5,99 €
Während KHK Weber vom PP OWL mit der Aufbereitung seines letzten Falles beschäftigt ist, stellt eine neue Mordserie die Ermittler vor große Probleme. An verschiedenen Orten in OWL werden Skalpe gefunden. Doch wo sind die Opfer? Zeitgleich wird Weber von seiner Vergangenheit eingeholt. Doch wer kann von seinem dunklen Geheimnis wissen? Um die Sache zu Ende zu bringen, muss Weber nach Wien reisen. Dort kommt es zum Showdown.....
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 539
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für Vatta!R.i.P29.08.2020
MICHAEL GIEZEK
***
SKALP
Ein OWL-Krimi
© 2020 Michael Giezek
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback: 978-3-347-08317-2
Hardcover: 978-3-347-08318-9
e-Book: 978-3-347-08319-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Fotos: privat
Lektorat: Petra Blöß
Skalp Weber
Sonntag, 11.10.2015, 9:25 Uhr
Heiner Kuhl ging regelmäßig am Sonntagmorgen mit seinem Border Collie Leo spazieren. Dabei ließ er sich viel Zeit, weil er in der Woche lange arbeitete und die Gassirunden mithin dann kürzer ausfallen mussten.
Der glatzköpfige Kuhl lebte allein mit seinem Hund in einer großen Wohnung in der „Graf-von-Galen-Straße“ in Bielefeld. Von hier aus ging er immer durch den nahegelegenen Park, vorbei am Teich und dem Wirtshaus, unterquerte die Kurt-Schumacher-Straße durch einen Rad- und Fußgängertunnel und folgte auf der anderen Seite dem Weg zur Voltmannstraße, überquerte sie an einer weiteren Ampel und marschierte strammen Schritts voran. In der Morgenbreede passierte das Duo die Studentenwohnungen, und der schmächtige Kuhl drehte mit dem Tier noch eine Runde durch den Park.
„Was, Leo? Ein herrliches Wetter, gut für einige Extrameter“, sprach er zu seinem Hund, der kurz aufblickte und diese Ansprache mit einem leichten Wedeln quittierte.
Die Beiden spazierten am Fitnessstudio vorbei und schlugen die Richtung zur Fakultät für Chemie ein. Leo blieb ständig stehen, schnüffelte sich fast die Seele aus dem Leib und markierte Strauch, Baum und Laternenpfahl. Plötzlich aber zog er kräftig in Richtung einer Mülltonne, die unscheinbar neben zwei Sitzbänken aus Metall vor dem Eingang zur Fakultät stand.
„Na, wen willst Du da übertrumpfen?“, sagte Kuhl leise, nicht ahnend, dass es dem Vierbeiner jetzt gar nicht mehr um die Duftzeichen anderer Rüden ging.
Der Köper des Hundes war angespannt, die Ohren standen aufmerksam hoch und die Nase zitterte, als wäre ein Feldhase um die Ecke gekommen. Kuhl sah, dass der Mülleimer völlig überfüllt war. Als er sich näherte, bemerkte er einen Wischmopp, der obenauf lag. Dieser Wischmopp, oder was auch immer das Ding war, sah so aus, als ob jemand eine große Menge Ketchup oder rote Marmelade aufgewischt hätte.
„Aber warum entsorgt man ihn hier draußen?“, fragte sich Kuhl.
„Es wird wohl kaum jemand vor der Bank Ketchup verschüttet und dann mit einem Mopp aufgewischt haben“ rätselte er vor sich hin, derweil Leo kaum noch zu bremsen war.
Kuhl stand mittlerweile so nah dran, dass er besser erkennen konnte, was da wirklich auf dem Mülleimer lag. Es war kein Wischmopp und es waren auch weder Ketchup noch Marmelade, was daran klebte. Kuhl schaute wie gebannt auf den Mülleimer, während Leo sich an einer Pfütze der roten Flüssigkeit gütlich tat, die sich auf dem Boden gebildet hatte.
Als Kuhl endgültig ins Bewusstsein stieg, was er da vor sich hatte, zog er Leo hastig beiseite, drehte sich von dem Anblick weg und kotzte sich hinter einer der Bänke die Seele aus dem Leib.
11:10 Uhr
Kriminalhauptkommissar Heiko Windmann, von der A1 der Kriminalpolizei Bielefeld, stand vor dem Mülleimer an der Fakultät für Chemie und starrte auf das Etwas aus Haaren und Blut.
Vor einer Stunde hatte er noch zu Hause am Frühstückstisch gesessen und mit seiner Frau Kaffee getrunken und Brötchen gegessen. Dann hatte ein Anruf der Kriminalwache ihn aus seiner Vorstellung von einem perfekten Sonntagmorgen gerissen. Die Feuerwehr hätte sich gemeldet, da sie zu einem merkwürdigen Einsatz gerufen worden sei, teilte der Kollege mit. Ein Spaziergänger habe auf einem Mülleimer auf dem Uni-Gelände Haare gefunden. Als die Sanitäter dort angekommen seien, hätten sie festgestellt, dass es sich offenbar um einen Skalp mit frischem Blut handeln würde. Der Meldung an die Leitstelle folgte direkt die Nachricht bei der Kriminalwache. Sofort machte sich eine Streifenbesatzung auf den Weg.
„Die uniformierten Kollegen haben bestätigt, dass es sich sehr wahrscheinlich um echte Haare und echtes Blut handelt“, erfuhr Windmann im Telefonat.
Grund genug für ihn, sofort durchzustarten, auch wenn er dem Ganzen nicht traute und den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht anzweifelte. Windmann hatte den Kollegen noch gebeten, den anderen Mitgliedern der MK-Bereitschaft zu sagen, dass sie direkt zur Uni kommen sollten.
Und nun also stand auch der Ermittler vor dem Mülleimer und starrte auf den ominösen Fund.
„Wie lange liegt der Skalp wohl schon hier?“, fragte Windmann die Sanitäter, die aber keine genauen Angaben machen konnten.
„Das lässt sich nicht wirklich sagen“, antworteten sie, „aber da das Blut noch heruntergetropft ist, müssen die Haare direkt nachdem sie vom Kopf abgetrennt wurden, hier hingelegt worden sein. Da das Blut noch nicht geronnen ist, tippe ich auf 30 bis 45 Minuten.“
Windmann nahm die Haare genauer unter die Lupe. Sie waren dunkelbraun, durchzogen von einigen grauen Strähnen. Der Kommissar fragte sich, was nun zu tun sei. Bei einer Leiche wäre das klar gewesen. Sie wäre in die Pathologie gebracht und dort obduziert worden. Aber bei einem Skalp? Als Windmann mit seinen Gedanken an diesem Punkt angekommen war, trafen die ersten Mitglieder der Bereitschaft ein.
Roman Schäfer und Andreas Haar waren für diesen Sonntag als Ermittlerteam eingeteilt - ausgerechnet. Windmann konnte sich die Anspielung nicht verkneifen, dass es wohl für diesen Fall keinen passenderen Kollegen als Haar hätte geben können. Er informierte kurz zum Sachstand, als auch schon die Spurensicherung anrückte. Viel konnte sie allerdings nicht tun. Es gab nicht viel, was hätte gesichert werden können. Lediglich ein paar Fotos zur Auffindesituation und Blutproben – auffallend war, dass es nur die Blutlache direkt vor dem Mülleimer gab. Aber keinerlei Tropfspuren.
Und das ließ den Rückschluss zu, dass die Haare in einem irgendeinem Behältnis zum Mülleiner gebracht und erst dort daraus entnommen worden waren. Windmann konnte nicht ausschließen, dass in anderen Abfalleimern auf dem Unigelände noch weitere „Körperteile“ lagen. Deshalb ließ er die Kollegen der Spurensicherung diese Behälter kontrollieren und bat sie auch, in die umliegenden Büsche zu schauen. Nachdem auch das erledigt war, musste sich Windmann um den Abtransport der Haare kümmern. Bei einer Leiche hätte er ein Bestattungsunternehmen angerufen und dieses beauftragt, den Körper zur Pathologie zu transportieren, wo dann die Autopsie stattfinden sollte.
Aber in diesem Fall?
Der Ermittler beriet sich mit den Sanitätern, die er gebeten hatte, am Fundort zu bleiben. Zudem rief er seinen Chef in der A1, Oskar Schwarzbach, an und beriet sich auch mit ihm. Man einigte sich darauf, dass die Sanitäter den Skalp mitnehmen und zum Krankenhaus Gilead I bringen würden. Dort sollten die Haare in einer Kühlkammer gelagert werden bis entschieden war, was weiter mit ihnen passieren sollte.
Das Krankenhaus war einverstanden.
Bis diese Entscheidung gefallen war dauerte es allerdings fast zwei Stunden und es hatte sich bereits eine größere Menge an Schaulustigen eingefunden. Auch die Journaille war natürlich vor Ort. Windmann hatte über die K-Wache den Vertreter der Pressestelle, der Bereitschaft hatte, verständigen lassen. Dieser war umgehend am Fundort erschienen und würde sich nun um die Medienmeute kümmern. Zudem hatte Windmann um Verstärkung durch uniformierte Kollegen gebeten, die nach ihrem Eintreffen den Fundort sofort weiträumig abgesperrt hatten.
