Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Turm, der bis in die Wolken reicht, mit einer gefährlichen Wendeltreppe, die einen auch mal mit Schwung im Pferdetrog landen lässt. Eine Prinzessin, die großen Kummer hat. Alle wollen ihr helfen, aber niemand findet eine Lösung. Auch der König lässt nichts unversucht, seiner Tochter zu helfen, bis er eines Tages einer alten Frau begegnet, die ihm einen entscheidenden Hinweis gibt: »Finde eine Drachenträne, die wird helfen«. Um diese zu finden, braucht es erst mal einen Drachen, doch den scheint es im ganzen Land gar nicht zu geben. Oder etwa doch? Wenn einer diese Frage beantworten kann, dann nur der außerordentlich gelehrte Gelehrte Herr Skriptolates.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über den Autor
Gottfried Bellin wurde 1961 in Braunschweig geboren.
Er ist Vater von zwei Söhnen.
Seit dem Studium der Landschaftsplanung in Kassel ist er selbstständig im Garten- und Landschaftsbau tätig.
Er ist leidenschaftlicher Geschichtenerzähler und lebt mit seiner Familie bei Braunschweig.
Kapitel
Das Himmelsschloss
Kapitel
Die alte Emme
Kapitel
In der Bibliothek
Kapitel
Die Bergwälder
Kapitel
Das Gewitter
Kapitel
Skriptolates sucht einen Felsen
Kapitel
Begegnung mit dem Drachen
Kapitel
Unruhe in Linneland
Kapitel
Ein Fest wird gefeiert
Der Nebel an diesem sonnigen Morgen sackte langsam auf die Oberfläche des Flusses zurück. Dort bildete er über dem Wasser einen dichten weißen Teppich wie aus Watte. Die Baumkronen der alten Weiden am Ufer glitzerten im frischen Frühjahrsgrün. Ein Hauch Orange der aufgehenden Sonne schimmerte in den Blättern der Baumwipfel mit. Die hohen Weiden warfen lange Schatten auf die Wiesen dahinter. Tautropfen hingen an den Gräsern und ließen die Uferböschung silberfarben glitzern.
Skriptolates stand auf Zehenspitzen am Bug des Schiffes, die Ellenbogen auf die Reling gestützt, den Kopf weit nach vorn gebeugt. Sein Blick war nach unten gerichtet. Er sah weder die hohen Weiden noch das glitzernde Ufer. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Stelle, an der der Bug völlig lautlos den Nebel zerschnitt. Nachdem er eine Weile in dieses Bild eingetaucht war, veränderte sich seine Wahrnehmung. Es schien ihm, als ob das Schiff nicht auf dem Wasser, sondern auf einer Wolkendecke dahinschwebe.
›So muss es sich anfühlen, mit einem Luftschiff über die Welt zu segeln‹, dachte er.
Skriptolates war so in dieses Bild vertieft, dass er glaubte, die Wolkendecke würde im nächsten Moment aufreißen und er könnte die Erde von hoch oben betrachten. Einen Blick auf Wiesen, Felder und Wälder; weit in die Ferne sehen, über hohe Bergketten hinweg zum Meer und zu unbekannten Ländern. Ein kalter Schauer lief ihm bei dieser Vorstellung über den Rücken.
Nichts war von der Schwere des voll beladenen Handelsschiffes zu spüren. Leicht wie eine Feder schwebte es dahin.
Er wusste nicht mehr, wie lange er nun schon auf diesen einen Punkt da unter sich starrte. Unentwegt schnitt der Bug sich seinen Weg durch den dichten Nebel und ließ ihn an den Bordwänden in seichten Wellen entlang gleiten. ›Eines Tages‹, dachte er, ›werden die Menschen auch fliegen können. Mit so einem Schiff wie diesem, nur leichter und schlanker. Mit Flügeln aus einer Holzkonstruktion an den Seiten, die bespannt sind mit weißem Segelstoff.‹ In seiner Fantasie hörte er sogar das Rauschen des Windes in den Segeltüchern.
Abrupt wurde Skriptolates aus seiner Traumwelt gerissen, als sich mit einem lauten Schrei ein Seeadler aus einer hohen Erle erhob. Er blickte auf und beobachtete, wie der Adler mit langen ausladenden Schlägen den vom Nebel bedeckten Strom hinaufflog, um schließlich hinter der nächsten Flussbiegung zu verschwinden. Der Schrei des Adlers vertrieb seine Gedanken und brachte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit.
