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Auf der Suche nach dringend benötigten neuen Verbündeten, wenden sich die Skulls und die Überreste der condorianischen Streitkräfte an ein Bündnis ehemaliger Rebellen und jetziger Piraten, Wegelagerer und Schmuggler. Denn wenn man vom Gesetz gejagt wird, sind Kriminelle die Einzigen, die möglicherweise noch in der Lage sind zu helfen. Doch die sind alles andere als begeistert von der Aussicht, aufseiten des Königreichs in den ungleichen Kampf einzugreifen. Die Condorianer kehren in ihre Heimat zurück, um diese vom Konsortium mit Waffengewalt zurückzufordern. Und noch während die erbitterten Kämpfe toben, offenbart sich das ganze Ausmaß der Pläne, die der Zirkel und sein militärischer Arm verfolgen. Aber ist das auch die ganze Wahrheit? Chaos bricht aus und plötzlich ist keine Welt des Vereinigten Kolonialen Königreichs mehr sicher. Dexter Blackburn und seine Gefährten sind bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um ihren langjährigen Feind aufzuhalten. Aber die Waagschale neigt sich gefährlich zu dessen Gunsten. Der Untergang des Königreichs scheint besiegelt …
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Seitenzahl: 515
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Prolog Der Countdown läuft
Teil 1 Widerstand formiert sich
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Teil 2 Mit vereinten Kräften
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Teil 3 Königreich in Gefahr
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Epilog Die Sünden des Vaters
Weitere Atlantis-Titel
Tucker Dawson stand vor dem großen Fenster seines Domizils in Johannesburg und ließ den Blick über die hauptsächlich aus Grüntönen bestehende Landschaft gleiten.
Er hätte Nervosität verspüren müssen. Doch dem war nicht so. In Wirklichkeit hatte er sich selten zuvor dermaßen gelöst gefühlt. Die Pläne nahmen Formen an. Jahrhunderte der Intrigen, Bestechungen und politischen Winkelzüge fokussierten sich nun auf diesen einen Punkt in der Geschichte. In Zukunft würden Menschen auf diese Stunde zurückblicken und sagen: »Dort hat es begonnen.« Dawson lächelte. Und er war ein Teil davon. Es war ein erhebendes Gefühl.
Die Gedanken des Industrieellen kehrten zu seinen beiden Mitverschwörern zurück: Apollo und Merkur. Die zwei mussten natürlich verschwinden. Anstatt Reichtum und Macht erwartete die beiden lediglich Schande, eine unwürdige Rolle in den Geschichtsbüchern und – wenn sie großes Glück hatten – ein namenloses Grab, in dem sie an irgendeinem Straßengraben verscharrt wurden.
Dawson lächelte. Zum allerersten Mal in seinem Leben fühlte er sich wahrhaft glücklich. Alles stand unglaublich kurz vor der Vollendung. Sein Schicksal würde sich bald erfüllen. Er konnte dessen Geschmack beinahe schon auf der Zunge spüren.
Hinter ihm öffnete sich die Tür. Seine persönliche Leibwache reagierte kaum. Daher konnte es sich nur um einen einzigen Menschen handeln.
Schritte hallten schwer durch den Raum, als der Neuankömmling auf ihn zutrat und nur zwei Meter hinter ihm abwartend stehen blieb. Der Mann machte keinerlei Anstalten, das Gespräch zu eröffnen.
Dawson schnaubte. »Sie haben ihn also nicht gefunden?«
Vincent Burgh zögerte, räusperte sich dann. Derartige Zurückhaltung war Dawson von dem Attentäter nicht gewohnt. »Zeus ist sehr erfahren darin, sich zu verbergen. Es wird nicht leicht, ihn aus seinem Versteck zu locken.«
Abermals schnaubte Dawson. »Zeus’ Tage sind gezählt. Kaum jemand aus dem Zirkel hört noch auf ihn. Er hat keine Verbündeten, keine Freunde mehr. Der Mann wird gejagt wie ein Tier.« Dawson strich mit der rechten Hand leicht über das künstliche Auge. Das echte war ihm von Angel auf Zeus’ Befehl hin genommen worden. »Und ich will, dass er wie ein Tier zur Strecke gebracht wird.«
»Das wird er«, bestätigte Burgh. »Gibt es Neuigkeiten von Pendergast?«
Dawson lächelte. »Der gute Pendergast ist momentan ganz auf seinen Wahlkampf konzentriert. Die Belange um unser weiteres Vorgehen obliegen jetzt mir.«
»Das ist ein großer Vertrauensbeweis von unserem zukünftigen Präsidenten.«
Dawson hörte den leisen Spott in der Stimme des Attentäters, entschloss sich aber, diesen zu ignorieren. Man musste mit den Eigenheiten Burghs zurechtkommen, ansonsten war er nicht nützlich. Und wer mit dem Teufel an einem Tisch saß, brauchte einen langen Löffel.
Das Gespräch war eigentlich beendet und Burgh hätte sich daraufhin zurückziehen sollen. Der Attentäter verblieb aber an Ort und Stelle. Dawson runzelte die Stirn. Er wandte sich halb über die Schulter um. »Gibt es noch mehr?«
»Wir haben ein Kommuniqué abgefangen«, erklärte Burgh mit sorgsam neutral gehaltener Stimme. »Von Jennifer Fischer.«
Der Name ließ das Blut ins Dawsons Adern gefrieren. In seinem Leben hatte er schon wahrhaft gefährlichen Feinden gegenübergestanden. Die meisten von ihnen vermoderten jetzt unter der Erde oder schwebten irgendwo im Weltall ohne Raumanzug, die Gestalt auf ewig im Tode eingefroren. Aber kaum ein Feind jagte ihm eine solche Angst ein wie die ehemalige Rebellenanführerin. Nicht weil sie irgendwelche besonderen Fähigkeiten gehabt hätte, sondern einzig und allein wegen des Wissens, das sich in ihrem Kopf befand.
Dawson knurrte leicht. »Warum lebt diese Frau noch?«
Abermals räusperte sich Burgh. Dawson konnte sich nicht erinnern, dass der Mann jemals zuvor eine solche Unsicherheit ausgestrahlt hatte. »Niemand konnte ahnen, dass die Skulls die Asylum überfallen würden. Und nun sind sie gemeinsam untergetaucht und die Söldner beschützen sie.«
»Was besagt das Kommuniqué? Ich nehme doch an, wir haben den Code geknackt?!«
Burgh erwiderte nichts, was Dawson dazu veranlasste, sich gänzlich zu dem Mann umzudrehen. Er fixierte diesen mit festem Blick. »Ja?«, hakte er nach.
Burgh schluckte. »Sie senden Botschaften aus an ehemalige Rebellengruppen, die sich immer noch versteckt halten. Das Kommuniqué ist eine Einladung.«
Dawsons Augenbrauen zogen sich über der Nasenwurzel wie eine drohende Wolke zusammen. »Eine Einladung? Zu welchem Zweck?«
»Das steht nicht drin.« Burghs Körper zuckte leicht, als würde er sich darauf vorbereiten, auf Abstand zu Dawson zu gehen. Es kostete den Mann Überwindung, es sich nicht allzu offensichtlich anmerken zu lassen.
Dawson wandte sich erneut dem Fenster zu. »Es kann nur einen Grund für diese Zusammenkunft geben. Sie arbeiten immer noch gegen mich. Sie versuchen, eine Streitmacht gegen das Konsortium aufzubauen. Sie wollen uns angreifen.« Dawsons Stimme gewann mit jedem Satz an Intensität. Er stützte sich schwer auf den Fensterrahmen. »Das werde ich nicht zulassen. Nicht derart kurz vor der Ziellinie.«
»Was soll ich also unternehmen?«, wollte der Attentäter wissen.
»Haben wir eine Vorstellung davon, wo diese Zusammenkunft stattfinden wird?«
Burgh nickte wortlos. Dawson konnte das Spiegelbild des Attentäters in der Fensterscheibe sehen.
Dawson grinste. »Ausgezeichnet! Schicken Sie ihnen eine Botschaft, die sie verstehen.«
Abermals nickte Burgh und wandte sich endlich zum Gehen. Er hielt inne und warf Dawson einen letzten unschlüssigen Blick zu.
»Was ist mit den Blackburn-Brüdern? Soll ich mich immer noch um sie kümmern?«
»Ich nehme an, der ältere befindet sich weiterhin bei Sorenson.«
»Allerdings«, bestätigte Burgh. »Und der jüngere soll sich Gerüchten zufolge in der Nähe von Beltaran aufhalten, wo er dabei ist, eine Widerstandsbewegung aufzubauen.«
Dawson nickte erfreut. »Wenn wir die Skulls ausschalten, wird sich das Dexter-Problem von selbst lösen.«
»Und Miles? Er hat sich als überraschend hartnäckiger Stachel in unserem Fleisch entpuppt.«
»Miles braucht Sie nicht zu kümmern. Auf ihn habe ich bereits jemand äußerst Kompetentes angesetzt.« Burgh merkte auf und machte Anstalten, etwas zu fragen, aber Dawson kam ihm zuvor. »Sie haben Ihre Anweisungen. Bitte gehen Sie jetzt. Ich muss nachdenken.«
Burgh nickte und verließ zügig den Raum. Er wusste, es war nicht ratsam, entgegen Dawsons Wünschen zu handeln.
Der Industrieelle und CEO von Dawson Interstellar Mining sah erneut aus dem Fenster seines Penthouse auf Johannesburg hinab. Irgendwo auf dieser Welt stand in diesem Moment Zeus vor einem Fenster und sah ebenfalls hinaus, ganz so wie er selbst. Dawson konnte das spüren. Dieser Mann gehörte zu den ganz wenigen, die seine Pläne zu durchkreuzen noch imstande waren. Aber das würde nicht geschehen. Bevor diese Sache gelaufen war, würde Zeus sterben und Dawson würde auf dessen Leiche pissen.