Der Finder war zwischenzeitlich durch Schäfer und Haar vernommen worden. Die Befragung hatte jedoch nichts Brauchbares ergeben. Herr Kuhl hatte sich nicht daran erinnern können, eine Person in der Nähe des Mülleimers gesehen zu haben. Auch sonst war ihm niemand besonders aufgefallen. Windmann war die ganze Zeit vor Ort geblieben und hatte sich dagegen entschieden ins Büro zu fahren. Dort hätte er eh nicht viel mehr erreicht. Telefonieren konnte er auch mit dem Handy. So hatte er auch mit der zuständigen Staatsanwältin Jaqueline Fähr gesprochen. Sie hatten vereinbart, für den nächsten Tag die Pathologen aus Münster anzufordern. Zuständig war Professor Stefan Ullrich, der versprach gleich um 8 Uhr mit seinen Kollegen im Krankenhaus zu sein.
Letztlich nahmen die Sanitäter die Haare vom Mülleimer und legten sie in eine Box mit Eiswürfeln, die sonst dem Transport von abgetrennten Körperteilen diente. Die Spurensicherer nahmen sich sofort den weiteren Inhalt des Mülleimers vor. Doch sie fanden weiter nichts, was ihnen bei ihren Ermittlungen weiterhelfen konnte.
Ein weiteres Telefonat mit der Staatsanwältin brachte diese auf den neuesten Stand.
Die Presse sollte am Montagnachmittag mehr erfahren.
Montag 12.10.2015; 9 Uhr
Windmann stand im Autopsieraum der Klinik und schaute den Pathologen bei der Arbeit zu. Er war schon bei der einen oder anderen Untersuchung dieser Art dabei gewesen und kannte daher die Experten. Professor Stefan Ullrich und seine Assistenten Dr. Hannes Schultenburg und Dr. Peter Haupt hatten als Team schon einige Termine in Bielefeld durchgeführt. So erfahren Prof. Ullrich durchaus war, einen Skalp hatte auch er noch nicht auf dem Seziertisch gehabt.
„Tja", sagte er nun.
„Viel können wir nicht machen und viele Informationen werden wir ihnen auch nicht geben können. Was ich sagen kann ist, dass die Kopfhaut mit einem sehr scharfen Gegenstand abgetrennt wurde, vielleicht mit einem Skalpell. Der Schnitt erfolgte allerdings nicht professionell, wenn ich das mal so sagen darf. Die Schnittstellen sehen sehr ruppig aus und teilweise hängt viel Gewebe an den Haaren.“
Ullrich hatte den Skalp bei seinen Worten umgedreht, so dass die haften gebliebene Kopfhaut zu erkennen war. Er zeigte die Stellen, die er meinte.
„Die Haare selbst sind stark mit Blut durchtränkt. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass ihr ehemaliger Besitzer noch am Leben war, als ihm Haar und Haut genommen wurden.
Wäre er schon tot gewesen, hätte er nicht mehr so stark geblutet.“
„Rund um den Mülleimer, in dem die Haare gefunden wurden, war viel Blut verteilt", sagte Windmann.
„Hmmm“, machte Ullrich.
„Das hätte ich nicht erwartet“.
„Warum?“ fragte Windmann.
Statt Ullrich antwortete Dr. Haupt:
„Weil der Skalp selber nicht so stark nachgeblutet haben kann. Er enthält keine Blutgefäße. Nur die Kopfhaut verfügt darüber.“
„Wo kann das ganze Blut dann herkommen?“ fragte Windmann.
„Das herauszufinden dürfte ihre Aufgabe sein", antwortete Ullrich. „Was können sie mir sonst noch sagen?“
„Ich denke, dass die Haare von einem Mann stammen. Zwar gibt es keine wesentlichen Unterscheidungen bei den Haaren von Mann und Frau, aber da die Haare kurz geschnitten und nicht so dicht sind, wie es bei Frauen häufiger vorkommt, tippe ich auf Männerhaare. Aufgrund der Graufärbung schätze ich das Alter auf 40-50 Jahre“, informierte der Experte aus Münster.
„Kann der „Besitzer“ der Haare das Skalpieren überlebt haben?“ hakte Windmann nach.
Ullrich überlegte einen Moment:
„Wenn er direkt danch ärztlich versorgt wurde, ja. Falls nicht, könnte es sehr eng für ihn geworden sein. Wenn er irgendwo alleine zurückgelassen wurde, gehe ich davon aus, dass er es nicht überlebt hat.“
„Ich würde an ihrer Stelle die Krankenhäuser und Bielefeld und Umgebung abklappern und fragen, ob dort ein Skalpierter aufgetaucht ist, oder eingeliefert wurde“, ergänzte Dr. Haupt und fragte:
„Was werden sie jetzt mit den Haaren machen?“
„Wenn ich das mal wüsste“, antwortete Windmann.
„Erstmal werden sie hier in der Kühlkammer bleiben, solange das Krankenaus eine frei hat. Vielleicht meldet sich ja zwischenzeitlich jemand, der seine Haare vermisst“, kommentierte der Kommissar mit einem schiefen Grinsen.
Mittwoch, 14.10.2014; 08:05 Uhr
Peter „Pete“ Schönherr sah auf seine Armbanduhr.
Noch 10 Minuten bis zum Zugriff.
In Gedanken ging er den Einsatz erneut durch und suchte zum wiederholten Male nach Schwachstellen, fand jedoch keine. Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl in ihm zurück. Vor zwei Monaten hatte er einen Einsatz geleitet, bei dem ein Kripobeamter angeschossen und schwer verletzt worden war. Schönherr und seine Leute hatten den Auftrag gehabt einen Bauernhof zu stürmen, in dem sich Kinder und Jugendliche aufhielten, die an Pädophile verkauft werden sollten. Da nicht bekannt war, wie viele Täter sich ebenfalls in dem Bauernhaus befinden würden, zog man zahlreiche Kräfte zu dem Einsatz heran.
Die Stürmung des Hauses war seinerzeit ohne Probleme abgelaufen und eine ganze Reihe Personen konnten verhaftet werden. Dabei hatten die Einsatzkräfte allerdings einen Täter übersehen, der von den Kollegen der Kripo aufgespürt wurde und sofort das Feuer eröffnet hatte. Ein Beamter erlitt dabei schwere Schussverletzungen im Oberkörper und konnte nur durch eine Notoperation gerettet werden. Schönherr fiel ein, dass er sich schon seit längerer Zeit nicht mehr nach dem Zustand des Kollegen erkundigt hatte.
Er wusste, dass dieser die Operation überlebt hatte und ins künstliche Koma versetzt worden war. Deshalb nahm er sich vor, sich nach diesem Einsatz über dessen Gesundheitszustand zu informieren. Der Täter war von einem anderen Kripobeamten erschossen worden.
Schönherr und die vier Kollegen, die den Dachboden kontrolliert und dabei den Täter übersehen hatten, waren zwei Tage nach dem Einsatz suspendiert worden. In der entsprechenden gründlichen Untersuchung waren ihnen keine Fehler nachzuweisen. Und so konnten alle wieder ihren Dienst antreten.
Warum der Schütze übersehen worden war, blieb ungeklärt.
Der heutige Einsatz war Schönherrs erster, nachdem seine Suspendierung aufgehoben worden war. Deshalb war er nervöser als sonst. Auch seine beiden entlasteten Kollegen waren an dem Einsatz beteiligt. Der war nicht so groß wie jener auf dem Bauernhof, entsprechend weniger Kräfte waren vor Ort. Ein Einfamilienhaus im Bielefelder Süden stand im Fokus.
Schönherr wusste, dass in dem Gebäude eine Familie mit drei Kindern wohnte. Der Mann arbeitete als Psychologe und hatte seine Praxis im Haus. Die Kinder waren mit der Mutter auf dem Weg zur Schule. Anschließend würde sie selber zur ihrer Arbeitsstelle als Rechtsanwältin fahren. Das Zielobjekt war der Mann, der sich nun allein im Haus befand.
Der Anlass des Einsatzes allerdings war der Gleiche, wie seinerzeit auf dem Bauernhof. Und der Kollege von der Kripo, der den Fall bearbeitete, war derjenige, der in dem Bauernhaus den einen Täter erschossen hatte. Schönherr sah noch einmal auf die Uhr, dann schaute er zu Kriminalhauptkommissar Marc-Andre „Brett“ Weber hinüber und nickte ihm zu. Der Einsatz konnte starten. Schönherr gab den Befehl an sein Team weiter.
11:25 Uhr
Marc-Andre Weber von der Kripo Bielefeld saß in seinem neuen Büro in der Abteilung 1 der Kriminalpolizei des Polizeipräsidiums OWL und sah auf den Mann, der neben seinem Schreibtisch auf dem Besucherstuhl hockte.
An dem anderen Schreibtisch im Büro saß Chiara Bültmann, mit der sich Weber den Raum teilte.
„Also bleiben sie dabei“, fragte Weber den Mann, „dass sie hier keine Aussage machen wollen?“
„Ich möchte zuerst mit meinem Anwalt sprechen“, entgegnete dieser.
„Soll ich ihre Frau anrufen?“ konnte Weber sich nicht verkneifen zu fragen.
Der Mann schaute ihn wütend an.
„Herr Archer, welchen Anwalt sollen wir für sie anrufen?“, hakte Weber nach.
„Herrn Buck“, antwortete Archer kurz angebunden.
„Friedhelm Buck?“ fragte Weber nach.
Archer nickte.
„Ok“, sagte Weber.
„Ich werde für sie wählen, dann können sie mit ihm sprechen.
Aber sie sollten es sich nochmal genau überlegen, ob sie nicht jetzt und hier ihr Gewissen erleichtern wollen“, versuchte der Kripobeamte letztmalig, sein Gegenüber umzustimmen und zu einer Aussage zu bewegen.
Archer war am Vormittag vom SEK festgenommen worden, da er im Verdacht stand, einen 12-jährigen unbegleiteten Flüchtling „gekauft“ zu haben.
