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Als Kriminalhauptkommissar Marc-Andre Weber vom Polizeipräsidium OWL aus Bielefeld die Ermittlungen im Falle einer Betrügerbande aufnimmt ahnt er nicht, dass ihn dieser Fall tief in die Abgründe er menschlichen Seele blicken lassen wird. Auch als er seinen Hauptverdächtigen ermordet auffindet, gibt es zunächst keine Hinweise, dass das Opfer Mitglied eines Verbrecherclans war, der nicht nur mit dem Verkauf von manipulierten Autos und Drogen viel Geld macht. Je näher die Ermittler dem dreckigen Hauptgeschäft der Bande kommen, desto unglaublicher wird das Vorgehen der Bandenmitglieder. Denn es gibt einer Sache, mit der sich sehr viel mehr Geld verdienen lässt, als mit Autos und Drogen: Kinder…..
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Seitenzahl: 366
Veröffentlichungsjahr: 2019
MICHAEL GIEZEK
***
WEBERS KINDER
© 2019 Michael Giezek
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7497-7736-5
Hardcover:
978-3-7497-7737-2
e-Book:
978-3-7497-7738-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Cover Vorderseite: privat
Cover Rückseite: irina photostories Rietberg
Webers Kinder
Ein Krimi von
Michael Giezek
Band 1 der Reihe um»KHK Marc-Andre Weber«
Für Manuel, Marvin, Marcio, Miriam und Mats.
Prolog
Georg Renner stand am Fenster seines Bürogebäudes im 8. Stock und schaute auf die Straße hinunter. Das Gebäude war erst vor kurzem fertig geworden und er hatte sein neues Domizil vor einer Woche bezogen. Es lag an der Kreuzung Eckendorfer Straße / Am Stadtholz auf dem Gelände eines ehemaligen Stahlwerks. Er hatte das Grundstück gekauft und das Stahlwerk abreißen lassen, dann hatte eine seiner Firmen das Bürogebäude errichtet.
Das Ganze war zu einem regelrechten Prestigeobjekt für ihn geworden. Genutzt wurde das Gebäude von drei Firmen, die alle auf ihn als Geschäftsführer eingetragen waren. Eine Firma entwickelte Computerprogramme für mittlere und große Unternehmen, die zweite war eine Immobilienfirma und die dritte forschte im Bereich der DNA. Insgesamt beschäftigte er allein hier 120 Personen. Die meisten gingen tatsächlich ihrer Arbeit im Bereich IT, Immobilien und DNA-Forschung nach. Es gab allerdings auch eine große Anzahl an Personen, die sich unter dem Deckmantel dieser Unternehmen mit ganz anderen Sachen beschäftigten, und zwar, mit solchen, die zum einen nicht ganz legal waren, dafür aber viel Geld einbrachten.
In den vergangenen zwanzig Jahren hatte sich Renner ein großes Imperium aufgebaut und war mittlerweile in vielen legalen und illegalen Bereichen tätig, in denen das große Geld zu machen war. Wobei aktuell der illegale Bereich noch wesentlich mehr Geld einbrachte als der legale. Er hoffte jedoch, in den nächsten Jahren seine legalen Firmen so effizient und bekannt zu machen, dass er sie verkaufen und sich zur Ruhe setzen konnte. In den letzten 25 Jahren hatte Renner viel Arbeit in seine Projekte gesteckt und kaum Zeit für irgendetwas anderes gehabt. Nicht selten hatte er tagelang durchgearbeitet und war auch des Öfteren einfach am Schreibtisch eingeschlafen.
Für Familie und Freunde war ebenfalls keine Zeit und Energie da gewesen. Die Einzigen, die ›Freunden‹ nahe kamen, war der engste Kreis seiner Vertrauten.
Irgendwann hatte er gemerkt, dass er nicht mehr alles allein schaffen konnte und daraufhin Männer um sich versammelt, denen er vertrauen konnte. Diesen Männern übertrug er Teilbereiche seiner Unternehmen. Es handelte sich dabei jedoch fast ausschließlich um untergeordnete Projekte. Die Männer wussten teilweise nicht einmal, für wen sie eigentlich arbeiteten. Die wirklich großen Sachen liefen noch immer über ihn und über die Leute im ›innersten Zirkel‹, wie er seine allerengsten Vertrauten nannte. Es handelte sich dabei um Andreas Simon, Urs Fischer und Peter Craig. Diese drei Männer kümmerten sich um die Unternehmensbereiche, die das meiste Geld abwarfen, dafür aber auch das größte Risiko bargen.
Bis jetzt war es ihm gelungen, aufgrund seiner Vorsicht, größeren Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. In der Vergangenheit hatte es stets Situationen gegeben, in denen ihm die Polizei oder andere Konkurrenten nahegekommen waren. Zwei oder drei Mal sogar gefährlich nahe. Renner hatte diese jedoch noch rechtzeitig entschärfen können, bevor es für ihn selbst wirklich gefährlich wurde.
Klar waren dabei einige Opfer nötig gewesen. Er hatte allerdings in den Jahren seiner Tätigkeit darauf geachtet, solche nach Möglichkeit zu vermeiden. Manchmal ging es leider nicht anders. Er hatte dafür mittlerweile seine Leute und brauchte nur die Befehle zu geben. Am Anfang seiner Karriere musste er allerdings noch selbst Hand anlegen.
Georg Renner schaute noch immer aus dem Fenster, als Andreas Simon das Büro betrat. Es war mittlerweile 18 Uhr und Renners Sekretärin hatte das Gebäude verlassen. Er blieb noch einen Moment mit dem Rücken zu seinem Besucher stehen, bevor er sich umdrehte.
»Wie sieht es aus?«, fragte er ohne eine Begrüßung.
»Es ist soweit alles vorbereitet«, antwortete Simon.
»Die Lieferung wird in den nächsten Tagen eintreffen. Bis jetzt läuft alles ohne Probleme.«
Der Mann nickte.
»Sorgen Sie dafür, dass es so bleibt«, sagte er zu Simon, der abermals nickte. »Ich möchte nicht wieder so ein Fiasko erleben, wie voriges Mal.«
Mit einer Geste gab Renner Simon zu verstehen, dass er entlassen war. Dieser verließ ohne ein weiteres Wort das Büro, ehe sich Georg Renner erneut umdrehte und aus dem Fenster schaute.
***
Er lief durch den Wald. Es war dunkel und er hielt eine Waffe in der Hand. Wie war er hierher gekommen? Wo wollte er hin?
Er spürte, dass er nicht allein war. Plötzlich stand er auf einer Lichtung, schaute sich um und entdeckte ein altes heruntergekommenes Haus, das von einem verwilderten Garten umgeben war. Weit und breit war jedoch keine Menschenseele zu sehen. Er setzte sich in Bewegung und ging auf das Haus zu. Er wollte nicht dorthin, denn es war ihm unheimlich und er spürte, dass etwas Böses davon ausging. Etwa zwanzig Meter entfernt, ging plötzlich die Haustür auf. Er erinnerte sich an die Pistole in seiner Hand und richtete diese auf den Eingang. Das Böse war nun geradezu greifbar. Eine Bewegung im Eingang. Er wollte schon schießen, als ein Hund aus dem Haus kam – ein großer schwarzer Retriever.
Der Hund blieb vor der Haustür stehen und sah ihn an, ehe sich das Tier auf einmal hinsetzte. Er ließ die Pistole sinken. Der Hund sprang auf, wandte sich um und zottelte ins Haus zurück. Er folgte ihm, obwohl er am liebsten weggerannt wäre.
Im Erdgeschoß war niemand. Er hatte sich alles bis zum letzten Zimmer angesehen, als er aus dem Obergeschoß ein Geräusch hörte. Leise trat er an die Treppe heran und sah den Retriever im Obergeschoss. Als er die Treppe betrat, wandte sich der Hund nach links und verschwand aus seinem Blickfeld. Das Böse, das von dem Haus ausging, hatte sich stetig verstärkt. Jetzt, da er das Obergeschoß betrat, wurde es sogar fast übermächtig. Er wollte nicht hier sein, wollte die Treppe hinab und nur noch weglaufen. Etwas trieb ihn jedoch unaufhaltsam vorwärts, etwas, das von dem Retriever ausging und, dass er sehen musste, ob er wollte oder nicht. Er erblickte den Hund am Ende des Flurs vor einer Tür. Das Tier betrat das Zimmer. Er folgte ihm, verharrte allerdings im Rahmen. Im Raum befand sich ein Doppelbett, ein Schrank, ein Tisch mit Stuhl und ein Regal.
Der Retriever war verschwunden, stattdessen tauchte ein Mann auf. Er kannte ihn nicht, aber dennoch war er ihm irgendwie vertraut. Der Kerl sprach zu ihm, aber er konnte nicht verstehen, was er sagte.
Dann war der Hund auf einmal wieder da. Er saß auf dem Bett. Der unbekannte Mann bewegte sich darauf zu, bückte sich und schaute unter das Bett. In dem Moment gab es einen lauten Knall und der Kopf des Mannes explodierte. Er wachte auf, als ihm Gehirnmasse ins Gesicht klatschte.
Mittwoch, 05.08.201506:00 Uhr
Als Marc-Andre Weber an diesem Morgen aufstand spürte er, dass es ein schlechter Tag werden würde. Nach drei einhalb Wochen Urlaub sollte es heute wieder sein erster Arbeitstag sein.
Am Montag erst war er mit seiner Frau und den drei Kindern aus dem Urlaub auf Korsika zurückgekehrt. Es waren ihre ersten Ferien dort gewesen und es war zu einem absoluten Traumurlaub geworden. Zwar war es eine lange An- und Abreise mit dem Auto über jeweils drei Tage, aber dennoch würden sie jederzeit wieder hinfahren. Darin waren sie sich einig.
Sie hatten in einem einfachen jedoch sehr schön gelegenen Haus an der Westküste Korsikas gewohnt. Bis zum Meer war es nicht weit gewesen und sie waren fast jeden Tag hingefahren. Teilweise hatte es Temperaturen von 35° Celsius erreicht und da tat eine frische Brise oder eine Abkühlung im Wasser sehr gut. Aber die Zeit war nun vorbei und Weber musste zurück zum Dienst.
Weber arbeitete als Kriminalkommissar beim Polizeipräsidium Ostwestfalen-Lippe. Dort war er in der Abteilung 3 tätig, die Betrugsdelikte in allen Variationen bearbeitete.
Mit einem tiefen Seufzen schwang sich Weber aus dem Bett und schlich aus dem Schlafzimmer. Seine Frau und die Kinder schliefen noch. Es waren noch Ferien und auch der Kleine musste nicht wieder in die Kita. Seine Frau Yuna hatte bis zum Ende der Woche Urlaub. Sie arbeitete als Krankenschwester auf der Säuglingsstation des Kinderkrankenhauses in Osnabrück.
Nachdem er sich im Badezimmer gewaschen und angezogen hatte, ging er in die Küche und setzte Kaffee auf. Weber wollte heute wieder mit dem Rennrad zur Arbeit fahren, da das Wetter schön zu werden versprach. Er fuhr seit einigen Jahren gern mit dem Rad und nutzte es häufig, um von ihrem Haus zur Arbeitsstelle zu fahren.
Nachdem der Kaffee durchgelaufen war, schenkte er sich einen ein, gab Dosenmilch und zwei Stück Zucker hinzu, ehe er sich an den Küchentisch setzte. Während er den Kaffee trank, dachte er darüber nach, was für ein Berg an Arbeit ihn nach über drei Wochen Urlaub wohl erwarten würde. Weber machte seinen Job gern, obwohl die Arbeitsbelastung hoch war und die Ermittlungserfolge nicht gerade Anlass zu Luftsprüngen boten.
›Es wird Zeit‹, ging es Weber durch den Kopf, trank hastig aus, schnappte sich seinen Rucksack und holte das Rennrad aus der Garage.
Das Rad hatte er erst im Dezember letzten Jahres zu seinem 40. Geburtstag geschenkt bekommen. Sein Altes hatte im Laufe der Jahre einige Macken am Rahmen erhalten und die Anbauteile waren im Zwei-Jahres-Rhythmus von ihm ausgetauscht worden. Nach insgesamt acht Jahren wurde es jedoch Zeit für ein neues Rad. Und sein 40. war da eine gute Gelegenheit gewesen.
Jetzt fuhr er wieder ein Rennrad der Marke Stevens, aber mit der neuesten Shimano Dura Ace-Schaltung und Laufrädern von Mavic. Nach seinem Geburtstag hatte Weber es kaum erwarten können, mit dem neuen Rad zu fahren, und er hatte seine besten Winterradsachen herausgesucht und war am nächsten Tag gleich zu einer kleine Runde aufgebrochen. Die Temperatur war da gerade einmal bei 5 Grad Plus gewesen.
Sobald der Frühling gekommen war, gab es für ihn kein Halten mehr. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit war er unterwegs gewesen. Auch im Urlaub hatte er das Rad mitgenommen und zahlreiche Kilometer damit gemacht. Seine Frau Yuna war teilweise schon sauer geworden, wenn er erneut für zwei Stunden unterwegs gewesen war. Aber in 2 1/2 Wochen wollte er an einem großen Jedermann-Rennen in Hamburg teilnehmen und dafür musste er sich schon gut in Form bringen, um die 100 Kilometer in einer guten Zeit zu absolvieren. Er hatte sich vorgenommen, die Strecke diesmal unter drei Stunden, beziehungsweise knapp darüber zu bewältigen.
Weber stieg aufs Rennrad und machte sich auf den Weg.