Und das nicht nur, weil Zeus es gewagt hatte, seinen Plänen im Weg zu stehen. Abermals strich er über sein künstliches Auge.
In Chicago stand Zeus in einem Büro eines Penthouse und starrte verdrossen auf die zahlreichen Fabriken hinaus, die diese Stadt dominierten. Er blickte hinaus, sah sie aber nicht. Denn seine Gedanken weilten weit entfernt.
Die Tür öffnete sich, aber Zeus hörte niemanden hereintreten. Der Anführer des Zirkels schmunzelte leicht. Eine Maus, die über einen Parkettboden läuft, hätte mehr Geräusche verursacht als Angel.
»Was gibt es Neues?«, fragte Zeus ohne Umschweife.
»Pendergast und Dawson suchen angestrengt nach dir. Irgendwann werden sie dich ausfindig machen.«
Zeus winkte ab. »Völlig egal. Ich spüre, dass der Augenblick kommt, in dem die Rolle, die wir alle spielen, zu ihrer Reife gelangt.«
Angel trat so dicht hinter ihn, dass Zeus dessen Spiegelbild in der Fensterscheibe sehen konnte. »Das klingt, als würdest du dich in dein Schicksal fügen. So weit sind wir noch lange nicht.«
Zeus lächelte wehmütig. »Ich befürchte, wir sind sogar schon über den Punkt hinaus, an dem wir noch etwas ändern könnten. Alles, was uns jetzt zu tun bleibt, ist, die Saat auszubringen, die Dawson und Pendergast eines Tages zu Fall bringen kann. Mehr bleibt für uns nicht übrig. Der Zeitpunkt, an dem unser Handeln einen Unterschied zwischen Leben und Tod machen könnte, ist längst vorüber. Und das ist meine Schuld, befürchte ich.«
Er spürte Angels Hand auf seiner Schulter. »Die Art, wie du redest, gefällt mir heute gar nicht. Du bist so … fatalistisch.«
»Es ist der Situation durchaus angemessen.« Zeus seufzte. »Aber bevor alles den Bach runtergeht, habe ich noch eine letzte Aufgabe für dich.«
Angels Gestalt straffte sich. »Ich höre?«
Zeus wandte sich um und fixierte seinen Eliteattentäter mit festem Blick. »Finde Dexter und bring ihn zu mir. Es wird Zeit, dass er einiges erfährt.«
»Was ist mit Miles?«
Zeus verzog die Miene zu einer Grimasse der Frustration. »Ich habe keine Ahnung, wo der sich gerade rumtreibt. Ich befürchte, er wird auf sich selbst achten müssen. Aber Dexter droht im Moment die größere Gefahr. Meine Spione berichten mir, dass Dawson ein Schiff schickt, um die Skulls endgültig zu erledigen.«
Angel stutzte. »Ein einzelnes Schiff? Ich denke nicht, dass wir uns darüber große Sorgen machen müssen.«
Zeus rümpfte die Nase. »Oh, Angel, du hast ja keine Ahnung. Von einem Schiff wie diesem hast du noch nie gehört.«
Das Medusa-Klasse-Schlachtschiff Normandy der Söldnereinheit Skull materialisierte am Lagrange-Punkt L5 im Aleshby-System und die erste Handlung der Besatzung bestand im Abtasten des Systems.
Nachdem Subcommodore Dominik Krüger zufrieden mit dem Ergebnis war, gab er dem Kommunikationsoffizier mit einem Wink zu verstehen, er möge fortfahren. Dieser setzte eine kurze Codesequenz ab. Es dauerte nur Sekunden und in schneller Folge materialisierten das condorianische Kriegsschiff Condors Rache sowie jeweils zwei Skull- und zwei condorianische Begleitzerstörer in der Nähe der Normandy.
Man war übereingekommen, die Delegation so klein wie möglich zu halten, um ihre potenziellen neuen Verbündeten nicht zu verschrecken.
Die sechs Schiffe beschleunigten mit Maximalgeschwindigkeit ins innere System. Die Flottille hielt dabei genau auf das Asteroidenfeld zu, das die Umgebung eines Gasriesen sowie zweier unbewohnter Planeten dominierte.
Dexter Blackburn hätte das Eindringen in das Schwerkraftfeld des Systems eigentlich am Holotank der Flaggbrücke verfolgen können. Dort hätte er wesentlich mehr Informationen erhalten. Doch in diesem speziellen Fall zog er es vor, den Flug von der Kommandobrücke aus mitzuerleben. Gemeinsam mit Admiral Oscar Sorenson sowie Jennifer Fischer befand er sich knapp hinter Krügers Kommandostation. Das Asteroidenfeld war so groß, dass es bereits auf eine Entfernung von zwei AE fast das komplette Sichtfeld ausfüllte. Die wenigen intakten Planeten des Systems wirkten dagegen wie Zwerge.
Jennifer Fischer trat einen Schritt näher. Die Frau wirkte immer noch etwas schwach auf den Beinen, schien sich aber ansonsten von ihrer Zeit auf der Asylum recht gut erholt zu haben – zumindest oberflächlich betrachtet. Wenn man sich aber die Mühe machte, tiefer zu blicken, dann stachen unweigerlich die blasse Gesichtsfarbe ins Auge und der gehetzte Ausdruck, den sie immer dann machte, sobald sie sich unbeobachtet fühlte. Als würde sie beständig damit rechnen, dass ihre Flucht nur ein grausamer Scherz ihrer Bewacher war und diese sie alsbald zurück in ihre Zelle schleiften. Es würde Zeit brauchen, bis auch ihr Unterbewusstsein akzeptierte, dass sie tatsächlich frei war.
Dexter richtete den Blick zurück auf das Brückenfenster. Was das Wort frei auch immer bedeuten mochte in ihrer jetzigen Situation.
Dexter seufzte und musterte das öde Sonnensystem, das sich vor ihnen ausbreitete. Fischer lächelte. »Die rote Sonne befindet sich in ihrer letzten Lebensphase«, erklärte die Frau. »Innerhalb der nächsten zweitausend Jahre wird sie ihre Restenergie verbrauchen und in sich zusammenfallen. Das Ergebnis ist eine Supernova, die das ganze System und alles, was Sie hier sehen, in einer gewaltigen Feuersbrunst verschlingen wird.«
»Das macht das Navigieren aber zur echten Kunst«, warf Krüger von seinem Kommandosessel aus ein. »Der Stern sendet bereits erhöhte Strahlung auf mehreren Frequenzbändern aus. Außerdem orten wir Bereiche, die von Strahlung überflutet sind. Dort würde uns nicht einmal unsere Panzerung schützen. Wir müssen um sie herumfliegen, um unser Ziel zu erreichen.«
»Genau deswegen haben wir uns hier häuslich eingerichtet«, gab sie zurück.
Dexter runzelte die Stirn. »Hier haben Sie sich den ganzen Bürgerkrieg über versteckt?«
Fischer zuckte die Achseln. »Nun, es ist einer unserer Stützpunkte. Es war lange Zeit unser Hauptquartier, um genau zu sein. Das System liegt außerhalb des Königreichs und damit außerhalb königlicher Jurisdiktion. Und selbst wenn man uns gefunden hätte – Sie haben ja Subcommodore Krüger gehört –, das Navigieren fällt hier äußert schwer, was das System zu einem leicht zu verteidigenden Ort macht. Es ist der perfekte Schauplatz für unsere Zusammenkunft.«
»Falls überhaupt jemand kommt«, gab Sorenson zu bedenken.
Fischer warf ihm einen verkniffenen Blick zu. »Die kommen schon«, warf sie ihm ein wenig zu herrisch entgegen, um glaubwürdig zu sein. Die Frau war selbst nicht ganz überzeugt, dass jemand auf ihren Ruf antworten würde. Sie hoffte es lediglich. Dexter verzog die Miene. Aber Hoffnung war dieser Tage alles, was ihnen noch blieb. Ansonsten könnten sie gleich die Waffen strecken.
Der Kommunikationsoffizier wandte sich plötzlich um. »Sir? Wir erhalten gerade eine verschlüsselte Nachricht.« Die Mimik des Junioroffiziers wurde leicht geistesabwesend, bevor sich sein Blick erneut auf Krüger fokussierte. »Außerdem meldet die Flaggbrücke, dass wir abgetastet werden.«
»Ziemlich unhöflich«, meinte Krüger. »So ganze ohne Erlaubnis. Ohne Kino und Essen gehen.« Niemand reagierte auf den kleinen Scherz. Die Anwesenden waren viel zu angespannt.
»Sie sind auf unsere Einladung hier«, beschwichtigte Sorenson. »Sollen sie ruhig einen Blick auf ihre Gastgeber werfen. Ihr Misstrauen ist berechtigt.«
Krügers einzige Erwiderung bestand in einem kurzen Schnauben. »Was besagt die Nachricht?«, wollte er vom Kommunikationsoffizier wissen.