Aber auch die Wirklichkeit war wie verzaubert. Der Nebel über dem Fluss, das glitzernde Ufer, die Baumwipfel mit schimmerndem Grün und Orange.
»Was für ein wunderbares Naturschauspiel an diesem Morgen«, murmelte er vor sich hin.
Selbst seine trüben Gedanken und die Sorgen um das heutige Wiedersehen waren für eine Weile vergessen.
Langsam nahm er auch seine Umgebung wieder wahr.
Dicht hinter ihm standen Männer mit langen Holzstaken, damit beschäftigt, das Segelschiff des Königs in der Mitte des Flussbettes zu halten. Ihre Stangen verschwanden im Nebel und fanden irgendwo, ohne dass man es vermuten würde, festen Grund. Das blaue Segel hing schlaff in den Masten.
Den Fluss hinauf wurde es von schweren Pferden an einem langen Tau gezogen.
Treidelhannes führte die Pferde an Leinen auf dem Pfad neben dem Fluss. Die Pferde stießen heißen Atem aus und ihr Fell dampfte vom Schweiß. Außer dem Schnaufen der Pferde war nun nichts weiter zu hören.
Skriptolates beobachtete, wie zwei Angler, die sich auf dem Pfad weit vor ihnen nieder gelassen hatten, das Schiff entdeckten. Er sah, wie sie schnell ihre Sachen zusammenrafften, die Angeln aus dem Fluss holten und sich weiter oben am Hang aufstellten, um den Pferden und Treidelhannes den Weg frei zu halten.
›Acht lange Monate war ich nun mit dem Schiff des Königs unterwegs‹, dachte Skriptolates. ›Viele Hafenstädte haben wir angefahren. Aber das, was ich erhofft hatte mitzubringen, habe ich nicht gefunden. Am Ende dieses Tages wird jemand auf mich warten und hoffen. Aber diese Hoffnung wird enttäuscht werden.‹
Sein Herz wurde schwer bei dem Gedanken an diese bevorstehende Begegnung.
Bevor sie den Seehafen erreichten, gab es für ihn ja noch einen letzten Hoffnungsschimmer. Nämlich den, dass sich in seiner langen Abwesenheit ihr Zustand von alleine gebessert hätte und sie mit wehenden Haaren am Ufer stehen würde um ihn zu begrüßen.
Aber Treidelhannes hatte ihm gleich bei der Ankunft am Seehafen berichtet, dass sich an ihrem Zustand in den acht Monaten leider nichts geändert hatte.
Skriptolates blickte vom Schiff hinüber zu Treidelhannes, der die ganze Zeit vor ihm auf dem Pfad mit gleichmäßigem Schritt die großen Pferde führte. ›Was mag er wohl gerade denken? Schade, dass ich mich nicht mit ihm unterhalten kann. Selbst in sein Gesicht kann ich nicht sehen.‹ An seinen Schritten konnte er aber erkennen, wie schwer ihm der Gang heute fiel. Als ob Blei an seinen Schuhen hinge.
Treidelhannes war eine sehr eigene Person. Seit achtzehn Jahren war er nun schon dabei, die großen Handelsschiffe mit Pferden den Fluss hinauf zu ziehen. Diese Aufgabe nannte man Treideln und der Weg neben dem Fluss war deshalb auch der Treidelpfad. Darum hatte er, Hannes, auch so einen komischen Zusatznamen bekommen. Immerhin war klar, dass dann, wenn jemand »Treidelhannes« rief, nur er gemeint sein konnte. Den Namen Hannes, der eine gebräuchliche Abkürzung von Johannes war, gab es hingegen des Öfteren in diesem Land.
»Müssen die Angler denn immer auf dem Weg ihr Lager aufschlagen?«, brummelte er vor sich hin. »Irgendwann werde ich wegen denen noch das Schiff anhalten müssen, weil sie nicht rechtzeitig Platz gemacht haben.« Das war nun in den ganzen Jahren noch nie vorgekommen, aber passieren konnte es ja trotzdem einmal. Ein Grund für Treidelhannes, sich darüber eine Weile zu ärgern.