Um 08:30 Uhr betrat er schlussendlich frisch geduscht sein Büro im zweiten Stock des Polizeipräsidiums Ostwestfalen-Lippe an der Nahariyastraße. Das PP OWL, wie es abgekürzt wurde, umfasste die Stadt Bielefeld sowie die Landkreise Herford, Paderborn, Gütersloh und Lippe. Bis zum letzten Jahr hatte es noch ein eigenständiges PP Bielefeld gegeben und die Landkreise waren ebenfalls eigenständig gewesen. Das Polizeipräsidium Bielefeld war in dieser Zeit nur für Tötungsdelikte, Wirtschaftskriminalität und den Staatsschutz für alle Regionen zuständig gewesen.
Nach den Landtagswahlen im Jahr 2012 hatte die neue Landesregierung jedoch beschlossen, ein Präsidium für ganz OWL einzurichten. Dieses war auf dem Gelände der ehemaligen Hauptpost gebaut worden. Das alte Postgebäude hatte man abgerissen und durch einen fünfstöckigen neuen Gebäudekomplex ersetzt. Es gab viel Unmut und Unverständnis über diese Entscheidung, da dies zur Folge hatte, dass viele Kollegen einen weiteren Weg zu Arbeit hinter sich bringen mussten. Aber auch in der Bevölkerung hatte es viel Missbilligung gegeben, da die Leute befürchteten, die Präsenz der Polizei in den Städten würde durch den Umzug abnehmen. Das Innenministerium und der Polizeipräsident hatten daraufhin versucht, die Kollegen und Einwohner zu beruhigen.
Letztendlich war die Maßnahme durchgesetzt worden. Im Jahr 2014 war das neue PP OWL feierlich eröffnet worden. Der Unmut vieler Kollegen hatte jedoch nach wie vor nicht abgenommen. Sie fühlten sich schlichtweg vom Innenministerium wie Inventar verschoben.
***
Sein Kollege Phil Anderson war noch nicht da. Anderson, der aufgrund seiner Leidenschaft für den Darts-Sport den Spitznamen ›Power‹ trug, war noch bis zum Ende der Woche im Urlaub. Webers Büro befand sich direkt am Anfang des Flurs, in dem sich die Büros des Betrugskommissariats befanden. Seit acht Jahren arbeitete er in diesem Bereich. Zuvor war er Streife im Bielefelder Süden gefahren.
Er hatte schon immer Probleme mit dem Schichtdienst gehabt, insbesondere mit dem Schlafen nach den Nachtdiensten, sodass er die erste Gelegenheit genutzt hatte, aus diesem herauszukommen. Der Bereich Betrug war ein guter Einstand für die Ermittlungsarbeit gewesen und er hatte den Schritt nicht bereut. Auch nach acht Jahren konnte er sich nicht vorstellen, das Kommissariat zu wechseln. Zumindest bis jetzt nicht.
Weber hatte sich im Laufe der Jahre auf den Bereich der Betrügereien rund um das Kfz und der Urkundenfälschung spezialisiert. Sein Stubenkollege Anderson bearbeitete den gleichen Bereich.
Gewohnheitsmäßig legte Weber seinen Rucksack auf den Boden neben dem Schreibtisch ab, öffnete ein Fenster und fuhr seinen PC hoch. Da dies aus der Erfahrung heraus eine ganze Weile dauern konnte, insbesondere wenn man drei Wochen im Urlaub gewesen war, machte er zunächst eine Runde durch die anderen Büros, um seine Kollegen zu begrüßen. Weber graute schon davor, die Vorgänge zu sehen, die sich während seiner Abwesenheit im Fach angesammelt hatte.
Mittwoch, 05.08.201508:30 Uhr
Etwa zu der Zeit, als Weber seine Runde durch die Büros machte, und im Geschäftszimmer beim Anblick der eingegangenen Vorgänge beinahe einen Schlag bekam, saß Andreas Simon in seinem Büro im Autohaus Renner an der Herforder Straße in Bielefeld und schaute auf den Monitor seines privaten Laptops.
Seit drei Jahren leitete Simon das Autohaus sowie ein Weiteres im Bielefelder Süden. Beide gehörten zur Renner Gruppe. Simon hatte im Konzern eine steile Karriere hingelegt und das, obwohl er die Hauptschule nach der zehnten Klasse verlassen und eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker gemacht hatte. Ein Studium war für ihn nie infrage gekommen. Nach der Ausbildung hatte er stattdessen in diversen größeren und kleineren Autohäusern in Bielefeld gearbeitet, allerdings nie länger als ein Jahr. Das lag zum einen daran, dass er nicht gerade ein umgänglicher Typ war und seine Probleme hatte, gut mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Dies endete das eine oder andere Mal damit, dass er mit Arbeitskollegen aber auch mit seinen Chefs aneinandergeriet. In drei Situationen führte es sogar zu handfesten Auseinandersetzungen, die einmal sogar mit mehreren gebrochenen Rippen des damaligen Chefs und einer Anzeige wegen Körperverletzung endete. Simon war zu einer Strafe von vier Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Sein Ruf hatte sich dann bei den Autohändlern in Bielefeld herumgesprochen, sodass er fast keine Anstellung mehr gefunden hatte.
Zu seinem Glück kam er noch bei einem kleineren Händler unter, der ein Autohaus an der Detmolder Straße in Bielefeld betrieb. Genau wie sein Ruf als Schläger, hatte sich der des Inhabers in den Kreisen der Autohändler in Bielefeld herumgesprochen. Ömar Ak war bei mehreren Autoverkäufen in Verdacht geraten, sowohl den Zustand als auch die Laufleistung seiner angebotenen Pkw ›aufgefrischt‹ zu haben. Es waren zahlreiche Straf- und Zivilverfahren von Kunden gegen ihn geführt worden, doch sein Autohandel Ak Automobile existierte nach wie vor. Da Simon sonst keinen Job gefunden hatte, sagte er Aks Angebot zu. Er war erstaunt, als dieser ihn eines Tages persönlich anrief und ihn fragte, ob er für ihn arbeiten wollte. Einer seiner Angestellten hatte kurzfristig gekündigt und er suchte nun Ersatz.
Simon hatte sofort zugesagt und sich erst später gewundert, woher Ak seine Handynummer hatte, schließlich gab es zuvor nie ein Kontakt. Simon reizte es jedoch, für einen Mann zu arbeiten, der einen dubiosen Ruf hatte. Er war schon immer interessiert an der ›dunklen Seite der Macht‹ gewesen. Am nächsten Tag hatte er angefangen und schnell gemerkt, dass Aks dubioser Ruf begründet war. Gleich am ersten Arbeitstag nahm ihn Ak beiseite und erklärte, in seinem Autohandel würden die Dinge etwas anderes ablaufen, als bei den Autohändlern, bei denen Simon bis jetzt gearbeitet hatte. Simon erzählte ihm, dass er bereits von Aks Ruf gehört hätte, worauf dieser laut auflachte und sagte:
»Vergiss was du bis jetzt gehört hast. Es stimmt nicht.« Ak hatte sich daraufhin näher zu Simon gebeugt. »Es ist noch viel schlimmer und, wenn du damit ein Problem haben solltest, dann verpiss dich auf der Stelle und vergiss, dass es mich gibt.«
Simon Erwiderung war lediglich, dass es für ihn gar kein Problem darstellte und er sich darauf freute, für Ak zu arbeiten. Der Inhaber des Autohauses schaute ihn daraufhin einen Moment skeptisch an, kam aber augenscheinlich zu dem Schluss, dass Simon die Wahrheit sagte. Er nickte. Es wurde ein Vertrag ausgefüllt und Simon konnte direkt mit der Arbeit beginnen.
Direkt neben dem Autohaus befand sich eine Werkstatt, in der Simon arbeiten sollte. Die ersten zwei Wochen machte er genau das, was er zuvor in den anderen Arbeitsstätten ebenfalls gemacht hatte. Er wechselte Winter- auf Sommerreifen, führte Ölwechsel durch, erneuerte Bremsscheiben und -belege, überführte Autos und meldete Pkws bei der Zulassungsstelle an oder ab. Außer ihm arbeiteten noch zwei weitere Mechaniker in der Werkstatt, beides Türken, die sich weitestgehend von ihm fernhielten.
Simon hatte schon daran gezweifelt, dass Ak wirklich krumme Geschäfte machte, als ihn dieser eines montagmorgens zur Seite nahm.
»Ich brauche dich heute an anderer Stelle«, erklärte er ihm.
Da erfuhr Simon, dass Ak noch eine weitere Werkstatt etwas außerhalb von Bielefeld betrieb. Simon erhielt den Auftrag, einen aufgekauften Unfallwagen mit dem Abschleppwagen bei einem Mann in Gütersloh abzuholen und den Pkw anschließend zur Werkstatt nach Stukenbrock zu bringen. Dort würde er erwartet werden. Er sollte den Rest der Woche dabei helfen, den Pkw wieder flott zu machen und ihn anschließend zum Autohaus Ak nach Bielefeld zu bringen.
Simon stieg also in den Abschleppwagen und machte sich auf den Weg nach Gütersloh. Ak hatte ihm die Anschrift des Abholorts, als auch die der Werkstatt auf einen Zettel geschrieben. Erstere Adresse entpuppte sich als Abschleppunternehmer in Gütersloh. Auf dem riesigen Gelände befanden sich zahlreiche, mehr oder weniger defekte und verunfallte Wagen. Im vorderen Bereich standen die Pkw, die noch einigermaßen gut aussahen. Simon dachte, es wäre eines von diesen Fahrzeugen, doch der Mann, der ihn erwartete, führte ihn zu einer Halle im hinteren Bereich des Geländes. Die Halle war etwa 50 mal 20 Meter groß und hatte im vorderen Teil ein Rolltor, das geschlossen war.
Der Kerl, der sich nicht einmal vorgestellt hatte, und der auch sonst nicht viele Worte sprach, öffnete eine Tür neben dem Rolltor und bedeutete Simon mit einem Nicken, die Halle zu betreten. Nachdem beide drin waren, schloss er das Tor und schaltete die Beleuchtung ein. Simon staunte, als er in der Halle etwa 15 Fahrzeuge sah, die alle im Grunde Schrott waren. Augenscheinlich handelte es sich um Pkw, die in einen heftigen Unfall verwickelt worden waren und deren Reparatur sich nicht mehr lohnte. Bei genauerem Hinsehen stellte Simon fest, es waren ausschließlich ehemals hochwertige Fahrzeuge. Simon erkannte mehrere Sportwagen und SUV's.
Der Typ führte Simon zu einem Sportwagen der in der Nähe des Rolltors stand.
»Das ist er«, sagte der Mann und nickte in Richtung des Porsches.
Die komplette Vorderfront des Fahrzeugs war eingedrückt, zudem hatte man die linke Seite stark beschädigt. Simon sah den Mann ungläubig an. Er konnte sich nicht vorstellen, was sein Chef mit dem Pkw wollte. Es konnte sich nur um ein Missverständnis handeln. Ehe er den Mann darauf ansprechen konnte, hatte sich dieser bereits umgedreht und steuerte auf eine Treppe zu, die zu einem kleinen Büro führte. Der große Schweiger ging hinein und kam kurze Zeit mit zwei Schlüsseln und den Unterlagen für den Wagen zurück. Er drückte Simon die Sachen in die Hand und brummte:
»Kannst die Karre jetzt aufladen.«
Dann drehte er sich um und öffnete das Rolltor von innen. Simon stand vor dem Sportwagen, die Unterlagen und die Schlüssel in der Hand und schaute ihm sprachlos nach. Dieser drehte sich zu ihm um, nachdem das Rolltor oben war, und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, sich zu beeilen.
Weiterhin ratlos verließ Simon die Halle und ging zum Abschleppwagen. Da er weiterhin an ein Missverständnis glaubte, rief er Ak an. Als sich dieser meldete, berichtete ihm Simon, welchen Wagen ihm der Mann mitgeben wollte. Zu seiner Überraschung machte ihm Ak in deutlichen Worten klar, das zu tun, was man ihm sagte und er sollte keine Fragen stellen. Also lud er den Pkw auf und fuhr zur Werkstatt nach Stukenbrock.
Dort erwartete ihn die nächste Überraschung. Die Werkstatt lag so weit abseits, dass er irgendwann überlegte, ob sein Navi den Geist aufgegeben hatte. Als er gerade umdrehen wollte, entdeckte er einen alten Bauernhof am Ende der Straße, die eigentlich nicht mehr als ein besserer Feldweg war. Er fuhr auf den Hof und stellte fest, dass es zusätzlich zu dem Haupthaus noch zwei größere Scheunen gab. Er stellte den Motor ab und stieg aus.
Die Tür der Scheune zu seiner rechten stand etwas offen und da er aus dem Gebäude Geräusche hörte, steuerte er darauf zu. Er klopfte an die Tür und rief ein »Hallo«, aber niemand antwortete. Er öffnete die Tür also weiter und rief erneut eine Begrüßung, während er in den Stall trat.
Was er darin erblickte, sorgte für die nächste Überraschung an diesem Tag. Die Scheune war in eine komplett eingerichtete Kfz-Werkstatt umgebaut worden, mit allem, was dazu gehörte. Simon sah zwei Hebebühnen und eine Grube, auf die man einen Pkw fahren konnte. Auch diverse Messgeräte für die Prüfung von Bremsen, für Abgasuntersuchungen und andere Tests existierten. An der kompletten Rückwand führte eine Werkbank entlang, auf der Werkzeuge lagen. An der Wand darüber hatte man weitere ordentlich aufgehängt. Die Hebebühnen befanden sich links und rechts von der Tür aus gesehen. Zwischen den Bühnen befand sich der Messstand.
An der linken Hebebühne arbeitete ein Mann in blauem Overall an einem aufgebockten Sportwagen. Die rechte Hebebühne war frei und auch sonst befand sich niemand in der Scheune. Der Mann im Overall konnte Simon nicht sehen, da er mit dem Rücken zur Tür stand. Außerdem konnte er ihn nicht hören, da er mit einem Schweißgerät dabei war, den Unterboden des Pkw zu schwei-ßen. Als er das Gerät ausstellte, machte sich Simon erneut bemerkbar. Der Mann zuckte leicht erschrocken zusammen und drehte sich zu Simon um.
»Entschuldigung«, sagte Simon. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ak schickt mich«, fügte er hinzu, als ob dies alles erklären würde.
Anscheinend war es tatsächlich so, denn der Mann legte das Schweißgerät auf einen rollbaren Werkzeugwagen und wischte sich die Hände am Overall ab. Er kam auf Simon zu.
»Ich bin Jo«, meinte er.
»Ich bin Andreas«, stellte sich Simon vor und streckte die Hand aus.
Jo ignorierte diese und sah Simon von oben bis unten an.
»Ak hat mir gesagt, dass du heute kommst und die Woche hier helfen sollst. Wo ist der Sportwagen?«, fragte Jo.
»Auf dem Abschleppwagen auf dem Hof.«
Jo nickte.
»Ich mache das Tor auf und du fährst den Wagen rein. Dann lädst du den Sportwagen ab und fährst den Abschlepper in die Scheune auf der anderen Seite. Danach kommst du zurück und ich sage dir, wie es weitergeht. Alles klar?«
Simon nickte und machte sich an die Arbeit, während sich Jo erneut dem Mustang zuwandte.
***
Im Laufe der folgenden Woche arbeitete Simon von morgens bis abends an dem Mustang. Meist allein, aber wenn er Hilfe brauchte, sprang Jo ihm bei. Jo bot ihm an, während der Woche auf dem Hof zu wohnen, ein Angebot, das Simon nach dem zweiten Tag annahm. Am Ende des ersten Tages war er mit dem Abschlepper zurück zu Aks Autohaus gefahren und von dort mit seinem eigenen Auto nachhause.
Für Dienstag hatte er dann eine Reisetasche gepackt und war auf dem Hof geblieben. Außer Jo war in dieser Woche keine andere Person auf dem Hof erschienen. Da sich die Arbeiten am Mustang als sehr umfangreich herausstellten und er sich erst an die Gegebenheiten der Werkstatt gewöhnen musste, brauchte er auch noch den Samstag um diesen fertig zu bekommen.
Auf dem Hof befand sich neben den beiden Ställen noch ein Schuppen, der sich als gut bestücktes Ersatzteillager entpuppte. Augenscheinlich war Jo ausgezeichnet auf die Reparatur des Mustangs vorbereitet, denn alles, was Simon benötigte, fand er im Schuppen. Er musste nicht ein einziges Mal losfahren, um ein Ersatzteil zu kaufen.
Am Samstagmittag war er fertig.
›Dem Mustang fehlte jetzt nur noch eine Lackierung und er sieht aus wie neu‹, dachte Simon, als er sein Werk betrachtete.
Und genau das war es, was Ak und Jo beabsichtigten. Einen Unfallwagen mit Totalschaden so herzurichten, dass er als unfallfrei und Top-Zustand verkauft werden konnte. Die Lackierung sollte am Montag erfolgen.
Er ging zu Jo ins Haupthaus und teilte ihm mit, dass er fertig war. Jo, der am Samstag nicht in der Werkstatt arbeitete, saß in einem als Büro umgebauten Zimmer des Haupthauses und surfte an einem Laptop im Internet. Da er direkt auf der gegenüberliegenden Seite der Zimmertür Platz genommen hatte, konnte Simon nicht sehen, auf welchen Seiten Jo unterwegs war. Vor sich hatte er einen Stapel Papier liegen. Einzelne auf den Papieren aufgeführte Punkte hatte er abgehakt. Simon dachte, dass Jo an einer Bestellliste für weitere Ersatzteile arbeitete. Der Bastler hob den Kopf und nickte.
»Dann kannst du fahren. Wir sehen uns am Montag.« Er senkte den Blick zurück auf den Laptop.
Simon kannte Jo mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er nichts mehr sagen würde. Mit sich recht zufrieden verließ Simon also das Zimmer und fuhr nachhause.
***
Als Simon am Montag auf den Hof fuhr, stand bereits ein Abschleppwagen vor der Scheunenwerkstatt. Es war aber nicht Aks Fahrzeug. Simon betrat die Werkstatt und sah Jo, der vor dem Mustang stand und sich mit einem anderen Mann unterhielt. Jo stellte Simon nicht vor. Er nickte nur kurz zur Begrüßung.
»Gute Arbeit«, murmelte er noch und wandte sich dann erneut dem anderen Mann zu.
Es handelte sich um einen Türken, der den Mustang ebenfalls genau unter die Lupe nahm. Schließlich gab Jo Simon den Auftrag, dem Mann dabei zu helfen, den Mustang auf den Abschlepper zu laden. Als dies geschehen war, fuhr dieser ohne ein weiteres Wort davon.
Simon hatte sich in der Zwischenzeit daran gewöhnt, dass auf dem Hof nicht viel gesprochen wurde. Als der Abschlepper weg war, meinte Jo zu Simon, dass er jetzt wieder zu Ak fahren könnte, ehe er sich umdrehte und sich an einem Cabrio zu schaffen machte, der in der Halle stand. Simon fuhr also zurück zu Aks Autohaus.
In den nächsten Wochen erhielt er öfter Aufträge, Fahrzeuge zum Hof zu bringen und zu reparieren. Die Pkw, die auf dem Hof repariert wurden, tauchten allerdings nie bei Ak auf. Simon fragte sich immer wieder, wo die Autos wohl landeten, nachdem sie lackiert wurden.
Die Antwort erhielt er nach einem halben Jahr.
***
Mittlerweile war er Geschäftsführer der Firma, zu der er die aufbereiteten Fahrzeuge gebracht hatte. Er war damals, gelinde gesagt, überrascht gewesen, als ihm Ak gesagt hatte, wohin die Pkw gebracht werden sollten. Der Autohausinhaber hatte ihm so viel Vertrauen entgegengebracht, dass er Simon mit der Auslieferung der Fahrzeuge beauftragte. Simon brachte die Pkw direkt vom Bauernhof zu den Autohäusern und war sich im Klaren, dass fast keiner von Aks Mitarbeitern über alles Bescheid wusste. Anscheinend waren er und Jo die Einzigen. Was durchaus Sinn machte, denn sollte der Schwindel irgendwann auffliegen, konnten die Mitarbeiter nur das sagen, was sie wussten. Im Laufe der nächsten drei Jahre hatte Simon zahlreiche Autos zu diversen Autohäusern gebracht.
Eines Tages kam während einer Auslieferung ein Mann im Anzug auf Simon zu und verkündete, dass Herr Renner ihn sprechen wollte. Simon wurde im schmutzigen Overall in das Büro des Chefs geführt. Es handelte sich um einen spartanisch eingerichteten Raum, der von einem großen Schreibtisch beherrscht wurde. Ansonsten befanden sich noch zwei Regale und ein Deckenfluter darin.
Renner saß hinter dem Schreibtisch und bedeutete Simon, sich auf den Besucherstuhl zu setzen, der vor dem Schreibtisch stand. Der Boss war Mitte 40, hatte kurzes bereits ergrautes Haar und eine Brille auf der Nase. Er trug einen schwarzen Anzug und alles an ihm strahlte die Autorität eines Chefs aus. Simon konnte sich vorstellen, dass Renner in der Lage war, alles durchzusetzen, was er wollte. Der Chef hatte eine angenehm weiche Stimme und erklärte ohne Umschweife, dass er es gern sehen würde, wenn Simon für ihn arbeitete. Der Ton in seiner Stimme machte dabei deutlich, dass sich Renner nicht vorstellen konnte, dass dieses Angebot abgelehnt würde. Was Simon natürlich auch nicht tat. Der Boss informierte ihn über seinen Aufgabenbereich und die Bezahlung. Das war der letzte Tag, an dem Simon bei der Arbeit einen Overall trug.
Am nächsten Morgen saß er bereits im Anzug in seinem neuen Büro an der Herforder Straße und wusste gar nicht, wie ihm geschah. Nach und nach wurde er in das Imperium Renners eingearbeitet und stellte fest, dass dieser nicht nur in Autos investierte, sondern ein ziemlich umtriebiger Mann war, dessen legale Geschäfte nur einen kleinen Teil darstellten. Simon war es egal, denn er verdiente sehr gut und hatte mittlerweile eine hohe Stellung eingenommen. Er war zu einem seiner drei engsten Vertrauten geworden. Neben dem Autohandel, den er nach wie vor betreute, war ihm vor über einem Jahr auch der Bereich des Drogenhandels übertragen worden. Der Transport der Fahrzeuge bot eine gute Möglichkeit, gleichzeitig Drogen ins Land zu schmuggeln.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als das Handy klingelte.
»Ja«, meldete er sich nur.
Es war das Handy, das ausschließlich für geschäftliche Dinge genutzt wurde.
»Wir haben ein kleines Problem«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
***
Währenddessen kehrte Weber mit einem großen Stapel Akten ins Büro zurück. Es war genauso, wie er es erwartet hatte. In den über drei Wochen war das Fach mit Akten und Anzeigen vollgestopft worden. Als er die zahlreichen Anzeigen sah, verabschiedete sich spontan ein Teil seiner Erholung. Bevor er allerdings die Akten aus dem Fach nahm, ging er in die einzelnen Büros und begrüßte die Kollegen. Von den insgesamt zwölf Sachbearbeitern in der Abteilung waren außer ihm noch fünf Kollegen anwesend. In der Ferienzeit war die Abteilung immer dünn besetzt, was die Aufteilung der Anzeigen auf wenige Sachbearbeiter zur Folge hatte. Weber blieb kurz in jedem Büro stehen und sprach mit den Kollegen über seinen Urlaub. Dieses Geplänkel war eine angenehme Möglichkeit, das gute Miteinander zu erhalten. Zum Abschluss der Runde ging er zu seinem Chef Jakob Dörmann. E war bei Webers erster Runde nicht da gewesen. Die beiden begrüßten sich per Handschlag und Weber musste erneut von seinem Urlaub erzählen, anschließend berichtete Dörmann, was sich in seiner Abwesenheit ereignet hatte. Bis auf mehrere versuchte Enkeltricks und einige Diebstähle zum Nachteil älterer Leute war jedoch nichts Außergewöhnliches passiert.
»Alles wie gehabt«, endete Webers Chef schließlich. »Einen Haufen Arbeit und keine Aussicht auf mehr Personal. Ich denke, daran wird sich auch bis zu meiner Pensionierung nichts ändern.«
Dörmann war 57 Jahre alt und seit vier Jahren Webers direkter Vorgesetzter. Bevor er zur A3 gewechselt war, hatte er die Leitung der Kriminalwache und Aktenhaltung innegehabt. Weber arbeitete gern mit und für ihn.
Da es nichts mehr zu besprechen gab, blieb Weber nichts anderes übrig, als sich seine Vorgänge zu schnappen und ans Werk zu gehen. Er legte die Unterlagen auf einem Aktenbock neben dem Schreibtisch ab, den er für die Ablage seiner Eingänge vorgesehen hatte.
Weil er sich nicht dazu überwinden konnte, mit der Arbeit zu beginnen, nahm er seine Tasse und holte sich einen Kaffee aus der Küche. »Es bringt leider nichts«, murmelte er danach, öffnete das Mail Programm und begann seine dienstlichen Nachrichten abzurufen, die sich angesammelt hatten.
Nachdem der Posteingangsordner aktualisiert worden war, befanden sich ganze 127 Mails darin.
›Na, herzlichen Glückwunsch‹, dachte Weber und startete die Abarbeitung.
Einige löschte er sofort, ohne sie zu lesen, andere prüfte er genauer. Er hatte sich erst durch 53 Nachrichten gekämpft, als Dörmann mit einem dicken Aktenstapel unter dem Arm das Büro betrat.
»Tut mir leid, dass ich dir das auch noch aufs Auge drücken muss, aber du kennst sowohl die Materie als auch den Tatverdächtigen am besten.«
Dörmann legte den Aktenstapel vor ihm auf den Schreibtisch, sodass Weber den Aufkleber mit dem Namen des Beschuldigten lesen konnte: Anton Lesniak. Seit neun Jahren arbeitete er in der A3 und schon in den ersten Monaten als Sachbearbeiter hatte er mit Lesniak zu tun gehabt. Seitdem war der Kerl immer wieder im Zusammenhang mit Betrügereien aufgefallen, meist wegen Manipulationen an Pkw. Lesniak hatte in den Jahren diverse Autohandel betrieben, verkaufte ebenfalls Fahrzeuge die er etwas ›aufgefrischt‹ hatte. Ob durch die Manipulation von Tachoständen, oder das Verschweigen von kleineren Schäden oder Mängeln, alles mögliche war dabei gewesen. Oft fiel das im Nachhinein auf und die Käufer erstatteten Anzeige. In einigen Fällen konnte sich Lesniak vor einer Verurteilung retten, indem er sich mit den Käufern auf Schadenersatz einigte. Er war auch zu zwei Geldstrafen und einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden.
»Was hat er denn diesmal angestellt?«, fragte Weber.