„Wo ist der Junge, Archer?“ fragte Weber und spürte, wie die Wut wieder in ihm hochkochte.
Bis jetzt hatte er sich beherrschen können, aber je länger er diesem miesen Schwein gegenüber saß, desto schwerer fiel es ihm.
„Machen sie es nicht noch schlimmer als es ohnehin schon ist. Sagen sie uns wo der Junge ist und ich werde sehen, ob ich etwas für sie tun kann.“
Bei den letzten Worten wurde Weber fast schlecht als er sie aussprach. Natürlich würde er sich für den Kerl nicht einsetzen. Er war froh, wenn Archer im Gefängnis saß und dort auf Typen traf, die wussten wie man mit perversen Schweinen umging.
„Sie kommen aus der Nummer eh nicht raus. Die Beweise, die gegen sie vorliegen sind eindeutig. Sie wandern in den Knast, da führt kein Weg dran vorbei und auch ihr Anwalt wird ihnen da nicht helfen können. Also sagen sie, was sie wissen und sie werden im Gefängnis in eine Einzelzelle kommen.“
Bei den Worten sah Archer auf, der den Blick bis jetzt starr auf den Boden gerichtet hatte. Ihm schien mit einem Mal bewusst zu sein, was mit ihm passieren könnte, wenn er eingesperrt würde.
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und seine Hände fingen an zu zittern.
„Es gibt einige Jungs im Knast, die sich schon darauf freuen, jemanden wie sie kennenzulernen“, setzte Chiara ergänzend hinzu.
Weber musste innerlich grinsen. Seine Kollegin war eine zierliche junge Frau von 28 Jahren und eine solche verbale Gemeinheit traute man ihr nicht zu. Gerade deswegen aber freute sich Weber, dass er mit ihr bei den Ermittlungen zusammen arbeiten durfte.
„Die schweren Jungs werden sie herzlich begrüßen und sich dann ganz intensiv um sie kümmern“, machte Chiara weiter.
„So wie sie sich um den Jungen gekümmert haben“, setzte sie leise hinzu.
Archer liefen nun Tränen über die Wangen. Weber hasste diese Typen, die auf der einen Seite Kinder missbrauchten, auf der anderen aber hier saßen und heulten.
„Wir haben ein Wochenendhaus im Harz“, sagte Archer endlich.
Er nannte ihnen den Ort und die Adresse. Chiara griff sofort zum Telefon und gab die Infos an den Leiter der A 1 weiter. Oskar Schwarzbach versprach, sich ohne Zögern um die Befreiung des Jungen zu kümmern.
„Es tut mir so leid“, begann Archer nun zu wimmern.
Nicht das jetzt, dachte Weber.
„Halten sie die Fresse“, fuhr er ihn an.
„Sie kotzen mich an. Ruf seinen Anwalt an, “ sagte Weber zu Chiara. Dann stand er auf und verließ das Büro.
Er brauchte frische Luft.
13:55 Uhr
Weber legte den Telefonhörer auf die Gabel und sah zu Chiara herüber.
„Sie haben den Jungen gefunden“, sagte er.
„Das war der Kollege aus Niedersachsen, der den Einsatz geleitet hat. Das Kind war im Keller des Hauses eingesperrt. Zudem hatte es eine Kette am Bein, die an einem Haken im Boden verankert war. Die Kette sei so lang gewesen, dass er alles habe erreichen können. Er hatte dort unten was zu essen und zu trinken und ein kleines Bad. Außerdem gab es ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl und ein Regal mit Büchern. Übrigens alle in deutscher Sprache. Ich weiß gar nicht, ob der Junge da was mit anfangen konnte. Nach den ersten Untersuchungen durch den Notarzt scheint er wenigstens körperlich soweit fit zu sein. Genauere Untersuchungen werden in der Kinderklinik in Osnabrück gemacht, in die er gerade gebracht wird.“
„Was wird weiter mit dem Jungen geschehen?“ fragte Chiara.
„Das Gleiche wie mit den anderen Jungen auch, die wir bis jetzt befreien konnten. Wenn sie gesund sind, werden sie aus dem Krankenhaus entlassen und dem Jugendamt übergeben. Dann werden sie wohl wieder in einem Heim landen.
Aber diesmal in einem richtigen.“
Weber fragte sich, während er das sagte, allerdings, ob die Jugendlichen nach den gemachten Erfahrungen je wieder unbeschwert in einem Heim leben konnten, soweit das für Flüchtlingskinder überhaupt möglich war. Von einer Vermittlung in eine Pflegefamilie ganz zu schweigen.
Seit etwas über einem Monat gab es jetzt die EK Eckendorf in der Weber zusammen mit Chiara arbeitete. Sie war das Ergebnis eines anderen Falles, an dem Weber und Chiara zuvor gearbeitet hatten. Dabei war es um einen Mord an einem Kfz-Händler aus Bielefeld gegangen.
Im Rahmen der Ermittlungen waren Verbindungen zwischen dem Toten und dem Chef eines großen Unternehmens bekannt geworden. Es hatte sich herausgestellt, dass der Tote in den Handel mit Pkw verstrickt war, die in Deutschland als Totalschaden geführt, in Polen für wenig Geld aufbereitet und dann wieder in Deutschland als unfallfreie Gebrauchtwagen verkauft wurden.
Der Transport der Fahrzeuge von Polen nach Deutschland war zudem für den Schmuggel von Drogen im großen Umfang genutzt worden. Das Opfer hatte sich jedoch einen Teil einer Lieferung Drogen unter den Nagel gerissen und als dies bekannt geworden war, hatte ihn der Unternehmer ermorden lassen. Die schmutzigen Geschäfte des Unternehmers waren nach und nach ans Licht gekommen. Dazu gehörte auch der „Handel“ mit unbegleiteten Flüchtlingskindern.
Dieser Unternehmer, Georg Renner, hatte zusammen mit einem Geschäftspartner mehrere Heime für Flüchtlingskinder eröffnet und zahlreiche Mädchen und Jungen aufgenommen. Dann hatten sie die Kinder und Jugendlichen an Pädophile verkauft. Einer von Renners Leuten war damit nicht einverstanden gewesen und hatte heimlich sämtliche Daten zu den „Käufern“ von Renners Laptops auf einen USB-Stick überspielt. Er hatte gehofft, so sich und seine Freundin vor Renner schützen zu können. Was aber nicht gelungen war. Sowohl er als auch seine Freundin wurden in der Folge ermordet.
Die Frau hatte den Stick vor ihrer Ermordung noch bei ihren Eltern verstecken können. Diese wohnten in der Ukraine. Weber hatte sich mit einem Kollegen auf den Weg dorthin gemacht und die Daten abgeholt. Mit genau diesen Informationen war es dann letztendlich gelungen, Renner und einen Teil seiner sogenannten Geschäftspartner zu verhaften.
Die Ermittlung der „Kunden“ erwies sich als sehr schwierig. Zwar ließ sich anhand der aufgefundenen Daten sehr gut nachvollziehen, wann welche „Geschäfte“ abgeschlossen worden waren. Fast alle weiteren Infos aber hatten die Verbrecher gut verschlüsselt. Bis jetzt war es den IT-Experten nur gelungen, drei Kunden zu ermitteln. Und das auch nur, weil deren Daten, aus welchem Grund auch immer, nicht verschlüsselt worden waren. Es wurde mit Hochdruck weiter gearbeitet, und es waren sogar Experten vom LKA und BKA mit der Entschlüsselung beauftragt worden.
Aber es gab eine Vielzahl an Computern, Tabletts und anderen Speichermedien, die sichergestellt worden waren, so dass noch nicht alle hatten ausgewertet werden können. Man hoffte allgemein, dass sich auch auf einem dieser Speichermedien der Entschlüsselungscode befand - und nicht nur in Renners Kopf. Denn dass Renner der Polizei helfen würde, um möglicherweise eine Hafterleichterung zu erhalten, war absolut nicht zu erwarten. Einer der „unverschlüsselten Käufer“, war Klaus-Otto Archer gewesen.
Einen anderen hatten sie letzte Woche verhaften können, die Festnahme eines weiteren wurde gerade vorbereitet. Der, den man letzte Woche verhaftet hatte, hatte ebenfalls einen Jungen „gekauft“, der mit ihm in seinem Haus, eingesperrt in einem Zimmer, „gelebt“ hatte. Ärztliche Untersuchungen hatten ergeben, dass das Kind während dieser Gefangenschaft wiederholt geschlagen und sexuell missbraucht worden war. Der Täter hatte sich im Gegensatz zu Archer bei der Verhaftung gewehrt, was ihm nicht so gut bekommen war.
Er würde wahrscheinlich am Ende der Woche aus dem Krankenhaus entlassen und dann in Untersuchungshaft gebracht werden. Weber hoffte nur, dass sich der polizeiliche Aufwand auch lohnte und die Täter angemessen bestraft würden, ohne dass eine schwere Kindheit, oder ein eigener Missbrauch als Ausrede geltend gemacht und anerkannt werden könnten. Zuviel Leid war im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu Tage gekommen.
Dabei musste er automatisch an seinen Kollegen Laschek denken. Weber und Laschek hatten sich im Rahmen der Ermittlungen zum Fall Renner kennengelernt. Sie waren ein Team gewesen und hatten sich sehr gut verstanden. Laschek, der in einem Haus im Bielefelder Rotlichtviertel wohnte, war bei der Befreiung eines Heims angeschossen und schwer verletzt worden. Er hatte mehrere Schüsse in den Oberkörper abbekommen. Eine Kugel war nahe der Wirbelsäule in den Körper eingedrungen und hatte dafür gesorgt, dass Webers Kollege querschnittsgelähmt bleiben würde und wohl den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen musste. Laschek hatte nach der Not-OP drei Wochen im künstlichen Koma gelegen, bevor sich sein Zustand soweit verbessert hatte, dass ihn die Ärzte wieder aufwecken konnten. Mittlerweile war er aus dem Krankenhaus entlassen worden und befand sich zu einer Reha in Bad Oeynhausen. Weber nahm sich vor ihn zeitnah zu besuchen und ihm von ihrem neuen Erfolg zu berichten.