Der Nebel auf dem Fluss vergrämte ihn an diesem Morgen auch. Konnte es doch passieren, dass sie aus Versehen das gute Schiff gegen einen Stein lenkten, der dicht an der Wasseroberfläche lag. Wie sollten sie den Stein bei diesem Nebel sehen? »Vergrimmelter Nebel!«, schimpfte er weiter vor sich hin. Obwohl er nach all den Jahren jeden Stein, der für ein Schiff gefährlich sein könnte, genau kannte. Ob da nun Nebel war oder nicht.
Sein Geschick bestand darin, beide Pferde gleichermaßen am Tau des Schiffes ziehen zu lassen. Gern gab ein Pferd den Druck etwas nach. Dann musste das andere Pferd die ganze Last des Schiffes alleine ziehen. Manchmal hatte er den Eindruck, als neckten sich die Pferde auf diese Weise gegenseitig. Dann schimpfte er mit den Pferden: »Hört auf euch zu ärgern! Der einzige, der sich hier ärgern darf, bin nämlich ich!« Worauf beide Pferde antworteten, indem sie ihre Schweife einmal von links nach rechts schwangen.
Auf dem zwei Tage dauernden Weg vom Hafen am Meer den Fluss hinauf, gab es immer Gründe, sich zu grämen. Heute war er schon den zweiten Tag mit dem schwer beladenen Schiff des Königs unterwegs. Diese Pferde, die deutlich größer und kräftiger als Reitpferde waren, konnten kaum länger als drei Stunden diese schwere Aufgabe durchhalten. Darum waren in regelmäßigen Abständen am Fluss kleine Pferdestationen eingerichtet. Die Pferde wurden hier abgespannt und durften sich nun ausruhen. Zwei neue übernahmen ihre Aufgabe bis zur nächsten Station. Gleichzeitig gab es an jeder Pferdestation auch ein Floß, um auf die andere Seite des Ufers zu kommen. Wegen der großen Schiffe mit den hohen Segelmasten war es schwer möglich, eine Brücke über den Fluss zu bauen.
»Skriptolates meint ja, er hätte da eine Idee von seiner Reise mitgebracht. Wie soll das denn gehen? Der immer mit seinen verrückten Einfällen! Zugbrücke hat er gesagt. Den Namen habe ich ja noch nie gehört. Das wird doch sowieso nichts«, brummte Treidelhannes in Richtung der Pferdehinterteile. Die Pferde gaben ihren Kommentar, indem sie zur gleichen Zeit ihre Schweife von links nach rechts wedelten. Treidelhannes wertete das als Zustimmung.
Heute hatte Treidelhannes besonders düstere Laune. Der Grund dafür war die Ankunft von Skriptolates gestern am Seehafen. Er hatte sich so gewünscht, dass Skriptolates auf seiner langen Reise fündig geworden wäre. Aber Skriptolates hatte keine guten Nachrichten für ihn.
Auch er, Treidelhannes, blickte nun wie Skriptolates mit finsteren Ahnungen dem Nachmittag entgegen. In seinen Gedanken sah er sie schon mit hoffnungsvollem Blick am Ufer stehen. Diese Vorstellung war für ihn schwer zu ertragen.
Trauer zeichnete sich bei diesem Bild in seinem Gesicht ab. Diese Trauer verwandelte sich bei ihm sofort in Wut und schlechte Laune. Wenn er sonst auch kaum Gefühle zeigen konnte, schlechte Laune konnte er jedenfalls ausgezeichnet verbreiten.
»Warum müssen die Schiffe auch immer so voll beladen sein? Können die nicht mal leichte Ware einkaufen, wie Stoffe oder besser Daunenfedern?«, grummelte Treidelhannes in seinen zerzausten Bart. Er wusste selber genau, dass er Unfug redete. Schließlich war Linneland in der halben Welt bekannt, auch unter dem Namen Das Land der schönen Stoffe. Auf nahezu jedem dritten Feld hier in diesem Land wurde Linnen angebaut. Heute würden wir Lein dazu sagen. Zum Teil wurde auch Leinöl daraus hergestellt. Aber meist waren es Stoffe. Grober, stabiler Stoff für Leinensäcke oder Segel. Aber auch allerfeinstes Linnen, dessen Herstellung eine besondere Kunst war. Hier in Linneland war diese Kunst nahezu vollendet. Die eigenen Schiffe brachten die Stoffe über das Meer in ferne Länder und dort wurden sie gegen Gold und Silberstücke verkauft. Oder es fand ein Tauschhandel statt mit allem, was in Linneland nicht zu bekommen war: Rohstoffe wie Zinn, Nickel und Kupfer, oder Gewürze und seltene Pigmente für das Färben der Stoffe.