»Er hat Autos über das Internet bei Autoscout, mobile.de und eBay verkauft. Die Käufer haben untereinander irgendwie Kontakt bekommen und sich über das Internet ausgetauscht. Lesniak hat wohl Fahrzeuge verkauft, bei denen entweder der Tachostand manipuliert wurde, oder es andere erhebliche Mängel an den Wagen gab. Diese reichten von defekten Bremsen, über Getriebeschäden bis zu durchgerosteten Unterböden. Einige hatten sogar noch einen neuen TÜV, obwohl sie die Abnahme nie hätten bestehen dürfen. Davon wurden welche sogar sofort stillgelegt, als die Käufer damit in die Werkstatt kamen. Bei der Staataanwaltschaft sind bis jetzt 18 Anzeigen gegen Lesniak eingegangen. Sie stammen aus NRW, Niedersachsen, Hessen und aus Brandenburg. Die Staatsanwaltschaft hat die Anzeigen zu einem Sammelverfahren zusammengefasst und du hast jetzt die glorreiche Aufgabe, das Verfahren zu bearbeiten«, schloss Dörmann mit einem Grinsen.
»Da bin ich aber begeistert …«
Die Zeit bis zur Mittagspause verbrachte Weber also damit, sich weiter durch seine Mails zu arbeiten. Viele konnte er glücklicherweise direkt löschen, da es sich um Infos zu Veranstaltungen handelte, die während des Urlaubs stattgefunden hatten, Infos von der Gewerkschaft oder Meldungen anderer Dienststellen, die nichts mit seinen Sachgebieten zu tun hatten.
Gegen 12:30 Uhr ging er ins Geschäftszimmer der A3, um mit den anderen Kollegen Mittag zu machen. Weber liebte diese Pausen, da dort über Dinge gesprochen wurde, die nichts mit dem Dienst zu tun hatten, darunter gern auch viel Blödsinn. An diesem Tag hielt es sich damit leider ziemlich in Grenzen, sodass Weber pünktlich wieder in seinem Büro saß. Da er keine Lust mehr hatte, sich weiter durch die Mails zu arbeiten, schnappte er sich den Aktenstapel, den er von Dörmann erhalten hatte: Anton Lesniak.
Dieser bestand aus einer Hauptakte mit einem roten Deckblatt der StA Bielefeld und 17 weiteren Fallakten, die in zwei Stehordnern abgeheftet waren. Weber ließ die Ordner auf dem Bock liegen, nahm sich die Hauptakte und schlug diese auf der letzten Seite auf.
Mit das Erste, was Weber gelernt hatte, als er zum Ermittlungsdienst kam, war, dass man bei einer Akte die von der Staatsanwaltschaft kam, zuerst immer die letzte Seite las. Dort befand sich die Abverfügung des Staatsanwalts der den Fall bearbeitete und dort die Arbeitsaufträge aufschrieb, die seiner Meinung nach noch zu tätigen waren. Das reichte von der Vernehmung der Zeugen oder Beschuldigten, bis hin zu Webers Lieblingsformulierung ›mit der Bitte um Aufnahme der Ermittlungen übersandt‹. Im Fall von Lesniak wollte der Staatsanwalt, dass geprüft wurde, ob in Bielefeld weitere Anzeigen gegen Lesniak vorlagen. Weiterhin sollte Weber versuchen, herauszufinden, wo und wer die TÜV-Untersuchungen durchgeführt hatte. In den Anmerkungen des Staatsanwalts gab es Hinweise aus den Strafanzeigen, die mögliche Anhaltspunkte auf den Ort und diese Person brachten, die für die Abnahmen verantwortlich war. Erst jetzt bemerkte Weber, dass sich in der Akte zudem ein Durchsuchungsbeschluss befand. Weber sah sich die Blätter genauer an und stellte fest, dass es sogar zwei Beschlüsse gab. Einen für das Autohaus und die Werkstatt von Lesniak und einen für dessen Wohnung. Daraus ging eindeutig die Hoffnung des Staatsanwalts hervor, bei den Durchsuchungen Hinweise auf die Art und Weise zu finden, wie Lesniak an seine Fahrzeuge herankam und diese aufbereitet hatte, Anhaltspunkte auf die TÜV-Abnahmen und darauf, wer mit Lesniak zusammenarbeitete.
Weber beschloss, sich zuerst um die Durchsuchungen zu kümmern. Er bemühte sich, abzuschätzen, wie viele Leute er für diese benötigte. Für die Werkstatt und das Autohaus, die sich zusammen an einer Anschrift befanden, konnte er noch keine Schätzung machen. Zuerst musste er die Größe der Werkstatt und des Autohauses wissen. Gleiches galt für die Wohnung Lesniaks. Er nahm sich vor, dies in den nächsten zwei Tagen in Angriff zu nehmen. Als Erstes wollte er das Umfeld des Verdächtigen abklopfen. Eine Überprüfung ergab, dass dieser zuvor bereits 15 Mal kriminalpolizeilich in Erscheinung getreten war, hauptsächlich wegen Betrug, Diebstahl aber auch zwei Anzeigen wegen gefährlicher Körperverletzung. Allerdings lag der letzte Eintrag bereits vier Jahre zurück. Es handelte sich um ein Strafverfahren wegen Betrugs, das Weber selbst bearbeitet hatte.
Er konnte sich noch gut an den Fall erinnern. Lesniak hatte mal wieder die Kilometerstände von Fahrzeugen manipuliert und vier seiner Kunden hatten deswegen Anzeige erstattet. Weber war es durch die Aussage eines Zeugen gelungen, nachzuweisen, dass Lesniak derjenige war, der die Pkw zuvor angekauft hatte. Da zur Zeit der Manipulation die Fahrzeuge in seinem Besitz waren, wurde Lesniak zu eineinhalb Jahren ohne Bewährung verurteilt. Das Urteil kam auch aufgrund seiner zahlreichen Vorstrafen und der Tatsache zustande, dass gegen ihn noch eine Bewährungsstrafe wegen des gleichen Delikts offen war.
Seitdem hatte Weber nichts mehr von Lesniak gehört. Aus den Eintragungen zur Person ging hervor, dass er bereits nach einem Jahr wieder entlassen worden war. Also war er seit zweieinhalb Jahren auf freiem Fuß und schien direkt dort weitergemacht zu haben, wo er aufgehört hatte.
Durch eine Überprüfung beim Einwohnermeldeamt erfuhr Weber, dass Lesniak noch in Jöllenbeck am Oberlohmannshof gemeldet war. Hinweise auf eine Ehefrau oder Lebenspartnerin fand Weber nicht. Er konnte sich jedoch daran erinnern, dass Lesniak vor vier Jahren mit einer Frau aus Polen zusammen gewesen war. An ihren Namen konnte er sich allerdings nicht mehr erinnern. Diesbezüglich suchte er nochmals in der Akte und in den alten Vorgängen. Leider gab es keinen Hinweis, da alle Eintragungen zu Personen, außer Lesniak, bereits gelöscht worden waren.
›Scheiß Datenschutz‹, ging es Weber nicht zum ersten Mal durch den Kopf.
Wie sollte man denn vernünftig recherchieren können, wenn das System innerhalb kurzer Zeit wichtige Angaben löschte? Die Arbeit wurde unnötig erschwert und die Täter hatten dadurch einen großen Vorteil und Zeitvorsprung.
Weber verfluchte innerlich alle Politiker, die auf der einen Seite den Datenschutz über alles stellten, andererseits aber jedes Mal die Polizei kritisierten, wenn diese den Tätern hinterlaufen musste. Leider war es nicht so wie im Fernsehen, wo die ›Kollegen‹ innerhalb weniger Minuten alle Informationen erhielten, die sie brauchten. Es benötigte alles unheimlich viel Zeit und Mühe. Deshalb riefen etliche Geschädigte an und wunderten sich, warum man keinen Inhaber einer IP-Adresse im Ausland ermitteln konnte. Von Deutschland ganz zu schweigen. Das galt vor allem für das Beschaffen von Handydaten, das Abhören von Telefonen oder das Beschaffen von Überwachungsvideos, wenn es überhaupt welche gab.
Da er aus den Daten im PC keine weiteren Informationen erlangen konnte, ging Weber zur Aktenhaltung hinüber und holte sich die Kriminalakte von Lesniak.
»Hallo Marc«, hörte er eine Stimme hinter sich, als er das Büro wieder verließ.
Er drehte sich um und sah die hübsche Brünette in Uniform hinter sich stehen.
»Hallo Anna«, meinte er und automatisch machte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit.
»Seit wann bist du aus dem Urlaub zurück?« Anna grinste Weber ebenfalls an.
»Bin heute den ersten Tag wieder im Dienst«, sagte Weber.
Er kannte Anna Müller seit dem Studium an der Fachhochschule in Bielefeld. Damals war er als Aufsteiger in den gehobenen Dienst an der Fachhochschule gewesen, während Anna direkt von der Schule zur FH gegangen war. Die beiden hatten zusammen an einem Fachaufsatz gearbeitet und waren sich dadurch näher gekommen. So nahe, dass sie mehrere Male miteinander geschlafen hatten. Nach drei Monaten war es vorbei. Anna hatte Schluss gemacht, da sie einsah, dass Weber seine Familie niemals verlassen würde. Seit damals war nichts mehr zwischen ihnen gelaufen, sie begegneten sich nur noch im Dienst. Dennoch lag stets ein gewisses Knistern in der Luft, wenn sie sich trafen.
»Und wie war der Urlaub?«, wollte Anna wissen.
»Sehr schön«, antwortete Weber. »Super Wetter und das Ferienhaus war auch gut. Einfach, aber sauber.«
Er war immer zurückhaltend, wenn er mit Anna über seine Familie sprach. Es fühlte sich eigenartig an.
»Wie läuft es bei dir?«, lenkte er aus diesem Grund von Thema ab.
»So weit, so gut«, antwortete sie und zuckte lächelnd mit den Schultern. »Ich muss leider noch bis Ende September warten, bis ich Urlaub habe.«
Sie unterhielten sich noch einige Minuten über den Dienst, ehe Weber zurück in sein Büro ging. Mittlerweile war es schon fast 16 Uhr. Das war für den ersten Tag nach dem Urlaub lang genug, beschloss er, legte die Kriminalakte von Lesniak auf den Schreibtisch und nahm sich vor, sie gleich morgen früh als erstes durchzulesen.
Er ging in den Keller, zog sich um und fuhr mit dem Rad nach Hause.
Mittwoch, 05.08.201519:30 Uhr
Andreas Simon saß in einen dünnen Bademantel gehüllt im Garten des ›Paradise‹ an der Bodelschwinghstraße. Das ›Paradise‹ war ein Luxusbordell, das zum Imperium von Renner gehörte. Simon war Stammgast und kam mindestens einmal die Woche her. Nach dem Telefonat am Morgen und den daraus entstandenen Schwierigkeiten, die er hoffte, gelöst zu haben, hatte er sich ein wenig Entspannung verdient.
Die Lieferung, von der er Renner am Morgen berichtet hatte, schien doch nicht so problemlos zu laufen. Es gab Komplikationen mit einem Lieferanten aus Polen, der sich nicht an den vereinbarten Preis halten wollte. Simon hatte den Anrufer angewiesen, ihm deutlich zu machen, welche Konsequenzen es für ihn haben könnte, wenn er sich nicht an die Vereinbarung hielt. Er ging davon aus, dass sich die Sache damit erledigt hatte. Zumal er dem Anrufer noch ein, zwei Tipps gegeben hatte, was er dem Lieferanten sagen sollte, um diesen zu überzeugen. Es war immer gut, etwas über die Leute zu wissen, mit denen man zusammenarbeitete. Das galt sowohl für Geschäftspartner, als auch für den Chef.
Simon bemerkte, dass jemand hinter seinen Liegestuhl trat.
»Hallo Andreas«, brummte eine ihm vertraute Stimme.
Der Mann trat vor.
»Urs! Wie geht es dir?«
»Wie ich sehe, lässt du es dir gut gehen«, sagte Urs Fischer.
Er war einer der drei engsten Vertrauten von Renner. Fischer war zehn Jahre älter als Andreas und einen Kopf größer. Er hatte einen rasierten Kopf und eine sportliche Figur. Simon fragte sich oft, ob Fischer diese Figur dadurch bekam, dass er als Renners Vertrauter für die Aufsicht der Bordelle zuständig war und deshalb so viel ficken konnte, wie er wollte. Das tat er, wie Simon wusste, obwohl er verheiratet war und zwei Kinder hatte.
Fischers Frau war eine ehemalige Prostituierte, die er in einem der Bordelle Renners kennengelernt hatte. Es ging das Gerücht um, die beiden hätten es beim Sex zu doll getrieben und das Kondom wäre geplatzt. Daraus resultierten Zwillinge und eine Ehe. Andreas Simon musste allerdings zugeben, dass er überrascht gewesen war, dass Fischer keine Abtreibung angeordnet hatte, statt diese Frau zu heiraten. Gut möglich, dass Renner dahinter steckte und Fischer die Frau und die Kinder sehr wohl lieber weggeschickt hätte. Urs arbeitete einige Jahre länger für Renner und Simon hatte immer das Gefühl, Fischer traute ihm nicht zu 100%. Er war zwar der Jüngste der drei Vertrauten, aber dennoch loyal. Der Dritte, Peter Craig, war einige Jahre nach der Eröffnung des ersten Autohauses zu den beiden gestoßen. Simon hatte sich, seit er für Renner arbeitete, ausgiebig über die beiden anderen informiert und deshalb wusste er, dass sich Renner und Fischer schon seit der Schulzeit kannten. Sie hatten gemeinsam Renners erstes Autohaus eröffnet und der Aufstieg der Gruppe ging maßgeblich auf diese Zusammenarbeit zurück.