Er tippte seinen Bericht zu Ende und wandte sich dann an Chiara.
„Ok“, sagte er dann zu ihr.
„Zwei hätten wir jetzt.“
Weber hatte herausgefunden, dass ein Großteil der Kunden von Renners Geschäftspartner „Freddy“ Krüger vermittelt worden waren. Krüger saß ebenfalls in U-Haft und wartete auf seinen Prozess. Urs Fischer, einer von Renners engsten Mitarbeitern, war immer noch auf der Flucht und wurde per internationalem Haftbefehl gesucht.
Die Presse hatte sich aasgeierartig auf den Fall gestürzt. Er war wochenlang der Aufhänger der örtlichen, aber auch der überörtlichen Medien aller Art gewesen. Olaf Herbst, der die Ermittlungen geleitet hatte, war von einer Pressekonferenz zur nächsten geeilt. Weber war noch immer froh, dass er damit nichts zu tun hatte. Die Einrichtung der EK war geheim gehalten worden. Man hatte der Presse lediglich gesagt, dass die Geschäfte von Renner und Krüger so weit wie möglich aufgeklärt werden würden. Dass den Ermittlern dabei zahlreiche Unterlagen in die Hände gefallen waren, wurde nicht gesagt.
Allerdings reichte die Verhaftung von Renner und Krüger möglicherweise bei einigen ihrer Kunden schon aus, um diese in Panik zu versetzen und Maßnahmen zu treffen, um ihre Beteiligung zu verwischen. Weber hoffte inständig, dass sich Renners Kunden nicht zu überstürzten Handlungen gegen die Kinder und Jugendlichen verleiten ließen. Außerdem war noch ein weiterer von Renners engsten Vertrauten, Peter Craig, auf der Flucht. Auch er konnte durchaus andere gewarnt haben.
Craig hatte sich vor den Verhaftungen abgesetzt und war untergetaucht. Trotz intensiver Fahndungen, konnte er bis jetzt nicht aufgespürt werden. Allgemein wurde vermutet, dass er sich ins Ausland abgesetzt hatte. Derzeit wurde versucht ausländische Konten aufzuspüren, die von ihm angelegt worden waren, um Geld zu verschieben.
Doch bis jetzt ohne Erfolg.
16:30 Uhr
Weber belohnte sich für die erfolgreiche Festnahme Archers mit einem ausnahmsweise pünktlichen Feierabend. Schon um halb vier setzte er sich auf sein Rennrad und startete durch. Das Wetter war noch gut und er freute sich über die Bewegung nach einem Nachmittag vor dem PC.
Als er zu Hause ankam sah er gerade noch, wie seine Frau mit den Kindern im Auto wegfuhr. Na prima, dachte er. Soviel zu einem schönen Nachmittag mit der Familie. Als er sein Rad in die Garage schob fiel ihm ein, dass sein Sohn Yannik heute Basketballtraining hatte. Dahin waren sie also unterwegs.
„Hätte ich mal vorher angerufen“, dachte Weber.
Donnerstag, 15.10.2014
Den ganzen Donnerstagmorgen verbrachte Weber damit den Vorführbericht für Archer zu verfassen. Der entsprechende Termin beim Haftrichter war auf 14 Uhr festgelegt worden. Weber telefonierte noch mit Jaqueline Fähr, man hatte sich bei der Staatsanwaltschaft darauf verständigt, einen festen Ansprechpartner für die Polizei zu benennen. Das machte es einfacher, wenn es um die Zustimmung zu Anträgen für Beschlüsse ging, die für Ermittlungen der EK benötigt wurden. Dies war in den vorliegenden Fällen zwar nur eine Formsache, aber eine die unbedingt eingehalten werden musste, wollte man der Verteidigung keine Angriffsfläche bieten.
Fähr gab ihre Zustimmung zur Vorführung und Weber vermerkte dies in seinem Bericht. Er las sich das Schriftwerk nochmals durch, druckte es aus und schickte es vorab per Mail an den Haftrichter.
Um 16 Uhr waren Weber und Chiara wieder zurück im Präsidium und berichteten Schwarzbach von dem Termin. Es war alles ohne Probleme abgelaufen und Archer landete in Untersuchungshaft.
Eine Aussage hatte er auf Anraten seines Anwalts nicht gemacht, was auch nicht zu erwarten gewesen war. Der Haftrichter hatte bei der Verkündung des Haftbefehls betont, wie abscheulich er die Tat fände und dass Archer keine Chance haben würde gegen Zahlung einer Kaution auf freien Fuß zu kommen. Außerdem ordnete er an, dass Archer in Einzelhaft kommen sollte, um Übergriffe von anderen Gefangenen zu vermeiden. Kinderschänder waren nicht nur im Fernsehen bei den Mitgefangenen unbeliebt, sondern auch im wirklichen Leben. Schwarzbach war sehr zufrieden mit dem Ergebnis und das würden seine Vorgesetzten auch sein.
Nach dem Gespräch machten Weber und Chiara Feierabend. Sie gingen auf ein Bier in eine Kneipe in der Nähe des Präsidiums. Das hatten sie auch nach der ersten Verhaftung getan und wollten eine Tradition daraus machen. Platz fand das Duo an einem Tisch in einer Nische, beide bestellten Hefeweizen. Als das Bier kam prosteten sie sich zu und nahmen einen tiefen Schluck.
„Wie geht es eigentlich Leon?“ fragte Chiara.
Sie hatten sich darauf geeinigt beim gemeinsamen Bier nicht über die Arbeit zu sprechen.
„Es geht ihm soweit ganz gut“, antwortete Weber. „Seit dem letzten Anfall ist nichts weiter passiert.
Er macht sich gut und manchmal habe ich das Gefühl, dass er sich nach jedem Anfall etwas weiter entwickelt. Aber ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zum nächsten Anfall kommt.“
„Und die Ärzte können nichts machen?“ fragte Chiara besorgt.
Weber schüttelte den Kopf.
„Sie haben ihn jetzt schon mehrfach auf den Kopf gestellt, ohne etwas zu finden.“
Webers jüngster Sohn war mit dem Down Syndrom auf die Welt gekommen. In letzter Zeit hatte er einige Krampfanfälle erlitten, für die die Ärzte keine Ursache zu finden vermochten.
„Zumindest konnten sie ausschließen, dass es etwas Neurologisches ist.“
Freitag, 16.10.2014; 9:30 Uhr
Weber und Chiara saßen wieder mit Oskar Schwarzbach zusammen und besprachen das weitere Vorgehen. Schwarzbach wollte über jeden ihrer Schritte genau informiert werden, da er selber diese Infos unmittelbar an den Leiter der Kriminalabteilung 1, Kriminaloberrat Meindl, weitergeben musste, der wiederum den Polizeipräsidenten unterrichtete, welcher selber direkt Bericht beim Innenministerium erstatten musste.
Der Fall Renner hatte so hohe Wellen in der Öffentlichkeit geschlagen, dass das IM über jeden Schritt Bescheid wissen wollte, um auf Presseanfragen reagieren zu können. Der Innenminister selber wurde an den Pranger gestellt und musste sich unangenehmen Diskussionen stellen. Auch der Bundesinnenminister geriet unter Druck. Das gesamte Verfahren im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wurde in Frage gestellt und sogar die Kanzlerin kam in der Presse nicht mehr gut weg. Man versprach drastische Änderungen, damit so etwas nicht wieder passieren konnte.
Mehrere Talkshows im Fernsehen, wie „Hart aber Fair“ und „Maischberger“, befassten sich mit dem Thema. Es gab einige Demonstrationen, in denen die Teilnehmer forderten, minderjährige Flüchtlinge und insbesondere Kinder, ohne große Formalitäten aufzunehmen und auf keinen Fall mehr in Heimen unterzubringen. Bis jetzt waren noch keine konkreten Maßnahmen getroffen worden außer der, die Heime und die dortigen Verantwortlichen genauer zu kontrollieren. Beim LKA behielt man sich vor, Maßnahmen gegen Kunden von Renner selbst durchzuführen, sollte sich herausstellen, dass es sich um Leute handelte, die in der Öffentlichkeit stünden. Man wollte im IM nicht riskieren, dass irgendwelche Polizisten aus Bielefeld mit wenig Fingerspitzengefühl an diese Personen herantreten und damit einen noch größeren Wirbel in der Öffentlichkeit auslösen würden, als eh schon geschehen war. Nicht auszuschließen, dass sich auch das IM dann unangenehmen Fragen stellten musste, wie etwa, warum man dieser oder jener Person nicht eher auf die Spur gekommen war und ob nicht sogar etwas vertuscht werden sollte.
Der Alptraum wäre natürlich, wenn ein Mitarbeiter des IM, oder eine andere bekannte Person aus der Politik, Kunde bei Renner war. Weber hatte sogar eine Zeitlang damit gerechnet, dass das LKA selber die Recherchen übernehmen würde. Aber anscheinend hatte man keine Handhabe gefunden, die Ermittlungen nach Düsseldorf zu ziehen und sich deshalb mit dem Meldeweg zufrieden gegeben. Weber wusste, dass Schwarzbach deswegen stark unter Druck stand. Auch er selbst und Chiara befanden sich im Fokus. Ihm war klar, dass schon ein klitzekleiner Fehler ihn seine Karriere kosten könnte und er dann womöglich nur noch die Fälle ohne Ermittlungsansatz bearbeiten durfte.