Gänse, und damit auch Daunenfedern, gab es hier in Linneland genug.
All das wusste Treidelhannes, dumm war er ja nicht. Aber er brauchte doch etwas, über das er sich ärgern konnte.
Linneland hatte die Form eines langgezogenen großen Tals. Im Westen grenzte das Land ans Meer, in das der Fluss Yollenau mündete, auf dem Skriptolates mit dem Schiff gerade unterwegs war. Die Yollenau entsprang ganz im Osten des Landes, irgendwo in den hohen Bergwäldern und schlängelte sich einmal durch das ganze Land. Im Süden und Norden war das Land von Bergen begrenzt. Einige Klippen und Felsen ragten aus den Wäldern empor. Viele kleine Flüsse entsprangen hier und mündeten alle in der Yollenau. Bei klarer Sicht waren auch schneebedeckte Berge weiter hinten im Gebirge zu erkennen.
Diese riesigen bewaldeten Berge waren den meisten Menschen hier in Linneland unheimlich. Nur wenige Holzarbeiter lebten an deren Rand oder auf kleinen Lichtungen ganz im Osten in der Nähe des Tales, in dem die Yollenau den Weg aus dem Gebirge fand. Fußwege gab es hier fast keine. Auch wurden Geschichten erzählt, dass hier gefährliche Wesen leben sollten, denen man lieber nicht begegnen wollte. Ein Grund mehr, diese Bergwälder zu meiden.
»Diese vergrimmelten Wälder«, schimpfte Treidelhannes laut vor sich hin. Auch wenn er nicht sagen konnte, warum die Wälder vergrimmelt sein sollten.
Obwohl, es gab hier tatsächlich ein sehr großes und geheimnisvolles Wesen. Aber dazu kommen wir später.
Auf der anderen Uferseite tauchte auf einer kleinen Anhöhe eine Windmühle auf. Die Müller trugen eine große Verantwortung. Getreide wie Hirse, Dinkel, Gerste und Hafer wurde ihnen übergeben. Jedes Getreide musste in der richtigen Weise gemahlen werden, auch durfte es keine Feuchtigkeit abbekommen oder gar von Insekten oder Mäusen befallen werden. »Müller, pass bloß auf dein Getreide auf!«, raunzte Treidelhannes Richtung Mühle, als er an ihr vorbei zog. Die Pferde vor ihm kommentierten es mit einem Hin und Her ihrer Schweife.
Gegen Mittag kam er an die Stelle, auf die er schon eine ganze Weile wartete.
An jedem anderen Tag wäre es ihm wie eine kleine Freude gewesen. Eine Freude, die tief in ihm lebte, aber irgendwie keinen Weg nach draußen finden wollte.
Freude war so ein Gefühl, das er nun gar nicht gut zeigen konnte.
Heute jedoch konnte ihn auch das nicht wirklich aufmuntern. Im Gegenteil. Es erinnerte ihn daran, seinem Ziel ein gutes Stück näher gekommen zu sein. Dieses Ziel wollte er heute aber am liebsten gar nicht erreichen.
Eine uralte Kopfweide stand genau dort, wo das steile Ufer endete und der Fluss sich weitete. Sanft ansteigende Wiesen gaben einen freien Blick auf das vor ihm liegende Tal.
Dort stand es, das Himmelsschloss. Auf einem Hügel, nicht weit vom Fluss entfernt.
Hier war das Ziel des Schiffes erreicht. Ein kleiner Hafen war dort, mit Platz für bis zu drei Schiffen.
Das Schloss war aus hellem Kalkstein erbaut. Wenn, wie an diesem Tag, die Sonne schien und der Himmel klar war, leuchteten die hohen Türme wie weiße Kerzen über das Land.
War das Tal mit Wolken bedeckt, sah es so aus, als ob die Türme, die wirklich sehr hoch waren, bis in den Himmel reichten. Denn die Spitzen der Türme verschwanden dann in den Wolken.
Darum nannten die Bewohner Linnelands ihr Schloss auch Himmelsschloss.
Das Schloss hatte an jeder der vier Ecken einen Turm. Auf einem der Türme, ganz oben, war immer ein Wächter postiert. Wenn keine Wolken am Himmel waren, konnte er über weite Teile des Landes sehen, auf Wiesen und Felder, Dörfer und Wege. Selbst bis zu den entfernten Bergen konnte er blicken.
Treidelhannes wusste auch, dass spätestens jetzt die Wache auf dem Turm das Schiff ausmachen konnte, das da langsam mit ihm die Yollenau hinauf zog.
Der fünfte und höchste Turm stand jedoch im Schlosshof. In diesem Turm wohnten der König, die Königin und ihre Tochter, die Prinzessin Jadele. Der Turm war wirklich sehr hoch und die Königsfamilie lebte in der unteren Hälfte. Frühere Königsfamilien, so erzählte man sich, lebten ganz oben im Turm.
Der Turm war rund und jede Etage bestand aus einem runden Zimmer. Außen war an der nordöstlichen Seite ein schlanker, ebenfalls runder steinerner Turm angebaut, der innen nur aus Steinstufen bestand. Er war nichts weiter als eine angelegte Wendeltreppe, die zu jeder Etage, also zu jedem Zimmer führte. Dieser Treppenturm war wirklich sehr eng gebaut. Begegneten sich zwei auf der Treppe, mussten sie den Bauch einziehen und sich aneinander vorbei schieben.
Um nun vom Fuß des Turmes nach ganz oben zu kommen, brauchte es fast eine halbe Stunde. Die Wendeltreppe hinunter musste man aufpassen, nicht zu schnell zu werden.
Einmal war ein Bote mit einer eiligen Botschaft die Treppen von weit oben herunter gesaust. Weil er dabei die ganze Zeit im Kreis rannte, wurde ihm bei seinem enormen Tempo so schwindelig, dass er sich unten auf dem Hof immer noch weiter im Kreis drehte und die Arme dabei weit wie Flügel von sich breitete. Dieses, wie ein Walzer tanzendes Gedrehe, begleitete er mit einem »Ohhhh Ohaaa Ohooojemineeee«, um dann mit einem ganz bestimmt nicht beabsichtigten mächtigen Platschen in der großen hölzernen Pferdetränke zu landen. Die Pferde fanden das gar nicht witzig, als der Bote mit seinem gerade noch stolzen Federhut den Kopf aus dem Wassertrog zog. Auch der Bote, der jetzt einen nassen Schlapphut mit Hängefedern auf hatte, fand überhaupt nichts Komisches daran, wobei er direkt und tief in die Nüstern eines Pferdes blickte, das obendrein seine raue Zunge einmal längs durch sein Gesicht schleckte.
Aber alle anderen, die sich gerade auf dem großen Hof aufhielten, und das waren nicht wenige, staunten erst und dann lachten und lachten sie den ganzen Tag. Nicht selten kam es auch vor, dass die Leute aus dem Treppenhaus kamen und dann sofort auf die Nase fielen oder sich noch ein- bis zweimal weiter im Kreise drehten.
Einem König sollte dies aber nicht passieren.
Auch waren oft Wolken am Himmel, dann war es dort oben wie im Nebel, klamm und feucht. Aus all diesen Gründen wohnte der König mit seiner Familie in der unteren Turmhälfte.
Der Turm hatte immerhin fünfunddreißig Etagen. Also fünfunddreißig große runde Räume. Die erste Etage jedoch war doppelt so groß wie alle anderen Räume. Das war der Königssaal, wo der König all seinen Besuch empfangen konnte. Die oberen achtzehn Etagen waren die Arbeitsräume für die Weisen und Gelehrten des Landes.
Prinzessin Jadele hatte Etage fünfzehn ganz für sich. Auch ihr Zimmer war kreisrund. An der Wand stand ein halbrunder großer Kleiderschrank, der extra für dieses Zimmer angefertigt worden war und genau so rund war wie die Rundung der Wand. Selbst die Kleiderstange war rund gebogen. Schubladen und Fächer, ja sogar ein Geheimfach gab es im Boden versteckt, natürlich auch rund. Hier versteckte Jadele ihren schönsten Schmuck. Ein großer Tisch vor dem Südfenster lud zum Basteln, Nähen, Malen und Lernen ein. Im Nordwesten des Zimmers stand ein großes rundes Himmelbett.
An der Wand war ein Spiegel, der beinahe vom Boden bis zur Decke reichte. Jadele aber hatte den Spiegel mit einem braunen Stoff verhängt.
Zu jeder Himmelsrichtung gab es ein großes Fenster. Unten mit einem breiten Fenstersims und oben mit einem halbrunden Bogen versehen. Vor jedem Fenster hing ein hauchdünner Stoff aus feinstem Linnen. Ein leuchtendes Gelb im Osten, ein helles Rosa im Süden. Ein seichtes Orange im Westen und ein blasses Blau im Norden. Der Stoff war so dünn, dass draußen alles genau so zu sehen war, als wäre gar kein Vorhang da. Aber innen nahm das Zimmer die Farbe des Stoffes an, sobald die Sonne durch das jeweilige Fenster schien.
So schön dieses runde Turmzimmer auch war, das ihre Eltern, der König und die Königin, mit so viel Liebe für sie eingerichtet hatten, konnte Jadele all dem keine Freude abgewinnen.
Sie war nun schon fast elf Jahre alt, aber seit ihrer Geburt war ihr noch kein einziges Haar gewachsen. Alle Kinder, die sie kannte, hatten schon längst welche. Braune, blonde oder rote Haare. Nur ihr wollten einfach keine wachsen.
Jeden Morgen, wenn sie erwachte, strich sie als erstes mit der Hand vorsichtig über ihren Kopf. Jeden Morgen erlebte sie die gleiche Enttäuschung.
Wenn sie ihr Zimmer verlassen musste, nahm sie sich ein Tuch, legte es über ihren Kopf und schob den Vorhang vom Spiegel zur Seite, um sich dann das Kopftuch so kunstvoll zu binden, dass es zumindest von weitem wie Haare aussah. Dabei hatte sie eine Auswahl von verschiedenen Tuchfarben. Braune, dunkelrote und fast schwarze Tücher gehörten zu ihrem meist gebrauchten Sortiment.
Es mochte keine Freude bei der Prinzessin aufkommen. Es war, als ob sie ohne Haare kein Glück finden konnte.
Braune Haare waren ihr größter Wunsch. Glänzend, kräftig und braun sollten sie in der Sonne schimmern.
Es gab Tage, da war ihre Traurigkeit so groß, dass sie sich wie eine Welle über das ganze Schloss ausbreitete. Als ob ihre Traurigkeit allen die Luft zum Atmen nahm und jede Freude, jedes Lachen zu verschlucken schien.
Was hatte der König nicht schon alles unternommen, damit seiner Tochter endlich Haare wachsen würden. Heiler aus allen Teilen des Landes wurden gerufen und komische Sachen sollte sie einnehmen: Plättchen aus gepressten Pfefferkörnern mit Leinöl gemischt, die ihr nur die Tränen in die Augen trieben. Frischen Kuhmist sollte sie sich zehn Tage lang auf den Kopf reiben. Das stank so stark, dass alle in ihrer Nähe schon ganz grün im Gesicht wurden. Jadele hatte das alles nicht viel ausgemacht, solange sie noch Hoffnung hatte, dass die Haare endlich wachsen würden.
Die Prinzessin verbrachte viel Zeit in ihrem Zimmer. Von dort schaute sie immer wieder hinunter zur Yollenau.
Jedes Mal, wenn ein Schiff sich dem Schloss näherte, machte sie sich auf den Weg zum Hafen. Teils waren es die eigenen Schiffe des Königs und teils fremde Schiffe, die im Hafen ihre Waren anboten. Fremdartiges war dort oft zu sehen, seltsame Früchte, unbekannte Tiere, Handwerkskunst und natürlich auch Heil- und Wundermittel. Salben, die ein jüngeres Aussehen versprachen, die Wunden im Nu heilen sollten und Kräuter, die Zahnschmerzen lindern konnten.
Ja, vieles war sicherlich der reinste Unsinn, aber es gab auch Heilmittel und Kräuter, die tatsächlich ausgezeichnete Wirkungen hatten. Jadele fragte bei jedem ankommenden Schiff nach einem Haarwuchsmittel. Diese Schiffe waren ihre größte Hoffnung. ›Irgendwo auf der Welt‹, dachte sie, ›wird es doch wohl ein Mittel geben, das mir endlich Haare wachsen lässt.‹
Treidelhannes wusste um all das, als er weiter Richtung Schloss dem Flussbett folgte, mit seinem Pferdegespann und dem Schiff des Königs im Schlepptau. Dunkelblau war das Segel, mit einer hellblauen Abbildung einer Leinblüte in der Mitte. Das Wappen des Landes. Jedenfalls war Jadele immer zur Stelle, wenn Treidelhannes mit seinem Schiff im Schlepptau den Hafen erreichte.
»Vergrimmelt noch mal«, schimpfte er laut vor sich hin, »wann wachsen der Prinzessin endlich mal die Haare?«
So zog er mit lautem Gebrummel weiter. ›Am späten Nachmittag‹, so dachte er, ›werden wir wohl am Hafen ankommen. Sicherlich wird dann die Prinzessin schon dort warten.‹ An jedem anderen Tag hätte er sich natürlich gefreut, die Prinzessin zu sehen, denn er mochte sie gerne. Nur zeigen konnte er es leider nicht. Obwohl, wer ihn wirklich genau beobachtete, hätte da eine kleine Aufgeregtheit bei Treidelhannes bemerkt, wenn die Prinzessin in seiner Nähe auftauchte.
Heute aber war ihm die Freude darauf genommen. Ein beklommenes Gefühl machte sich in ihm breit. Ohne dass er es wirklich merkte, wurden seine Schritte langsamer.
Auch Skriptolates hatte ähnliche Gedanken an die Begegnung mit Prinzessin Jadele, die langsam mit dem Schiff immer näher rückte. Seine Reise war in dieser Hinsicht eine große Enttäuschung gewesen. Jeden Hafen, den sie auf ihrer langen Reise anliefen, nutzte Skriptolates zu einem Landgang. Er erkundigte sich über die neuesten Errungenschaften der Baumeister in demjenigen Land, verschwand für mindestens einen Tag in der dortigen Bibliothek und erkundigte sich ausgiebig bei Heilern und Gelehrten nach einem Haarwuchsmittel für seine Prinzessin. Selten hatte er so viel Ratlosigkeit und Kopfschütteln erlebt. Nie hatte jemand davon gehört, dass einem Kind keine Haare wuchsen.
›Ich werde aber nicht aufgeben! Keiner wird aufgeben, der die Prinzessin kennt. Irgendwann werden wir etwas finden, und wenn wir dabei die ganze Welt bereisen müssen‹, dachte Skriptolates entschlossen.
Natürlich hatte sich die Reise für ihn trotz allem gelohnt. Er hatte mehrere wunderbare Bücher gefunden, die er bei den dort ansässigen Schreibern in Auftrag gegeben hatte. Sie würden vermutlich im nächsten Jahr abgeholt werden können. So ein Buch abzuschreiben und binden zu lassen, dauerte Monate. So lange konnten die Handelsschiffe nicht warten. Sobald der Kapitän seinen Handel getätigt hatte und die Besatzung mit neuen Lebensmitteln versorgt worden war, ging es weiter zum nächsten Hafen. Das nächste Schiff, das den Hafen wieder anfuhr, würde es dann nach Linneland bringen.
Spannend waren auch seine Aufzeichnungen über eine Zugbrücke. Gerade hier, zwischen Meer und Schloss, wo die Yollenau das Land teilte, war das Übersetzen mit Flößen mühselig. Ein oder zwei Zugbrücken wären eine willkommene Erleichterung für die Menschen. ›Das wird eine knifflige Aufgabe‹, dachte Skriptolates.
Als der Hafen unaufhaltsam näher rückte, erinnerte sich Skriptolates an den Moment, als er das erste Mal dieses wunderschöne Land mit dem Schloss und seinen hohen Türmen erblickt hatte. Der Tag, an dem sein neues Leben begonnen hatte.
Das war nun schon neun Jahre her. Damals nahm ihn sein Vater mit auf eine lange Seereise. Der damalige Dorflehrer in seiner Heimat hatte seinen Vater gebeten, Skriptolates doch mit auf eine Reise zu nehmen. Er, der Lehrer, könne diesem gescheiten Kind nichts mehr beibringen. Es war sogar so, dass der Lehrer bei all den Fragen, die Skriptolates stellte, sich die Haare raufte. Noch nie hatte ihm ein Kind solch schwierige Fragen gestellt. Fragen wie: »Warum ist das Meerwasser salzig und das der Flüsse und Seen nicht? Woher