem Tablet haben.

Hinter dem noch leeren Empfangstisch drängten sich die Schreibtische der Journalisten. Unzählige Papierberge türmten sich darauf, was Janick am meisten wunderte. Papier bei einem Onlinemagazin? Das klang wie ein schlechter Witz.

Er verstaute seine Jacke, Mütze, Schal und Handschuhe in dem Schrank, der die Garderobe der Mitarbeiter darstellte, und hängte sich anschließend seine Tasche wieder über die Schulter.

Die Schreibtische standen in dem großen Raum so dicht beieinander, dass man an manchen Stellen den Bauch einziehen musste, um durchzukommen. Janick drückte seine Tasche fest an sich, doch das Flattern von Papier und das anschließende Klatschen, als der Berg an Unterlagen auf dem Teppichboden landete, verkündeten ihm das Unheil.

Er ließ die Schultern hängen, als er sich zu dem Dilemma umdrehte. Auf dem Boden lagen einige Dokumente und Fotos verstreut. Ganz toll.

Frustriert bückte er sich und zog den Papierkram zu sich heran. Doch bei einem Foto stockte er. Darauf war der Bundestag zu sehen. Die breite Steintreppe, die zum Haupteingang führte, war zwar geräumt, doch der Platz davor lag unter einer dichten Schneedecke begraben. Selbst auf dem Dach türmte sich der Schnee.

Was ihn an dem Foto am meisten interessierte, waren die Ranken, die sich an der Treppe und der daneben befindlichen Gebäudewand nach oben schoben, dem Schnee und der Kälte zum Trotz. Laut dem Datumsstempel auf dem Foto war es gestern aufgenommen worden.

Graffiti an der Fassade des Bundestags? Wie konnte das sein? Er war doch eines der wenigen Gebäude in Berlin, die so stark bewacht wurden, dass sich nicht mal eine Taube unbeobachtet niederlassen konnte. Wie gelangten dann Graffiti auf die Außenwand und die Treppe? Oder war das wieder so ein verrücktes Kunstwerk wie vor ein paar Jahren, als ein Künstler den gesamten Bundestag verhüllt hatte?

Es musste Kunst sein, entschied Janick. Graffitis würden doch sofort von den Wänden entfernt werden. Wenn es überhaupt jemand schaffte, sie aufzusprühen, bevor die Polizei ihn wegsperrte.

»Willst du etwa einem Kollegen die Story klauen?«

Die nervige und nasale Stimme kannte Janick so gut wie keine andere. Er stöhnte innerlich auf. Konnte er nicht einem anderen Kollegen begegnen? Musste es ausgerechnet dieser sein?

Widerstrebend erhob er sich so vorsichtig wie möglich zwischen den Tischen und legte den Berg an Dokumenten und Fotos wieder auf den Schreibtisch.

Nur wenige Meter von ihm entfernt stand Michael Grund, einer der Journalisten von Spotlight. Die Kameratasche unter dem Arm klemmend, grinste er Janick von oben herab an. Der Anzug saß mal wieder perfekt und die Frisur war akkurat zur Seite gekämmt. Doch das ständig vorgereckte Kinn ließ ihn manchmal wie den arroganten Lackaffen aussehen, der er auch war. Die graugrünen Augen funkelten amüsiert, als er Janick musterte.

»Nein, ich bin nur auf dem Weg in die Küche an ein paar Sachen hängen geblieben«, antwortete er, obwohl er sich das sparen konnte. Michael hatte sich schon vor langer Zeit sein Urteil über ihn gebildet und davon würde er selbst im Tod nicht abweichen.

»Tja, das kommt davon, wenn man so ein Vollidiot ist«, erwiderte Michael mit einem höhnischen Grinsen.

»Ich hole mir einen Kaffee«, entgegnete Janick und drehte sich in Richtung Küche um. »Es ist viel zu früh am Morgen, um dein dummes Gelaber zu ertragen.«

»Du solltest besser wissen, wo dein Platz ist, Botenjunge«, rief Michael ihm hinterher.