„Was haben wir gegen Welle in der Hand?“ fragte Schwarzbach.
„Welle ist der dritte Kunde von Renner, dessen Daten nicht verschlüsselt waren“, antwortete Chiara.
„Welle hat sich im Januar dieses Jahres ein Mädchen bei Renner „gekauft“.
Chiara malte bei dem Wort gekauft mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.
„Es handelt sich um eine 16-jährige, die aus Syrien nach Deutschland geflüchtet war. Welle hat für das Mädchen 25.000 Euro gezahlt. Der Kerl ist 54 Jahre alt, seit drei Jahren geschieden, drei Kinder, alles Mädchen im Alter von 23,20 und 18 Jahren.
Er lebt allein in einem kleinen Einfamilienhaus am Senner Hellweg. Seine Ex-Frau und die Kinder wohnen in einem Bungalow in Senne. Soweit wir feststellen konnten, hat er derzeit keine feste Freundin. Welle ist Mitinhaber einer Firma, die Spezialkabel unter anderem für den Bau von Flugzeugen und Schiffen herstellt. Zu seinen Finanzen haben wir noch nichts. Die Finanzermittler sind aber an der Sache dran.“
„Welle ist nicht vorbestraft“, übernahm Weber.
„Er wohnt seit 15 Jahren in dem Haus am Senner Hellweg. Vorher haben alle zusammen in einem kleineren Haus in Heepen gewohnt. Das Haus gehört ihm noch immer. Derzeit wohnt dort eine Familie mit einem Kind. Hinweise auf ein weiteres Haus, oder eine weitere Immobilie haben wir derzeit nicht.“
„Gibt es Hinweise, wo er das Mädchen hingebracht haben könnte?“ fragte Schwarzbach.
„Wie heißt sie überhaupt?“
„Jasina Al Haj“, antwortete Chiara.
„Sie kam Mitte letzten Jahres nach Deutschland und landete im Januar diesen Jahres in Bielefeld.“
„Und wir wissen nicht, wo sie sich derzeit aufhalten könnte“, beantwortete Weber Schwarzbachs erste Frage.
„Dass sie sich in seinem Haus am Senner Hellweg befindet, ist mehr als unwahrscheinlich. Das Gleiche gilt natürlich für sein anderes Haus in Heepen. Wir hoffen, bei der Durchsuchung etwas zu finden was uns zu dem Mädchen führt.“
„Jasina“, sagte Schwarzbach.
„Was?“ fragte Weber.
„Das Mädchen hat einen Namen", keifte Schwarzbach.
„Sie heißt Jasina. Ich möchte, dass wir die Jungen und Mädchen bei den Vornamen nennen, “ sagte Schwarzbach.
„Diese Schweine haben den Kindern schon ihre Identität genommen. Ich will nicht, dass wir das auch tun.“
Weber und Chiara nickten. Sie kannten Schwarzbach schon seit vielen Jahren, auch wenn er nie ihr direkter Chef gewesen war. Aber so emotional hatten sie ihn noch nie erlebt. Der ganze Fall schien ihm an die Nieren zu gehen.
„Wie wollt ihr weiter vorgehen?“ fragte Schwarzbach nun nach einer kurzen Pause.
„Wir werden wie abgesprochen das MEK auf Welle ansetzen. Sie sollen ihn ab heute Abend aufnehmen und die nächsten Tage überwachen. Wenn wir so Hinweise auf seinen Tagesablauf haben, planen wir den Zugriff“, antwortete Chiara. Weber und Chiara war das MEK Bielefeld zugeteilt worden, um ihre Verdächtigen überwachen zu können. Ihnen war versichert worden, dass sie, sobald sie einen Tatverdächtigen soweit abgeklärt hätten, dass sich der Verdacht gegen ihn bestätigen würde, für den Zugriff das MEK anfordern könnten.
Das war etwas, was es sonst höchstens beim Verdacht eines terroristischen Anschlages gab. Auch das zeigte, wie brisant der ganze Fall anzusehen war. Weber war ein fester Ansprechpartner beim MEK benannt worden, mit dem er auf dem kurzen Dienstweg die Einsätze absprechen konnte. Auch eine unnormale Vorgehensweise, da sonst eine Anforderung für das MEK über das LKA laufen musste, dass die Einsätze koordinierte. Auch beim SEK hatte Weber einen festen Ansprechpartner. Seinen Kontaktmann beim MEK hatte er schon vor dem Gespräch mit Schwarzbach angefunkt und ihn auf Welle angesetzt.
Nun informierte er seinen Chef:
„Ein Team ist bereits an Welle dran und versucht ein Abhörgerät an seinem Auto anzubringen.
Sobald alles erledigt ist, bekomme ich eine Nachricht.“
„Der Antrag für den Durchsuchungsbeschluss ist fertig“, fuhr Weber fort.
„Sobald wir die Freigabe erhalten, geht er raus an das Amtsgericht.“
Schwarzbach nickte.
„Ich denke, das o.k. wird kein Problem sein. Ich gebe eure Erkenntnisse weiter und sage euch Bescheid, sobald ich eine Rückmeldung habe.“
Weber und Chiara nickten.
Freitag, 16.10.2015; 11:55 Uhr
Es war eine Mordkommission eingerichtet worden, da allgemein davon ausgegangen wurde, dass diese Person, der der Skalp abgezogen worden war, nicht mehr lebte. Windmann hatte gleich sechs Kollegen zur Unterstützung erhalten. Allerdings war die Spurenlage mehr als dürftig.
Sie hatten zwei Tage damit verbracht, auf dem Gelände der Uni Befragungen der Studenten und Dozenten durchzuführen. Das Ergebnis war gleich Null. Zwei Kollegen kümmerten sich um den Abgleich von Vermisstenmeldungen, zunächst beschränkt auf das laufende Jahr und den Großraum Bielefeld. Man glaubte, dass der Täter nicht eigens in diese Stadt gefahren wäre, um den Skalp zu deponieren, wenn die Tat woanders stattgefunden hätte. Zudem war sich die Polizei relativ sicher, dass der Täter sein Opfer nicht zuvor lange festgehalten hatte.
Es wurde davon ausgegangen, dass der Täter sein Opfer entführt und dann den Skalp abgezogen hatte. Die Beschränkung dieser Recherche sollte die Anzahl der Treffer in Grenzen halten. Es waren acht Personen im Alter zwischen 40 und 50 Jahren. Allerdings war das weitere Vorgehen nicht ganz leicht, man konnte schlecht zu den Angehörigen gehen und fragen:
“Entschuldigen sie, aber sind das die Haare von ihrem Mann, Vater oder Bekannten?“
Die Kollegen versuchten zunächst, anhand von Fotos mehr herauszufinden. In einem weiteren Schritt sollte dann ein DNA-Abgleich erfolgen. Drei Personen konnten bereits ausgeschlossen werden, da sie entweder eine Glatze hatten, oder die Haarfarbe absolut nicht passte. Bei den anderen dreien versuchten die Kollegen noch Bilder aufzutreiben, da in den Vermisstenakten keine vorhanden waren.
Windmanns Hoffnung auf einen Treffer tendierte gegen Null. Sollte es mit den Vermisstenfällen aus Bielefeld nicht gelingen, wollten sie den Suchradius auf ganz OWL ausweiten.
15:45 Uhr
Kurz vor Feierabend erhielt Chiara die Nachricht vom MEK, dass der Sender an Welles Pkw, einem zwei Jahre alten SUV, angebracht worden war. Die Spezialisten hatten das Auto vor dessen Firma ohne gesehen zu werden, präparieren können. Ab jetzt würde ein ganzes Team die Bewegungen des Pkw rund um die Uhr überwachen. Sollte Welle zu einem Objekt fahren, das bis jetzt noch nicht bekannt war und wo die Möglichkeit bestünde, das Mädchen zu finden, würde Chiara sofort verständigt werden.
Weber hoffte, dass den Kindern und Jugendlichen nichts zugestoßen war. Er hatte die Befürchtung, dass einige von Renners Kunden Panik bekommen hatten, als Renner verhaftet wurde und die Kinder und Jugendlichen weggeschafft haben könnten. In welcher Weise auch immer.
„Tschüss bis morgen“, schreckte ihn Chiara aus seinen Gedanken hoch und verließ das Büro in Richtung Feierabend.
Weber las noch ein paar dienstliche Mails und fuhr nach Hause.
Als er eine Stunde später dort ankam, wurde er von seinem Sohn Leon begrüßt, der ihm in die Arme lief, sobald er aus dem Auto gestiegen war. Der Kleine hatte sich in den vergangenen Wochen sehr gut entwickelt. Mittlerweile konnte er sehr sicher laufen und es machte ihm von Tag zu Tag mehr Spaß durch die Gegend zu rennen. Weber und seine Frau Yuna mussten aufpassen, dass Leon nicht vom Grundstück lief. Weber nahm seinen Sohn auf den Arm und Leon drückte sich an seine Schulter. Dann lehnte der Knirps sich zurück und zeigte mit dem linken Arm in Richtung Garten.
„Auto“, sagte er und Weber wusste, dass er sein Bobby-Car meinte. Beide gingen zu dem kleinen Wagen, Leon setze sich auf das Bobby-Car und raste davon. Schon lange bevor er laufen konnte, war er mit dem Teil durch die Wohnung und über das Grundstück gefahren. Mittlerweile war er so schnell, dass sogar die anderen Kinder in der KiTa ihm kaum folgen konnten. Weber stellte seinen Rucksack ab und lief hinter Leon her, der zielstrebig auf die Grundstücksausfahrt zuhielt. Dabei drehte er sich um und lachte seinen Vater an. Der konnte ihn rechtzeitig vor der Straße abfangen.