»Es handelt sich nur um Koordinaten«, meinte dieser. Dessen Blick hellte sich mit einem Mal auf. »Es ist ein Kurs durch die Strahlungsbereiche.«
Dexter lächelte gequält. »Na wenigstens wollen sie nicht, dass wir gebraten werden. Das ist doch schon mal was.«
»Geben Sie mir die Koordinaten auf meine Station«, ordnete Krüger an. Der Kommunikationsoffizier übertrug die Zahlenfolge und der Subcommodore begutachtete sie auf einem an seiner Lehne angebrachten Bildschirm. Er drehte anschließend den Sessel um neunzig Grad, damit er direkt mit Sorenson von Angesicht zu Angesicht sprechen konnte. »Wenn wir diesem Kurs folgen, dann bleibt uns nicht viel Platz zum Manövrieren, sollte sich das Ganze als Falle erweisen. Wir wären praktisch auf dem Präsentierteller.«
Sorenson wechselte einen vielsagenden Blick mit Fischer. »Da ist definitiv was dran.«
Die ehemalige Rebellenanführerin schüttelte energisch den Kopf. »Die wären gar nicht hier, wenn sie nicht interessiert wären. Glauben Sie mir, die machen sich nicht so eine Mühe, nur um uns zu erledigen. Für die sind wir nicht wichtig genug für einen derartigen Aufwand.«
Der Admiral zog seine Stirn in tiefe Runzeln, während er über das Argument nachdachte. Schließlich stieß er einen Schwall Luft aus. »Na gut, jetzt sind wir schon mal hier. Wir müssen diese Chance wahrnehmen. Ich wüsste nicht, was wir sonst tun sollten. Diese Hilfe ist für unser Vorhaben unumgänglich.« Er nickte Krüger auffordernd zu. »Folgen Sie dem Kurs und weisen Sie die Condors Rache an, sich uns anzuschließen.«
Krüger wirkte über die Anweisung nicht gerade glücklich, aber als treuer Soldat und Offizier kannte er seine Pflicht. Mit einem Wink bedeutete er dem Navigator, dem übermittelten Kurs zu folgen.
Dexter fiel auf, wie Krüger etwas vor sich hin murmelte. Er warf dem Mann einen missmutigen Blick zu. »Beten Sie etwa?«
Krüger sah peinlich berührt auf. »Ich dachte, es könnte nicht schaden. Wer weiß, was uns erwartet?«
Die Flottille, angeführt von der Normandy, waren nicht die einzigen Schiffe, die ins Aleshby-System eindrangen. Weniger als eine Stunde nach dem letzten Zerstörer materialisierte ein Kreuzer bei L5. Dessen Sensoren beobachteten den Vorstoß der sechs Rebellenschiffe aufmerksam und zeichneten deren Kurs peinlich genau auf.
Das Design des Neuankömmlings basierte auf dem Rumpf eines Kampfkreuzers. Damit endeten die Ähnlichkeiten aber auch bereits. Das Schiff wies eine ebenmäßig glatte Außenhülle auf. Weder Kommunikations- noch Waffenstellungen waren ersichtlich. Beides konnte man im Bedarfsfall durch spezielle Luken ausfahren. Es befand sich nichts auf der Außenhülle, was ein Radarecho zurückwerfen konnte.
Das Schiff besaß nur die notwendigsten Ecken und Kanten. Es wirkte fast schon zu symmetrisch. Dadurch warf es nur einen kleinen Sensorabdruck zurück, falls es überhaupt jemand tatsächlich erfassen konnte. Das allerdings erschien mehr als unwahrscheinlich.
Das Schiff war auf Tarnung und lautlose Jagd ausgelegt.
Der Captain des Kreuzers warf einem Untergebenen an der Konsole zu seiner Rechten einen wissbegierigen Blick zu. Dieser schüttelte den Kopf. Das Grinsen des Captains wurde zusehends breiter. Niemand hatte sie entdeckt. Das hatte er auch nicht erwartet, um ganz ehrlich zu sein.
Mit einem Nicken wies er den Offizier an der Navigationskonsole an, der Rebellenflottille zu folgen. Der Kreuzer nahm langsam Fahrt auf. Unerkannt. Ungestört. Niemand ahnte, dass sich der Tod auf sie zubewegte.
Dexter bekam große Augen, als er erkannte, wo sie der Kurs hinführte. Fischer wirkte bei dem Anblick tatsächlich in nicht geringem Umfang überheblich und selbstgerecht.
Inmitten des Asteroidenfeldes thronte eine Raumstation, wie weder Dexter noch Sorenson sie je zuvor gesehen hatte. Wobei der Begriff Raumstation nicht wirklich zutraf. Die Basis war in den nackten Fels eines riesigen Trümmerstücks des ursprünglichen Planeten, aus dem das Feld nun bestand, hineingetrieben worden.
Was sich hier vor ihnen ausbreitete, war eine gewaltige Kraftanstrengung und eine Zurschaustellung großartiger Ingenieurskunst. In solchen Momenten wurde Dexter klar, warum es ihnen dermaßen schwergefallen war, die erste Rebellion niederzuschlagen. Der damalige Feind war gerissen und erfindungsreich gewesen. Er hatte mit wenigen Mitteln viel erreicht und fast zwei Jahrzehnte eine der größten Militärmaschinerien des besiedelten Weltraums auf Trab gehalten.
Dexter trat näher an das Brückenfenster und kniff leicht die Augen zusammen. Das Trümmerstück musste fast den halben Durchmesser des Erdmondes besitzen. Die Basis erstreckte sich beinahe bis hinunter auf den Kern. Es waren gepanzerte Korridore und Hangars ersichtlich. Außerdem eine ganze Menge Sockel, wie sie für Waffenstellungen benötigt wurden, nun waren sie aber leer. Sie endeten in ausgehöhlten Gehäusen und lose ins All hängenden Kabeln.
»Das meiste haben wir selbst demontiert, als wir die Basis aufgaben«, erläuterte Fischer wehmütig. »Den Rest haben Plünderer im Lauf der Jahre demontiert.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Sie hätten diese Basis in der Blüte ihrer Pracht sehen sollen. Sie war atemberaubend. Ein Zentrum für unsere Aktivitäten. Hier trafen wir uns, um zu beraten, zu planen und unser Vorgehen zu koordinieren. Hier liefen alle Fäden des Aufstands zusammen. Zu ihren besten Zeiten hielten sich fünfzig oder mehr Kriegsschiffe an den Andockbuchten auf.«
Mit einem Mal hallte ein durchdringender Ton über die Brücke. Krüger fluchte. »Wir werden angepeilt.«
»Scharf?«, fragte Sorenson. Damit wollte er wissen, ob eine aktive Zielerfassung hinter der Peilung lag oder ob man sie lediglich ärgern wollte.
»Oh ja«, bestätigte Krüger. »Und wie die Peilung scharf ist!« Er wandte sich halb den Offizieren hinter ihm zu. »Sie beide sollten sich auf die Flaggbrücke begeben. Sofort!«
Dexter und Sorenson beeilten sich, dem Folge zu leisten. Fischer rührte sich hingegen nicht von der Stelle. Sie schien wie erstarrt.
Die beiden Navy-Offiziere hatten die Brücke noch nicht mal verlassen, als eine Aussage des Kommunikationsoffiziers sie innehalten ließ.
»Wir werden gerufen, Subcommodore.«
Dexter wechselte einen kurzen Blick mit Sorenson. Dieser nickte und sie kehrten gemeinsam an Fischers Seite zurück.
»Einspeisen«, befahl Krüger und nur Sekundenbruchteile später erschien das vollbärtige Gesicht eines Mannes auf dem Hologramm des Subcommodore.
Dexter erkannte sofort, dass es sich um einen altgedienten Veteranen handeln musste. Der Kerl wirkte sogar auf dem Hologramm überaus hart. Seine Haut war bleich wie die Wand, was bedeutete, dass er in seinem Leben mehr Zeit im Weltraum als unter der Sonne auf einer Planetenoberfläche verbracht hatte.
»Warum zielen Sie auf mein Schiff?«, schoss sofort der erste Vorwurf Krügers in Richtung des unbekannten Mannes.
»Seien Sie froh, dass ich Ihrer Existenz noch kein Ende bereitet habe«, gab der Mann zurück. Er neigte leicht den Kopf zur Seite. »Aber der Tag ist noch jung. Das kann sich alles noch ergeben.«
Krüger knirschte mit den Zähnen. »Deaktivieren Sie Ihre Angriffssysteme. Wenn Sie mein Schiff weiterhin bedrohen, werde ich entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten.«
Der Mann lachte bellend auf. »Ach ja? Wohin wollen Sie zielen? Sie wissen nicht einmal, wo ich bin.«
Krüger wechselten einen vielsagenden Blick mit dem Lieutenant an den Sensoren. Dieser schüttelte den Kopf. Dexters Verdruss wuchs. Der Kerl hatte recht. Wer auch immer das war, er kannte sich hier aus. Er nutzte die Strahlungsbereiche, um seine Anwesenheit zu verschleiern. Wirklich sehr clever. Dieser Typ war nicht das erste Mal hier zugange.
Bevor Krüger zu einer erneuten sinnlosen Drohgebärde ausholen konnte, trat Fischer vor das Hologramm. »Was soll dieser Blödsinn, Dimitri? Behandelt man so seine Gäste und baldigen Verbündeten?«
Der Mann namens Dimitri machte eine abfällige Miene. Er rümpfte die Nase, als hätte er einen besonders ekelhaften Geruch eingesogen. »Gäste würde ich gerade noch gelten lassen. Verbündete? Davon sind wir doch weit entfernt. Als das letzte Mal ein königliches Großschlachtschiff vor meinem Bug kreuzte, habe ich es kurzerhand in Stücke geschossen.«
»Diese Leute sind unabhängige Söldner. Sie dienen nicht dem Königreich.«
»Und doch führen sie Ausrüstung des Königreichs mit sich. Das ist nicht gerade ein Aushängeschild, wenn es nach mir geht.«
Fischer lachte kurz auf. »Das musst ausgerechnet du sagen«, erwiderte sie. »Fliegst du eigentlich immer noch diesen Schrotteimer, den du den Royalen abgenommen hast?«
Zur Verblüffung aller teilte sich der Bart des Mannes zu einem ehrlichen Grinsen und enthüllte dabei zwei Reihen weißer, fast makelloser Zähne. »Touché!«, erwiderte er.
Fischer drehte sich um und deutete auf das Hologramm. »Darf ich vorstellen? Dimitri Sokolow, ehemaliges Mitglied des Rebellenrats und nun freischaffender – wie drücke ich mich am taktvollsten aus? –, freischaffender Erwerber kostbarer Gegenstände.«
Der Mann lachte erneut bellend auf und es wirkte, als würde dadurch sein ganzer Körper in Wallungen geraten. »Das war wirklich sehr taktvoll. Das Königreich ist da weniger höflich. Die nennen mich doch tatsächlich einen Piraten.«
»Sicherlich nicht ganz grundlos«, erwiderte Fischer verschmitzt. Dexter fiel positiv auf, dass die Frau wesentlich gelöster wirkte, nun, da sie auf einen Vertrauten ihrer eigenen schillernden Vergangenheit traf. »Sind die anderen schon da?«, fragte sie ihr Gegenüber.
Dieser nickte. »Sie warten nur noch auf euch. Sind alle ein wenig nervös. Deine Nachricht war ziemlich vage gehalten.«
»Aus gutem Grund. Wir haben viel zu besprechen.« Sie musterte Dimitri Sokolow mit schrägem Blick. »Ich nehme an, du bist noch nicht auf der Station.«
»Die anderen hielten es für besser, wenn ich die Sicherung des Areals übernehme.« Er prustete. »Du weißt schon, im Gedenken an alte Zeiten.«
In diesem Moment löste sich ein Schatten von der Rückseite des Planetenfragments. Es hatte die ganze Zeit dort gelauert und gewartet, dass sich die Absichten der Neuankömmlinge offenbarten. Waren sie freundlich oder feindlich gesinnt? Nun glitt das Kriegsschiff ins spärliche Licht der roten Sonne.
Die Männer und Frauen auf der Brücke der Normandy verfielen in beeindrucktes Schweigen. Bei dem Piratenschiff handelte es sich um einen Angriffskreuzer der Agrippa-Klasse. Ein Kampfschiff von ähnlicher Bauart wie die Kublai Khan. Die beiden hätten sogar Schwesternschiffe sein können.
Dexter wartete angespannt auf das Erscheinen weiterer Schiffe. Ein Angriffskreuzer allein könnte es niemals mit zwei Großschlachtschiffen aufnehmen und rechtfertigte daher das Selbstvertrauen Sokolows keineswegs. Es erschienen allerdings keine mehr. Dexter kam zu dem Schluss, dass der Mann entweder ein Spieler und großer Lügner war oder seine restlichen Schiffe sich im Hinterhalt bereithielten, um die Normandy und die Condors Rache in Stücke zu schießen, falls sie etwas Dummes versuchten. Dexter war sich nicht sicher, welche der beiden Möglichkeiten zutreffend war.
Er studierte das vor ihnen kreuzende Schiff eingehend. Die Lackierung war in funktionalem militärisch Grau gehalten. Bis auf den Bug, dort hatte man in akribischer Feinarbeit einen Jolly Roger aufgemalt – das Emblem eines Piraten seit der Blütezeit der Segelschifffahrt der Erde. Vor allem der Totenkopf stach dabei ins Auge. Sorenson lächelte und wisperte zu sich selbst: »Ein gutes Omen.«
Dexter wünschte, er hätte seinem alten Freund in diesem Punkt zustimmen können. Piraten gehörten nicht unbedingt zu seinem bevorzugten Menschenschlag. Als Flottenoffizier der Colonial Royal Navy gehörte es zu seinen vorrangigsten Pflichten, diesen abscheulichen Abschaum auszumerzen. Dass er sich nun mit ihnen verbünden musste, schmerzte tiefer als die Jahre seiner Inhaftierung.
Dexter presste seine Kiefer fest aufeinander, als das Piratenschiff langsam und bedrohlich näher glitt. Der Knochen knirschte vor Beanspruchung. Er hoffte nur inständig, diese Allianz würde sich nicht als fatal für alle Beteiligten erweisen.
In der Messe der Normandy blieb es heute still. Das war ungewöhnlich. Lediglich wenn eine bestimmte Person anwesend war und hier geruhte zu speisen, brachte kaum jemand einen Ton heraus.
Der Geräuschpegel senkte sich quasi wie von selbst, sobald Ramsay Dawson durch die Tür trat, und er hob sich genauso schnell wieder, sobald dieser die Messe verließ.
Das Spielchen wiederholte sich, wann immer der befreite Gefangene von der Asylum sein Essen in der Messe des Großschlachtschiffes einnahm. Dies wiederum führte dazu, dass er sich nur noch selten hier sehen ließ und es bevorzugte, die Mahlzeiten in seinem Quartier einzunehmen.
Lieutenant Colonel Lennox Christian kaute lustlos auf einem zähen Stück Fleisch herum, das mehr Ähnlichkeit mit einer Schuhsohle aufwies, während er angestrengt hinüberstarrte. »Wir sind nicht gerade fair, oder?«
Gunnery Sergeant Alejandro Barrera schluckte seinen Bissen hinunter, bevor er antwortete. »Das müssen Sie mir näher erklären.«
»Seit wir von der Asylum runter sind, lassen wir den Jungen allein für sich. Es muss schwer sein unter all den Fremden hier, die misstrauisch jede seiner Bewegungen beäugen.«
Barrera zuckte die Achseln. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, man steht auch nicht jeden Tag dem jüngeren Ich seines Erzfeindes gegenüber.«
»Man kann sich seinen Vater nicht aussuchen.«
»Das nicht, aber halten Sie es wirklich für einen Zufall, dass wir Dawsons Sohn auf der Asylum begegnet sind? Ausgerechnet Dawsons Sohn? Wie hoch ist diese Wahrscheinlichkeit?«
»Verschwindend gering«, gab Lennox zu »Ein Grund mehr, dass jemand mit ihm sprechen sollte. Nur um mal auszuloten, ob er wirklich auf Dawsons Befehl bei uns ist.«
Barrera musterte ihn mit teils strenger, teils amüsierter Miene. »Sie glauben wirklich, dass das alles nur Zufall ist.«
Lennox winkte ab. »Ich weiß es nicht. Aber niemand hätte ahnen können, dass wir die Asylum befreien. Oder zumindest einen Teil von ihr. Selbst Dawson nicht.«
Barrera schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur eines: Seit das alles begonnen hat, ist nichts aus bloßem Zufall geschehen. Mit Cascade hat alles angefangen und ich musste seither eine Menge guter Freunde beerdigen. Ich traue niemandem, der den Nachnamen Dawson trägt.«
»Sie haben eine echt schmerzhafte Art, Dinge auf den Punkt zu bringen, Gunny.«
Barrera grinste und steckte sich einen weiteren Bissen von der Lasagne in den Mund. »Dafür liebt man mich«, antwortete er mit vollem Mund.
»Jemand sollte wirklich mal rübergehen und mit ihm reden«, wiederholte Lennox und warf Barrera einen vielsagenden Blick zu.
Dieser gab einen verächtlichen Ton von sich. »Und wenn Sie jemand sagen, dann meinen Sie mich, stimmt’s?«
»Sie haben eine einnehmende Art, Gunny«, erwiderte Lennox. »Bei Ihnen wird er ziemlich schnell auftauen.«
Barrera schüttelte immer noch gleichzeitig grinsend und kauend den Kopf. »Das ist eine Offiziersangelegenheit, Colonel«, gab er zurück, wobei er Lennox’ Rang überdeutlich betonte.
Als Lennox erkannte, dass Barrera auf keinen Fall gedachte, seinen Hintern zu erheben, legte er sein Besteck nieder und knurrte: »Das kriegen Sie noch zurück, Gunny.« Mit diesen Worten erhob er sich und schlenderte betont unschuldig zum Ziel ihres Gesprächs hinüber.
»Erzählen Sie mir dann, wie es gelaufen ist!«, hörte er Gunny Barrera ihm noch hinterherrufen.
Unteroffiziere im Allgemeinen und Barrera im Besonderen verfluchend, stellte er sich an den Tisch, an dem Ramsay Dawson mutterseelenallein saß und sein Essen vertilgte. Wie üblich setzte sich niemand zu ihm. Es war, als ob sein Name allein genügte, eine Art Fluch auszusprechen, der diesen Mann zu ewiger Einsamkeit verdammte. Lennox überkam so etwas wie Mitgefühl mit dem ehemaligen Gefangenen, den er als Maus kennengelernt hatte. Aber auch eine gesunde Portion Vorsicht.
»Darf ich mich setzen?«
Ramsay Dawson sah auf, die Gabel noch in der Hand. Er sah sich sarkastisch am sonst leeren Tisch um. »Ist ja noch genügend frei«, antwortete er und deutete mit der Gabel auf den Platz gegenüber.
Lennox lächelte höflich und setzte sich. Sein Plan sah vor, mit etwas unverfänglichem Small Talk zu beginnen. Bevor er aber seine Charmeoffensive starten konnte, kam ihm sein Gegenüber zuvor.
»Stellen Sie schon die Frage, die Sie so brennend interessiert.«
»Ich … weiß nicht, was Sie meinen«, erwiderte Lennox, den unwissenden Idioten spielend. Noch in derselben Sekunde, in der der Satz seinen Mund verließ, erkannte er jedoch, wie kindisch schon allein der Versuch war. Er seufzte, während Ramsay ihn amüsiert musterte. Der Schalk blitzte dem Mann aus den Augen. Wenigstens hatte dieser seinen Humor nicht verloren. Lennox lachte leise.
»Das war ziemlich offensichtlich, was?«
Ramsay nickte. »Erst ignoriert mich jeder in den letzten paar Wochen, dann kommt auf einmal der Anführer der Marines zu mir und will sich mit mir unterhalten? Ja, ich würde schon sagen, dass man da schnell eins und eins zusammenzählen kann.«
Lennox lehnte sich vor und stützte sich mit beiden Unterarmen auf den Tisch. »Ich weiß, dass wir alle in letzter Zeit nicht ganz fair zu Ihnen waren. Aber Sie müssen auch unsere Situation verstehen. Ein Dawson hier auf dem Schiff, während ein anderer ständig versucht, uns zu erledigen – das ist schon merkwürdig.«
Ramsay rümpfte die Nase. »Ich habe mit keinem Wort gesagt, ich würde es nicht verstehen. Um ehrlich zu sein, ich hätte erwartet, vom Schiff zu fliegen, sobald ich meinen Namen sage. Das ist nicht geschehen. Und dafür bin ich sehr dankbar.« Ramsay fixierte Lennox mit hellwachen und intelligent blickenden Augen. Es erinnerte äußerlich kaum noch etwas an den Kleinganoven und Drogendealer, den Lennox und Barrera an Bord des Gefängnisschiffes kennengelernt hatten.
Aber Lennox rief sich in Erinnerung, dass diese Veränderungen vielleicht lediglich äußerer Natur waren. Wie es um dessen Inneres beschieden war, musste die Zukunft zeigen.
»Nun?«, hakte Ramsay nach. »Stellen Sie Ihre Fragen. Deswegen sind Sie doch hier.«
Lennox räusperte sich. »Ich habe im Prinzip nur eines zu sagen: Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«
Ramsay zog überrascht beide Augenbrauen nach oben. »Das ist alles? Ich soll Ihnen meine Geschichte erzählen.«
»Das ist alles«, bestätigte der Marine-Colonel. »Und anschließend werde ich mir ein Urteil über Sie bilden.«
»Und wenn das Urteil negativ ausfällt?«
Lennox überlegte. »Das sehen wir dann«, erwiderte er ausweichend.
Ramsay senkte den Blick und starrte missmutig auf den immer noch halb vollen Teller. Schließlich nickte er. »Ich denke, das ist fair.« Der Mann räusperte sich. »Nun, wo soll ich anfangen? Falls Sie erwarten, ich würde jetzt erzählen, was für ein toller Daddy mein Vater gewesen ist, dann muss ich Sie enttäuschen. Die Ehe zwischen meiner Mutter und … meinem Erzeuger hielt gerade drei Monate. Da verlor er bereits das Interesse und ließ sich wieder scheiden. Ich wurde geboren, da waren die beiden schon nicht mehr zusammen. Er hat sich nie für mich interessiert oder mir große Beachtung geschenkt. Alles, was ich je von ihm bekommen habe, war sein Name. Und der erwies sich in meinem Leben eher als Hindernis.«
»Inwiefern?«, hakte Lennox an dieser Stelle ein.
»Sobald jemand erfuhr, wer mein Vater ist, dachten alle immer gleich, ich wäre mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen. Dass ich immer Kaviar zum Frühstück hatte und Dienstboten mir den Arsch abgewischt hätten. So was in der Art. Die Wahrheit könnte nicht weiter entfernt liegen. Meine Mutter und ich sind in Armut aufgewachsen. Wir hatten nichts. Meine Mom musste drei Jobs annehmen, um uns über Wasser zu halten.«
»Hat Ihr Vater keine Alimente gezahlt?«
»Hätte er eigentlich tun sollen, aber sein Heer von hoch bezahlten Anwälten hat uns auch in dieser Hinsicht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Daher gingen wir leer aus.« Ramsay zuckte mit den Achseln. »Vermutlich hat er auch den einen oder anderen Richter geschmiert.«
»Höchstwahrscheinlich«, kommentierte Lennox trocken. »Und weiter?«
»Als meine Mutter starb, ging ich zum Militär. Ich war sogar recht gut. Bis ich merkte, dass mir sämtliche Wege zur Beförderung regelmäßig verstellt wurden. Ich kam einfach nicht weiter.«
»Tucker Dawson«, warf Lennox ein.
»Tucker Dawson«, nickte sein Gegenüber bestätigend. »Ich ging zu ihm und stellte ihn zur Rede. Es war, soweit ich mich erinnere, das erste und einzige Mal, dass wir von Angesicht zu Angesicht miteinander sprachen.«
Lennox beugte sich interessiert vor. »Was hat er gesagt?«
Ramsay schnaubte. »Ich hatte tatsächlich die Hoffnung, er würde mich kleinhalten, weil er mich beschützen wollte. Weil er sich Sorgen um mich machte.« Der Mann schüttelte leicht den Kopf. »Er wollte mich klein- und von jeglicher Verantwortung fernhalten, weil er sich Sorgen machte, dass mich jemand gegen ihn benutzen könnte. Er sah mich als Schwachstelle in seinem Leben an. Daher verdammte er mich innerhalb des Militärs zur Bedeutungslosigkeit. Er ließ mich sogar auf irgendeinen abgelegenen Posten versetzen. nur damit ich weitab vom Schuss bin. Er hat sich nie wirklich für mich interessiert und dennoch ließ er mir nichts.«
»War das der Moment, in dem Sie auf die schiefe Bahn geraten sind?«
Ramsay schmunzelte und zwinkerte dem Colonel zu. »Ich dachte mir, wenn ich schon nicht weiterkomme, dann verschaffe ich mir eben selbst eine Solderhöhung. Es war die einfachste und schnellste Art, meinem Vater ein »Fick dich!« entgegenzuwerfen.«
»Das ist sogar irgendwie verständlich.«
»Die Bosheit meines Daddys kennt aber keine Grenzen. Mit einem kleinen Drogendelikt hätte ich niemals auf der Asylum landen dürfen. Aber auch dafür hat er gesorgt. Es war der letzte Stich in einer langen Abfolge von Demütigungen.« Ramsays Gesicht verzerrte sich. »Ich weiß, was alle hier denken: Das dort ist Dawsons missratener Spross. Er ist hier, um für seinen Daddy zu spionieren – oder Schlimmeres. Aber die Wahrheit ist: Ich hasse meinen Vater wie nichts sonst im Universum. Ich würde den Kerl nicht einmal anpissen, wenn er brennt. So wenig halte ich von ihm.« Ramsay lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie wollten meine Geschichte? Das ist sie. Noch Fragen?«
Lennox kaute auf seiner Unterlippe herum. »Für den Moment … nein. Ich bin zufrieden. Aber es dürfte Ihnen dennoch klar sein, dass Sie auch hier vorläufig nicht damit rechnen dürfen, Freunde zu finden oder Verantwortung übertragen zu bekommen. Dafür kennen wir Sie zu wenig. Aber wir kennen Ihren Vater. Das ist nicht gerade eine Empfehlung.«
»Ich weiß«, erwiderte Ramsay ernst. »Und ich akzeptiere das. Alles, was ich mir wünsche, ist eine Chance. Nur eine Chance.«
Lennox musterte sein Gegenüber eingehend. Er wurde einfach nicht schlau aus dem Jungen. Vielleicht sagte er die Wahrheit. Vielleicht gab er aber nur eine rührselige Geschichte zum Besten, um Mitleid zu erregen. Das wäre vermutlich der erste Schritt, den ein Spion eingehen würde.
Lennox erhob sich gemächlich. »Vorläufig habe ich mir eine gute Meinung über Sie gebildet. Nennen Sie es einen Vertrauensbonus. Verspielen Sie ihn nicht.«
Ramsay riss perplex die Augen auf. »Heißt das, ich darf bleiben?«
»Ja, Sie dürfen vorerst bleiben. Ich kläre alles Weitere mit Sorenson und Blackburn.« Lennox wollte sich abwenden, hielt aber ein letztes Mal inne und warf dem jungen Ex-Marine einen freundlichen Blick zu. »Und falls es noch niemand gesagt hat: Willkommen an Bord!«
Als Dexter im Rahmen der Skull-Delegation die kleine Pinasse verließ, stockten seine Schritte für einen Moment. Eine ganze Reihe erwartungsvoller Blicke schlugen den Skull-Offizieren entgegen. Es war das unangenehme Gefühl eines neuen Schülers, der zum ersten Mal vor seine neue Klasse trat und sich vorstellen musste. So etwas war immer im besten Fall widerlich – und im schlimmsten peinlich.
Außer ihm selbst, Fischer und Sorenson waren noch Melanie St. John sowie Clayton Redburn zugegen. Die beiden Letzteren schienen neuerdings unzertrennbar.
Konteradmiralin Irina Necheyev und einer ihrer Adjutanten warteten bereits neben der vor ihnen eingetroffenen condorianischen Fähre.
Die Skulls nickten den Condorianern zu, die die Geste höflich erwiderten. Dexter musste alle Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht um die zahlreichen bösen Blicke zu scheren, die die Männer und Frauen innerhalb des Hangars ihnen zuwarfen.
Die meisten von ihnen waren ohne Zweifel Piraten. Vermutlich diente der überwiegende Teil von ihnen sogar Sokolow, der sie auf unnachahmlich charmante Art mit den Geschützen seines Kreuzers begrüßt hatte. Der Rest … nun ja … der Rest war nur unwesentlich weniger zwielichtig. Banditen, Wegelagerer und Schmuggler allesamt. Und es war ihre undankbare Aufgabe, aus diesen Menschen eine Allianz und sogar eine Armee zu schmieden, um das Königreich zu retten, das diese Menschen abgrundtief hassten. Dexter seufzte. Die Götter des Universums hatten einen makaberen Sinn für Humor.
»Nur die Ruhe«, sprach ihn unvermittelt Jennifer Fischer an. »Das sind genau die Menschen, die wir brauchen.« Sie sagte das so selbstverständlich, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Sie haben diese Art Krieg schon einmal geführt. Und einige von ihnen führen ihn immer noch. Diese Menschen bringen eine ungeheuer große Erfahrung in Guerilla- und Partisanentaktik mit. Das Konsortium wird noch bereuen, uns zum Feind zu haben.«
Dexter fragte sich, ob diese Selbstsicherheit real oder nur aufgesetzt war. Nun, da alte Gesinnungsgenossen die Frau umgaben, schien alle Anspannung von ihr abzufallen.
Die Skulls und Condorianer vereinigten ihre Delegationen. Beide Parteien schienen in ähnlichem Umfang unzufrieden mit der Situation. Keiner von ihnen war bewaffnet. Es hätte das falsche Signal gesendet. Außerdem kamen auf jeden von ihnen zwanzig Piraten. Ein Kampf wäre schnell beendet gewesen. Aber Dexter wünschte sich trotzdem fast zwanghaft eine Waffe herbei.
Sie waren keine königlichen Soldaten mehr. Das war schon lange vorbei. Den ringsum stehenden Piraten schien dieser Umstand aber völlig abzugehen. Mehr als einer von dem lichtscheuen Gesindel schien durchaus bereit, ein paar ehemalige Royale nur allzu gern über die Klinge springen zu lassen.
Ein junger Offizier, der eine Fantasieuniform mit den Insignien eines Lieutenants trug, trat in den Hangar, verbeugte sich vor Fischer, während er die Übrigen geflissentlich ignorierte, und bedeutete ihnen dann, ihm zu folgen.
Außer Fischer, die voranging, blieben alle anderen dicht beisammen. Sie suchten instinktiv Schutz in der Gruppe, auch wenn dies niemandem etwas nützen würde, falls die Piraten tatsächlich ihre Meinung änderten.
Sie marschierten unter Führung des Lieutenants durch einen lang gestreckten Korridor. Die Basis war schon lange verlassen, aber nirgendwo waren Spinnweben oder auch nur ein Staubkorn zu sehen. In Dexters Verstand ratterte es. Die Basis war bis vor Kurzem noch dem Vakuum ausgesetzt gewesen. Keine Gravitation, keine Atmosphäre. Man hatte diesen Stützpunkt vermutlich ausschließlich für die bevorstehende Zusammenkunft reaktiviert.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie endlich einen Besprechungsraum mit hoher Decke, in die eine dicke Panzerglasscheibe eingelassen war. Man konnte einen ungehinderten Blick auf die Sterne genießen. Zwei Leichte Kreuzer zogen behäbig vorüber, als sie die Umgebung sicherten. Ihre Panzerung war farbenfroh bemalt. Dexter riss seinen Blick von den zwei Schiffen los und sah sich in dem Raum um. In früheren Zeiten musste es sich um einen taktischen Planungssaal gehandelt haben.
Und hier trafen sie endlich auf das Who is Who der ersten Rebellion.
Dimitri Sokolow trat vor und umarmte Fischer herzlich. Die beiden begannen sofort damit, aufgeregt ihre Freundschaft zu erneuern. Weitere Anwesende traten hinzu, um Fischer ebenfalls in den Arm zu nehmen.
Dexter und die übrigen Offiziere ließen sie gewähren. Diese Menschen hatten sich viel zu erzählen. Sein Blick fiel auf einen einzelnen Mann in adrettem Anzug, der etwas abseits stand und an einem Glas Wein nippte.
Dexter runzelte die Stirn. Verglichen mit den abgerissenen Gestalten um Fischer passte der Kerl hier dermaßen nicht ins Bild, dass er sich dazu entschloss, diesen anzusprechen.
Er trat dem Mann entgegen, der ihn im Gegenzug mit wachen, interessierten Augen musterte. Dexter streckte ihm die Hand entgegen.
»Commodore Dexter Blackburn. Von den Skulls«, stellte er sich vor.
Der Mann ergriff Dexters Hand mit einem Griff, der eine Spur zu lasch war. »Basil Wilson«, erwiderte der Mann.
Dexter lächelte höflich. »Bitte vergeben Sie meine Direktheit, aber Sie passen hier irgendwie nicht ins Bild. Ich nehme an, Sie sind kein Pirat.«
Der Mann lachte lauthals auf. »O großer Gott, nein! Ich bin etwas Schlimmeres. Ich bin Banker.«
Dexter verzog angesichts des ironischen Scherzes auf eigene Kosten amüsiert die Miene. »Und Sie sind hier, weil …?«
»Ich arbeite für einige der hier Anwesenden«, erklärte Wilson freimütig. »Ich wasche deren schmutziges Geld und lege es dann gewinnbringend an. Außerdem sorge ich dafür, dass sich Käufer und Verkäufer finden, falls einige der hier Anwesenden etwas von Wert zu verkaufen haben, das keine offiziellen Kanäle durchlaufen soll.«
»Sie dienen als Hehler für Diebesgut?«
Wilson ließ sich von der Anklage in Dexters Stimme nicht aus der Ruhe bringen. »Angebot und Nachfrage regeln den Markt«, antwortete er. »Ich bediene nur ein Bedürfnis. Nicht mehr. Natürlich gegen eine entsprechende Provision.«
»Natürlich.« Trotz dessen Äußerungen war der Mann Dexter fast gegen seinen Willen sympathisch. Er hätte sich gern noch weiter unterhalten, aber die allgemeine Begrüßung neigte sich dem Ende entgegen.
Fischer wandte sich an die versammelten Anwesenden. »Bitte setzen Sie sich, damit wir beginnen können. Wir haben viel zu besprechen und wenig Zeit.«
Necheyev sowie die Skull-Offiziere setzten sich an den runden Tisch. Zu seiner Überraschung gesellten sich außer Fischer und dem Banker Wilson aber nur vier der übrigen Anwesenden hinzu. Der Rest blieb abwartend stehen. Diese vier schienen einen besonderen Ruf unter den zusammengekommenen Anführern der untergegangenen Rebellion zu genießen. Melanie und Red blieben ebenfalls stehen. Die beiden hatten sich vorübergehend mit der Rolle bloßer Beobachter zufriedengegeben, in Redburns Fall allerdings nur zähneknirschend.
Dexter beugte sich zu Fischer hinüber und senkte verschwörerisch die Stimme. »Was ist mit dem Rest?«
»Kleinere örtliche Kommandeure von geringer Bedeutung. Diese fünf sind aber die eigentlichen Entscheidungsträger. Wenn wir sie überzeugen, wird der Rest folgen.«
Dexter ließ den Blick in die Runde schweifen. »Das sind also die Mitglieder des Kommandorates ihrer Rebellion.«
»Es sind die Überlebenden«, kommentierte sie düster. »Diejenigen, die nach dem Krieg den Säuberungsaktionen von Navy und RIS entgangen sind. Der Rat bestand ursprünglich aus viermal so vielen Mitgliedern. Offiziell war der Krieg schon vorbei und wir alle hier haben dennoch immer noch Freunde, Kampfgefährten und Brüder an das Königreich verloren«, erläuterte Fischer weiterhin. »Rechnen Sie nicht mit einem warmen Empfang. Wenn diese Menschen Sie ansehen, dann sehen sie keinen Offizier in einer Söldneruniform, sondern nur einen Royalisten, den man auf schnellstem Weg ins Jenseits befördern sollte.«
»Mit einem herzlichen Willkommen hatte ich ohnehin nicht gerechnet«, entgegnete Dexter und begegnete den Blicken, die ihm entgegenschlugen, mit Gleichmut. »Aber auch nicht diesem unversöhnlichen Hass.«
Dimitri Sokolow erhob sich und seine volltönende Stimme erfüllte den Raum. Er richtete seine Worte direkt an Fischer. »Jen … wir sind deinem Ruf gefolgt. Keiner von uns hat erwartet, dass es zu unseren Lebzeiten je wieder eine solche Zusammenkunft geben würde.« Er warf den Skulls und Condorianern einen finsteren Blick zu. »Und schon gar nicht in derart schlechter Gesellschaft.« Er seufzte. »Aber nun sind wir schon mal hier und ich halte es für das Beste, wenn du einfach mal damit beginnst, uns dein Anliegen vorzutragen.«
Fischer lehnte sich auf ihrem Stuhl vor und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab. »Ich werde damit beginnen, hier alle einander vorzustellen. Wenn wir auf zivilisierte Art miteinander kommunizieren wollen, sollten alle wissen, mit wem sie es zu tun haben.«
Sokolow ließ sich auf seinen Stuhl fallen und winkte ab. »Deine Gäste vorzustellen, kannst du dir sparen. Admiral Sorenson und Dexter Blackburn sind uns allen wohlbekannt. Ehemalige royale Offiziere, die nun von ihrer eigenen Regierung gejagt werden. Und Admiralin Necheyev ist uns ebenfalls ein Begriff. Die Anführerin der überlebenden Condorianer. Und alle sind des Mordes am König für schuldig befunden und in absentia zum Tode verurteilt worden.« Sokolow lachte auf. »Allein dafür schulden wir ihnen allen Dank und das ist der einzige Grund, aus dem wir uns bereit erklärt haben, uns mit ihnen allen zu treffen.«
Dexter wollte aufbegehren, aber ein verstohlener Wink Fischers brachte ihn zum Schweigen, bevor die Situation ausarten konnte.
»Du bist sehr gut informiert, Dimitri. Das hätte ich gar nicht erwartet.«
Einer der rangniederen Rebellenoffiziere grätschte dazwischen. »Ihre Fahndungsplakate hängen ja auch überall.« Die Bemerkung löste Prusten und heiseres Gelächter der versammelten Männer und Frauen aus. Dexter konnte nur schwer an sich halten. Diese Leute feierten sie für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hatten. Ironischerweise war das der einzige Grund, aus dem die Versammlung überhaupt stattfand. Wie würden sie wohl reagieren, wenn herauskam, dass die Söldner und ihre condorianischen Verbündeten unschuldig waren?
Sokolow brachte die Menge mit einer simplen Handbewegung zum Schweigen, auch wenn seine eigenen Mundwinkel in verräterischer Weise zuckten. Fischer nickte ihm dankbar zu. »Dann wirst du mir vielleicht erlauben, euch meinen neuen Freunden vorzustellen.« Sie nickte in Sokolows Richtung. »Dimitri kennen Sie ja schon und auch Basil Wilson, unser Mann für gewisse Liquiditätstransaktionen, ist Ihnen allen sicherlich ein Begriff.« Mit dem Kinn deutete sie auf einen asiatischen Mann in den Fünfzigern oder Sechzigern. Er hielt sich so aufrecht, dass Dexter befürchtete, dieser hätte einen Stock verschluckt. »Das ist Luan Xan Lee, ehemaliger Kommandant unserer Logistik und für den südlichen Kampfabschnitt der Front verantwortlich. Heute führt er als Einziger der Anwesenden hier ein oberflächlich betrachtet legales Transportunternehmen. Das Königreich hat nach unserem Kenntnisstand keinerlei Ahnung von seiner Vergangenheit und das ist auch gut so. Er übernimmt noch immer hin und wieder Transportdienste für uns und betätigt sich auch gelegentlich als Pirat, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet.« Bei dem Wort legal brandete erneut hustendes Gelächter auf. Luan Xan Lee musste bei der Formulierung schmunzeln.
Ein relativ junger Mann Anfang vierzig mit kurz geschorenen Haaren war der Nächste, der an die Reihe kam. Man hätte aufgrund seines Äußeren durchaus mutmaßen können, dass dieser von eher ernster Natur war. Doch ein Lächeln lockerte seine Erscheinung in positivem Maße auf. Dexter ließ sich davon jedoch nicht täuschen. Die Augen des Rebellen blitzten und er schien jeden einzelnen Skull-Offizier wie mit Sensoren abzutasten und anhand ihrer Gefährlichkeit in Schubladen einzuordnen. Das typische Vorgehen eines perfekt ausgebildeten Killers. »Das ist Benjamin Kendrick. Er war früher ein sehr guter Infanterieoffizier und zuständig für Kommandooperationen. Jetzt betätigt er sich als Schmuggler.« Fischer warf Kendrick einen verschmitzten Blick zu. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob er noch so gut ist wie früher.«
Kendricks Augen leuchteten in freundlichem Spott auf und seine harte Schale schien unter ihrem Spott für einen kaum messbaren Moment aufzuweichen. Er antwortete nicht auf die Bemerkung, aber nach Dexters Dafürhalten war es wohl nicht ratsam, ihn tatsächlich herauszufordern. Die ständig angespannte Körperhaltung erinnerte ihn irgendwie an Dooley. Kendrick war jederzeit bereit für einen Kampf.
»Und das, zu guter Letzt«, fuhr Fischer fort, »ist Erica Lasalle.« Sie deutete auf eine grauhaarige Frau jenseits der siebzig. Ihre Mähne hatte die Frau zu einem Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden, was ihr trotz des fortgeschrittenen Alters ein irgendwie jugendliches Aussehen verlieh.
Lasalle rutschte die ganze Zeit unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie sprühte geradezu über vor ungenutzter Energie. »Erica kommandierte sehr erfolgreich unsere schnellen Kampfverbände während des Krieges. Und daraus hat sie eine Tugend gemacht, denn genau wie Dimitri betätigt sie sich heute als Pirat.« Das Kompliment Fischers entlockte der Frau ein schmales Lächeln. »Die in diesem Raum versammelten Männer und Frauen repräsentieren Hunderte von Schiffen und Tausende von Soldaten«, ergänzte Fischer zum Schluss. »Das wäre ein guter Anfang, wenn wir uns einem Feind stellen wollen, der uns alle im besten Fall unterjochen und im schlimmsten vernichten will.« Fischer blickte hoch aufgerichtet und stolz in die Runde. »Wollen wir beginnen?«
Der Zerstörer William Wallace gehörte zu Dimitri Sokolows Aufgebot und patrouillierte den äußeren Rand des Asteroidenfelds. Sokolow hatte einen Patrouillenplan erstellt und seine Schiffe auf Erkundung geschickt, um sicherzustellen, dass sie während der Unterredung nicht gestört wurden.
Das Schiff wurde kommandiert von Captain Enrico Alonso. Alonso hatte den Bürgerkrieg nicht mitgemacht. Dafür war er mit seinen achtundzwanzig Jahren viel zu jung. Trotzdem hasste er das Königreich inbrünstig. Seine Familie stammte vom Planeten Madrid. Seit seiner frühesten Jugend hatten die Steuern der Zentralregierung auf Castor Prime seiner hart arbeitenden Familie praktisch das Essen aus dem Mund gestohlen. Erschwerend kam hinzu, dass Madrid zu den ersten Welten gehört hatte, die sich der Rebellion gegen die Krone anschlossen. Weshalb die nach dem Bürgerkrieg eingesetzte Administration alles tat, um die Bevölkerung an ihren Platz zu erinnern. Und der befand sich unter dem Stiefelabsatz der königlichen Oberschicht.
Sobald er alt genug war, suchte er nach einer Möglichkeit, die Dinge zu ändern, und landete schließlich bei Sokolow. Das Dasein als Pirat war nicht unbedingt leichter als das von Bauern auf Madrid, aber eines konnte man nicht sagen: dass dabei Langeweile aufkam.
Der Zerstörer kreuzte den äußersten Rand des Asteroidenfelds und umrundete elegant einen größeren Brocken. Dabei achtete die Besatzung peinlich genau darauf, den Strahlungszonen nicht zu nahe zu kommen.
Alonso betrachtete die einkommenden Sensordaten mit mildem Interesse. Er zog einen Schmollmund, als er sich seinem XO zuwandte. »Bei den ganzen Strahlungsfeldern wird es schwierig, ankommende Schiffe auszumachen.«
Der XO runzelte die Stirn. »Vielleicht sollten wir eine andere Route für die Fortsetzung der Patrouille wählen. Der von Sokolow vorgegebene Kurs führt uns sehr dicht an einigen von ihnen vorbei.«
»Das ist auch Sinn und Zweck der Sache«, erwiderte Alonso. Der Captain schüttelte den Kopf. »Nein, wir bleiben bei dem Plan.« Er grinste. »Und anschließend geht die erste Runde auf mich.«
Die Ankündigung hob die Laune seiner Brückencrew beträchtlich. Er konnte förmlich spüren, wie sie dem Ende ihrer Patrouillenschicht entgegenfieberten.
Sein XO beugte sich mit einem Mal vor und studierte angestrengt einige Anzeigen auf seinem Pad. Alonso musterte seinen Untergebenen eingehend. Sie kannten sich schon lange und waren ein aufeinander perfekt eingespieltes Team.
»Ist alles in Ordnung?«, wollte der Captain wissen.
»Ich … bin mir nicht sicher. Die Sensoren orten eine Energiespitze an Backbord.«
»Einer der Strahlungsbereiche?«
Der XO schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Der nächste ist mehr als vierhundert Klicks an Steuerbord.«
Alonso überlegte. »Dann sehen wir uns das besser mal an.« Er wandte sich dem Kommunikationsoffizier zu. »Melden Sie dem Flaggschiff, dass wir für eine Investigation vom Patrouillenplan abweichen.«
Der weibliche Fähnrich an der Kommunikation hantierte kurz mit den Kontrollen und wandte sich dann verwirrt ihrem Kommandanten zu. »Ich komme nicht durch.«
Bevor Alonsos Hirn Gelegenheit erhielt, sich mit der neuen Sachlage zu beschäftigen, traf der erste Angriff die Wallace völlig ohne Vorwarnung.
Die Backbordpanzerung wurde bereits mit der ersten Raketenbreitseite zerfetzt, als bestünde sie lediglich aus Papier. Der Zerstörer legte sich schwer nach steuerbord.
Nicht ausreichend befestigte Gegenstände flogen quer über die Brücke – einschließlich einiger Besatzungsmitglieder. Alonso wurde nur durch seinen Sicherheitsgurt auf dem Sitz gehalten.
Ein weiterer Treffer traf die Brücke. Wie durch ein Wunder hielt diese dem Angriff stand. Aber die Station des Ersten Offiziers wurde aus der Verankerung gerissen und zermalmte diesen unter sich.
Alonso hatte keine Zeit, sich um den Verlust seines langjährigen Freundes zu kümmern. Wenn sie es nicht aus dem Feuerbereich des unbekannten Angreifers schafften, dann würden sie schon sehr bald das Schicksal des XO teilen.
»Nach steuerbord abdrehen!«, schrie er dem Offizier an der Navigation entgegen. »Taktik? Alle Backbordbatterien auf den Gegner ausrichten und Feuer frei. Machen Sie ihn fertig!«
»Ich kann kein Ziel ausmachen«, schrie dieser zurück. »Da ist niemand.«
»Unmöglich, irgendetwas muss zu orten sein!«
Der taktische Offizier schüttelte wortlos vehement den Kopf, während er sich weiterhin damit abmühte, eine Spur des unbekannten Angreifers auszumachen.
Die Wallace drehte währenddessen wie angewiesen nach steuerbord ab und versuchte, zwischen den größeren Gesteinsbrocken in Deckung zu gehen. Eine weitere Salve schlug in der Antriebssektion ein und ließ die Hälfte der Aggregate stotternd verstummen. Die Geschwindigkeit des Zerstörers senkte sich schlagartig auf weniger als ein Drittel der Höchstgeschwindigkeit.
Damit entkommen wir ihm nie, ging es Alonso mit einem Mal durch den Kopf. Und in diesem Moment erkannte Enrico Alonso, Captain des Piraten-Zerstörers William Wallace, dass sie alle sterben würden – und daher traf er eine einsame, aber nichtsdestoweniger bewundernswerte Entscheidung.
»Taktik? Packen Sie alle Informationen über den Angriff in eine Boje und setzen Sie sie aus.«
Der Offizier an der Taktik blickte seinen Captain mit aschfahlem Gesicht an. Der Mann war erfahren genug, um zu wissen, was dieser Befehl bedeutete. Sie konnten weder kämpfen noch entkommen. Ihr Schicksal war besiegelt.
»Tun Sie es!«, herrschte Alonso den Mann an.
Ein Energiestrahl zersetzte die Panzerung fast exakt oberhalb der Brücke. Die Finger des taktischen Offiziers flogen über die Tastatur und nur wenige Sekunden später setzte die Wallace durch eines der Achter-Torpedorohre eine Signalboje ab, die ein Datenpaket enthielt.
Der Zerstörer entfernte sich, so schnell es ihm möglich war, vom Standort der Boje, in der Hoffnung, den Feind genügend ablenken zu können. Das Schiff hätte es beinahe geschafft, hinter einen Asteroiden zu humpeln, als sich zwei Energiestrahlen an der geschwächten Panzerung oberhalb der Brücke trafen.
Die Energiewelle fraß sich ohne größere Probleme hindurch und verdampfte Alonso sowie die Überlebenden seiner Kommandocrew innerhalb eines Wimpernschlages. Die nächste Raketensalve riss das Schiff in einer gewaltigen Detonation auseinander und löschte damit auch jede Spur des unprovozierten Angriffs aus.
Der Tarnkreuzer durchpflügte die Wrackteile des Zerstörers, ohne sich weiter um Schiff oder Besatzung zu kümmern. Die Männer und Frauen der Wallace sollten nur die ersten Opfer in einem geheimen, nicht erklärten Krieg sein. Viele weitere würden folgen.
Die Wrackteile trieben langsam auseinander und hinterließen nur wenig, was auf den Angriff hindeutete. Inmitten der Trümmer trieb eine Signalboje einsam dahin und sandte in rhythmischen Abständen ein Ortungssignal aus.
Jennifer Fischer beendete ihren Bericht mit ihrer Zeit an Bord der Asylum und ihrer Rettung durch Christian und Barrera. Die ehemaligen Rebellen im Raum machten ausnahmslos nachdenkliche Gesichter. Dexter hätte zu gern gewusst, was in deren Kopf vor sich ging. Ihre Mimik war nur schwer zu entschlüsseln. Hin und wieder warfen sich einige der Anwesenden undeutbare Blicke zu.
Schließlich sah Dimitri Sokolow auf. Seine Augen richteten sich unwillkürlich auf Dexter und Sorenson. »Sie haben also den König nicht getötet.«
Dexter erstarrte. Vor diesem Augenblick hatte er sich gefürchtet. Zum wiederholten Male musste er sich ins Gedächtnis rufen, dass diese Menschen keine Freunde der Krone oder des Königreichs waren. Sie hatten vermutlich gefeiert und eine Flasche Schampus geköpft, als sie vom Tod König Liams erfuhren.
Er schluckte, als er bemerkte, wie einige der Piraten verstohlen nach ihren Seitenwaffen tasteten. Nun war guter Rat teuer, aber Dexter war immer noch der Meinung, dass sie mit Ehrlichkeit am besten fuhren. Alles andere würde wohl dafür sorgen, dass sie ohne Raumanzug einen Spaziergang im Vakuum antreten mussten.
Dexter räusperte sich. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. »Nein, wir tragen keine Schuld am Tod des Königs.« Gemurmel brandete auf, das sich entschieden nicht nach Sympathiebekundungen anhörte. Auch Sorenson entging nicht, wie die Stimmung kippte. Er warf einen Blick zurück. Melanie St. John und Redburn spannten sich an. Dexter war klar, sollte es zum Austausch von Gewalt kommen, wäre auch nur der bloße Gedanke an Gegenwehr jenseits jeglicher Realität. Sie kamen hier lediglich mit Verbündeten hinaus oder gar nicht. Dexter entschloss sich, nur weiterzureden, falls es unumgänglich war. Dies hier waren Fischers Leute. Sie wusste am besten, wie mit ihnen umzugehen war.
Wie aufs Stichwort richtete Sokolow seinen anklagenden Blick auf Fischer. »Du hast uns angelogen.«
Die Rebellenanführerin rümpfte empört die Nase. »Das ist nicht ganz fair. Ich habe euch in diesem Punkt nie zugestimmt.«
»Du hast aber auch nicht widersprochen und uns damit in dem Glauben gelassen, die da wären verantwortlich für Liams Tod. Das ist genauso schlimm wie eine Lüge.« Der Mann kniff zornig die Augen zusammen. »Du bist schon genauso windig und spitzfindig wie ein royaler Politiker.« Zustimmende Rufe wurden laut. Nicht wenige forderten sogar, sich der Skulls, der Condorianer und sogar Fischers sofort zu entledigen.
Sokolow hob Einhalt gebietend die Hand. Er ließ den Kopf hängen. »Du enttäuschst mich, Jennifer. Du enttäuschst mich sogar sehr.« Er sah auf. »Sag mir, was ich jetzt tun soll. Du weißt, was wir mit Verrätern machen. Ich würde dich gern gehen lassen, aber ich bin nicht einmal sicher, ob mein Wort so weit gilt, für deinen ungehinderten Abzug noch garantieren zu können.«
Fischer zog die Augenbrauen so tief über die Nasenwurzel, dass es wirkte, als würden sich dort drohende Gewitterwolken zusammenbrauen. Sie war als Einzige der Delegation bewaffnet. Sie zog ihre Seitenwaffe und platzierte sie vor sich auf die Tischplatte. Nicht wenige der Anwesenden legten die Hand ebenfalls an die eine oder andere Waffe. Weitere wirkten aufs Äußerste alarmiert. Erst als klar war, dass sie nicht schießen würde, entspannten sich die meisten wieder.
»Niemand – absolut niemand – hat das Recht, mich eine Verräterin zu schimpfen. Wir sind gemeinsam durch denselben Schlamm gekrochen, haben denselben Dreck gefressen, haben unser Blut für denselben Flecken Erde vergossen. Und ihr steht hier und nennt mich eine Verräterin?« Sie gab der Waffe einen Stoß, sodass sie in die Mitte des Tisches glitt. »Falls einer unter euch ist, der tatsächlich denkt, ich wäre in der Lage, euch zu verraten, dann soll er die Waffe nehmen und mir eine Kugel in den Kopf jagen.«
Betäubtes Schweigen senkte sich über den Raum. Mit einem Mal erhob sich Erica Lasalle, griff nach der Waffe und richtete sie auf Fischers Kopf. Die Piratin zog den Abzug durch. Sokolow reagierte augenblicklich und mit außerordentlicher Gewandtheit. Er fiel Lasalle in die Hand und das Projektil ging fehl. Es schlug hinter Fischer in die Wand ein und verfehlte einen der dort stehenden Piraten nur um Zentimeter.
Lasalle funkelte Sokolow an, während sie sich das schmerzende Handgelenk rieb. »Du hast sie gehört«, zeterte die Piratin. »Sie wollte es doch so.«
»Das war nur rhetorisch gemeint«, erwiderte er. An Fischer gewandt fügte der Mann hinzu: »Du hattest schon immer ein Faible fürs Dramatische.« Er schob die Waffe zurück in Fischers Richtung, die sie wieder ins Holster steckte.
»Ich wollte eure unbedingte Aufmerksamkeit«, gab sie bekannt.
Sokolow setzte sich wieder und nach einigem Zögern tat es ihm Lasalle gleich. Der Anführer der Piraten nickte. »Also gut, die ganze Sache ist dir wichtig genug, um dein Leben dafür zu riskieren. Das haben wir jetzt alle verstanden. Dadurch hast du dir ein paar zusätzliche Minuten erkauft. Und ich rate dir, sie gut zu nutzen. Sag uns, was du noch zu sagen hast.«
Fischer neigte den Kopf nach unten, während sie angestrengt nachdachte. Ihre Finger klopften einen unsteten Rhythmus auf die Tischkante vor ihr. Schließlich sah sie auf und ließ den Blick in die Runde schweifen. Sie bezog damit jeden Anwesenden, gleich welchen Ranges, mit ein.
»Ich weiß, der Tod des Königs löst bei euch keine große Trauer aus.« Einige der Anwesenden kicherten, doch ein strenger Blick Sokolows ließ sie schnell verstummen. »Ich habe damals an unser Ziel, unser Vorhaben, unsere heilige Sache geglaubt – und das tue ich heute noch.« Sie seufzte. »Aber unser Vorgehen war vielleicht nicht das beste.« Sie hatte erwartet, dass an diesem Punkt einige aufbegehren würden. Zu ihrer Verblüffung warteten ihre Gegenüber stillschweigend ab. »Ich weiß genau, was ihr denkt: Was kümmert es uns, wenn das Königreich vom Zirkel übernommen wird? Was kümmert es uns, wenn das Königreich zugrunde geht? Was kümmert es uns, wenn sie ihren eigenen König ermorden?« Fischer schüttelte mitleidig das Haupt. »Aber es muss uns kümmern. Wir waren in die Sache von Anfang an involviert. Wir wussten es nur nicht. Der Zirkel hat während des Bürgerkriegs beide Seiten unterstützt und gegeneinander ausgespielt. Was glaubt ihr, warum das so war? Sie wollten beide Parteien ausbluten lassen. Sie haben dafür gesorgt, dass das Königreich zwar gewinnt, aber so schwach war wie nie zuvor während seiner ganzen Geschichte. Denkt ihr, sie haben uns aus Nächstenliebe geholfen?« Abermals schüttelte Fischer den Kopf. »Nein, sie wollten, dass wir dem Königreich einen Kampf liefern, an dessen Ende wir alle nur verlieren konnten. Und nun sind sie so weit, endlich loszuschlagen. Denkt ihr, es ist gut für uns, wenn das Königreich am Boden liegt? Ich weiß, viele von euch haben sich diesen Moment seit langer Zeit herbeigesehnt, doch das Ende des Königreichs ist zwangsläufig auch das unsere. Ob es euch gefällt oder nicht, aber wir sind mit dem Königreich verbunden.«