Janick verschwand in der Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Er musste nicht immer wieder daran erinnert werden, dass er kein Journalist war. Noch nicht mal ein Fotograf. Seine Aufgabe in der Redaktion war das Herumtragen von Unterlagen und das Zustellen der Post. Doch eines Tages würde er zu den Journalisten gehören und dann würde sich Michael warm anziehen müssen. Da war sich Janick sicher. In ihm steckte mehr. Viel mehr.

Im Minutentakt trafen die restlichen Mitarbeiter von Spotlight ein und versammelten sich in der Küche um die Kaffeemaschine. Das laute Stimmengewirr summte durch die ganze Redaktion. Alle beschwerten sich über das Wetter, aber keiner konnte etwas daran ändern.

Janick zog sich zu seinem winzigen Schreibtisch in der hintersten Ecke des Großraumbüros zurück, als Michael begann, von seiner neuen brandheißen Story zu erzählen, die heute online gehen würde.

Die Lobeshymnen und Selbstverherrlichungen hatten erst ein Ende, als der Chefredakteur Roland Wagner eintraf. Mit einem Schlag herrschte Ruhe in dem großen Raum.

Aus dem Augenwinkel konnte Janick sehen, wie sich die Journalisten und Fotografen um die vordersten Tische sammelten. Also hatte Roland etwas Wichtiges zu sagen. Entschlossen, sich seinen Unmut über den Berg an Post auf seinem Tisch nicht anmerken zu lassen, erhob sich Janick und gesellte sich zu den anderen.

Roland war selbst hinter der versammelten Mannschaft noch gut zu sehen. Der Mann war schließlich über zwei Meter groß. Wann immer er durch die Türen der Redaktion ging, musste er dabei den Kopf leicht zur Seite neigen. Seine scharfen Gesichtszüge ließen ihn streng und unheimlich erscheinen, doch im Grunde war Roland ein umgänglicher Mensch. Umgänglicher als Michael.

»Guten Morgen«, hallte seine tiefe Stimme laut durch den ganzen Raum. Er musste nie schreien, um sich Gehör zu verschaffen. »Heute Abend steigt ein Konzert von Leyla.«

Ein unruhiges Raunen ging durch die Anwesenden. Seit Tagen wurde dafür geworben.

Janick blickte zu seiner Tasche, in der die Eintrittskarte ruhte. Ein Grinsen der Vorfreude breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er hatte ein kleines Vermögen dafür bezahlt.

»Wie ihr alle wisst, hat Leyla noch nie ein Interview gegeben. Sie gilt als sehr geheimnisvoll und unerreichbar für alle Journalisten«, fuhr Roland fort. »Deshalb möchte ich der Erste sein, der ein Interview mit ihr veröffentlicht. Ich weiß, ihr alle habt es schon einmal versucht. Deshalb biete ich dem, der es schafft, mir ein Interview mit Leyla zu bringen, eintausend Euro Prämie.«

Ein ungläubiges Raunen ging durch den Raum. Janick konnte es nicht glauben. Roland war zwar ein umgänglicher, aber auch geiziger Mensch. Wenn er so viel Geld als Belohnung versprach, war das ein einmaliges Ereignis.

»Seht mich nicht so ungläubig an. Das ist mein voller Ernst«, fuhr Roland fort. »Wer es schafft, Leyla zu interviewen, bekommt von mir eintausend Euro. Der Ruhm, den uns dieses Interview einbringt, wäre um ein Vielfaches größer, also kann ich mir das durchaus leisten. Jetzt schaut mich nicht so an, als hätte ich den Verstand verloren!«

Seine Mitarbeiter kannten Roland wohl besser, als er gedacht hatte. Doch Janick musste zugeben, dass die Belohnung verlockend war.

»Ich erwarte, dass ihr euch alle in die Spur begebt. Jeder bekommt einen Presseausweis. Wenn ihr euch alle auf den Weg macht, wird es einer schon schaffen, bis zu Leyla vorzudringen. Aber vergesst nicht: Seid so höflich zu ihr, dass sie euch mit Freuden ein Interview gibt«, fügte Roland hinzu und sah bei seinen letzten Worten einige der anderen Journalisten scharf an. In der Vergangenheit hatten sie bei der Arbeit ein so rüdes Verhalten an den Tag gelegt, dass sie von der Polizei verhaftet worden waren. Keine gute Presse für die Redaktion.

»Überlassen Sie das nur mir, Chef«, meldete sich Michael lautstark zu Wort. Er trat neben ihn und warf sich siegessicher in die Brust. »Wenn es jemanden gibt, der die unerreichbare Leyla zu einem Interview überreden kann, bin ich das. Sie können sich auf mich verlassen.«

Sein höhnisches Grinsen glitt über die anderen Mitarbeiter von Spotlight und blieb an Janick hängen, als wollte er ihm sagen, dass er es gar nicht erst versuchen sollte.

Doch da war Michael schiefgewickelt. Janick würde auf jeden Fall versuchen, Leyla zu interviewen. Die Belohnung war zu verlockend. Mit diesem Interview würde er ein Journalist werden und nicht mehr nur Postbote sein.

Innerlich grinste er so breit wie ein Honigkuchenpferd. Schon heute Abend würde er Leyla begegnen! Wie krass war das denn?!

2

Der neue Stern am Himmel

Es waren Tage wie diese, an denen Leyla ihre Entscheidung, Sängerin zu werden, bereute. Vor allem wenn sie die Meute kreischender Fans sah, die sie jedes Mal nach einem Konzert abfingen. Oder vor einem Konzert. Oder wenn sie einfach nur mal so das Hotel verließ. Warum waren die Menschen nur so versessen darauf, einem Star so nahe zu sein? In ihrer Heimat wurde sie nicht so verfolgt und da war sie mindestens genauso berühmt. Die Menschen waren sehr merkwürdig.

»Für Mirabelle, bitte«, wisperte das junge Mädchen mit den Zöpfen, das seinen Kopf gerade so weit nach oben hob, dass Leyla seine Augen sehen konnte. »Mit zwei L und einem E am Ende.«

Leyla ließ den Stift in einer lockeren Handschrift über das Foto von sich gleiten, das sie mehr als alles andere hasste. Es war mit dem Computer so lange bearbeitet worden, bis es nicht mehr wie sie aussah. Das glitzernde Lächeln, die makellose Haut, das perfekte Gesicht und die gestylten Haare, die wie eine Perücke aussahen. Nichts an diesem Bild entsprach der Realität. Sie war zwar eine hübsche junge Frau, doch das Foto war lächerlich.

Mit einem letzten Schwung vollendete Leyla das Autogramm und reichte dem schüchternen Mädchen das Foto. Mirabelle nahm es kichernd an sich, bedankte sich und rauschte davon.

Das letzte Mädchen dieser kleinen Gruppe trat vor und reichte Leyla ein weiteres Foto. »Für Kathrina. Mit th«, sagte es begeistert.

Mit einem weiteren Lächeln schrieb Leyla das Autogramm und reichte es dem Mädchen zurück. Es hüpfte vor Aufregung auf und ab und bedankte sich mit einem ungewöhnlichen Eifer.

»Okay. Leyla muss sich nun auf ihr Konzert heute Abend vorbereiten. Kommt, es wird Zeit, zu gehen«, erklang die Stimme von Andreas Bochmann, Leylas Manager, durch den Aufenthaltsraum des Berliner Hilton Hotels.

Die Gruppe von sieben Mädchen wurde von ihm zur Tür gebracht. Kichernd rückten sie enger zusammen und schnatterten wie Gänse. In diesem Punkt unterschieden sich die Menschen hier kaum von den Bewohnern von Leylas Heimat. Mädchen waren eben überall gleich.

Erst als die Tür hinter ihnen zugefallen war und die Stimmen verstummten, konnte Leyla sich in ihrem Stuhl zurücklehnen und aus den breiten Fenstern auf die Straße sehen. Der Schnee türmte sich immer höher. Hinter einigen Schneewehen waren die Ausläufer der Seuche zu sehen. Die schwarzen Ranken breiteten sich immer weiter an den Gebäuden aus. Schon sehr bald würde die schwarze Pest auch auf Pflanzen und Tiere überspringen. Ihnen blieb immer weniger Zeit. Sie mussten sich beeilen.

»Das war sehr gut, Leyla«, sagte Andreas, nachdem er zurückgekehrt war.

»Einer Gruppe Schülerinnen ein Autogramm zu geben, soll gut gewesen sein?«, fragte sie und konnte ihren Unmut kaum verbergen.

Ihr Manager, ein kleiner Mann, der schon sehr bald keine Haare mehr auf dem Kopf haben würde und an einem Gewichtsproblem litt, straffte seine Anzugjacke und kam auf sie zu. Die dicken Pausbacken glänzten im Schein der Deckenleuchten. Andreas hatte wegen seines Gewichts auch ein Problem mit dem Herzen, das er nicht sehen wollte. Sie hatte schon mal mit dem Gedanken gespielt, ihre Kräfte bei ihm anzuwenden und ihn zu einem Arzt zu schicken.

»Ich weiß ja, dass du nicht gern mit deinen Fans Kontakt hast, aber ein wenig mehr Nähe zu ihnen würde deinen Ruf verbessern. Denk daran: Es sind sie, die deinen Erfolg ausmachen«, begann er seinen Vortrag, den er ihr fast jeden Tag hielt.

Und jeden Tag gab sie vor, dass sie das alles nicht interessierte. Andreas musste sie inzwischen für eine Eiskönigin halten. Manchmal kam sie sich selbst so vor. Ob das ein erstes Zeichen für den Verlust ihrer Menschlichkeit war? Stand sie kurz davor, ein seelenloses Monster zu werden? Sie musste Pryme bitten, ihr etwas für ihre Nerven zu geben. So aufgewühlt konnte sie nicht auf die Bühne gehen und ihre Nachricht verschicken.

Andreas zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr an den langen Konferenztisch. Die Stuhlbeine schleiften über den teuren Teppichboden. Doch so wie Leyla den in der letzten halben Stunde mit ihren spitzen Absätzen traktiert hatte, war er sowieso schon ruiniert.

»Ich weiß, dass meine Fans meinen Erfolg ausmachen, aber das heißt nicht, dass ich Autogrammstunden oder ein Interview mit lächerlichen Standardfragen gebe oder bei einer Charity-Veranstaltung mitsinge«, erwiderte sie. Sie hatte ganz andere Dinge im Kopf, aber das verstand ihr Manager nicht.

»Aber Leyla, mit dieser Einstellung wirst du deine Fans vor den Kopf stoßen und dann werden sie sich von dir abwenden.«

Leyla verdrehte die Augen. Sie wusste genau, dass das niemals passieren würde. Keiner, der ihre Musik einmal gehört hatte, wäre danach noch imstande, ihrer Stimme zu widerstehen. Auf dieser Seite der Barriere schaffte das niemand. Selbst wenn Leyla es ihnen befahl.

»Ich habe doch gerade diese Autogramme gegeben«, erwiderte sie.

»Ja, einer Gruppe Schülerinnen, die bei einem Preisausschreiben gewonnen haben, und auch nur, weil ich dich dazu überreden konnte«, fuhr Andreas aufgebracht fort.

»Was willst du denn noch von mir?«, fragte sie. Sie war kurz davor, aufzustehen. Das alles war so lächerlich. Sie hatte Wichtigeres zu tun.

»Ich will, dass du dich um deine Fans kümmerst. Dass du ein Interview gibst und nach einem Konzert mit den VIP-Gästen sprichst.« Andreas beugte sich zu ihr, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Deine Musik ist sehr beliebt und die Leute stehen total darauf, aber das wird vermutlich nicht immer so bleiben. Die Musikbranche ist sehr schnelllebig und die Menschen werden dich schon bald satthaben. Daher rate ich dir, deine Einstellung zu ändern, wenn du nicht in einem Monat wieder in der Versenkung verschwunden sein willst.«

»Vermutlich bleibt mir nicht mal mehr eine Woche«, murmelte sie und sah wieder aus dem Fenster.

Die Menschen liefen nichts ahnend an den schwarzen Ranken vorbei, die unaufhörlich und sehr langsam an den Hauswänden emporkletterten. Keiner von ihnen bemerkte den nahenden Tod, der durch die Straßen dieser Stadt schlich. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Ersten krank werden würden. Wie sollten sie auch etwas aufhalten, das sie nicht einmal sehen konnten? Nur Bewohner der anderen Seite der Barriere konnten den nahenden Tod sehen. Doch leider waren auch viele von ihnen machtlos gegen das, was durch die Straßen schlich und schon bald alles töten würde, was es berührte.

»Wie meinst du das, dir bleibt nur noch eine Woche?«, fragte Andreas verwundert.

Leyla ließ den Kopf hängen und sprach die Worte aus, die sie eigentlich für immer für sich behalten sollte. »Ich komme aus einer anderen Welt, die ihr nicht sehen könnt. Die Menschen mögen meine Musik deshalb so sehr, weil sie keine andere Wahl haben. Sie können meiner Stimme nicht widerstehen, selbst wenn sie es wollten. Doch ich bin nicht hier, um reich und berühmt zu werden, sondern weil ich jemanden suche. Die einzige Person in beiden Welten, die den Tod aufhalten kann, der sich in diesem Moment wie eine Seuche in der Stadt ausbreitet.«

Als sie aufblickte, sah ihr Manager sie erst mit großen Augen an, dann schlich sich ein Lachen in seine Mundwinkel und er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Der war gut, Leyla. Wenn du mal ein Interview gibst, wirst du das aber schön für dich behalten, klar?«

Sie seufzte. Diese Reaktion kam jedes Mal von Andreas, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Er wollte es einfach nicht verstehen und sie konnte es ihm nicht beweisen, denn er war nicht in der Lage, die schwarzen Ranken zu sehen.

Frustriert beugte sie sich zu ihrem immer noch lachenden Manager vor und ließ ihrer machtvollen Stimme freien Lauf. »Hör mir gut zu«, begann sie. Ihre Stimme hallte durch den Raum. Andreas hörte sofort auf, zu lachen. Seine ganze Aufmerksamkeit lag nur noch auf ihr. »Du wirst alles vergessen, was ich dir gerade gesagt habe. Niemals wirst du auch nur ein Wort darüber verlieren.«

Wie der süßeste Honig flossen ihre Worte in seine Ohren und vernebelten seinen Verstand. Wie oft hatte sie das schon gemacht und wie oft hatte Andreas danach immer die gleiche Reaktion gezeigt wie in diesem Moment. Er neigte den Kopf wie eine Marionette, blieb aber sonst ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Erst als sie den Mund schloss und sich wieder zurücklehnte, wurde ihr Manager aus dem Bann entlassen. Seine Augen wurden für einen Moment trüb.

Sie machte sich schon seit einiger Zeit Sorgen um ihn. Sie wusste nicht, wie viel von ihrer Magie das menschliche Gehirn aushalten konnte, bevor sich bleibende Schäden zeigten.

Ihre Fans waren nicht in Gefahr. Während ihrer Konzerte benutzte sie nur ein geringes Maß ihrer Magie und auf den CDs war davon gar nichts mehr zu spüren. Nur ihr Manager bekam immer die volle Ladung ab. Der arme Mann.

Als sie sich erhob, um Andreas etwas Ruhe zu gönnen, öffnete jemand die Tür des Aufenthaltsraums. Der Mann, der darin auftauchte, verstand es gut, den Menschen Angst einzujagen. Sein kantiges markantes Gesicht war immer zu einer strengen Maske verzogen. Er lächelte nie. Seine breiten Schultern drohten, die Jacke zu sprengen, die er sich zur besseren Tarnung übergezogen hatte.

Sein finsterer Blick glitt von Leyla zu ihrem noch immer benommen dasitzenden Manager. Doch er sagte wie immer kein Wort. Sein anklagender Blick war alles, was es brauchte.

Aaron war der beste und gleichzeitig schweigsamste Krieger aus Leylas Heimat und er hatte geschworen, sie zu beschützen. Ins Gewissen redete er ihr mit jeder einzelnen seiner Gesten.

Sie wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als sich eine zierliche junge Frau neben Aaron durch die Tür zwängte. Das leuchtend rote Haar stand ihr mal wieder wild vom Kopf ab, doch die strahlend blauen Augen sagten jedem, dass ihr das egal war. Das herzförmige Gesicht wurde von einem Lächeln beherrscht. Die Jeans und das bunte Shirt standen ihr hervorragend, denn sie hatte die Kurven, um diese Sachen auszufüllen.

Pryme war keine normale junge Frau. In der Tasche, die sie immer über der Schulter und quer über der Brust trug, befanden sich nicht etwa Handy und Schminktäschchen, sondern Fläschchen mit Zaubertränken und ein kleines Buch mit Zaubersprüchen.

»Was ist denn mit Andreas los?«, fragte sie. Ihr besorgter Blick glitt zu Leylas Manager, der sich langsam wieder erholte. Er schwankte, als er versuchte, aufzustehen.

Neben Pryme zwängte sich ein großer, zotteliger Bernhardiner durch die Tür. Sein massiger Körper konnte alles und jeden zur Seite schieben, wenn er es wollte.

Crane schnüffelte an den Füßen von Andreas, dann wandte er seinen ganzen Körper herum, wobei er mit Leylas Manager zusammenstieß und ihn wieder ins Wanken brachte. »Wenn du mich fragst, hat Leyla sich mal wieder verplappert und den guten Andreas mit einer weiteren Dosis Sirenengesang ruhiggestellt«, erklärte der Bernhardiner und sah Leyla dabei scharf an.

Jeder andere wäre beim Anblick eines sprechenden Hundes vermutlich sofort schreiend davongelaufen, doch für Leyla war das ganz normal. Crane war ein Gestaltwandler, der die meiste Zeit des Tages als Bernhardiner verbrachte, weil diese Hunde groß genug waren, um Menschen zu Fall zu bringen. Das machte sich bei aufdringlichen Fans und Reportern besonders gut. Warum er nicht einen Schäferhund wählte, wusste Leyla nicht. Doch so wie Pryme manchmal die zottelige Gestalt von Crane streichelte, steckte vermutlich nur das dahinter.

Ihre Freundin stemmte jedoch die Hände in die Hüften und sah Leyla scharf an. »Du hast doch versprochen, den armen Andreas nicht mehr zu quälen. Wer weiß, ob ihm davon nicht noch die restlichen Haare ausfallen.«

Leyla sah zu ihrem Manager, der sich an der Tischkante festhielt. Sein Gesicht war blass geworden. Hoffentlich musste er sich nicht übergeben.

»Er hat mich wieder mit diesen Fanaktionen genervt«, rechtfertigte sie sich und hasste sich gleichzeitig dafür. Das war noch lange kein Grund, ihrem Manager noch mehr zuzumuten.

Aaron schloss die Tür hinter sich und stellte sich schützend davor.

»Als wir hierherkamen und uns entschlossen, dich zu einem Star zu machen, haben wir uns geschworen, deinen Manager nicht umzubringen«, erklärte Pryme und wühlte schon wieder in ihrer Tasche. Das leise Klackern von kleinen Flaschen war zu hören.

Leylas Gesicht verdüsterte sich, als sie an den Tag dachte, an dem sie die Aufnahmestudios betreten und Andreas in seinem Büro vorgefunden hatte. Damals hatte sie ihn zum ersten Mal mit ihrem Sirenengesang bezirzt, um eine Demosingle aufnehmen zu können. Das war vor etwas mehr als einem Monat gewesen. Seither bekam Andreas immer mehr ab.

Pryme holte ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit darin hervor und griff sich eine Wasserflasche vom Tisch.

»Uns läuft die Zeit davon, Leyla«, begann Crane. Er lief zu den Fenstern und stemmte sich auf die Hinterpfoten, um die vorderen Tatzen auf das Fensterbrett zu legen. »Ich habe vorhin in den Nachrichten gesehen, dass die Ranken schon die Stadt verlassen haben. Sie breiten sich immer schneller aus.«

Verdammt! Das war nicht gut. Wenn sie sich erst einmal so weit ausgebreitet hatten, hielt sie bald nichts mehr davon ab, ganz Berlin unter sich zu begraben. Die Rankennetze wurden an den Toren der Barriere immer dichter, sodass kaum noch ein Fleck Farbe zu sehen war.

»Wir müssen aufbrechen«, sagte Leyla schließlich. »Heute Abend werde ich eine neue Botschaft rausschicken. Das wird sie sicher hören.«

Sie musste es hören. Sie war die letzte Hoffnung für ihre Heimat und die Welt der Menschen.

Pryme füllte etwas von ihrem Zaubertrank in die Flasche Mineralwasser und reichte sie Andreas mit der Anweisung, alles auszutrinken.