Nachdem sie noch etwas draußen gespielt hatten, gingen sie ins Haus. Webers Frau Yuna hatte bereits den Tisch für das Abendessen gedeckt und die anderen beiden Jungs saßen schon am Tisch. Während des Essens berichteten die Kinder von ihrem Tag in der Schule, Leon mogelte sich auf Yunas Schoß, um von ihr gefüttert zu werden. Eigentlich konnte er schon sehr gut alleine essen, aber anscheinend bezog sich diese Fähigkeit nur auf die KiTa.
Danach verzogen sich die beiden Größeren auf ihre Zimmer und Weber machte Leon fürs Bett fertig. Da Yuna zum Nachtdienst musste, brachte er seinen Jüngsten ins Bett. Nachdem Leon eingeschlafen war, stand Weber wieder auf und kümmerte sich um die beiden anderen Jungs, dann genoss er die Ruhe vor dem Fernseher und ging irgendwann ebenfalls schlafen.
16 Uhr
Die Feierabendbesprechung brachte keine neuen Ergebnisse. Den Kollegen war es gelungen, von den restlichen drei Vermissten Fotos zu besorgen. Wie Windmann befürchtet hatte, konnten daraufhin zwei weitere Personen ausgeschlossen werden. Einer hatte ebenfalls eine Glatze und der andere war wieder aufgetaucht, ohne dass die Vermisstenanzeige zurückgenommen worden war.
Bei dem dritten sah die Sache etwas anders aus. Die Haarfarbe passte und auch die Frisur schien ähnlich zu sein, soweit man das überhaupt sagen konnte. Es handelte sich um einen 42-jährigen Mann, der seit fünf Tagen abgängig war. Seine Frau hatte die Anzeige erstattet, nachdem er drei Tage nicht von einer Geschäftsreise aus Berlin zurückgekehrt war. Hugo Mensch sollte eigentlich am Sonntag aus der Hauptstadt zurückkommen. Er war Inhaber einer Maschinenbaufirma in Bielefeld, seine Frau hatte abgewartet, weil sie, wie sie selbst erklärte, wusste, dass erst ein paar Tage vergehen mussten, bevor die Polizei bei einem vermissten Erwachsenen überhaupt tätig wurde. Einer der Sachbearbeiter aus der A1 hatte Kontakt mit den Kollegen in Berlin aufgenommen, die das Hotel überprüften, in dem Mensch gewohnt hatte. Dort wurde bestätigt, dass Mensch am Sonntagmorgen ausgecheckt hatte.
Aufgrund der Kreditkartenabrechnung konnte 10:26 Uhr als Abreisezeit notiert werden, und ja, gaben die Angestellten an, Herr Mensch sei ohne Begleitung an- und abgereist. Unterwegs gewesen war er mit seinem schwarzen SUV, von dem Wagen fehlte jede Spur, eine Handyortung hatte nichts ergeben. Entweder, das Mobiltelefon war ausgeschaltet worden, oder der Akku war leer. Zuletzt an war es offenbar hinter Magdeburg gewesen.
Für den Vergleich der DNA mit dem Skalp gab Frau Mensch den Beamten eine Zahnbürste und einen Kamm ihres Mannes mit. Die Gegenstände sollten am nächsten Morgen von den Kollegen direkt zum LKA gebracht werden.
Windmann hoffte, dass die Ergebnisse bis Mitte der folgenden Woche vorliegen würden. Ihm fiel auf, dass er derzeit ganz auf Ergebnisse von DNA-Untersuchungen angewiesen war. Er hatte seinen Kollegen in der A1, der den Vermisstenfall Mensch bearbeitete, darum gebeten, mit den Kollegen in Magdeburg Kontakt aufzunehmen, um dort weitere Ermittlungen zum Verschwinden von Mensch abzusprechen. Sollte dieser tatsächlich in der Nähe von Magdeburg verschwunden sein, war die Frage, warum der Täter sein Opfer dort entführt und nicht dessen Rückkehr nach Bielefeld abgewartet hatte. Windmann war deshalb mehr als skeptisch, dass sie das Opfer tatsächlich schon identifiziert hatten.
Nach der Besprechung schickte er seine Mitstreiter ins Wochenende. Er selbst blieb für die Magdeburger Kollegen erreichbar. Falls es neue wichtige Infos gab, sollten sie sich bei ihm melden. Windmann, seit drei Jahren geschieden, hatte sich für das folgende Wochenende eh nichts vorgenommen. Im Gegenteil, er wäre froh, wenn er angerufen würde.
Der Ermittler blieb noch eine Stunde im Büro, um die Akte für die Staatsanwaltschaft auf den aktuellsten Stand zu bringen. Doch dann fiel auch ihm nichts mehr ein, was er noch Sinnvolles machen könnte, und so fuhr er nach Hause.
Sonntag, 18.10.2015; 11:55 Uhr
Die Hoffnung am Wochenende arbeiten zu dürfen, wurde am Sonntag endlich erfüllt.
Am Samstagabend hatte er zwar einen Anruf von den Kollegen aus Magdeburg erhalten. Allerdings gab es keine Neuigkeiten, die eine Fahrt in Windmanns Büro gerechtfertigt hätten. Die letzten bekannten Koordinaten, an denen sich das Handy eingeloggt hatte, waren abgesucht worden. Sie lagen im Norden der Stadt und umfassten unter anderem den Bereich der dort verlaufenden A2 und der Barleber Seen. Für die Suche war eine Einsatzhundertschaft der Magdeburger Polizei eingesetzt worden.
Hinweise fanden sich nicht. Auf die Suche mit Tauchern im Wasser wurde verzichtet. Windmann stimmte zu, diese Aktion erst durchzuführen, wenn es konkretere Hinweise gab. Damit war die Sache erstmal erledigt. Windmann überlegte, ob eine Öffentlichkeitsfahndung erfolgversprechend sei, kam aber noch zu keinem endgültigen Ergebnis. Das wollte er gleich am Montag mit seinem Team diskutieren. Der Anruf, der sein Wochenende rettete, kam von der Kriminalwache.
Kurz zuvor, um 10:35 Uhr
„Johannes, lauf nicht immer so weit vor“ rief Katrin Tahlin ihrem 6-jährigen Sohn zu, der 10 Meter vor ihr den Weg entlang hastete.
Die Mutter konnte ihm mit dem Kinderwagen, in dem ihre vier Monate alte Tochter lag, kaum folgen. Sie fluchte lautlos auf ihren Mann, der eigentlich versprochen hatte, mit ihr und den Kindern in den Tierpark Olderdissen zu fahren. Aber am Abend zuvor hatte er mit seinen Kumpels so lange und viel gesoffen, dass er heute mit einem dicken Kater nicht aus dem Bett gekommen war. Da Katrin ihrem Sohn diesen Ausflug aber versprochen hatte, und der sich auch schon seit Tagen darauf freute alle Tiere wieder zu sehen, war sie ohne ihren Mann gefahren. Nun hatte sie das Problem, dass Johannes seinem Bewegungsdrang freien Lauf ließ. Vom Parkplatz bis zum Gehege der Esel war Johannes noch brav neben dem Kinderwagen gelaufen.
Als er jedoch nach zwei Minuten genug von den „langweiligen Eseln“ hatte, war er losgelaufen, um sich seine Lieblingstiere, die Bären, anzusehen. Den Weg kannte er genau. Katrin hielt kurz an, schaute, ob die Kleine schlief und schreckte wieder hoch, als sie ihren Sohn hörte:
„Mama, guck mal was ich gefunden habe.“
Zuerst erkannte sie nicht, was ihr Sohn in der Hand hielt, die er ihr entgegenstreckte. Sie sah nur ein wirres Bündel Haare und dachte, dass Johannes eine Perücke gefunden hätte. Erst als er näherkam, bemerkte sie die rote Flüssigkeit, die an seiner Hand und seinem Arm herunterlief.
Einen weiteren Moment später erkannte sie, dass es sich dabei um Blut handelte.
12:20 Uhr
Windmann stand auf dem Spielplatz des Tierparks und schaute auf das Haarbüschel, das vor ihm auf dem Boden lag. Der Skalp war dort liegengelassen worden, wo ihn der Junge nach Aufforderung seiner Mutter hatte fallen lassen. Katrin Tahlin, kreideweiß im Gesicht, berichtete den Beamten, dass sie im ersten Moment dachte, sie würde ohnmächtig werden, als sie realisierte, was ihr Sohn da in der Hand umklammert hielt. Sie hatte sich dann aber schnell gefangen und Johannes in ruhigem Ton Anweisungen gegeben. Anscheinend hatte der Sechsjährige an der Stimme seiner Mutter bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie hatte ihren Sohn auf eine Bank gesetzt und einen Mann angesprochen, der ihr am nächsten stand. Ihm zeigte sie, was Johannes gebracht hatte und der Fremde begriff sofort, dass er da keine Perücke vor sich hatte. Er rief übers Handy die 110.
Dann hatte er Katrin gebeten, sich auf die Suche nach einem Mitarbeiter des Parks zu machen. Sie wollte indes nicht nur einen solchen finden, sondern auch schnell zur Toilette kommen, um ihrem Sohn Arme und Hände zu waschen. Neben den WC-Anlagen befand sich eine Scheune, in der die Mitarbeiter des Parks einen Teil ihrer Fahrzeuge und Arbeitsgeräte aufbewahrten. Dort fand sie einen jungen Mann, der gerade eine Zigarette rauchte. Hektisch schilderte sie ihm, was vorgefallen war. Er verständigte über Funk sofort einen weiteren Mitarbeiter und beorderte ihn zum Spielplatz.
