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Die Wahrheit über den Zirkel und all jene, die in Wirklichkeit die Fäden ziehen, wurde endlich offenbart. Die Solare Republik fällt unter dem Vorwand, Friedenstruppen zu entsenden, ins von Unruhen erschütterte Königreich ein. Bevor den demoralisierten, zersplitterten Überresten der königlichen Streitkräfte überhaupt bewusst ist, was vor sich geht, sind die meisten bereits entwaffnet, interniert oder auf der Flucht. Nur wenigen gelingt es überhaupt entfernt so etwas wie Widerstand auf die Beine zu stellen. Die feindlichen Truppen besetzen Planet um Planet. Aber noch ist nicht alles verloren. Dexter Blackburn und Admiral Sorenson ist es gelungen, den Kronprinzen vor der eisernen Faust der solarischen Attentäter zu bewahren. Mit ihm als Banner und Gallionsfigur ziehen sie sich gemeinsam mit einigen wenigen Unterstützern zur abgelegenen Grenzwelt Selmondayek zurück, um dort den letzten Widerstand gegen die solarische Aggression zu organisieren. Sie wissen, dies ist vielleicht die einzige Möglichkeit, das Blatt noch zu wenden. Fällt Selmondayek, fällt auch das Königreich …
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Seitenzahl: 516
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Prolog Illusion der Macht
Teil I Gegen jede Vernunft
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Teil II Die Belagerung von Selmondayek
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Teil III Entscheidungen
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Epilog Die Hoffnung erstarkt
Weitere Atlantis-Titel
Montgomery Pendergast, frisch gewählter Präsident der Solaren Republik, hatte Schwierigkeiten, die Stufen zu erkennen, die zum Podium hinaufführten.
Das Pressezentrum innerhalb der präsidialen Residenz in Reykjavik wurde strahlend hell erleuchtet von einem Blitzlichtgewitter aus Hunderten Kameras. Jede Zeitung und Nachrichtensendung, die etwas zählte und auch nur ein wenig auf sich hielt, hatte Vertreter zu der angekündigten Pressekonferenz geschickt. Und es schien, als wollten sie den Sternen am Firmament Konkurrenz machen, wenn man all diese Lichter richtig interpretieren mochte.
Pendergast stellte sich hinter das Podium und zwang sich zu einem Lächeln. Er ließ gönnerhaft den Blick über die Versammlung schweifen, auch wenn er irgendwo anders lieber gewesen wäre als hier. Er verachtete sie – die Presse im Speziellen und die Menschen der Solaren Republik im Allgemeinen. Sie stellten für ihn nur willfährige Werkzeuge dar, mehr nicht. Menschen waren für Pendergast lediglich Stufen auf dem Weg, um seine Ziele zu erreichen.
Er achtete darauf, sein lächelndes Gesicht ständig in bestmöglicher Relation zu den zahlreichen Kameras zu halten. Die Menschen der Republik sollten überzeugt werden, dass ihr Staatsoberhaupt sich keine Sorgen machte. Das würde sich auf die Bevölkerung übertragen, so hoffte er.
Die Pressekonferenz wurde live auf eine Großleinwand vor dem Kapitol und auf einer weiteren vor der präsidialen Residenz übertragen. Vor beiden Gebäuden hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt, die gebannt auf seine Ankündigung wartete. Außerdem saß so gut wie jeder Bürger der Nation gerade vor dem Holo-TV, das wusste er. Die Solare Republik hing buchstäblich an den Lippen des neuen Präsidenten.
Bei dem aufbrandenden Lächeln des Mannes brachen die Massen spontan in Jubel aus. Hätten sie gewusst, welche Gedanken den Mann wirklich in seinem Inneren bewegten, sie wären wohl weit weniger begeistert gewesen. Die Menschen der Solaren Republik zu manipulieren, war schlichtweg zu einfach gewesen. Es hatte Hindernisse auf dem Weg zur Macht gegeben, ja sicher. Aber dennoch war es für seinen Geschmack viel zu simpel abgelaufen, diesen geistlosen Massen etwas vorzumachen. Das hatte dem ganzen Spiel fast die Würze genommen. Und für Pendergast war alles ein Spiel. Das Ärgernis dieser Widerstandsbewegung, die MacTavish aufgebaut hatte, die Skulls, die Liquidierung der königlichen Familie, ja sogar die als humanitäre Aktion getarnte Invasion des Königreichs: All das war für ihn nur ein Spiel. Und er hatte es gewonnen. Niemand vermochte es, ihn jetzt noch aufzuhalten.
Pendergast hob um Ruhe bittend beide Hände. Er konnte die Menschenmenge vor der präsidialen Residenz über einen kleinen Holoschirm verfolgen, den sein Assistent seitlich hatte aufbauen lassen. Die Menge kam langsam zur Ruhe.
Pendergast wurde ernst. »Meine lieben Mitbürger. Eine Zeit großer Veränderungen ist angebrochen. In den letzten Tagen wurde ich mehrfach gefragt: ›Müssen wir uns davor fürchten?‹« Pendergast schlug mit der Faust auf das Podium. »Meine Antwort lautet: Nein, natürlich nicht.« Er räusperte sich, als hätte es sich um einen spontanen Ausbruch gehandelt, den er nun bereute. »Auch andere ernst zu nehmende Fragen haben mich erreicht. Fragen von besorgten Bürgern. Man wollte wissen, was wir im Königreich zu suchen haben. Überlasst die Probleme der Aristokraten den Aristokraten. Warum sollen unsere Soldaten leiden, wenn eine andere Sternennation ihre Probleme nicht in den Griff bekommt? Sollten wir uns nicht da raushalten?« Abermals schüttelte er den Kopf. »Und genau das wäre ein fataler Fehler. Das Königreich wird von Unruhen, von inneren Konflikten, von terroristischen Aktivitäten zerrissen. Nach dem tragischen Tod der königlichen Familie ist unser Nachbar führungslos, sehnt sich nach Orientierung. Die Frage ist nicht, ob wir die Soldaten der Republik dorthin schicken sollten, um zu helfen. Die Frage muss lauten: Wie könnten wir das nicht? Wie lange würde es dauern, bis deren Probleme auf uns überschwappen? Wir haben aus der Ferne erlebt, was Führungsschwäche auslösen kann. Es öffnet Terrorismus und subversiven Elementen Tür und Tor. Aus diesem Grund hatte ich keine andere Wahl, als unsere Streitkräfte in Marsch zu setzen, um einem bedrängten, um Beistand ersuchenden Nachbarn Hilfe zu leisten. Es war ein Akt von Menschlichkeit und Nächstenliebe.«
Der Präsident der Solaren Republik machte eine dramatische Pause, bevor er fortfuhr. »Es ist mir eine große Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass die Aktion ein fast völliger Erfolg war. Die terroristische Vereinigung bekannt als das Konsortium konnte mittlerweile fast vollständig eliminiert werden. Dasselbe gilt für die Köpfe hinter der Verschwörung, den Zirkel. Unsere Streitkräfte sind derzeit dabei, die Ordnung wiederherzustellen.« Er leckte sich leicht über die Lippen. »So viel zu meiner Bekanntgabe. Ich lasse nun ein paar wenige Fragen zu.« Er deutete auf einen der Reporter, von dem er wusste, dass dieser zuvor gebrieft worden war.
Der Mann erhob sich, konsultierte seine Unterlagen und sah zum Präsidenten hoch. »Michael O’Herlihy von der Solar Republic Tribune«, stellte sich der Reporter vor, als ob Pendergast nicht genau wüsste, wen er da aufgerufen hatte.
»Was ist mit der Regierung des Königreichs?«, stellte O’Herlihy die vorher abgesprochene Frage.
Pendergast senkte den Blick, erweckte den Eindruck von Betroffenheit. Für all jene, die ganz genau hinsahen, verdrückte der Präsident sogar eine Krokodilsträne. »Die nach Castor Prime entsandte Flotte kam zu spät, um die beiden Prinzen zu retten. Der Einsatz von Giftgas hat auch uns überrascht. Die Geheimdienste hatten keinerlei Kenntnisse, dass der Gegner über derartige Mittel verfügt. Aber es gelang uns, einen großen Teil des Parlaments des Vereinigten Kolonialen Königreichs zu retten. Sie befinden sich derzeit in Schutzhaft an einem geheimen Ort, bis die Sicherheitslage ihre Rückkehr nach Castor Prime rechtfertigt.« Die meisten von ihnen waren bereits tot – dem Giftgasangriff zum Opfer gefallen. Das verschwieg er natürlich wohlweislich. Andere waren von seinen Todeskommandos zur Strecke gebracht worden. Es gab nur noch wenige Abgeordnete, denen es gelungen war, dem Zugriff zu entkommen und sich zu verstecken. Aber auch ihre Zeit würde kommen.
Offiziell würde das königliche Parlament weiterhin in Schutzhaft verbleiben. Irgendwann würden sie in Vergessenheit geraten und niemand würde noch nach ihnen fragen oder auch nur einen Gedanken an sie verschwenden.
Er nickte dem Reporter großspurig zu. Dieser setzte sich gehorsam. »Nächste Frage«, forderte Pendergast die versammelten Journalisten auf. Dutzende Hände gingen in die Höhe. Der Präsident sah sich um, als würde er nicht schon genau wissen, wen er aufrufen wollte.
In diesem Moment kam es zu einer Abweichung des Protokolls. Ein Reporter, der seitlich am Rand saß, sprang unvermittelt auf und grätschte mit einer tiefen, sonoren Stimme dazwischen. Damit forderte er unbedingte und sofortige Aufmerksamkeit aller Anwesenden.
»Christopfer Rawlins von Earth News Networks«, stellte er sich vor. Pendergasts Lächeln gefror von einer Sekunde zur nächsten. Der Kerl war ihm unbekannt. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Nicht wenn er verhindern wollte, vor der Öffentlichkeit der Republik sein Gesicht zu verlieren. Schließlich waren sie live. Er machte eine kaum wahrnehmbare Geste und pfiff damit die Secret-Service-Agenten, die sich dem unverschämten Kerl bereits näherten, zurück. Pendergast durfte sich jetzt keine Blöße geben. Er nickte dem Mann betont freundlich zu.
»Wie reagieren Sie auf die Kritik sowohl vereinzelter Sternennationen als auch führender Politiker der Solaren Republik, dies handele sich um einen nicht erklärten illegalen Krieg mit dem Ziel, das Königreich zu destabilisieren und dadurch unter Kontrolle zu bringen?«
Pendergast erstarrte. Er war sich spürbar der Aufmerksamkeit aller bewusst. Jeder einzelne Reporter im Raum schien plötzlich den Atem anzuhalten. Sie warteten auf die Reaktion des Präsidenten auf eine Frage, die man bestenfalls als Provokation interpretieren konnte.
Pendergast hätte sich um ein Haar geräuspert. Es gelang ihm, den Laut gerade noch rechtzeitig zu unterdrücken. Man hätte diesen mit Recht als Verlegenheit interpretieren können. Er zwang sich wiederum zu einem Lächeln, sein Blick spießte den Querschießer jedoch auf und versprach umgehende Vergeltung. Der Reporter war sich dessen bewusst. Pendergast vermochte, es in seinen Augen zu erkennen. Dennoch gab der Mann nicht nach.
»Nun«, begann der Präsident. »Es wird immer kritische Stimmen geben. Hätte ich nicht eingegriffen, wären ebenfalls meine politischen Gegner aufgesprungen und würden diese Entscheidung in der Luft zerreißen. Als Präsident der Solaren Republik kann ich lediglich nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Die Entscheidung, ob ich richtig- oder falschlag, überlasse ich der Geschichte. Aber lassen Sie mich Ihnen und den Bürgern dort draußen eines sagen: Es handelt sich hierbei keineswegs um einen Krieg, sondern lediglich um eine Polizeiaktion von begrenztem Umfang und mit begrenztem Mandat. Unsere Streitkräfte werden das Königreich in dem Moment verlassen, in dem ihre Anwesenheit nicht mehr vonnöten ist, um Leben und Eigentum der Menschen vor Ort zu schützen.«
Weitere Hände gingen nach oben, als die Reporter ihre Fragen stellen wollten. »Das wäre alles für heute«, entgegnete Pendergast, der seine miese Laune kaum verhehlen konnte. Er verließ das Podium. Sein Pressesprecher nahm seinen Platz ein und bemühte sich, die Wogen zu glätten.
Hinter der Bühne wurde er von seinem persönlichen Assistenten Peter Mulligan erwartet. Der Mann war ihm wärmstens empfohlen worden. Er besaß ein fast schon natürliches Gespür dafür, Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Kurz gesagt, er war genau die richtige Person für Pendergasts Ambitionen.
Mulligan reichte dem Präsidenten eine Wasserflasche, die ihm dieser aus der Hand riss. Er trank daraus, während Mulligan sich abmühte, die schlechte Laune seines Arbeitgebers zumindest ein wenig abzumildern.
»Das war gar nicht übel«, sagte Mulligan mit unechtem Grinsen.
Pendergast setzte die Wasserflasche ab, wobei er Mulligans makellosen Anzug mit einigen Spritzern benetzte. »Nicht übel ist bei Weitem nicht gut genug.«
Der Präsident setzte sich in Richtung seines Arbeitszimmers in Bewegung und ließ Mulligan kaum eine Wahl, als ihm hektisch hinterherzueilen. »Wer zum Teufel war dieses großspurige Arschloch mit Todessehnsucht?«
»Ein unbedeutender Reporter einer unbedeutenden Nachrichtensendung«, gab Mulligan an.
»ENN kann man wohl kaum als unbedeutend beschreiben«, wehrte Pendergast ab. »Es handelt sich um die wichtigste Nachrichtensendung hier auf der Erde. Was nützt es, Präsident zu sein, wenn ich nicht einmal die Medien kontrollieren kann? Bestellen Sie den Programmdirektor ein. Ich glaube, ich muss mit dem Kerl mal ein paar Takte reden. Falls er seinen Leuten keine Zügel anlegen kann, ich kann es ganz sicher. Das muss ihm klargemacht werden.«
Mulligan machte sich ein paar Notizen auf seinem elektronischen Klemmbrett. Pendergast stürmte an den Secret-Service-Agenten vorbei, die sein Büro bewachten, und öffnete die Tür. Noch im Rahmen, blieb er schlagartig stehen.
Auf seinem Stuhl – dem persönlichen Stuhl des Präsidenten – saß ein Eindringling. Ein äußerst attraktiver und äußerst weiblicher Eindringling.
Die Frau trug ein Kleid, das an der Seite bis zur Hüfte geschlitzt war. Sie rekelte sich auf seinem Stuhl, als wäre es das Natürlichste der Welt. Als würde sie dort hingehören.
Pendergast trat näher. Der Ausschnitt der Frau war verführerisch tief geschnitten und überließ nicht viel der Fantasie. Der Ausblick verfehlte seine Wirkung auf Pendergast keineswegs.
Mulligan aber sah es als seine Pflicht an, die Anwesenheit der Frau als Bedrohung zu betrachten. »Sir«, wandte er sich an den Präsidenten, »soll ich die Agenten hereinrufen?«
Pendergast ließ die Frau keine Sekunde lang aus den Augen, wenn auch aus anderen Gründen als Mulligan. Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Assistenten. »Sie haben drei Sekunden, um mir einen Grund zu liefern, seine Frage mit Nein zu beantworten.«
Die Lippen der Frau verzogen sich zu einem strahlenden Lächeln. Es war schlichtweg hinreißend. »Ich bin keine Bedrohung, Herr Präsident. Im Gegenteil, ich bin Ihre Freundin.«
Pendergast hob eine Augenbraue. »Tatsächlich? Meine Freunde brechen für gewöhnlich nicht bei mir ein.«
»Eingebrochen bin ich keineswegs. Ich habe … bessere Methoden, um zu erreichen, was ich will.«
Pendergast grinste, während sein Blick das entblößte Bein und den Schenkel der Frau auf und ab glitt. »Das glaube ich«, gab er schließlich zu. Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Mulligan, machen Sie die Tür zu. Von außen.«
»Sir?« Sein Assistent schien fassungslos, angesichts dieses Befehls.
»Sie haben mich gehört.« Pendergast verlieh der Forderung Nachdruck, indem seine Stimme jede Emotion verlor. Aus Erfahrung wusste Mulligan, dass es besser war, den Befehlen seines Arbeitgebers Folge zu leisten. Vor allem, wenn er sich in dieser Stimmung befand. Mulligan zog sich zurück und schloss die Tür hinter sich.
»Ich bin in Hörweite«, warf er noch ein, kurz bevor die Tür ins Schloss fiel.
Pendergast schritt um den Schreibtisch und setzte sich auf die Kante. Wie selbstverständlich legte er seine Hand auf das Knie der Frau.
»Und Ihr Name ist …?«
»Deveraux«, erwiderte die Frau. »Cassandra Deveraux. Eine ehemalige Mitarbeiterin des verstorbenen Tucker Dawson.«
»Gehört habe ich schon von Ihnen. Sie waren seine Angestellte … und mehr.« Sein Gesicht zeigte nun ein anzügliches Lächeln.
Cassandra ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. »Ich bin das, was meine Auftraggeber für notwendig halten.« Sie fing an, mit einer Hand an den Hemdknöpfen Pendergasts zu spielen. »Ich hörte, Sie suchen bereits nach mir.«
»Allerdings.« Pendergast entschied, ganz offen zu sein. Es schien ohnehin sinnlos, vor dieser Frau etwas zu verbergen. Sie würde bereits wissen, wie seine Befehle ihre Person bezüglich lauteten. »Meine Männer sind gerade dabei, Tucker Dawsons Altlasten zu beseitigen.« Er schnalzte mit der Zunge. »So leid es mir tut, aber dazu zähle ich im Moment auch Sie.«
Sie kicherte leise. »Man hat mich schon vieles genannt, aber eine Altlast noch nie. Das ist neu. Sie sah zu ihm auf. Es ist vollkommen unnötig, mich umbringen zu lassen.« Sie leckte sich über die Lippen. »Es könnte so viel … befriedigender sein, mich als Freundin zu haben.« Sie öffnete einen seiner Knöpfe und begann mit den Brusthaaren darunter zu spielen. »Und ich kann eine wirklich engagierte Freundin sein.«
»Daran habe ich nicht den Hauch eines Zweifels«, erwiderte der Präsident, wobei er langsam Erregung in sich aufsteigen spürte. Das entging auch nicht der Frau auf seinem Stuhl und ihre Augen blitzten amüsiert auf.
»Sie wissen, mit welcher Aufgabe mich der so unschön aus dem Leben gerissene Tucker Dawson vor seinem Ableben betraut hat?«, wechselte sie auf einmal das Thema.
Pendergast stutzte. »Ja, das ist mir bekannt. Ich meine, in Dawsons geheimen Dateien darüber gelesen zu haben.«
»Lassen Sie mich meine Aufgabe weiterführen. Ich verspreche, Sie werden es nicht bereuen. Es könnte sich als strategischer Vorteil erweisen. Immerhin haben Sie immer noch Probleme mit den Skulls.«
»Vorübergehend.«
»Täuschen Sie sich nicht. Dieses Söldnergeschmeiß hat die Angewohnheit, dort aufzutauchen, wo es nichts zu suchen hat, und sich in Dinge einzumischen, die es nichts angeht. Belassen Sie mich auf meinem Posten, lassen Sie mich meine Aufgabe weiterführen und ich werde im richtigen Augenblick für Sie da sein.«
Das war ein verführerisches Angebot. Von der Seite hatte er es noch nie betrachtet. Cassandra hatte recht. Es konnte nicht schaden, einen Agenten vor Ort zu haben, der die Dinge im Auge behielt und handelte, falls es notwendig wurde.
Außerdem befand sich dieses verschlagene kleine Miststück bereits nah bei ihrem Ziel, während er selbst erst jemanden platzieren müsste. Es wäre dumm, das Angebot nicht anzunehmen. Falls sie versagte, konnte er sie immer noch in irgendeinem Straßengraben entsorgen.
»Na schön. Ich gebe Ihnen eine Chance, sich als nützlich zu erweisen. Ich pfeife meine Leute zurück. Sie gehören damit fortan zu meinem Team. Dem Team Pendergast.« Abermals grinste er. »Dem Gewinnerteam.«
»Wie erfreulich«, gurrte sie. »Und wie besiegeln wir unser neues Arbeitsverhältnis jetzt?«
Pendergast betätigte die Gegensprechanlage. »Mulligan?«
»Herr Präsident?«, erfolgte die durch das Gerät stumpf klingende Stimme seines Assistenten. Sie wirkte voller Vorfreude. Der Mann glaubte, Pendergast weise ihn nun an, die Frau kurzerhand hinauszubefördern. Die Wahrheit konnte nicht weiter entfernt liegen. »Ich will vorläufig nicht gestört werden«, wies er den Mann an und kappte die Verbindung, bevor sein Assistent die Gelegenheit erhielt, etwas zu entgegnen.
Pendergast beugte sich vor. »Ich glaube, da fällt uns was ein, Cassie«, erwiderte er auf ihre vorige Frage, während seine Hand langsam den Oberschenkel der Frau hinaufrutschte.
Dexter Blackburn hatte nie zuvor eine solche Grabesstimmung erlebt. Selbst eine Beerdigung hätte im Vergleich zu dieser Versammlung wie eine Freudenfeier gewirkt. Er musste aber zugeben, dass die neuesten Nachrichten kaum Veranlassung zur Euphorie boten.
Außer ihm selbst, Oscar Sorenson und Dimitri Sokolow befanden sich noch Melanie St. John sowie Clayton Redburn – Spitzname Red – im Besprechungsraum der Normandy. Außerdem war auch Angel im Raum. Sie stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen hinter Dexters Stuhl. Der Griff ihres Katana ragte über die rechte, der Kolben ihres Sturmgewehrs über die linke Schulter. Obwohl die Attentäterin ihre Maske nicht trug, verbreitete sie eine ernste Aura.
Sorenson hätte beinahe versucht, sie des Raumes zu verweisen, da sie keine offizielle Funktion im Widerstand gegen die solare Aggression innehatte. Nur das Wissen, dass in einem solchen Fall Blut geflossen wäre – allen voran sein eigenes –, hatte ihn davon Abstand nehmen lassen.
Dexters Vater hatte Angel mit seinen letzten Worten angewiesen, seinen Sohn zu beschützen. Und die treue Kämpferin nahm diesen Befehl aus dem Mund ihres ehemaligen Geliebten äußerst ernst. Dexter beneidete niemanden, der versuchte, an ihrem Schwert vorbeizukommen, um ihm Schaden zuzufügen.
Das gewaltige Schlachtschiff der Medusa-Klasse schwebte majestätisch über der versteckten Basis auf Bantor und überwachte mit ihrem umfangreichen Waffenarsenal die Evakuierung. Nun, nachdem die solare Republik fast das ganze Königreich überrannt hatte, war unter Umständen auch Bantor kompromittiert. Sie mussten sich genau überlegen, wohin sie sich wandten. Jede Flugrichtung konnte sie ins Verderben führen.
Sokolows Piratenflottille sicherte das äußere System, während der klägliche Rest, der von den Skull-Raumverbänden übrig war, den Planeten schützte. Es waren wenig genug.
Niemand im Raum sagte ein Wort. Sie alle starrten lediglich mit verdrießlicher Miene auf die Holoaufzeichnung, die dreißig Zentimeter über den Tisch projiziert wurde. Sie zeigte eine Gruppe von etwas mehr als dreißig königlichen Schiffen, die eine einzelne, verblüffend schwer bewaffnete und gut ausgerüstete Jacht in ihrer Mitte schützte. Der Verband trachtete danach, die sprungfähigen Lagrange-Punkte in einem der äußeren Systeme zu erreichen.
Aber es gelang ihnen nicht. Die verfolgenden Konsortiums-Schiffe holten sie ein und es entbrannte eine hitzige Schlacht. Sobald dem Verbandskommandanten klar wurde, dass ein Entkommen unmöglich wurde, ließ er seine Schiffe beidrehen und sich dem Gegner stellen. Die Jacht hingegen hielt weiterhin auf die Lagrange-Punkte zu.
Die Absicht der royalen Besatzungen war klar. Sie opferten sich für ihren Schützling. Der VIP an Bord der Jacht war den Offizieren und Mannschaften dieser Schiffe derart wichtig, dass sie ohne Zögern und ohne Bedenken ihr eigenes Leben in die Waagschale warfen, um der Jacht kostbare Augenblicke zu schenken.
Der Kampf dauerte nicht lange. Das Konsortium war gut drei zu eins in der Überzahl. Die königlichen Besatzungen wehrten sich tapfer und schossen fast die Hälfte der feindlichen Schiffe zusammen, im Gegenzug wurden sie jedoch gnadenlos überwältigt. Keines der royalen Schiffe ergab sich. Und das Konsortium schien nicht bereit, eine Kapitulation auch nur in Erwägung zu ziehen.
Nach der Zerstörung des letzten Schiffes der Colonial Royal Navy, zogen die überlebenden Konsortiums-Schiffe weiter, ihrer Beute hinterher.
Die Jacht war schnell, für ein Schiff dieser Größe und Klasse sogar außergewöhnlich schnell. Die Verfolger entsandten jedoch ihre Fregatten, die die Jacht in Rekordzeit einholten und ihr den Weg abschnitten. Das kleine Schiff musste notgedrungen die Geschwindigkeit verringern. Die Besatzung des fliehenden Schiffes verhielt sich überaus furchtlos. Sie zerstörte vier feindliche Fregatten. Der Plan des Gegners ging allerdings auf. Dem Konsortium gelang es, die Jacht lange genug aufzuhalten, damit die schweren Schiffe aufholen konnten.
Sobald drei der verfolgenden Kreuzer nah genug waren, um das Feuer zu eröffnen, verwandelten sie die Jacht in eine sich ausbreitende Trümmerwolke. Nach getanem Zerstörungswerk zogen die Konsortiums-Schiffe weiter und steuerten die sprungfähigen Lagrange-Punkte des Systems an.
Melanie hielt die Aufzeichnung an. Die abziehenden Konsortiums-Schiffe verharrten in der Luft. Im Hintergrund waren Sterne und andere stellare Objekte als Referenzpunkte ersichtlich.
Dexter sah sich der Reihe nach um. Er beugte sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und seufzte. »Wir sehen uns die Aufzeichnung jetzt schon zum vierten Mal an und sie wird mit jeder Wiederholung deprimierender.«
Sorenson nickte. »Können wir wirklich sicher sein, dass das da«, er deutete auf die Aufzeichnung im Stand-by-Modus, »echt ist? War die Königin wirklich an Bord dieser Jacht? Vielleicht ist es nur Propaganda.« Der Tonfall des Admirals wirkte, als würde sich der Mann von etwas überzeugen wollen, an das er selbst keine Sekunde glaubte.
Melanie St. John leckte sich leicht über die Unterlippe. Die Geheimdienstanalystin zögerte, bevor sie antwortete. »Nun, das sind zwei Fragen, die ich leider auch separat beantworten muss.« Auch sie seufzte. »Ich gehe zuerst auf die zweite Frage ein. Ja, Königin Samantha war tatsächlich an Bord dieser Jacht. Das wurde uns von mehreren unabhängigen Stellen inzwischen bestätigt.« Ihre Schultern sackten ein Stück weit ab. »Die Königin ist tot. Damit ist Prinz Calvin der letzte Überlebende der königlichen Familie. Sie wurden allesamt gejagt und zur Strecke gebracht. Die Königin und ihr Geleitschutz waren auf dem Weg ins Triumvirat, um dort politisches Asyl zu beantragen.« Beim Triumvirat handelte es sich um eine kleine, aber sehr wohlhabende Sternennation. Sie bestand aus lediglich drei Systemen und befand sich an der linken Flanke des Königreichs. Melanie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Auf dem abschließenden Streckenabschnitt, kurz vor dem letzten Sprung, gerieten sie in einen Hinterhalt und der komplette Geleitzug ging verloren. Das ist Fakt.«
Köpfe wurden am Tisch gesenkt. Sorenson sprach ein kurzes Gebet für die Königin. Der Admiral sah auf. »Und die erste Frage?«
Melanie zögerte erneut. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und klopfte mit den Fingerspitzen beider Hände auf die Tischplatte, ehe sie zur nächsten Erklärung ansetzte. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Aufzeichnung. »Das, was wir da sehen, ist trotzdem eine Fälschung.«
Dexter riss die Augen auf. Mit seiner Überraschung stand er nicht allein da. Kollektives Keuchen machte am Tisch die Runde. »Wie meinst du das? Ich dachte, der Tod der Königin wurde bestätigt«, wollte Dexter wissen.
Melanie räusperte sich. »Das ist der Fall. Aber ich habe ernste Zweifel, ob das Konsortium dafür verantwortlich ist. Wir wissen mit fast absoluter Bestimmtheit, dass sich in einem Umkreis von fünf Parsec um den Standort der Königin keine Konsortiums-Einheiten aufhielten. Wohl aber Verbände der Solaren Republik.«
Sorenson stieß einen wüsten Fluch aus. »Also waren es Schiffe der Solarier, die das da angerichtet haben.« Er deutete auf die Holoaufzeichnung.
»Davon gehe ich in der Tat aus«, gab Melanie zurück. »Es wäre ein Leichtes für die Techniker der Republik, ihre eigenen Einheitsmarkierungen und Schiffslackierungen zu entfernen und durch die des Konsortiums zu ersetzen.« Sie nahm einige Einstellungen vor und vergrößerte einen der angreifenden Zerstörer. »Der hier zum Beispiel. Das ist ein Zerstörer der Minotaurus-Klasse. Ein Schiffstyp, den die Solarier erst vor gut zwei Jahren in Dienst gestellt haben. Wie sollte eine Söldnereinheit an ein derart modernes Schiff kommen? Das Konsortium verwendete in der Mehrzahl ältere, in manchen Fällen schon ausrangierte Schiffstypen.«
Der Admiral studierte den vergrößerten Zerstörer eingehend. Auch die Markierungen des Konsortiums unterzog Sorenson einer eingehenden Begutachtung. Schließlich nickte er. »Können wir das irgendwie nutzen? Eine Art Gegenpropaganda aufbauen zum Beispiel?«
Melanie schüttelte bedauernd den Kopf. »Schöne Idee. Kam mir zuerst auch in den Sinn. Aber ich wüsste nicht, wie. Ein Erfolg wäre mehr als zweifelhaft. Wir haben nur eine Theorie und keinerlei schlüssige Beweise.« Sie rümpfte die Nase. »Die Fälschung ist zweifelsohne gut, aber weniger erwarte ich auch nicht von einer Nation mit den technischen Möglichkeiten der Republik. Wer würde uns glauben? Außerdem fehlt uns momentan die Möglichkeit, eine entsprechende Veröffentlichung auch in adäquatem Umfang zu verbreiten, während die Aufzeichnung, in der das Konsortium die Königin jagt und tötet, von den Solariern praktisch die ganze Zeit über sämtliche Sender ausgestrahlt wird. Für einen Großteil der Bevölkerung, sowohl im Königreich als auch in der Republik, sind Konsortium und Zirkel die eigentlich Schuldigen am Zustand vieler royalen Welten und am Sturz des Königshauses. Uns kommen Berichte zu Ohren, dass vielerorts die solarischen Truppen ohne Widerstand, ja sogar mit Jubel empfangen werden.«
»Verdammte Verräter!«, zischte Oscar.
»Es sind keine Verräter«, ging Dexter sofort dazwischen. »Die Leute sind einfach kriegsmüde. Und wer könnte es ihnen schon verdenken? Nach fast zwanzig Jahren Bürgerkrieg, dann die Kämpfe unter den Söldnereinheiten, die Terrorwelle des Konsortiums und der Mord an der königlichen Familie. Die Menschen wollen einfach nur noch, dass all das aufhört. Und es kümmert sie nicht, wer dafür sorgt. Die Republik verspricht Sicherheit.«
Sorenson schüttelte den Kopf. »Sie versprechen keine Sicherheit, sie versprechen Ordnung. Das ist etwas komplett anderes. Und wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren«, zitierte er Benjamin Franklin.
»Das ist ziemlich überheblich. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen im Stich gelassen wurden. Von uns allen. Sie fühlen sich allein und verloren. Ist es da ein Wunder, dass sich die Bürger an denjenigen wenden, der ihnen Hoffnung verspricht?«
Der Admiral besaß den Anstand zu erröten und wandte den Blick ab. Dexter mäßigte sich selbst. Seine eigene Unruhe drohte ihn zu übermannen. Er warf Melanie einen eindringlichen Blick zu. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Solarier überall ohne Widerstand einmarschieren. Was ist mit der CRN oder der CRA?«
Melanie zuckte die Achseln. »Navy und Army sind nach den Terroranschlägen und der solarischen Invasion in einem desolaten Zustand. Es gab tatsächlich Widerstand und es gibt ihn noch. Aber ohne Nachschub, Verstärkung und übergeordnete Strategie des nicht mehr existierenden Oberkommandos haben viele Einheiten nach anfänglichen Kämpfen kapituliert. Einige haben sich erst ergeben, als ihnen Munition und Nahrung ausgingen. Die Solarier haben sie interniert. Zu ihrer eigenen Sicherheit, wie es hieß.« Die letzten Worte wurden von Melanie in abfälligem Tonfall ausgesprochen. Jeder wusste, wie man eine solche Aussage zu bewerten hatte. »Andere Einheiten von Flotte und Bodenstreitkräften gingen in den Untergrund und verstecken sich. Die Solarier jagen alle immer noch bewaffneten Soldaten. Sie töten oder verhaften sie, wo immer die Kerle ihrer habhaft werden. Es gibt Gerüchte, dass es einige Verbände geschafft haben, das Gebiet des Königreichs zu verlassen, bevor die Grenzen dichtgemacht wurden. Sie verstecken sich anscheinend in den unbewohnten Sektoren jenseits des königlichen Raumes. Aber wie die Dinge stehen, haben wir keine Möglichkeit, sie zu kontaktieren oder ernsthaften Widerstand zu formen.«
Dexter rieb sich über die Stirn. »So schlimm steht es also?« Er schüttelte den Kopf. »In meinen schrecklichsten Albträumen hätte ich mir das nicht ausmalen können.«
»Tatsächlich ist Lowby das einzige System, das den Solariern wirklich noch Widerstand entgegenbringt, der diese Bezeichnung verdient. Nachdem ein Anschlag des Konsortiums die dortigen Admiräle ausgeschaltet hat, führt nun Devonshire das Kommando und er hält stand. Die Frage ist: wie lange noch? Die Invasoren haben eine totale Nachrichtensperre verhängt und starke Störsender in Position gebracht. Keine Informationen kommen raus und keine rein. Devonshire muss inzwischen annehmen, er stünde allein.«
»Im Moment können wir nichts für ihn tun«, meinte Sorenson. »Alles, was uns bleibt, ist zu hoffen, dass er noch eine Weile länger durchhält.«
»Das bringt uns zur Frage, was wir jetzt tun und wohin wir uns wenden«, mischte sich Sokolow zum ersten Mal ein.
Betretenes Schweigen antwortete. Die anwesenden Männer und Frauen warfen sich Blicke zu, in der Hoffnung, jemand möge eine Idee äußern.
»Ich hätte da vielleicht etwas«, warf Melanie St. John zögerlich ein. Ihre Bemerkung weckte Erwartungen in den Offizieren. »Ich weiß allerdings nicht, ob die Idee bei allen gut ankommt«, gab sie zu.
»Lassen Sie hören, Major«, forderte der Admiral sie auf. »Eine schlechte Idee ist mehr, als jeder andere von uns zu bieten hat.«
Melanie ließ noch ein paar Sekunden verstreichen, bevor sie zum Punkt kam. »Die Solarier kommen nicht bei allen gut an. Einige durchschauen diese Friedensinitiative als das, was sie in Wirklichkeit ist: eine als humanitäre Aktion getarnte Invasion des Königreiches. Unsere republikanischen Freunde haben auf den besetzten Welten bereits damit begonnen, kritische Stimmen zu unterdrücken, indem sie insgeheim mit Verhaftungen abweichender Journalisten, Oppositioneller und lokaler Politiker begonnen haben. Der von uns abgehörte Funkverkehr deutet an, dass sich Flüchtlinge auf den Weg gemacht haben, um dem Einfluss der Solarier zu entgehen. Sie haben allesamt Kurs auf Selmondayek genommen.«
»Warum denn auf diesen Dreckklumpen? Niemand interessiert sich für Selmondayek«, warf Sokolow ein.
»Genau deswegen«, entgegnete Dexter, bevor Melanie etwas Entsprechendes sagen konnte. »Selmondayek ist der vom Zentrum des Königreiches am weitesten entfernte Planet. Ohne Bodenschätze oder strategischen Nutzen.«
»Genauso ist es«, stimmte Melanie zu. »Er ist so unwichtig, dass sich noch nicht mal die Solarier die Mühe gemacht haben, ihn einzunehmen. Noch nicht. Vermutlich sind sie derzeit damit beschäftigt, die Kernwelten zu befrieden, und denken, sie hätten ausreichend Zeit, sich mit Selmondayek zu befassen.«
Sorenson schüttelte den Kopf. »Aber was nützt uns eine Welt voller Flüchtlinge? Sobald die Solarier die Zeit finden, werden sie sich auch um dieses System kümmern. Wenn wir dorthin fliegen, dann sitzen wir in der Falle.«
»Flüchtlinge sind nicht die Einzigen auf dem Weg dorthin«, erwiderte Melanie mit blitzenden Augen. »Jedes Schiff und jeder Soldat, der nicht tot, gefangen oder untergetaucht ist, fliegt in diesem Moment nach Selmondayek. Dort sammeln sich die Überreste der königlichen Streitkräfte.«
»Natürlich tun sie das«, mischte sich Sokolow abermals ein. »Es ist der einzige Ort, an den sie noch gehen können. Aber wir dürfen nicht vergessen, es handelt sich um eine geschlagene, auf dem Rückzug befindliche Armee. Zerschlagen, demoralisiert, desillusioniert. Ich rate dringendst davon ab, diesen Weg zu beschreiten. Mit denen ist nicht mehr viel los. Die Solarier haben mit ihnen den Boden aufgewischt, und jedem einzelnen Matrosen und jedem einzelnen Soldaten ist dies schmerzlich bewusst. Eine Streitmacht nach einem solchen Fiasko wieder aufzubauen, benötigt Geduld, Ressourcen und eine sichere Rückzugsbasis. Drei Dinge, von denen das Königreich derzeit nur träumen kann. Diese Soldaten fliehen nach Selmondayek in dem Wissen, dass sie dort alle sterben werden. Die einzige Alternative bestünde in der Kapitulation. Und alle, die dorthin fliegen, haben diese Option für sich persönlich bereits ausgeschlossen, sonst wären sie diesen Weg schon gegangen. Die haben Glück, dass die Solarier derzeit mit wichtigeren Dingen beschäftigt sind. Sobald sie die Zeit finden, sich dem Problem anzunehmen, verwandelt sich Selmondayek in ein Massengrab.«
Dexter schnaubte. »Sie haben wirklich eine Art an sich, einen richtig runterzuziehen.« Er verzog das Gesicht zu einem ironischen Grinsen. »Sie sollten Grußkarten verfassen.«
»Aber er hat recht«, erhob Angel verblüffend die Stimme. »Selmondayek wird einem solarischen Angriff nicht standhalten können. Einerlei, wie viele Schiffe und Truppen sich dort sammeln, sie werden der Republik lediglich für Zielübungen herhalten.« Angels Gesicht verlor alle Farbe. »Vor allem, wenn sie Sheppard schicken.«
Sorenson merkte auf. »Das war der Offizier, der den Angriff auf Castor Prime geführt hat. Kennen Sie ihn persönlich?«
Angel schüttelte den Kopf. »Ich habe schon von ihm gehört und das reicht mir, um nach Möglichkeit einen großen Bogen um den Mann zu machen. Großadmiral Gale Sheppard ist der beste Mann, den sie haben. Man sagt, er sei ebenso ehrgeizig wie brillant. Den letzten Krieg, den er im Namen der Solaren Republik geführt hat, überlebten zwei Sternennationen nicht. Als Sheppard mit ihnen fertig war und sich zurückzog, kamen die Hyänen aus der Nachbarschaft und teilten deren Gebiete unter sich auf. Glauben Sie mir, mit dem wollen Sie sich nicht anlegen.«
»Wir haben uns schon einmal mit ihm angelegt«, gab Sorenson zu bedenken.
Angels Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. »Und Sie sind nur knapp mit dem Leben davongekommen. Vergessen Sie nicht, Sheppard hat die Heimatflotte vernichtet. Die stärkste mobile Kampfeinheit des Königreichs – und der Großadmiral löschte sie an nur einem Tag aus. Was, glauben Sie, wird er mit Selmondayek machen? Wenn Pendergast auch nur einen Funken Verstand hat, dann wird er Sheppard dorthin schicken. Schon allein, um die Sache endlich zu einem Ende zu bringen. Auf Selmondayek werden die Hoffnungen des Königreiches endgültig und für immer unter Tonnen von Asche begraben.«
Dexter sah auf. »Dann müssen wir genau dorthin, und zwar aus genau diesem Grund.«
Angel kniff die Augen zusammen. »Hast du mir nicht zugehört?«
»Das habe ich allerdings. Er ist gefährlich. Kapiert.«
»Gefährlich trifft es nicht einmal ansatzweise.«
»Aber wenn sich in diesem System umfangreiche Kontingente des Militärs sammeln, dann müssen wir auch dorthin. Wir haben den Thronfolger des Vereinigten Kolonialen Königreichs auf diesem Schiff. Und der designierte König braucht eine Armee und eine Flotte. Völlig egal, in welchem Zustand sich diese befindet, aber er muss an die Spitze des Militärs. Und vor allem muss man ihn sehen. Auch wenn seine Präsenz vorläufig nur auf Selmondayek beschränkt bleibt, aber man muss ihn zumindest vor Ort sehen. Man muss sehen, dass er noch lebt. Dass er die Zügel in die Hand nimmt. Dass er sich darum bemüht, das Ruder noch herumzureißen. Wenn die Menschen sehen, dass er sich für sie einsetzt, dann werden sich diese auch für ihn einsetzen.«
»Ziemlich vage Hoffnung«, kommentierte Sokolow.
Sorenson fixierte Dexter mit finsterem Blick. »Verstehe ich das richtig? Du willst unseren Thronfolger an den wahrscheinlich gefährlichsten Ort des besiedelten Weltraums bringen, an dem wir vermutlich bald eingekesselt sein werden? Die Solarier müssen nur die Lagrange-Punkte kontrollieren, um alle Menschen, die sich im System befinden, von der Außenwelt abzuschneiden.«
»Genau das ist mein Plan«, nickte Dexter. Seine Euphorie ließ merklich nach, als ihm selbst bewusst wurde, welche Tragweite seine eigenen Ausführungen besaßen. Dennoch stand er immer noch dazu. »Welche Wahl haben wir denn?«, fuhr Dexter fort. »Wenn wir nicht nach Selmondayek fliegen, können wir uns genauso gut eine bequeme Ecke in irgendeiner Sternennation suchen und aufgeben.«
»Das wäre vielleicht gar keine schlechte Idee«, bemerkte Melanie. »Wir könnten um Asyl bitten. Im Triumvirat zum Beispiel. Der Prinz wäre in der Lage, dort eine Exilregierung aufzubauen. Königin Samantha kam auf dieselbe Idee.«
Dexter begegnete dem Blick des Admirals mit Gleichmut, während die Geheimdienstoffizierin Stellung dazu nahm.
Sorenson und Sokolow schüttelten unisono den Kopf. »Ich kenne keinen dokumentierten Fall, in dem eine Exilregierung schon mal einen Krieg gewonnen oder halbwegs stabile Reformen durchgesetzt hätte«, gab Sorenson zurück. »Du etwa?«
Dexter hielt dem Blick des Admirals für ein paar Sekunden stand, dann schlug er die Augen nieder und schüttelte den Kopf. »Admiral Sorenson hat leider recht. Wenn der Prinz den Raum des Königreiches verlässt, ist es vorbei. Niemand wird ihm mehr trauen. Das Stigma des Feiglings wird ihn für den Rest seines Lebens verfolgen. Selmondayek ist aber der einzige Ort, an dem wir ihm halbwegs Schutz bieten können. Wenn wir weiterhin im offenen Raum bleiben, werden uns die Solarier irgendwann aufspüren und erledigen.«
»Und darum willst du unbedingt in die Höhle des Löwen fliegen? Wollen wir es denn den verdammten Solariern noch einfacher machen?«
Dexter ließ sich das Gesagte kurz durch den Kopf gehen, schob dann den Stuhl zurück und erhob sich. »Wir können, so viel wir wollen, dieses Thema durchkauen, aber das ist alles nicht unsere Entscheidung. Gekrönt oder nicht, Prinz Calvin ist der Souverän. Er entscheidet, wohin wir fliegen. Wir alle sind ihm zur Loyalität verpflichtet.«
Sokolow sah grinsend auf und räusperte sich übertrieben. Dexter verdrehte die Augen. »Ja, außer Ihnen natürlich.«
»Vielen Dank«, antwortete der Piratenkapitän sarkastisch.
Dexter drehte sich um und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
»Und wo gehst du jetzt hin?«, wollte Sorenson wissen.
»An den einzigen Ort, der jetzt etwas zählt. Ich gehe zum Prinzen und werde ihn fragen.«
Prinz Calvins Quartier befand sich in einem für VIPs reservierten Bereich auf Deck acht der Normandy. Es wurde rund um die Uhr von vier Marines in voller Kampfausrüstung bewacht. Die Überreste der von Castor Prime gemeinsam mit dem Prinzen geretteten Palastwache befanden sich auf demselben Deck. Sie weigerten sich, die Seite ihres Herrn und zukünftigen Königs zu verlassen.
Als Dexter um die Ecke bog, war er aber überrascht, Admiral Simon Lord Connors vorzufinden, der lautstark mit dem befehlshabenden Corporal der Wacheinheit diskutierte. Zwei Soldaten der Palastwache standen unweit der Auseinandersetzung und verfolgten diese kopfschüttelnd.
Der Admiral hatte sich vor dem Marine aufgebaut und bemühte sich nach Kräften, diesem zu drohen. Dass der Geheimdienstoffizier keinen offiziellen Rang bei den Skulls bekleidete und darüber hinaus die blutverschmierte, verschmutzte und zerrissene Ausgehuniform trug, die er während den Krönungsfeierlichkeiten angehabt hatte, förderte nicht unbedingt seine Autorität gegenüber den vier Soldaten.
»Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?«, fragte er ein weiteres Mal drängend den Corporal. »Ist Ihnen das überhaupt klar?« Connors musste sich auf die Zehen stellen, um dem Mann halbwegs in die Augen sehen zu können.
Der Corporal bemühte sich um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck. Dennoch überkam Dexter der Eindruck, sowohl der Unteroffizier wie auch seine drei Untergebenen standen kurz vor einem ausgeprägten Lachanfall.
»Ja natürlich weiß ich, wer Sie sind, Eure Lordschaft«, erwiderte der Corporal süffisant, den militärischen Rang Connors’ ignorierend. »Aber auf Befehl Admiral Sorensons wird niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis zum Prinzen vorgelassen.«
»Lassen Sie mich raten, eine solche Erlaubnis bekomme ich nur von Sorenson persönlich.«
Der Corporal neigte bestätigend den Kopf. Nun teilten sich seine Lippen zu einem breiten, fast schon provokanten Grinsen. Hätte Dexter es nicht besser gewusst, er wäre zu der Meinung gelangt, der Marine wollte den Admiral zu einer unbedachten Handlung provozieren. In diesem Fall dürfte der Mann vollkommen legitim zum Einsatz nichttödlicher Gewalt greifen.
Der Royal Intelligence Service war sowohl beim Militär des Königreichs wie auch in weiten Teilen der Bevölkerung nicht besonders beliebt. Es gab sogar Menschen, die nannten den Geheimdienst hinter vorgehaltener Hand eine Geheimpolizei.
Und da der RIS offensichtlich unterwandert worden war und Teile des Geheimdienstes sowohl den Staatsstreich des Konsortiums wie auch den Angriff der Solaren Republik zumindest stillschweigend gebilligt, wenn nicht sogar begünstigt hatten, war von Sorenson der Befehl ergangen, niemanden – besonders nicht Connors – zum Prinzen vorzulassen.
Insgeheim glaubte Dexter keinen Moment daran, dass der Admiral an der Verschwörung zum Sturz des Königreichs beteiligt gewesen war. Der Mann hatte sein Leben riskiert, um den Prinzen aus der Gefahrenzone zu bringen, als bereits alles verloren gewesen war. Da aber gerade Connors die Skulls in der Vergangenheit regelrecht benutzt und sie als persönliche Schlägertruppe eingesetzt hatte, empfand Dexter auch kein Mitleid dabei, wenn Sorenson ihn mal ein wenig hängen ließ. Es würde die Zeit kommen, in der Connors ihnen nützlich sein konnte. Und bis dahin würde er vielleicht ein wenig umgänglicher werden, wenn man sein Ego … nun ja … auf ein erträgliches Maß zurechtstutzte.
Außerdem war Prinz Calvin – abgesehen von ein paar Parlamentsabgeordneten – alles, was von der Regierung des Vereinigten Kolonialen Königreichs noch übrig war. Daher musste er unter allen Umständen geschützt werden.
Dexter blieb in wenigen Metern Abstand zu den beiden streitenden Männern stehen und begutachtete Connors mit gerümpfter Nase von oben bis unten.
»Admiral? Hat man Ihnen denn noch keine frische Kleidung gebracht? Wir sind schon ein paar Tage unterwegs und Sie tragen immer noch dasselbe wie auf Castor Prime.«
Connors glitt zurück auf seine Fersen, wodurch der Corporal mit einem Mal einen guten Kopf größer war als der Geheimdienstchef. Dies war nicht dazu angetan, dessen Laune in besonderem Umfang zu verbessern.
»Nein, noch nicht«, gab Connors verbissen zurück. »Im Moment habe ich auch wirklich wichtigere Dinge im Kopf als meine Garderobe.« Er musterte den vor ihm stehenden Corporal auf übertriebene Weise. »Ich versuche momentan, diesem … diesem Kretin klarzumachen, dass Sorensons Anweisung bestimmt nicht für mich gelten.«
Bei dem Wort Kretin baute sich der Corporal breitbeinig vor dem Admiral auf und stemmte seine Fäuste in die Hüften. Dem Mann war durchaus klar, dass man ihn gerade beleidigt hatte, und er schien geneigt, dies entsprechend zu vergelten.
»Der Mann führt nur Befehle aus«, gab Dexter zur Antwort. »Das sollten Sie sich vor Augen führen, bevor Sie ihn das nächste Mal anschnauzen.« Er grinste. »Im Übrigen könnte der Mann sie ungespitzt in den Boden rammen. Das sollten Sie bei der Wahl Ihrer Worte nie vergessen. Guten Tag, Sir!«
Ohne auf einen Kommentar zu warten, schlenderte Dexter sowohl an dem verblüfften Admiral wie auch dem immer noch grinsenden Corporal vorbei. Die Marines ließen Dexter problemlos passieren. Sorensons Anweisungen galten nicht für ihn. Als sich die Tür hinter ihm schloss, vernahm er abermals die aufdringliche Stimme des Geheimdienstchefs, der weiterhin Einlass verlangte. Dexters Privilegien schienen ihn nur noch mehr anzustacheln.
Dexter seufzte leicht auf und blendete das Streitgespräch vor der Tür innerlich aus. Er blieb im Eingang stehen. Das Quartier des Prinzen war nur spärlich beleuchtet. Außerdem war es viel zu warm. Dexter streckte die Hand nach dem Paneel aus, mit dem die Umweltkontrollen eingestellt wurden.
»Bitte nicht«, kam eine gedämpfte Aufforderung aus den Tiefen des Raumes. Dexter hielt mitten in der Bewegung inne. Er trat einen Schritt vor.
»Königliche Hoheit?«
Eine Gestalt saß regungslos auf dem Bett. Erst nach einem fast ewig scheinenden Moment hob sie den Kopf.
»Commodore Dexter Blackburn, nicht wahr?«
»So ist es, Eure Hoheit. Darf ich näher treten?«
Die Gestalt regte sich derart lange nicht auf Dexters Frage, dass dieser schon annahm, seine Worte wären überhört worden. Doch schließlich nickte der Prinz und Dexter bewegte sich auf das Bett zu.
Er musste sich zusammenreißen, um keine Reaktion auf den Anblick des jungen Adligen zu zeigen. Prinz Calvin bot ein wahrlich mitleiderregendes Erscheinungsbild. Das Haar war zerzaust, unordentlich und sollte dringend mal gewaschen werden. Das Gesicht des Prinzen war rot und verquollen. Dexter fragte sich, ob dieser seit seiner Rettung eigentlich nur am Weinen war. Außerdem war sein Gegenüber verschwitzt. Auch sollte dringend mal das Laken des Bettes gewechselt werden, von der Kleidung des Prinzen ganz zu schweigen.
Dexter ging etwas in die Knie, um dem Prinzen ins Gesicht sehen zu können. Dessen Blick haftete unentwegt auf dem Boden. Es schien, als hätte ihn jeglicher Lebenswille verlassen.
»Eure Hoheit«, wagte Dexter einen neuen Versuch, »benötigt Ihr etwas? Soll ich Euch etwas bringen lassen? Etwas zu essen vielleicht?«
Prinz Calvin schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Wie konnte das alles nur passieren? Wie konnten mir nur dermaßen viele Fehler passieren?« Der Prinz zog mit dem Fuß einen Stuhl heran. »Setzt Euch«, forderte er Dexter auf.
Dieser räusperte sich und wusste im ersten Augenblick nicht, was zu tun war. Das offizielle Protokoll sah nicht vor, dass jemand in Gegenwart eines Mitglieds der königlichen Familie saß. Er räusperte sich aus Verlegenheit. »Sir, ich weiß nicht …«
»Setzt Euch!«, forderte der Prinz ihn abermals auf, diesmal mit erstarkter Stimme.
Dexter zog seine Uniformjacke glatt, obwohl an dieser kaum eine Falte zu sehen war, und nahm Platz. Mittlerweile rann ihm Schweiß von der Stirn, was aber nicht zuletzt an der unnatürlich hohen Wärme lag, die in diesem Quartier herrschte. »Vielleicht dürfte ich die Temperatur ein wenig herunterdrehen, Eure Hoheit?«
»Mir ist kalt.«
Dexter begutachtete den jungen Mann eingehend und kam zu einer schlichten Schlussfolgerung: »Ihr steht immer noch unter Schock. Ich lasse Euch den Schiffsarzt kommen.«
Der Prinz schüttelte den Kopf. »Keine Ärzte.«
»Aber Eure Hoheit …«
»Keine Ärzte«, wiederholte der Prinz, wobei er diesmal sogar kurz aufsah. Er seufzte tief und sein Blick glitt abermals über den Boden. »Sagt mir, Commodore, wie konnte es nur dermaßen weit kommen? Ich bin der Prinz, der in die Geschichte eingehen wird als derjenige, der seinen Feinden dabei zugesehen hat, wie diese seine Nation vernichten. Ich bin der Schäfer, der die Wölfe hereingelassen hat, damit diese seine Schafe reißen.«
Dexter drückte den Rücken durch. »Vernichtet ist das Königreich noch nicht«, warf er ein.
Der Prinz lächelte humorlos. »Aber sehr weit ist es davon nicht entfernt.« Er sah auf. »Widersprecht, falls Ihr Euch das traut.«
Dexter dachte tatsächlich darüber nach, entschied jedoch, es wäre der falsche Ansatz. Man hatte den Prinzen zu oft angelogen. »Nein, wir sind nicht weit davon entfernt. Aber geschlagen sind wir auch nicht.«
»Meine Mutter ist tot.« Der Prinz sah abermals auf. »Habe ich recht?«
Dexter presste zunächst die Lippen aufeinander, nickte dann ein wenig steif. »Wir haben es vor Kurzem selbst erfahren. Die Solarier geben dem Konsortium die Schuld. Wir wissen aber, dass das nicht sein kann.«
»Mein Vater ist tot. Meine Mutter ist tot. Und mein Bruder ist tot«, sinnierte der Prinz vor sich hin.
In einem Anfall echter Anteilnahme beugte sich Dexter vor und packte Calvin an den Schultern, obwohl dies ebenfalls strengstens verboten war. »Aber Ihr lebt, mein Prinz. Ihr seid am Leben.«
Der Angesprochene zuckte lediglich mit den Achseln. »Was zählt das schon?«
Dexter seufzte und ließ den Prinzen los. »Ja, Eure Familie ist tot. Und ja, die Karre steckt ziemlich tief im Dreck. Aber das ist ein Grund mehr, dass Ihr Euch am Riemen reißt. Ich kann Euch keine Erklärung für all das geben. Ich kann Euch nicht sagen, wie all das so weit kommen konnte. Vielleicht habt Ihr zu sehr auf die falschen Leute gehört. Vielleicht ist es auch unser aller Schuld. Vielleicht sind wir mit den Geschenken von Demokratie und Freiheit zu sorglos umgegangen. Unter Umständen hätten wir alle viel wachsamer sein müssen. Aber wie dem auch sei, aufgeben dürfen wir deshalb noch lange nicht.«
Das Gesicht des Prinzen verzog sich zu einem freudlosen Lächeln. »Habt Ihr diese Rede vor dem Spiegel geübt?«
Calvins fatalistische Haltung machte Dexter langsam sauer. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Nein, das habe ich nicht. Sie wurde ganz spontan vorgetragen. Und Ihr solltet an meine Worte denken, wenn wir unsere Heimat vor dem Zugriff der Solarier retten wollen.«
»Was soll ich denn Eurer Meinung nach tun? Mein eigener Bruder hat mich verraten. Unsere Familie verraten. Unsere ganze Nation in den Untergang geführt.«
»Ganz recht. Euer Bruder. Nicht Ihr. Und wenn er nicht schon tot wäre, hätte ich gute Lust, ihn durch die nächste Luftschleuse zu befördern.«
Calvin prustete. »Das wäre aber Hochverrat. Selbst ein verräterischer Prinz muss vor Gericht gestellt werden.«
»Drauf geschissen!«, brauste Dexter auf und erhob sich. Sein Ausbruch veranlasste Calvin doch dazu, verblüfft aufzusehen.
»Ich kann Euch verstehen«, fuhr Dexter fort. »Wirklich. Aber wir brauchen Euch. Wir bedürfen nicht Eurer Führung – damit wir uns in diesem Punkt ohne Zweifel verstehen –, aber wir benötigen Euch als Galionsfigur. Ihr seid ein Banner, um das sich das zerschlagene Königreich sammeln kann. Ihr müsst öffentlich zu sehen sein. Damit jeder weiß, das Königreich existiert noch. Die Solarier verbreiten, das Konsortium hätte die gesamte königliche Familie abgeschlachtet. Wenn Ihr wieder in der Öffentlichkeit auftretet, wird sie das Lügen strafen. Ihre Legitimation beruht darauf, dass das Königreich ohne offizielle Führung ist. Auch das müssen wir widerlegen. Sie werden in Erklärungsnot geraten, sowohl im Königreich wie auch in der Republik. Wenn man Euch in Opposition zu den Invasoren sieht, werden sich die Menschen fragen, warum Ihr nicht mit den Solariern zusammenarbeitet, wenn deren Anliegen rein friedlicher Natur sind.«
»Die Menschen werden mich hassen.«
»Dann lehrt sie, Euch zu lieben«, gab Dexter ungerührt zurück. Er senkte kurz den Blick, bevor er den Prinzen erneut musterte. »Ihr habt Fehler begangen, schwerwiegende Fehler. Aber Ihr habt eine Möglichkeit, die nur wenigen Menschen zuteilwird: Ihr könnt sie wiedergutmachen. Macht Euren Vater stolz. Rettet das Königreich.« Dexter fragte sich ernsthaft, ob er damit nicht ein wenig zu dick auftrug, aber die Worte ließen sich nicht mehr zurücknehmen.
Dexter packte den Prinzen abermals bei den Schultern und drückte ihn sanft auf das Bett zurück. »Schlaft jetzt etwas. Ruht Euch aus. Ich lasse Euch etwas zu essen bringen und jemanden, der Euch hilft, Euch zurechtzumachen. Vielleicht hat Sorenson jemanden, der Euch dauerhaft als Steward zugewiesen werden kann.«
Calvin wehrte sich nicht. Als sein Kopf das Kissen berührte, schloss er mit erleichtertem Seufzer die Augen. Bereits nach wenigen Sekunden war er eingeschlafen. Sein Atem beruhigte sich merklich.
Dexter stand noch ein paar Sekunden über dem Prinzen und musterte dessen verschwitztes Gesicht. Er strich Calvin eine Haarsträhne aus dem Antlitz. »Da haben wir uns wohl beide was eingebrockt«, flüsterte er.
Dexter wandte sich ab und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. Vorher aber senkte er die Zimmertemperatur um mehrere Grad auf ein erträgliches Maß.
Die Streitereien vor der Tür hatten inzwischen aufgehört. Sowohl Marines als auch Connors betrachteten Dexter erwartungsvoll, als dieser auf den Korridor zurückkehrte.
Connors trat ihm in den Weg. »Und? Wie geht es dem Prinzen? Kann ich ihn sehen?«
Dexter sah auf. »Seine ganze Familie wurde umgebracht und er selbst ist ein heimatloser Flüchtling. Was glauben Sie, wie es ihm geht?«
Der Geheimdienstchef runzelte die Stirn, wich aber vor der Intensität in Dexters Stimme einen Schritt zurück. Dexter nutzte die kurze Pause, um sich dem Corporal der Wacheinheit zuzuwenden. »Sorensons Anweisung bleibt bestehen. Niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis wird zum Prinzen vorgelassen.«
Der Corporal nickte ernst und Dexter setzte sich in Bewegung. Er spürte, wie sich der Blick Connors’ in seinen Rücken bohrte. Es kümmerte ihn wenig. Sollte sich der Kerl ruhig ein wenig aufregen. Hier hatte der Chef des RIS gerade so viel Macht, wie Sorenson ihm zugestand. Und Dexter hatte das Ohr des Anführers der Skulls. Das gab ihm ein wenig Spielraum, sogar für ein paar Frechheiten. Darüber hinaus stand ihm nicht länger der Sinn nach Spielchen. Man hatte ihn zu oft als Schachfigur benutzt. Es wurde Zeit, eine eigene Partie zu starten.
Als er um die nächste Ecke und außer Sicht trat, aktivierte er seinen Komlink und gab die Frequenz Sorensons ein. »Oscar?«
»Ich höre. Hast du den Prinzen gesprochen?«
»Allerdings. Er ist in schlechtem Zustand, aber nach allem, was er durchgemacht hat, ist das auch kein Wunder. Er wird sich fangen.«
»Hat er eine Meinung zu unserem nächsten Ziel?«
Dexter lächelte schief. »Er will nach Selmondayek«, log er. »Der Prinz muss dort sein, wo sich seine Truppen sammeln.«
Von der anderen Seite war ein ergebener Seufzer zu hören. »Ich hoffe, er weiß, was er tut. Dann also auf nach Selmondayek. Und in die Höhle des Löwen.«
Rodney MacTavish und die geschrumpfte Zahl seiner Widerstandskämpfer bewegten sich so unauffällig wie möglich durch das nächtliche Wien. Beständig gejagt, bemühten sie sich, den Behörden der Solaren Republik immer einen Schritt voraus zu bleiben. Nirgendwo innerhalb der bewohnten Welten gab es dermaßen viele Kameras und Überwachungsanlagen wie auf der Erde. Sich inkognito von einem Fleck zum anderen zu bewegen, stellte daher eine enorme Herausforderung dar.
Die U-Bahn kam zum Halten und machte im Vergleich zu vergangenen Zeiten aufgrund der Anti-G-Schienen keinerlei Geräusch. Die Türen öffneten sich und die Gruppe strömte als Teil einer Welle von Pendlern in den Wagon.
Die einzige Möglichkeit, halbwegs unentdeckt zu reisen, bestand darin, in einer Masse von Menschen unterzugehen. MacTavish quetschte sich in einen Vierersitz. Natascha, Sean und Catherine folgten. Kilgannon blieb stehen und beobachtete die Umgebung misstrauisch. Gleichzeitig schirmte er die Mitverschwörer mit seinem bulligen Körper vor den Blicken der anderen Fahrgäste ab.
MacTavish, Cat und Kilgannon hatten Mützen auf und die Kapuzen ihrer Jacken tief ins Gesicht gezogen. Darüber hinaus sahen sie kaum auf. Es bestand ständig die Gefahr, in den Fokus einer Kamera zu geraten.
Im Fall von Natascha und Sean war das bislang unnötig. Die Sicherheitsbehörden hatten die beiden letzten Überlebenden des Studentenwiderstands immer noch nicht identifiziert, was denen ein wenig mehr Spielraum verschaffte. Die aus dem ehemaligen RIS-Agenten, dem in Ungnade gefallenen Pionier und der Reporterin bestehenden Führungsriege wurde allerdings steckbrieflich gesucht.
Oberhalb ihrer Sitzgelegenheit befand sich ein Holo-TV, über das mal wieder eine Rede Pendergasts abgespult wurde. MacTavish schüttelte langsam den Kopf. »Wie ich sehe, läuft die Propaganda auf Hochtouren.«
Catherine Shaw folgte seinem Blick und rümpfte die Nase. »Eine alte, nichtsdestotrotz wirkungsvolle Taktik. Man berieselt die Menschen vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche mit dem Gesicht dieses Mistkerls. Dadurch sickert die Propaganda in den Verstand der Menschen, ohne dass die meisten überhaupt etwas davon mitbekommen.«
Kilgannon nickte. »Irgendwo läuft immer eine Rede von Pendergast. Und wenn gerade keine aktuelle zu haben ist, werden die vergangenen einfach wiederholt. Die Bürger werden quasi programmiert, als wären sie nichts anderes als biologische Roboter. Ich könnte schwören, dass viele von denen«, er deutete mit einem Kopfnicken auf die Menschen ringsum, »bereits jetzt der Meinung sind, dass die Invasion des Königreichs nicht nur eine Friedensmission, sondern darüber hinaus absolut notwendig ist.« Kilgannons Blick glitt in MacTavishs Richtung. »Wir brauchen dringend einen Plan, Kumpel.«
»Jeder Verbündete hat uns verlassen oder ist tot«, hielt Natascha dagegen und schielte zur Seite, um sicherzugehen, dass niemand ihnen mehr Aufmerksamkeit schenkte, als zu Pendlerzeiten angebracht wäre. Sean sah betreten aus dem Fenster, obwohl dort kaum mehr als Schwärze zu sehen war, als der Zug mit atemberaubendem Tempo durch den Tunnel raste.
MacTavish konnte den jungen Mann gut verstehen. Viele der Studenten, die sich ihnen in dem Glauben angeschlossen hatten, es handele sich um ein großartiges Abenteuer, waren jetzt tot oder saßen im Gefängnis. Der überwiegende Rest hatte sich von ihnen abgewandt und war zu ihren Familien zurückgekehrt. Der Studentenwiderstand bestand derzeit lediglich aus Natascha und Sean. Ein kläglicher Rest von etwas, das durchaus Großes hätte bewerkstelligen können. Anscheinend verflog die Abenteuerlust recht schnell, sobald einem Kugeln um die Ohren flogen.
Die Leuchtdioden des klobigen Geräts an MacTavishs Handgelenk begannen unvermittelt im Rhythmus von Ozzys Worten zu blinken. »Vorsicht!«, wisperte die KI. »Wir sind nicht allein.«
MacTavish sah sich verstohlen um. Der Zug hatte gerade angehalten, doch dieses Mal blieben die zahlreichen Pendler zurück und machten bereitwillig einem Trupp bullig wirkender Männer Platz.
Es handelte sich aber nicht um Polizisten, wie MacTavish erwartet hatte, sondern um Ordnungskräfte der neu eingesetzten Behörde für Zusammenhalt und Loyalität. Offiziell war sie dafür zuständig, die Menschen an die Regierung zu binden, quasi auf Linie zu bringen. MacTavishs Auffassung nach handelte es sich aber lediglich um staatlich sanktionierte Schlägertrupps. Sie gingen äußerst brutal gegen Abweichler vor. Viele von denen, die sie verhafteten, verschwanden auf Nimmerwiedersehen.
Die Gruppe wechselte unbehagliche Blicke. Jeder von ihnen trug eine verdeckte Schusswaffe. MacTavish tastete nach dem Griff der halbautomatischen Neunmillimeter und bemerkte dieselbe Bewegung bei seinen Begleitern. Hatte man sie entdeckt? Waren sie auf dem Weg hierher unvorsichtig gewesen? Die Möglichkeit ließ sich nicht von der Hand weisen. Die Fahndungsaufrufe in den Nachrichten waren allgegenwärtig. Sein eigenes und Kilgannons Gesicht gehörten zu den Top fünf der meistgesuchten Verbrecher der Republik. Cats Konterfei rangierte nur knapp dahinter.
Der ehemalige Geheimagent schluckte, als die Schläger der BZL näher kamen. Für eine Regierungsbehörde, die angeblich dem Frieden dienen sollte, waren diese Leute ausnehmend gut bewaffnet. Maschinenpistolen in einer Schlaufe über der Schulter, eine Pistole im Hüftholster griffbereit, außerdem Schlagstock und Pfefferspray. Das Holster der Seitenwaffe war bei jedem der Männer aufgeknöpft.
MacTavish sah sich um und schüttelte verstohlen den Kopf. Natascha, Sean und Catherine lösten den Griff um ihre Waffe. Kilgannon folgte mit deutlichem Widerwillen.
Der Zug war voll besetzt. Hier ein Feuergefecht auszulösen, würde zwangsläufig eine hohe Anzahl von Kollateralschäden fordern. Dieses Risiko würde er nicht eingehen. Dann sich lieber gefangen nehmen lassen und später einen Ausweg überlegen.
Der Schlägertrupp kam immer näher. MacTavish schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Er fragte sich, ob die selbst auferlegte Karriere als Revolutionär und Widerstandskämpfer am heutigen Tag bereits enden würde.
»Sie da«, rief einer der Männer, »keine Bewegung!« Der Trupp stürzte los – und an MacTavishs Gruppe vorbei. Ein junger Bursche, vielleicht in den Zwanzigern, versuchte, in die andere Richtung zu entkommen, wurde aber von Fahrgästen aktiv daran gehindert. Sie hielten ihn auf, bis die Agenten der BZL zur Stelle waren, ihn auf den Boden zwangen und überwältigten. Anschließend wurde er mit Kabelbindern gefesselt und abgeführt. Einer der Agenten nahm den Rucksack des jungen Mannes zur Hand und öffnete ihn.
Stolz präsentierte er dessen Inhalt den Männern und Frauen im Zugabteil, die neugierig den Hals reckten. Der Rucksack beinhaltete lediglich Sprühdosen in verschiedenen Farben.
»Schon wieder so ein Schmutzfink«, kommentierte der befehlshabende Agent. »Der hat überall in der Stadt subversive und regierungsfeindliche Graffiti hinterlassen. Aber damit ist jetzt Schluss.« Der Zug hielt an der nächsten Station an. Die Türen öffneten sich.
Der Agent verschloss den Rucksack und verließ mit seinen Leuten großspurig und mit stolzgeschwellter Brust den Zug unter tosendem Beifall der Fahrgäste.
MacTavish fing Kommentare auf wie zum Beispiel: »So ist’s richtig!«, und: »Hoffentlich bekommt der seine gerechte Strafe!«
Dabei schockierten ihn nicht einmal die mitleidlosen Worte der republikanischen Bürger oder der Beifall, mit dem die Agenten der BZL und der Abtransport des Gefangenen begleitet wurden. Was ihn wirklich fassungslos machte, war die Art und Weise, wie die anderen Fahrgäste den jungen Mann an der Flucht gehindert hatten, bis dieser verhaftet worden war. War es in der Republik schon so weit gekommen? Hatte Pendergast die Menschen bereits dermaßen vereinnahmt, dass jedes regierungskritische Wort sofort als feindlich und als Bedrohung der öffentlichen Ordnung eingestuft wurde?
MacTavish war immer der Meinung gewesen, die Solare Republik befinde sich auf dem Weg schnurstracks in die Diktatur. Nun musste er aber einsehen, dass jene Grenze längst überschritten war.
Er beugte sich vor und vergrub den Kopf in seinen Händen. Es war schwer, nicht zu verzweifeln.
»Du kannst ihnen keinen Vorwurf machen«, meinte Cat. Die Reporterin wirkte ähnlich betrübt wie er selbst, schien aber seine Gedanken zu erraten. »Die Menschen sind einfach nur dankbar. Die Kriminalitätsrate in der ganzen Republik liegt praktisch bei null. Sie machen Pendergast für die sichere Lage verantwortlich. Man kann jetzt auch nachts auf die Straße, ohne Angst haben zu müssen, überfallen, ausgeraubt oder vergewaltigt zu werden.«
»Ja, natürlich«, murrte Kilgannon. »Weil überall Polizei oder Militär patrouilliert. Man müsste schon ein kompletter Vollidiot sein, um Gefängnis oder Zwangsarbeit zu riskieren.«
»Mich wundert nur, dass sich niemand am Krieg zu stören scheint«, hielt Natascha dagegen.
MacTavish schüttelte den Kopf. »Der Krieg ist weit weg und für die Leute hier sogar irgendwie etwas Abstraktes. In den Nachrichten werden nur die Siege breitgetreten. Die Niederlagen erwähnt man mit keinem Wort.«
»Es gibt ja auch kaum welche«, gab Cat zu bedenken. »Es ist leicht, sich für den Krieg zu begeistern, wenn man gewinnt.« Sie lachte kurz und humorlos auf. »Außerdem ist es ja kein Krieg. Es gab keine offizielle Kriegserklärung. Gemäß den Medien handelt es sich um eine Polizeiaktion mit humanitärem Charakter. Solange man diesen Krieg derart verklärt, ist es für die Menschen einfacher, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Und die meisten wollen gar nicht wissen, was im Königreich vor sich geht.«
»Ich frage mich, ob die Leute hier Pendergast auch noch so bereitwillig folgen würden, wenn man in den Nachrichten die Särge solarischer Soldaten thematisieren würde«, mischte sich Sean unvermittelt ein.
»Guter Gedanke«, honorierte MacTavish. »Sobald wir wieder auf die Füße kommen, sollten wir das im Hinterkopf behalten.« Der Geheimagent der Skulls lächelte geheimnisvoll. »Aber vorher sollten wir andere Wege gehen. Cats Einwand hat mich auf eine Idee gebracht.«
Die Reporterin wandte sich ihm mit hochgezogener Augenbraue zu. »Ach ja? Die da wäre?«
»Welche Bevölkerungsgruppe steht auf der Erde gerade unter gehörigem Druck?«, fragte er und ließ den Blick wandern.
Es antworteten ihm jedoch nur verständnislose Blicke.
MacTavish grinste. »Kriminelle«, verkündete er.
Kilgannon zuckte die Achseln. »Ja und? Wie hilft uns das?«
»Wir brauchen dringend Verbündete. Und wenn wir unter den sogenannten gesetzestreuen Bürgern niemanden finden, der uns gegen Pendergast helfen will, dann möglicherweise unter den Gesetzlosen der Republik.«
»Es gibt Gruppen und Organisationen, die über erheblichen Einfluss, fast unbegrenzte Geldmittel und teilweise sogar über Privatarmeen verfügen«, ließ Ozymandias verlauten. »Und keine dürfte mit der Regierung Pendergast einverstanden sein. Der hat zur Jagd auf alle Kriminellen geblasen, hat ihre Geschäfte zumindest gestört sowie ihre Mitglieder verhaftet oder kurzerhand verschwinden lassen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund.«
»Genau mein Gedanke, Ozzy«, stimmte MacTavish zu.
Kilgannon dachte einen Moment darüber nach. »Interessanter Ansatz. Und wer genau schwebt dir vor?«
MacTavishs Grinsen wurde breiter. »Kannst du uns nach Japan bringen?«
Kilgannon schmunzelte, als ihm langsam bewusst wurde, worauf die Ausführungen seines Kollegen abzielten. Er nickte. »Es wird nicht bequem, aber ja, ich kann uns dorthin schaffen. Ich frage mich nur, ob du dort willkommen sein wirst.«
Dexter Blackburn stürmte auf die Flaggbrücke der Normandy, gefolgt von Oscar Sorenson, Melanie St. John sowie Clayton Redburn. Die Kampfgruppe der Skulls