Erst dann ging Katrin mit dem Kleinen zum Waschbecken. Dabei hatte sie festgestellt, dass auch die Kleidung ihres Sohnes mit Blut beschmiert war. Doch das ließ sich nicht ändern. Dann war sie mit den Kindern zum Spielplatz zurückgegangen. Dort waren mittlerweile drei Mitarbeiter damit beschäftigt, diesen zu räumen. Windmann spürte plötzlich, dass jemand neben ihm stand.
Es war Roman Schäfer, einer seiner Mitarbeiter in der MK.
„Haarige Sache, was, “ sagte er mit einem dicken Grinsen im Gesicht.
„Wie oft ich den Spruch wohl noch im Laufe der Ermittlungen hören werde“, dachte Windmann wenig amüsiert.
„Was neues?“, fragte er, ohne auf die Bemerkung einzugehen.
„Ich habe zusammen mit Lisa nochmal die Mutter und den Jungen befragt, der die Haare gefunden hat. Die Mutter konnte nicht mehr angeben, als sie bereits gesagt hat. Der Junge bleibt dabei, dass er die Haare vor der Höhle gefunden hat, in der die Fledermäuse sitzen.“ Bei dem Wort Fledermäuse, malte Schäfer Anführungszeichen mit den Fingern in die Luft.
Bei der Fledermaushöhle handelte es sich um einen kleinen Einlass, der in die Steinwand gegenüber dem Spielplatz geschlagen worden war. In die Höhle hatte man Fledermausattrappen hineingesetzt und den Zugang mit einem Eisentor gesichert. Von außen gab es einen Schalter, betätigte man diesen, waren die Geräusche von Fledermäusen zu hören.
„Der Junge sagt, dass die Haare auf dem Eisentor gelegen haben. Er hat sie runtergenommen, um sie seiner Mutter zu zeigen. Und dabei nicht mitbekommen, dass etwas Rotes an seinem Arm herunterlief.“
Windmann nickte.
„Also nichts wirklich Brauchbares von dieser Seite, “ bemerkte er.
„Nein, leider nicht. Die anderen sind noch dabei Leute aufzutreiben und zu vernehmen, die zu dem Zeitpunkt auf dem Spielplatz, oder in der Nähe waren. Bis jetzt will aber keiner was gesehen haben.“
„Wir sind hier fertig“, sagte in diesem Moment Jörn Zimmermann, der am heutigen Tag Bereitschaft für die Spurensicherung hatte.
„Viel gab es hier eh nicht festzuhalten. An dem Tor und dem Knopf dürften sich tausende unterschiedliche Fingerabdrücke befinden.
Da kommt nichts bei raus. Wir haben Proben von dem Blut an dem Tor und von dem Skalp genommen. Was machen wir mit den Haaren?“, fragte Zimmermann an Windmann gewandt.
„Das gleiche wie im ersten Fall. Wir tüten sie vorsichtig ein, und bringen sie in die Pathologie im städtischen Krankenhaus. Dort können sie dann von der Gerichtsmedizin untersucht werden.
Ich rufe dort gleich an und frage, wann sie hier sein können.“
Zimmermann deutete ein okay an. Dann nahm er eine große Papiertüte aus einer Box und legte die Haare hinein. Die Papiertüte steckte er in eine Plastiktüte, um ein Durchsickern des Blutes zu verhindern. Zimmermann und sein Kollege nickten Windmann zu, der bereits sein Handy am Ohr hatte, und machten sich auf den Weg zum Krankenhaus.
Von der Gerichtsmedizin in Münster erfuhr Windmann, dass der zuständige Pathologe am nächsten Morgen um 9 Uhr in Bielefeld sein wollte, um sich den Skalp anzusehen. Er rief Zimmermann auf dessen Bereitschaftshandy an und teilte ihm den Termin für die „Autopsie“ mit, damit dieser ihn ans Krankenhaus weitergeben konnte. Anschließend wandte er sich wieder an Schäfer, der noch immer neben ihm stand.
„Ich fahre ins Büro und erledige den Papierkram. Ihr kümmert euch weiter um die Vernehmung möglicher Zeugen. Danach treffen wir uns im Präsidium.“
16 Uhr
Windmann hatte seine schriftlichen Berichtspflichten gegenüber dem LKA erledigt und seinen kommissarischen Leiter telefonisch über die neuesten Entwicklungen informiert. Nun saß er mit seinen Kollegen zusammen. Ein Mitarbeiter der Pressestelle war alarmiert worden und nahm an der Besprechung teil. Aufgrund der großen Öffentlichkeitswirksamkeit des Fundes waren bereits zahlreiche Anfragen von Medienvertretern eingegangen. Nach der Besprechung sollte zunächst eine kurze schriftliche Presserklärung aufgesetzt werden, bevor am nächsten Tag eine Pressekonferenz stattfinden würde. Es wurde vereinbart, in dem Rahmen einen Aufruf zu veröffentlichen, dass sich Personen melden sollten, die im Tierpark etwas Verdächtiges beobachtet hatten. Weil es schön und sonnig war, ging die Polizei von vielen Besuchern aus und rechnete mit entsprechend hohen Zahlen an Anrufern. Dass immer auch ein paar Spinner sich melden würden, das war allen klar.
Die direkte Vernehmung von Besuchern vor Ort hatte nichts Neues ergeben. Niemandem war aufgefallen, dass jemand etwas an das Tor der Fledermaushöhle gehangen hatte. Überwachungskameras gab es in dem Park keine. Wie bereits befürchtet, konnte auch die Spurensicherung nichts Erhellendes beitragen.
„Also haben wir wie im ersten Fall, abgesehen von einem neuen Skalp, nichts“, fasste Windmann resigniert zusammen.
„Gehen wir von einem Serientäter und weiteren Opfern aus?“ fragte ein Kollege aus der Runde.
Windmann schwieg.
Begriffe wie „Serientäter“, oder „Serienmörder“, gehörten zu den Worten, die niemand im Zusammenhang mit einer Mordermittlung gerne hörte.
„Sagen wir mal so“, wandte sich Windmann an den Kollegen.
„Wenn man bei zwei Taten von einem Serientäter sprechen kann, dann ja. Alles Weitere ist Spekulation.“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu:
„Allerdings habe ich ein sehr schlechtes Gefühl bei der ganzen Angelegenheit. Ich befürchte, dass unser Täter noch nicht fertig ist.“
Montag, 19.10.2015; 8 Uhr
Windmann räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden auf sich zu lenken. Außer den Mitgliedern seiner MK waren noch Schwarzbach, Alexander Meindl als Leiter der Kriminalpolizei und die Spurensicherer vom Vortag anwesend.
Die bisherigen Ergebnisse erschienen niederschmetternd. Wie beim ersten Tatort gab es auch hier nicht viele Spuren. Die Untersuchung des Skalps stand noch aus. Die Kollegen, die gestern die Besucher des Tierparks befragt hatten, konnten auch keine konkreten Ergebnisse präsentieren.
Die nähere Umgebung des Fundortes war gestern noch abgesucht worden, jede Mülltonne, jeder Strauch, aber es wurde nichts gefunden, wo man hätte ansetzen können. In den online-Ausgaben der Zeitungen und im Lokalradio war der Aufruf veröffentlicht worden. Es wurde auch darum gebeten, dass sich Besucher meldeten, die in der Nähe der Fledermaushöhle Fotos oder Videos gemacht hatten. Nach der Besprechung mit der MK gab es eine weitere Besprechung zwischen Windmann, Schwarzbach und Meindl.
Meindl machte den anderen Beiden sehr deutlich klar, dass so schnell wie möglich Fortschritte zu erkennen sein müssten.
9 Uhr
Nach einem relativ entspannten Wochenende saß Weber gut gelaunt in seinem Büro. Yuna hatte das komplette Wochenende Nachtdienst gehabt, so dass er mit der Betreuung der Kinder beschäftigt gewesen war. Da das Wetter mitgespielt hatte, waren sie viel draußen gewesen, hatten den Garten aufgeräumt, die Hecke geschnitten und waren am Sonntag nach einem Spaziergang durch den Wald auch noch Eis essen gewesen. Leon war am Abend so müde, dass er einschlief, ohne dass Weber sich zu ihm legen musste. Danach konnte er sich in aller Ruhe ein Footballspiel seiner Lieblingsmannschaft, den Green Bay Packers, anschauen. Es war ein spannendes Spiel gewesen, das die Packers am Ende aufgrund einer überragenden Leistung ihres Quaterbacks mit 35:32 gewannen. Und das trug auch zu Webers guter Stimmung am Montagmorgen bei.
Chiara saß ihm gegenüber und berichtete von ihrem Wochenende, das wohl nicht so harmonisch verlaufen war, da sie sich am Samstagabend mit ihrem Freund ziemlich heftig gestritten hatte.
Nachdem der private Teil erledigt war, gingen sie zum dienstlichen über. Chiara unterrichtete Weber über die neuesten Erkenntnisse in Sachen Welle.
„Ich habe vom MEK die Auswertung der Daten des Senders von Welles SUV bekommen. Demnach ist er am Wochenende viel unterwegs gewesen, am Freitagnachmittag ging die Tour von Bielefeld nach Cuxhaven. Zurückgekommen ist er erst am Sonntagnachmittag.“
„Haben wir irgendwelche Hinweise, was er in Cuxhaven gemacht hat?“ fragte Weber.
„Er hat dort in der Nähe eines Tagungshotels geparkt.
Ich werde dort gleich mal anrufen und nachfragen ob am Wochenende dort ein Meeting war und wenn ja, von wem.“
Weber nickte.
Die nächsten Minuten verbrachte Chiara mit telefonieren, während Weber seine Mails checkte. Er schaute überrascht auf, als Chiara wütend den Hörer aufknallte.
“So eine dumme Kuh“, sagte sie aufgebracht.
Weber schaute sie belustigt und fragend zugleich an.
„Die Schnepfe vom Hotel wollte mir keine Auskunft geben, ob Welle bei der Tagung war oder nicht. Sie hat mir lediglich gesagt, dass es am Samstag von 10 bis 18 Uhr ein Treffen gab.
Aber sie wollte mir noch nicht einmal verraten, wer die Tagung veranstaltet hat. Scheiß Datenschutz,“ schnaubte sie verächtlich.
„Ich rufe jetzt direkt bei der Staatsanwaltschaft an, und die sollen einen Durchsuchungsbeschluss für das Hotel beantragen. Dann schicke ich die Kollegen vor Ort mit allen Streifenwagen dorthin, die sie haben. Wollen doch mal sehen, ob wir die Infos nicht doch bekommen.“
Schon hatte Chiara wieder zum Hörer gegriffen und die Nummer der Staatsanwaltschaft gewählt. Weber hielt sie nicht auf. Er hatte selber schon oft genug vor dem Problem gestanden, dass er auf Anfrage keine Auskünfte bekommen hatte, da man sich auf Seiten von Geschäften und Banken immer wieder auf den Datenschutz berief. Selbst wenn er anbot, ein Fax mit dem Dienstkopf seiner Dienststelle zu schicken, oder man ihn unter seiner Büronummer zurückrufen konnte, um sich zu überzeugen, dass er wirklich bei der Polizei war, blieben die meisten hart und rückten keine Daten heraus. Der Umweg über die Staatsanwaltschaft war allerdings mühsam und kostete viel Zeit.
Zeit, die sie gerade im Rahmen ihrer Ermittlungen nie hatten. Chiara legte den Hörer des Telefons diesmal wesentlich behutsamer auf.
„Die Staatsanwaltschaft stellt den Antrag für den Durchsuchungsbeschluss. Ich schreibe das gerade zusammen und schicke es dann mit dem Eilvermerk ans Gericht. Hoffe, dass wir dann morgen schon den Beschluss haben.“
Weber nickte.
Dann klingelte sein Telefon. Er nahm ab, meldete sich und hörte einige Minuten schweigend zu.
„Ok. Danke für ihren Anruf. Ich werde pünktlich da sein,“ sagte er zum Abschluss des Gesprächs und legte auf.
Weber stierte wie betäubt schweigend auf das Telefon. Chiara machte sich Sorgen und sprach ihn an:
„Was ist passiert? Ist etwas mit Leon?“
Weber schaute verwirrt auf.
„Mit Leon?“ fragte er.
Und schüttelte den Kopf, als wenn er diesen erst freibekommen müsste, um zu antworten.
„Nein, das war Renners Anwalt“, antwortete er dann.
„Renner will mich morgen um 10 Uhr in der JVA sprechen.“
Bevor Chiara etwas darauf erwidern konnte, klingelte Webers Telefon erneut. Er nahm den Hörer ab und meldete sich. Dann hörte er eine Zeitlang zu und Chiara bemerkte, dass sein Gesichtsausdruck immer verwunderter wurde.
Dann hörte sie ihn „Danke“, sagen und er legte auf.
Weber schaute Chiara einen langen Augenblick an, bevor er sprach.
„Ich glaube ich bin im falschen Film. Das war Krügers Anwalt.
Krüger will mich morgen um 14 Uhr in der JVA sprechen“.
14 Uhr
Weber schaute aus dem Fenster. Chiara war wegen eines Zahnarzttermins bereits weg. Er dachte unablässig an die beiden Telefonate, die so überraschend gekommen waren. Was hatte es zu bedeuten, dass nach wochenlangem Schweigen auf einmal Renner und Krüger mit ihm sprechen wollten? Hatte sie in der JVA das schlechte Gewissen eingeholt?
Kaum vorstellbar. Beide galten als eiskalte Verbrecher, die gar kein Gewissen hatten und wohl nicht einmal wussten wie das Wort überhaupt geschrieben wurde. Hatten sie zu Gott gefunden und wollten nun eine Beichte ablegen? Weber musste lachen, alles aber nicht das. Die beiden hätten auch den lieben Gott selbst verkauft, wenn es sich für sie gelohnt hätte.
Und damit war Weber beim eigentlichen Thema, um das es in den Treffen wohl gehen würde. Das Gespräch mit ihm musste sich für sie lohnen. Wollten sie einen Deal? Gegen den anderen aussagen, wenn sie dafür Hafterleichterungen bekämen? Wer zuerst redet, bekommt den Deal?
Auffällig war, dass die Anwälte am gleichen Tag angerufen hatten und die Termine ebenfalls am gleichen Tag stattfinden sollten. Passend war, dass die Zusammenkünfte so lagen, dass Weber beide nacheinander wahrnehmen konnte, ohne einen zu verschieben. Das roch doch geradezu nach Absprache. Renner und Krüger wurden von Anwälten aus den bekanntesten Kanzleien in Bielefeld vertreten. Konnte da tatsächlich eine Absprache erfolgt sein? Aber mit welchem Ziel? Dass Beide einen Vorteil für sich heraushandeln wollten?
Normalerweise sahen Absprachen so aus, dass der eine Verdächtige gegen den anderen aussagte. Wenn aber beide jeweils gegen den anderen aussagten, blieb es bei einem Patt und keiner konnte sich einen Vorteil sichern. Von daher machte eine Absprache unter den Anwälten keinen Sinn. Weber grübelte noch eine Zeitlang darüber nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Morgen würde er es erfahren.
Zeit, nach Hause zu fahren.
Dienstag, 20.10.2015; 11:30 Uhr
Weber lehnte sich auf dem Fahrersitz seines Dienstwagens zurück und atmete einmal tief durch. Für einen Moment schloss er die Augen und versuchte an gar nichts zu denken. Dabei verfiel er in einen Sekundenschlaf und schreckte gleich darauf wieder hoch.
In der letzten Zeit war es öfter vorgekommen, dass er unter einer großen Müdigkeit litt. Selbst wenn er früh ins Bett gegangen war und eigentlich gut geschlafen hatte, wachte er morgens auf und fühlte sich furchtbar. Zwei- oder dreimal war es ihm tatsächlich passiert, dass er im Auto während der Fahrt fast eingeschlafen wäre. Deutete sich da ein neuer Migräneanfall an? Weber, der seit seiner Kindheit an dieser Krankheit litt, kannte die Vorzeichen. Diese reichten von der Müdigkeit, über Gereiztheit, Aggressivität, bis hin zu Gedächtnis- und Sprachstörungen.
Vielleicht sollte er mal wieder zum Neurologen gehen, bevor es wieder so schlimm wurde wie früher. Er verscheuchte den Gedanken blitzschnell. Er wollte einfach nicht daran erinnert werden. Das war ein Teil seines Lebens, von dem niemand je erfahren durfte.
Aber hatte nicht schon jemand irgendwie davon erfahren? Deuteten die Postkarten nicht darauf hin? Weber wollte auch daran nicht denken. Er versuchte sich stattdessen auf das gerade geführte Gespräch mit Renner zu konzentrieren.
Allerdings war diese Unterredung ganz anders verlaufen, als Weber gedacht hatte. Kaum am Knast angekommen, wurde er in einen der Besucherräume geführt. Dieser war etwa 18qm groß und hatte im rückwärtigen Teil ein vergittertes Fenster, durch welches man auf den Innenhof schauen konnte. Im Raum standen ein Tisch und auf jeder Seite zwei Stühle.
Weber hatte bevor er zur JVA gefahren war, mit der zuständigen Staatsanwältin gesprochen und sich ihre Erlaubnis geholt, mit Renner und Krüger zu sprechen. Zwar hatten beide ihn eingeladen, aber trotzdem wollte er die Besuche durch die Staatsanwaltschaft absegnen lassen. Bei Tätern, die in Untersuchungshaft saßen, war nämlich grundsätzlich die Erlaubnis der Staatsanwaltschaft zu deren Vernehmung erforderlich. Weber wollte sich gerade in diesem Verfahren nicht für irgendwelche Anwälte angreifbar machen, sogar wenn diese ihn selbst von den Terminen unterrichtet hatten.
Auch Staatsanwältin Fähr hatte keine Idee gehabt, warum die beiden Inhaftierten Weber zeitnah hintereinander sprechen wollten. Sie ging ebenfalls von einer Art Deal aus, hatte ihm aber deutlich zu verstehen gegeben, dass schon etwas Einmaliges herauskommen musste, um einen Deal überhaupt auch nur ansatzweise in Erwägung zu ziehen.
Weber war überrascht, dass Renners Anwalt noch nicht anwesend war. Er rechnete jedoch damit, dass dieser jeden Augenblick eintreffen würde. Umso verblüffter war er, als nach etwa 10 Minuten des Wartens der Häftling allein in die Besucherzelle geführt wurde.
„Guten Morgen Herr Weber“, sagte Renner fröhlich.
„Schön, dass sie Zeit für mich haben. Setzen sie sich doch, “ sagte er und zeigte wie ein Hausherr auf einen der freien Stühle.
Weber schaute den JVA-Beamten an, der Renner hereingeführt hatte.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: