SMS für dich - Sofie Cramer - E-Book
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Sofie Cramer

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Beschreibung

Was ich dir noch sagen will ... Nach einem heftigen Streit verschwindet Claras Freund ohne ein Wort. Kurz darauf erfährt sie, dass Ben auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Dabei hatte er ihr erst vor wenigen Wochen einen Heiratsantrag gemacht! Clara ist am Boden zerstört. Wie soll sie allein weiterleben? Erst als sie vor Sehnsucht beginnt, Ben täglich eine SMS zu schreiben, findet sie allmählich wieder Halt.  Was Clara nicht weiß: Bens Nummer wurde inzwischen neu vergeben. Die Nachrichten landen bei Sven, und sie berühren den jungen Journalisten so sehr, dass er sich auf die Suche nach der geheimnisvollen Absenderin macht ... Der Bestseller wurde fürs Kino verfilmt - von und mit Karoline Herfurth sowie Friedrich Mücke, Nora Tschirner, Frederick Lau, Cordula Stratmann und Katja Riemann. Das US-Remake kommt unter dem Titel «Love Again» im Mai 2023 in die deutschen Kinos.

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Seitenzahl: 346

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Sofie Cramer

SMS für dich

Roman

Über dieses Buch

Was ich dir noch sagen will …

Nach einem heftigen Streit verschwindet Claras Freund ohne ein Wort. Kurz darauf erfährt sie, dass Ben auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Dabei hatte er ihr erst vor wenigen Wochen einen Heiratsantrag gemacht! Clara ist am Boden zerstört. Wie soll sie allein weiterleben? Erst als sie vor Sehnsucht beginnt, Ben täglich eine SMS zu schreiben, findet sie allmählich wieder Halt.

Doch was Clara nicht weiß: Bens Nummer wurde inzwischen neu vergeben. Die Nachrichten landen bei Sven, und sie berühren den jungen Journalisten so sehr, dass er sich auf die Suche nach der geheimnisvollen Absenderin macht …

Vita

Sofie Cramer, geboren 1974 in Soltau, studierte Germanistik und Politik in Bonn und Hannover. Inzwischen lebt und arbeitet sie als freiberufliche Journalistin, Drehbuchautorin und Trainerin in Hamburg. «SMS für dich» ist ihr dritter Roman, den sie jedoch unter einem Pseudonym veröffentlicht – auch weil sie darin eigene Erfahrungen niedergeschrieben hat.

 

Mehr über die Autorin und ihre Schreibkurse unter www.sofie-cramer.de.

Für Björn

Prolog

«Guten Morgen, Lilime. Lust auf Croissants?»

Ohne die Augen zu öffnen, atmet Clara genussvoll den frischen Kaffeeduft ein. Sie räkelt sich auf dem weichen Bett und gibt sich dem wohligen Gefühl hin, das sie im ganzen Körper erfüllt. Es muss Wochenende sein! Sonst wäre Ben sicher noch nicht aufgestanden, um das Frühstücksritual vorzubereiten. Schließlich sind sie verdammt spät eingeschlafen. Es muss beinahe vier Uhr gewesen sein, als sie von ihrem Lieblingsitaliener nach Hause spaziert sind. Nach zwei Flaschen Rosé und viel zu vielen Gläsern Ramazzotti, die Beppo ihnen wie bei jedem ihrer Besuche charmant aufgedrängt hat. Und als sie im Treppenhaus ankamen, trug Ben Clara wie selbstverständlich in den zweiten Stock, weil ihre Füße von den spontanen Tanzeinlagen auf dem Heimweg so schmerzten.

Behutsam stellt er jetzt das Tablett ab und setzt sich vorsichtig neben sie. Seine Lippen beginnen zärtlich über ihr Gesicht zu fahren.

«Eigentlich hab ich ja viel mehr Lust auf was ganz anderes», flüstert Ben ihr ins Ohr.

Allmählich wird Clara wacher. Sie spürt Bens feine, kurze Bartstoppeln auf ihrem Dekolleté. Mit seinem Mund gleitet er langsam über das hauchdünne Hemdchen.

Sie liebt es, wenn er sie so weckt. Nichts schenkt ihr mehr Geborgenheit, als seinen starken Körper so nah zu spüren.

Doch er ist ganz leicht. Auch seinen vertrauten Geruch nimmt sie kaum wahr. Irgendwas ist heute anders.

Wie in Trance öffnet Clara zaghaft die Augen. Und mit einem Schlag ist sie wach.

Sie fühlt sich augenblicklich wie eine Fremde, gefangen in einer Zeit, die sie nicht kennt.

Plötzlich ist sie wieder da, die brutale Realität: Ben ist nicht da.

Ben wird nie wieder da sein.

Sie muss geträumt haben. Clara hat schon lange nicht mehr geträumt. Seit zwei Monaten und fünf Tagen hat sie auch nicht mehr gelächelt – obwohl sie sich hin und wieder darum bemüht hat. Etwa um ihre Mutter davon abzuhalten, weitere zermürbende Trosttiraden von sich zu geben. Wenn sie wieder die alte Clara wäre, würde ihre Mutter sie vielleicht schneller wieder sich selbst überlassen.

Sich selbst überlassen …

Genauso fühlt sie sich, seit ihr geliebter Ben an jenem Januartag von einem Balkon aus in den Tod gestürzt ist.

Sich selbst überlassen. Und allein. Allein mit all den Gedanken, die Clara wie ein übergroßes Schattengebilde verfolgen. Vor allem nachts. Immer wieder wacht sie auf aus einem unruhigen, traumlosen Schlaf. Zwischen Schlafen und Erwachen gibt es lediglich eine einzige friedvolle Sekunde, in der sich Clara wie die Clara fühlt, die sie früher gewesen ist.

Bevor Ben starb, war Clara eine souveräne Frau gewesen. Eine, die weniger romantisch und sentimental war als die meisten ihrer Freundinnen. Diese rationale und starke Seite war es auch, die Ben vom ersten Tag an fasziniert hat. Ihre Bilder von der Welt waren zwar unterschiedlich, doch zusammen ergaben sie ein wunderbar vollkommenes Gemälde, das beiden gleichermaßen Halt bot.

Wann immer sie aneinandergerieten, fanden sie nach kurzer Zeit wieder zusammen. Zunächst mit einigen kleinlauten Bemerkungen, die den Stolz überwanden, schließlich mit Gesten, die in vertraute körperliche Annäherungen übergingen. Meist folgte dann eine Verfolgungsjagd durch die gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung, bis Clara erschöpft in Bens Arme sank. Er brauchte dann bloß noch so zu tun, als würde er sie zwischen ihren spürbaren Rippen durchkitzeln, und schon kreischte sie vor Panik und Verzückung. Wenn er sich ihr schließlich mit seinem Mund näherte und ihren schmalen Hals, knapp unterhalb des Ohrläppchens, zärtlich küsste, säuselte er gern liebevolles Zeug vor sich hin. In solchen Momenten nannte er sie mit leiser Stimme «Lilime». Nur Clara kannte die Abkürzung für «Lieblingsmensch». Ihre grün leuchtenden Augen begannen dann jedes Mal zu funkeln, und sie liebten sich wortlos.

Auch nach über drei Jahren waren sie sich noch jedes Mal so nah, wie es eigentlich nur frisch Verliebte vermögen.

Nicht jedoch in der Nacht, als es passierte. Ein vorwurfsvolles Wort hatte das andere ergeben, und Clara würde heute alles dafür tun, die Vorwürfe niemals ausgesprochen zu haben.

Noch immer hat sie den Klang der Tür im Ohr, die Ben zugeschlagen hatte, als er außer sich vor Wut die Wohnung verließ. Es war das erste und das letzte Mal, dass er verschwand, ohne zu sagen, wohin er gehen würde.

Wenn sie daran denkt, wie erleichtert sie gewesen war, dass sie allein zurückblieb und sich ungestört bei ihrer engsten Freundin Katja darüber auslassen konnte, wie unreif und verantwortungslos Ben trotz seiner 32 Jahre doch sei … Dann spürt Clara das schlechte Gewissen noch immer wie zersetzende Säure in ihrem gesamten Körper.

Zwar hatte sie an jenem Abend immer ihr Handy im Blick gehabt, als sie mit Katja diskutierte, ob sie Ben einfach mal einen Denkzettel verpassen und entgegen ihrem normalen Verhalten für eine ganze Nacht abhauen sollte. Aber von Ben kam keine Nachricht. Dabei schickte er ihr ständig Nachrichten. Wann immer er eine Pause zwischen den Vorlesungen an der Uni hatte, mit seiner Band unterwegs war oder bei seinem Kumpel Carsten versackte. Schon allein weil er Claras Unmut erst gar keine Chance geben wollte, schickte er vorsorglich ein paar besänftigende Worte an «Lilime». Oder aber einfach nur ein Klingelzeichen.

Als sie sich im «Cheers» begegnet waren, war Clara anfangs sehr skeptisch gewesen angesichts der zahlreichen Gerüchte, Ben Runge sei ein Frauenheld, einer, der sämtlichen Schönheiten Lüneburgs den Kopf verdreht habe. Doch Ben bemühte sich, ihr mit seinen SMS zu zeigen, dass er nur noch sie im Sinn hatte. Und so ließ er, wann immer er an sie dachte, kurz das Handy klingeln als eine Art Liebesbeweis.

Seit jener grausamen Nacht aber erhält Clara weder ein Klingelzeichen noch eine Nachricht.

Ben meldet sich überhaupt nicht mehr.

Er bleibt für immer stumm.

Clara

Clara ist nervös. Ihre Schonzeit ist nun offiziell vorbei, denn heute ist ihr erster Arbeitstag nach Bens Beerdigung.

Die Ärztin hatte ihr zwar angeboten, sie noch eine weitere Woche krankzuschreiben. Doch Clara sehnt sich inzwischen nach Struktur und Alltag. Sie erträgt es nicht mehr, nächtelang wach zu liegen und bis in den späten Vormittag hinein im Bett zu bleiben, ohne wirklich ausgeruht zu sein. Eher fühlt sie sich wie ein vergammeltes, trockenes Stück Brot. Wenn ihre Mutter sie anfangs nicht jeden Nachmittag zu einem kurzen Spaziergang genötigt hätte, würde sie sich womöglich immer noch nicht aus der Wohnung heraustrauen.

Als sie das erste Mal allein zum Einkaufen unterwegs war, um ihren Vorrat an Dosensuppen aufzufüllen, hatte Clara das Gefühl, jeder könnte ihren Schmerz im Gesicht ablesen. Die Kassiererin hat ihr nicht einmal richtig in die Augen schauen können. Und Clara verspürte diesen unbeschreiblichen Drang, sofort hinauszuschreien: «Ja, mein Freund ist tot, und niemand weiß, warum!»

Es gibt aber auch angenehmere Verbindungen zur Außenwelt, die ihr Kraft geben oder aber wenigstens keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Niklas, ihr Chef, zum Beispiel hat sie jede Woche angerufen, um zu hören, wie es ihr ginge, und um ihr zu sagen, dass sie sich wegen ihres Jobs keine Sorgen zu machen bräuchte. Ihre Kollegin Antje würde sich um alles kümmern, könne ihr aber niemals den Posten als beste Graphikerin in der Agentur streitig machen.

Clara weiß, dass Antje ohnehin wenig begeistert von der Werbebranche ist und nicht versteht, wie Clara sich so in ihren Beruf reinhängen kann. Mittlerweile muss Clara sich auch selbst eingestehen, dass sie zu viele Abende allein in ihrem Büro verbracht hat, statt es sich zu Hause mit Ben gemütlich zu machen oder einfach das Leben mit ihm zu feiern. Immerzu hat sie perfekte Arbeit leisten und dem Kunden statt eines halbherzigen Entwurfs lieber gleich zwei herausragende Alternativen präsentieren wollen. Dennoch war es die größte Befriedigung, wenn der Auftraggeber sich dann für ihren Favoriten entschied. Clara kostete ihren Erfolg allerdings meist bloß stumm und immer nur für eine kurze Zeit aus.

Im Grunde bin ich eine Einzelgängerin, denkt Clara, und wenn ich mich meinen Entwürfen widme, darf mich niemand stören. Ich versinke dann stundenlang in einen tranceartigen Zustand. Ein Zustand, der jetzt unerreichbar scheint, weil ihr die Realität unerbittlich den Weg in diese andere schöne Welt versperrt.

Clara hofft, dass ihr die Arbeit guttun wird. Schließlich muss sie sich im Büro zusammenreißen und kann nicht Stunde um Stunde vor sich hin grübeln, was wohl alles in Ben vorgegangen war in jener Nacht und wie sie ohne ihn zurechtkommen sollte. Noch hat sie ihre Wahrheit nicht gefunden. Aber wenn Clara für wenige Minuten mal keinen Gedanken an Ben und seinen Tod verliert, packt sie sogleich wieder das schlechte Gewissen.

Als sie am Wochenende mit ihrer Oma Lisbeth durch den Lüneburger Kurpark spaziert war, hatte sie sich kurzerhand verabschiedet, weil sie unbedingt nach Hause rennen musste, um sich Fotos anzugucken. Aus Sorge, Bens Gesicht zu vergessen, wollte sie sich die vermeintlich verschwundenen Erinnerungen umgehend zurückholen. Als sie mit Seitenstechen endlich zu Hause ankam, riss sie sämtliche Alben aus dem Regal, schlug sie hektisch auf und legte die schönsten Bilder nebeneinander auf den Fußboden.

Ob sie an ihrem Schreibtisch im Büro ein Foto von Ben aufstellen sollte? Eines, auf dem er sein gewitztes Lächeln zeigt, das seinen Charme wenigstens ein bisschen festhält? Wie wohl ihre Kollegen reagieren würden? Heute wird Clara sie das erste Mal seit der Beerdigung wieder sehen.

Aber sie ist dieses eigenartige Gefühl leid, etwas Aussätziges zu sein. Sie will die anderen nicht unnötig in Verlegenheit bringen.

Das Schlimmste sind gar nicht die unbeholfenen Äußerungen von Bekannten, die schlicht ihr Beileid aussprechen. Sondern all die Worte, die nicht gesprochen werden, denkt Clara, sie sind es, die mich geradezu erniedrigen.

Die Nachbarin ihrer Mutter etwa war einfach aufgesprungen und wortlos aus der Küche verschwunden, als Clara einmal unangekündigt zu Hause auftauchte.

In der Agentur wissen jedoch alle Bescheid, dass heute ihr erster Arbeitstag ist. Hoffentlich geht alles gut, betet Clara und stößt die gläserne Tür des Bürogebäudes im Lüneburger Industrieviertel auf. Sie ist extra früh unterwegs, damit sie sich vielleicht erst mal wieder an ihr Büro gewöhnen kann, bevor der Berufsalltag wieder über sie hereinbricht.

Als sie aus dem Fahrstuhl tritt, ist sie überaus nervös, zumal der Flur bedrohlich ruhig wirkt. Sogar Viola vom Empfang ist noch nicht da.

Clara wundert sich, dass auch ihre eigene Bürotür geschlossen ist. Ob ihr Gehirn bereits so verkümmert ist, dass sie den Sonntag für Montag hält?

Aber das protzige Spider-Cabrio von Niklas stand direkt vor der Eingangstür. Zumindest ihr Chef müsste also schon hier sein. Da auch seine Tür nicht offen steht, entscheidet sich Clara, ihn lieber erst später zu begrüßen.

«Überraschung!» Als Clara die Klinke ihrer Bürotür runterdrückt, dröhnt es in vielen verschiedenen Tonlagen aus ihrem Büro.

Im Halbkreis steht die versammelte Mannschaft um ihren Schreibtisch herum und schaut sie erwartungsvoll an. Über ihrem Mac hängt ein Banner mit der Aufschrift «Herzlich willkommen!». Und auf dem Schreibtisch steht eine große Glasvase mit einem bunten Frühlingsstrauß darin.

Noch ehe Clara etwas sagen kann, ergreift Niklas das Wort.

«Wie ich sehe, ist uns diese Überraschung am frühen Morgen gelungen. Hallo Clara!» Er räuspert sich und sieht verlegen in die Runde. «Tja, ähm, wir freuen uns einfach, dass du wieder da bist. Und da ich dich jetzt schon lange genug kenne, um zu wissen, dass du nicht gern im Mittelpunkt stehst, höre ich auch schon auf, hier große Reden zu schwingen. Ich wollte ja auch nur sagen: Wir alle hier heißen dich herzlich willkommen! So, und nun geht’s wieder an die Arbeit, Leute.»

Die Gruppe applaudiert verhalten und löst sich schnell auf. Nur Antje geht auf Clara zu und schließt sie zur Begrüßung kurz in die Arme. Clara ist sehr gerührt. Sie muss ihre Tränen unterdrücken.

«Danke», haucht sie leise.

Daraufhin schaut Antje sie mit großen Augen an und entgegnet schnell: «Hey, wofür denn?»

Clara zuckt mit den Schultern und lächelt. Es ist das erste Lächeln seit Wochen.

Sven

Wäre ich doch bloß im Bett geblieben! Sven bereut das frühe Aufstehen, als ihm in der überfüllten S-Bahn Richtung Landungsbrücken die Knoblauchfahne seines Gegenübers ins Gesicht schlägt und den Genuss seines Kaffees mit Mandelaroma und Milchschaum verdirbt. Mehr noch als über den Gestank, den der dicke Mann beim lautstarken Reden mit einem Kollegen in die ohnehin schlechte Luft rauslässt, ärgert er sich über sich selbst, weil er es seit mindestens zehn Wochen nicht geschafft hat, sein Rennrad zu reparieren. Eigentlich gibt es dafür keine Entschuldigung, allenfalls ein paar dürftige Erklärungen. Zu viel Alkohol und unschöne Frauengeschichten, zu wenig bereichernder Input, der wiederum den inneren Antrieb nur noch mehr zum Erliegen brachte.

Dabei hat Sven sich immer für ein Glückskind gehalten. Doch seit etwa drei Jahren läuft es irgendwie nicht mehr richtig rund. Als Wirtschaftsredakteur genießt er zwar viel Anerkennung in seinem Umfeld, aber letztlich kann er niemanden mehr damit beeindrucken, dass er regelmäßig die größten Wirtschaftsbosse interviewt. Und am allerwenigsten sich selbst. In den Redaktionssitzungen schweift er mit seinen Gedanken regelmäßig ab, anstatt den beiden Chefredakteuren oder seinen Kollegen mit messerscharfen und brillant vorgetragenen Themenvorschlägen oder Kommentaren zu imponieren.

Was ist bloß mit ihm geschehen?

Zu Beginn seines Volkswirtschaftsstudiums war er voller Begeisterung und Ideen gewesen. Er war politisch aktiv, hatte viele Freunde und trieb jeden Tag Sport, weil er Bewegung an der Hafenluft einfach liebt – frühmorgens, wenn die meisten Anwohner Altonas noch lahm in ihren Betten liegen.

Ob seine Lethargie mit der Trennung von Fiona zu tun hat? Sven weigert sich, einen Zusammenhang zu sehen. Denn dann würde er sich eingestehen müssen, seinen Problemen ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Lieber redet er sich ein, sie sei gar nicht seine große Liebe gewesen. Denn obwohl nun schon so viel Zeit vergangen ist, sieht er das Bild noch immer deutlich vor sich, wie sie knutschend an ihrem Mini Cooper lehnte, die Arme um den Körper eines Fremden geschlungen.

Vielleicht ist es auch seine Wut auf sich selbst, die ihn daran hindert, das Kapitel ein für alle Mal abzuschließen. Stattdessen nervt er sich inzwischen selbst mit der Frage, warum er damals nicht den Mumm hatte, sein Rad in die Ecke zu feuern und souverän zwischen die beiden zu gehen. Er hätte diesem Sackgesicht deutlich zeigen sollen, zu wem Fiona gehörte.

Aber vielleicht hatte er es schon vorher verbockt. Vielleicht hatte Fiona recht mit ihrer ständigen Kritik, er würde ihr nie zeigen, wie viel sie ihm eigentlich bedeute. Auch seine Kollegin Hilke versuchte ständig, ihm vor Augen zu führen, dass der ominöse Fremde nicht der Grund, sondern bloß der Auslöser dafür war, dass Fiona schließlich aus dem gemeinsamen Loft auszog.

Sven mag Hilke und vertraut ihr, würde ihr aber genau dies niemals ohne einen nennenswerten Grund verraten. Sie ist für ihn die Schwester, die er nicht hat. Und sie hat ihn in all den Jahren, die sie nun zusammen arbeiten, nie enttäuscht. Verletzt ja, aber nie mit böser Intention, sondern allenfalls weil sie in ihrer offenen und beinahe naiven Art gar nicht anders kann, als ihn mit unverblümten Aussagen wiederholt vor den Kopf zu stoßen. In der gesamten Zeit, in der sie sich das Büro im sechsten Stock teilen, hat sie ihn beinahe wöchentlich mit Äußerungen zum Nachdenken gebracht. Sie besitzt einfach Talent, immer den wunden Punkt zu treffen.

«Du bist doch nur so schlecht gelaunt, weil du keinen guten Sex mehr hast», kam es erst vergangenen Montag über die Tische hinweg, als Sven mit derben Sprüchen über irgendwelche E-Mails schimpfte. «Wenn du deine kostbare Lebenszeit nächstes Wochenende wieder mit deiner bescheuerten Gilde im Internet verbringst, hab ich dich nicht mehr lieb!»

Sven musste daraufhin schmunzeln. Hilke war verlegen gewesen, nachdem sie diesen mutigen Satz von sich gegeben hatte. Diesmal hatte sie sich etwas zu weit aus dem Fenster gewagt, das wusste sie. Nicht, weil sie ihn so direkt auf seine größte Schwäche, das Computerspiel ‹World of Warcraft›, angesprochen hatte. Eher wegen der vertraulichen Worte. Sven hatte sich daraufhin geräuspert und eilig etwas davon gemurmelt, dass er nächsten Samstag ohnehin keine Zeit habe, weil er dringend mal wieder bei seinem Vater vorbeischauen müsse.

Auch für solche Besuche wäre es nur clever, endlich das Rad in Ordnung oder wenigstens in eine Werkstatt zu bringen, denkt Sven jetzt und verkriecht sich noch tiefer hinter seiner Zeitung, deren Inhalt ihn allerdings kaum interessiert.

Obwohl es für März bereits recht mild ist, trägt er noch immer seine alten braunen Lederhandschuhe, um in der Bahn ja keine Stellen berühren zu müssen, die bereits tausende andere Menschen vor ihm angefasst haben. Dieses enge Aneinanderquetschen zwischen den Türen ekelt ihn an. Beim Aussteigen beschließt er, den abgekühlten Kaffee wegzuwerfen.

Jeder Montagmorgen macht ihm Woche um Woche bewusster, wie erbärmlich sich sein Leben derzeit anfühlt. Wenn Hilke ihn gleich freudig begrüßt und nach seinem Wochenende fragt, wird er sich irgendetwas ausdenken müssen, um davon abzulenken, dass er mal wieder nichts von dem geschafft hat, was er sich eigentlich vorgenommen hatte. Weder hat er sich um die kaputte Gangschaltung gekümmert, noch ist er joggen gegangen oder mit seinem Kumpel Bernd auf ein Bier in der Kneipe gewesen. Auch bei seinem Vater hat er sich nicht gemeldet. Er weiß einfach nicht, worüber er mit ihm reden soll.

Als Sven aus der Bahn steigt und in Richtung Verlagshaus geht, atmet er mehrmals tief ein und aus, so, als könne er die von den anderen Pendlern ausgedünstete Luft wieder aus seinem Körper heraushauchen. Irgendwas muss sich ändern, denkt Sven, ich will mich endlich wieder lebendig fühlen. Aber er hat absolut keine Idee, wie er das anstellen soll.

Clara

Erst als sie abends im Bett liegt und über den ersten Arbeitstag nachdenkt, wird Clara allmählich klar, dass Niklas am Morgen das einzig Richtige getan hat. Durch die herzliche Begrüßung hat er ihr den Einstieg viel leichter gemacht, als sie tagelang vorher befürchtet hatte. Die Vorstellung, jeder wäre einzeln mit gesenktem Blick bei ihr im Büro vorbeigekommen, war furchtbar gewesen.

Plötzlich muss Clara schmunzeln. Wie oft hat sie ihren Chef schon behutsam darauf aufmerksam gemacht, dass er nun einmal kein kreativer Kopf sei, sondern seine Stärke allein im Kundenfang läge? Doch heute hatte er wirklich mal eine gute Idee.

Clara fühlt sich angenehm geschafft von all den vertrauten und doch neuen Eindrücken dieses Tages, und seit langem freut sie sich mal wieder aufs Einschlafen. Sie verspürt jedoch das Bedürfnis, unbedingt noch mit jemandem zu sprechen. Für einen Anruf bei ihrer Oma ist es schon zu spät. Und wenn sie jetzt Katja anriefe, würden sie wie meistens so richtig ins Plaudern geraten.

Früher hatte sie Ben alles erzählt. Wie gerne würde sie ihm auch jetzt von ihrem Tag berichten. Heute hatte sich gezeigt, dass sie in der Agentur wirklich gebraucht wurde. Morgen früh würde sie schon wieder an einer Vorbesprechung für einen wichtigen Pitch teilnehmen. Und das fühlte sich gut an, es fühlte sich ein wenig wie Normalität an.

Ohne weitere Grübeleien greift Clara plötzlich zu ihrem Handy, richtet sich auf und tippt mit zitternden Fingern und einigem Herzklopfen eine SMS an Ben.

Mein Liebling! Wo bist du nur, wie geht’s dir bloß? Du fehlst mir in jeder Sekunde, aber ich hab heut das erste Mal wieder gelacht. In ewiger Liebe, dein Lilime

Clara nimmt einen großen Schluck ihres allabendlichen Früchtetees, nickt zufrieden und drückt auf Senden.

Sven

Was für eine Ohrfeige!

Noch immer sitzt Sven wie versteinert vor seinem ausgedruckten Artikel über die aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, den sein Chefredakteur ihm ohne ein Wort, aber mit hochgezogenen Augenbrauen auf den Schreibtisch gepfeffert hat.

Er ist es gewohnt, dass seine Texte ohne große Änderungen durchgehen. Denn da er sich meist an die Absprachen aus der Redaktionssitzung hält, werden auch die inhaltlichen Gewichtungen meist abgenickt, ohne dass er sich ein zweites oder drittes Mal ans Redigieren machen muss. Diesen Text allerdings würde er offensichtlich noch einmal ganz von vorn beginnen müssen, und das, obwohl längst Redaktionsschluss ist.

«Ein durchaus interessanter Dreh. Fokus aber verfehlt! gez. bre» hatte Walter Breiding ans Ende geschrieben, nicht ohne alle sechs Manuskriptseiten von jeweils oben nach unten diagonal durchzustreichen.

Das war Sven noch nie passiert! Nicht einmal während seines Volontariats bei der Hannoverschen Allgemeinen. Und auch nicht beim News-of-the-World-Magazin in London. Aber noch bevor er sich bei Hilke lautstark über Breiding beschweren kann, wird ihm klar, dass er diesmal wirklich Mist geschrieben hat.

In dem Text steckt genauso wenig Herzblut wie in der Liste, die er gestern Abend zu Hause bei einer Flasche Barolo begonnen hatte. Hilke hatte ihm geraten, seine konkreten Lebensziele für die nächsten Jahre aufzuschreiben. Sie schwört auf die Methode. Aber Sven war nicht wirklich weit gekommen und hatte sich wieder seinem Artikel gewidmet.

Und nun musste er zugeben, aufgrund mangelnder Recherche den Fokus seines Artikels schlicht zugunsten seiner eigenen Argumente verdreht zur haben. Und dies leider so auffällig, dass Breiding gar nicht anders konnte, als ihm den Text um die Ohren zu hauen.

«Lass mich raten», feixt Hilke grinsend, «ihm fehlt die Würze?» Mit dem typischen Breiding-Zitat gibt sie zu erkennen, sie habe den Einlauf des Chefs sehr wohl registriert, obwohl sie nicht einmal von ihrem Bildschirm aufgeschaut hat.

«Nee», antwortet Sven gequält. «Ich glaub, ihm fehlt eher das Hauptgericht.»

«Zeig mal her!» Hilke überfliegt die Seiten und sagt mitleidig: «Das sieht nach einer Nachtschicht aus. Brauchst du Hilfe?»

«Falls mir bis Mitternacht nichts Schlaues eingefallen ist, rufe ich dich an», erklärt Sven und verzieht dabei seinen rechten Mundwinkel.

«O ja, das würde Martin sicher sehr freuen!», entgegnet Hilke ironisch.

«Keine Sorge. Deine Ehe möchte ich natürlich nicht gefährden.»

«Och, so schnell droht da keine Gefahr, das weißt du doch», sagt Hilke fast ein wenig stolz.

«Ja, und ich frage mich wirklich, wie das funktioniert nach so vielen Jahren …» Sven hat Angst, neidisch zu klingen. Aber wirklich verstehen tut er es nicht.

«Liebe heißt das Zauberwort. L-I-E-B-E. Aber davon hast du ja keine Ahnung!»

Obwohl es Hilke sicher nicht so meint, verspürt Sven einen leichten Stich. Aber er schweigt lieber.

«Falls du also auch in Liebesdingen oder sonstigen Angelegenheiten Notfallhilfe brauchst, ruf gerne an. Ansonsten sehen wir uns morgen.»

«Ja, danke. Schönen Abend!»

***

Es ist bereits nach Mitternacht, und Sven sitzt noch immer vor seinem Computer. Wenn die Putzfrau nicht zwischenzeitlich aufgetaucht wäre, hätte er sich womöglich keinen Zentimeter gerührt. Aber sie hat einfach um ihn herumgesaugt und bemüht leise seinen Papierkorb ausgeleert.

Auf seinem Bildschirm hat sich nichts getan. Sven verspürt einfach keinerlei Motivation, sich erneut an den Text zu machen. Stattdessen sitzt er auf seinem Stuhl, mit dem Blick zur HafenCity, die noch immer eine interessante Großbaustelle ist, und lässt seine Gedanken schweifen. Er spürt ein ungutes Gefühl in seinem Nacken. Oberhalb der Schulterblätter macht sich ein Schmerz bemerkbar, der zwar erträglich, aber doch unangenehm präsent ist.

Draußen ist es mittlerweile dunkel, und die Fensterscheibe spiegelt sein ernstes Gesicht. Sven fragt sich, ob ihm eigentlich gefällt, was er da sieht. Mit seinem Körper kann er ganz zufrieden sein, von dem aktuellen Zustand seiner Fitness abgesehen. Aber zu seinem Gesicht hat er keine rechte Meinung. Er empfindet es als durchschnittlich und weder besonders abstoßend noch besonders anziehend. Seine bisherigen Freundinnen mochten meist seine Augen. Die hat er von seiner Mutter geerbt. Sie hatte angeblich auch diese blassblauen Augen. Als Sven vier Jahre alt war, ist sie gestorben, und er fragt sich, was er wohl sonst noch von ihr geerbt hat.

Fiona hat immer gesagt, seine Augen würden wie das Eisblau eines Huskys strahlen, eine beinahe bedrohliche Einfärbung, aber bestechend schön. Sie fand seinen Blick sexy. Dass er sich jedes Mal über das Kompliment freute, hat er ihr meist nicht gezeigt.

Sven erscheint sein Anblick jedoch eher fahl, so, als blicke er in das Angesicht einer leblosen Gestalt. Sein Haar ist dünn geworden. Und er fühlt sich mit seinen 42 Jahren das erste Mal in seinem Leben alt. Ob eine Frau oder gar eine Familie daran etwas ändern würde, fragt sich Sven. Doch schnell ermahnt er sich, bloß keinen romantischen Phantasien nachzuhängen. Die würden sich früher oder später ohnehin als Enttäuschung erweisen.

In seiner Welt gab es bisher keine dauerhafte Liebe. Und es wird sie auch nicht geben, davon ist Sven überzeugt. Mit Fiona hatte er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen können. Doch sicher wäre irgendwann der Tag gekommen, an dem all die schönen Facetten der Verliebtheit heimlich und unwiederbringlich verschwunden wären. Menschen sind nun mal nicht dazu geschaffen, ihr ganzes Leben mit ein und derselben Person zu verbringen. Auch wenn kitschige Filme und Bücher unermüdlich das Gegenteil suggerieren.

Gerade als Sven beschließt, nun doch die Liste mit seinen Lebenszielen fertigzustellen, piept sein Handy. Er greift in seine Tasche, um nachzusehen, wer ihm so spät noch eine SMS schickt. Sicher ist es Hilke, die ihm ein paar aufmunternde Worte senden will, bevor sie sich gleich zu ihrem Mann ins Bett legt, denkt Sven und spürt, wie er sie um ihre Beziehung beneidet.

Doch als er den Text liest, ist ihm sofort klar, dass die Nachricht gar nicht ihm gilt. Offensichtlich hat sich irgendein völlig hoffnungsloser Romantiker bei der Nummer vertippt. Die Botschaft versteht Sven trotzdem: Wer verliebt ist, verblödet. Wer nicht verliebt ist, stumpft ab.

Clara

«Ein Zeichen!»

«Hä?», nuschelt Katja leicht genervt am anderen Ende der Leitung. «Nochmal ganz langsam. Ich kapier rein gar nichts. Lass mich kurz wach werden.»

Clara hat sich ihre alte Nicki-Jacke übergeworfen und sich in der Küche auf die Fensterbank gesetzt, die Beine angezogen, damit ihre nackten Füße nicht mit dem kalten Fliesenboden in Berührung kommen. Sie ist noch völlig aufgewühlt und befürchtet, dass Katja gleich einen Notarzt rufen oder aber sie einfach auslachen wird.

«Also, nochmal ganz von vorne, Süße. Atme tief ein und aus, und dann sag mir nochmal ganz langsam, was passiert ist, ja?»

«Na, das verdammte Licht ist ausgegangen!», wiederholt Clara und erschrickt, weil ihr Tonfall so hysterisch klingt. «Ich hab Ben eine SMS geschickt, und gerade als das Display ‹gesendet› angezeigt hat, ging das verdammte Licht im Schlafzimmer aus!»

«Du hast was gemacht?»

«Nichts! Ich hab gar nichts gemacht. Das ist ja das Schlimme!»

«Nein, ich meine, du hast Ben eine SMS geschickt?!»

Clara muss schlucken. Sie will nicht schon wieder heulen. Nicht heute, nicht nach diesem erfolgreichen Tag. Sie bemüht sich, so gelassen wie möglich zu klingen.

«Ja, ich weiß, dass das albern ist. Und ich hab so was Bescheuertes auch noch nie gemacht. Ehrlich! Aber mir war einfach danach. Und dann war es plötzlich dunkel!» Clara bemerkt, dass sie erneut etwas zu laut geworden ist.

«Ähm, also du hast die SMS geschickt, und dann wurde es dunkel?», fragt Katja erstaunt.

«Ja.»

«Bist du denn sicher, dass du das Licht nicht selbst ausgemacht hast?»

«Mensch, Katja! Ich weiß ja, dass ihr alle denkt, ich bin noch immer neben der Spur. Aber blöd bin ich nicht!»

«Mhm, ein bisschen unheimlich ist das schon …», murmelt Katja so leise, als spräche sie zu sich selbst.

«Ja, sag ich doch. Ich hab mich total erschrocken und wie wild am Schalter rumgedrückt. Mit einem Mal wurde es dann wieder hell. Das heißt, die Lampe funktioniert also noch ganz normal.»

«Na, dann ist doch alles in Ordnung.» Katja gähnt in den Hörer hinein.

«Nichts ist in Ordnung!» Claras Stimme ist nun so weinerlich, dass sie kaum zu verstehen ist.

«Hör zu, Süße, warum packst du nicht deinen Kram für morgen zusammen und kommst heute Nacht zu mir? Ich hol dich ab, okay?»

«Ich fürchte, das geht nicht. Ich muss morgen ganz früh raus.»

«Mmh, dann versuch jetzt zu schlafen. Kuschle dich gut ein. Und mach dir vorher noch einen heißen Kakao. Aber mit Sahne! Bestimmt hast du dich heute wieder nur mit einem Teller Suppe über Wasser gehalten!»

Clara muss seufzen. Genau das predigt ihre Oma auch ständig. Erst am Wochenende, als sie zu Besuch bei Lisbeth und Willy war, hat ihre Großmutter mit allen Tricks versucht, Clara wieder etwas mehr «Speck auf die Rippen» zu bringen, wie sie es liebevoll nennt.

Früher hat sich Clara über ihre Extrapfunde geärgert. Aber mittlerweile macht sie sich selbst ein wenig Sorgen wegen ihres abhanden gekommenen Appetits.

Schon wenige Wochen nach der Trauerfeier waren die kleinen Pölsterchen um ihre Hüften beinahe ganz verschwunden. Seit Ben weg ist, muss Clara jede noch so kleine Mahlzeit runterwürgen, ohne wirklich Freude daran zu haben. Manchmal fährt sie samstags mit dem Auto zwar zu einem riesigen Supermarkt, um sich Dosensuppen und Buttermilch zu kaufen. Doch dies tut sie nur, weil sie meint, damit Ben ein wenig näher zu sein. Er liebte es, sich samstagvormittags in das große Abenteuer Wochenendeinkauf zu stürzen. Stets lockte er Clara mitzukommen, meist mit der Aussicht auf eine Familienportion Stracciatella-Eis.

Ben war es grundsätzlich vollkommen egal, welchen Eindruck er bei anderen Menschen hinterließ. Er konnte mitten im überfüllten Supermarkt mit einer Handvoll Orangen jonglieren oder aber Clara vor der Kühltheke zu einer kleinen tänzerischen Showeinlage animieren. Auch seine theatralische Art, ihr in der Schlange an den unmöglichsten Stellen ein Küsschen aufzudrängen oder sie einfach frech in den Hintern zu kneifen, sodass sie laut aufschrie, war ihm alles andere als peinlich. Wo immer er auftauchte, stand er gleich im Mittelpunkt. Clara hatte sich an seiner Seite zwar manchmal etwas geschämt, ihn aber meist bewundernd angesehen.

Umgekehrt war Ben einfach unschlagbar darin, Clara das wohlige Gefühl zu vermitteln, sie sei die wundervollste Frau der Welt. Auch wenn er es mit seinen Komplimenten gerne übertrieb. Wenn sie sich wieder mal über ihre zu kleinen Brüste oder ihr langweiliges, dunkelblondes Haar beschwerte, hatte er ihr immer glaubhaft versichern können, dass sie die Einzige war, um die sich alles drehte.

Wie aber hat er sie dann jemals verlassen können? Wenn er sie doch angeblich wirklich so geliebt hat? Oder hat er sie gar nicht verlassen, sondern das unerbittliche Schicksal war schuld an allem?

Clara spürt die Verzweiflung in sich hochsteigen. Schnell verspricht sie Katja, es sich noch mit einer Tasse Früchtetee gemütlich zu machen, und legt auf.

Was ist eigentlich erschütternder? Die Tatsache, dass ein junges Leben in einer glücklichen Beziehung durch einen tragischen Unfall für alle Ewigkeit ausgelöscht wird? Oder das Gefühl, den eigenen Partner, mit dem man über drei Jahre lang seinen Alltag geteilt hat, in Wahrheit kaum gekannt zu haben? Wie lange musste sich Ben schon gequält haben?

Clara ermahnt sich, diese stechenden Fragen, die immer wieder unvermittelt auftauchen, beiseitezuschieben. Es ist an der Zeit, dass sie sich nun mehr und mehr ihrem neuen Leben stellt. Unter keinen Umständen will sie Katja oder ihrer Familie länger zur Last fallen. Und vor allem will sie Lisbeth und Willy nicht länger zusätzlichen Kummer bescheren.

Es ist ohnehin schlimm genug, dass es ihrem Opa mit jedem Jahr schlechter geht, denkt Clara und fährt sich mit den Händen durchs Gesicht. Und ihre Oma? Seit Willys Schlaganfall hat auch sie so viel an Vitalität und Lebensfreude einbüßen müssen. Meist tut ihr Großvater nicht viel anderes, als in seinem Sessel zu sitzen und sich hinter seinen Büchern über Astronomie oder Geschichte zu verstecken, obwohl seine Augen schnell müde werden.

Clara muss plötzlich schlucken, als sie an das gestrige Treffen mit ihren Großeltern denkt. Gemeinsam saßen sie an dem Esstisch, der ebenso wie Lisbeth und Willy weit über 70 Jahre hinter sich hat.

Ihre Oma ist eine so zierliche Frau, dachte Clara, als sie sich über den frisch gebackenen Kuchen hermachte. Dennoch ist sie robust und stark und hat sich immer ein warmes Strahlen bewahrt.

Clara steht ihr sehr nahe, auch wenn sie weder äußere Merkmale noch auffällige Charaktereigenschaften von Lisbeth geerbt hat. Eher kommt sie nach ihrem Großvater, der ebenso wie ihr Vater diese intensiv grün leuchtenden Augen hat. Ohnehin liegen Clara die Menschen der väterlichen Seite ihrer Familie eigentlich viel mehr am Herzen. Ob es daran liegt, dass sie ihren Vater so früh verloren hat?

Sie war gerade mal elf, als er an Darmkrebs erkrankte und bald darauf gestorben ist. Damals war alles sehr schnell gegangen, und manchmal schämt sich Clara dafür, dass sie sich nur noch vage an seine Stimme, sein Gesicht oder seinen Geruch erinnern kann.

Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist seitdem gespannt. Es fällt Clara so viel leichter, mit Lisbeth über all das zu reden, was sie bewegt.

«So, mein Kind. Dann hau mal ordentlich einen Schlag rein», ordnete ihre Oma an und griff zu der Kristallschale mit der Sahne.

«Aber dein Kuchen schmeckt auch so schon sehr lecker!», entgegnete Clara, wohl wissend, dass jeder Widerspruch schlicht ignoriert wird.

Noch während sie den Kuchen aß und sich das übliche Geplauder über Nachbarn und den Streit um die Einführung von Altpapiertonnen durch einen Privatbetrieb anhörte, flüchtete Willy sich wieder ins Wohnzimmer.

«Wie läuft es denn mit ihm zurzeit?», fragte Clara und nahm sich noch ein Stück Kuchen.

«Nun ja, er schlägt sich so durch. Seine regelmäßigen Radtouren fehlen ihm schon sehr.» Für gewöhnlich geht Lisbeth lächelnd über das Thema hinweg, doch an diesem Sonntag senkte sich ihr Blick. «Ich fürchte, allmählich mag er nicht mehr.»

«Wieso?» Claras Herz schlug plötzlich spürbar schnell. «Was ist denn passiert?»

«Es ist gar nichts passiert. Aber er redet in letzter Zeit so wenig. Und sein Schlaf ist seit längerem wieder sehr unruhig.»

«Wie, unruhig? Hatte er vielleicht einen neuen Anfall?»

«Nein, das hätten wir sicher bemerkt. Er geht ja auch regelmäßig zum Arzt. Ich glaube einfach, ihm …» Lisbeth geriet ins Stocken. «Ich glaube, ihm geht es seelisch nicht so gut.»

«Aber Oma, das ist ja auch kein Wunder! Gerade jetzt, wenn es Frühling wird und er nicht mehr so kann, wie er will.»

«Nun ja. Aber ich glaube, es geht ihm irgendwie schlechter als ohnehin schon.»

«Aber wie kommst du denn darauf?»

«Ich spüre das eben.»

«Ja, was denn genau?»

«Das kann ich nicht sagen. Es geht ihm eben einfach nicht so gut.»

Clara schluckte. Sie traute sich gar nicht, weiter nachzuhaken, obwohl sie das Gefühl hatte, ihre Oma würde ihr irgendetwas verheimlichen.

«Ach Kindchen», seufzte Lisbeth. «Er mag zwar manchmal wie ein Stoffel wirken. Aber in seinem Herzen ist er so weich und sensibel. Es macht ihm einfach zu schaffen, dass sich … ähm, nun ja, dass sich vieles verändert hat.»

«Du meinst, seit Ben nicht mehr da ist?», fragte Clara leise und in einem Tonfall, der jede Antwort erübrigte.

Sie war erstaunt. Nie hatte sie darüber nachgedacht, dass ihr Großvater womöglich unter dem schrecklichen Geschehen so sehr leiden könnte.

«Du kennst ihn doch. Er macht sich immer viel zu viele Gedanken», fügte Lisbeth hinzu und fing an, den Tisch abzuräumen.

Allmählich begriff Clara. Womöglich geht es gar nicht nur um Willy, sondern darum, dass auch Lisbeth nicht mehr weiß, wohin mit ihren Sorgen. Sicher, sie hat ein paar alte Freundinnen und einen zweiten Sohn. Doch der wohnt mit seiner Familie in der Nähe von Frankfurt und kommt nur selten nach Lüneburg.

Lisbeth kehrte an den Tisch zurück, mit einer gefüllten Tupperdose.

«Aber ich dachte …», setzte Clara an und senkte den Kopf, weil sie nicht in der Lage war, in das sorgenvolle Gesicht ihrer Oma zu blicken.

Da nahm Lisbeth die Hand ihrer Enkelin und sagte: «Willy hat dich so unendlich doll lieb. Er weiß doch auch ohne viele Worte, dass deine kleine, zarte Seele verletzt ist.»

Obwohl Clara sich fest vorgenommen hat, ihrer Oma nie wieder Sorgen zu bereiten, kommen ihr auch jetzt noch die Tränen, wenn sie an diese Szene denkt. Doch in diesem Moment weiß sie gar nicht, ob sie wegen Ben heult oder wegen ihrer Großeltern. Sie kann nicht anders, als ihrer Verzweiflung und ihrem Selbstmitleid vollends nachzugeben. Clara weint so sehr, wie sie es seit Wochen nicht mehr getan hat. Sie fühlt sich schuldig und gleichzeitig ungerecht behandelt, als habe das Leben sie verraten.

In Momenten wie diesen, die nichts als Traurigkeit und Leere zulassen, kommt Clara manchmal der Gedanke, sich genauso feige aus dem Staub zu machen, wie Ben es vielleicht getan hat. Sie würde sich einfach mit Tabletten in den Schlaf weinen, und endlich wäre alles wieder gut. Aber ihr ist bewusst, dass ein solcher Schritt nicht weniger, sondern mehr Übel in die Welt bringen würde. Sofort meldet sich ihr Gewissen.

Was würden ihre Oma, ihr Opa und ihre Mutter ohne sie machen? Auch Katja und ihre Sandkastenfreundin Bea würden ihr sicher niemals verzeihen, dass sie sich ihnen nicht anvertraut hat. Womöglich wäre sie sogar schuld daran, wenn ihr Großvater dann völlig den Lebensmut verlieren würde.

Seit Bens Tod fühlt Clara sich wie in einem gläsernen Gefängnis. Ihre Familie, ihre Freunde, ihre Kollegen – alle sind sichtbar um sie herum versammelt und jederzeit für sie da. Aber sie kann sie nicht erreichen. Selbst wenn sie zu ihnen spricht, versteht kaum einer, was sie wirklich sagt. Instinktiv nimmt sie wahr, dass sogar die liebevollsten Menschen irgendwann nicht mehr imstande sind, zu ertragen, was sie wieder und wieder loswerden muss. Spürbar schleicht die Einsamkeit in ihren Körper. Und jeder weitere Gedanke an Ben trennt sie nur noch mehr von allem, was ihr früher so nah gewesen ist.

Erst als sie wieder in ihrem Bett liegt, kommt Clara allmählich zur Ruhe. In diesem Augenblick tröstet sie nur ein einziger Gedanke: Ben eine weitere Nachricht zu schicken.

Ich denke ständig an dich. Gib mir noch ein Zeichen, wenn’s dir gutgeht. Aber nur eins, das mich nicht so erschreckt! In ewiger Liebe, dein L.

Obwohl Clara sich selbst sehr merkwürdig vorkommt und sie beinahe ein bisschen Angst hat, beschließt sie, ein tägliches Ritual daraus zu machen und es somit zu einer liebgewonnenen Gewohnheit werden zu lassen. Von nun an will sie jeden Tag eine SMS ins Jenseits senden.

Sven

Mit hochgezogenen Augenbrauen und theatralisch gehobener Stimme, die jeden Ernst entbehrt, trägt Sven am nächsten Tag die folgenden Zeilen vor:

Hallo Liebling! Kannst du von da oben irgendwas für meinen Opa tun? Irgendwie fehlt uns allen das Lachen – und du fehlst mir heute ganz besonders. Dein Lilime

Sven will noch einen empörten Lacher hinterherschieben, um Hilke unmissverständlich klarzumachen, dass er den Inhalt der SMS absolut lächerlich findet. Aber er kann nicht lachen, weil Hilkes Reaktion ihn irgendwie irritiert.

«Das ist ja herzzerreißend. Das klingt, als ob ein verzweifeltes Kind mit Gott spricht», sagt Hilke ernst und ohne auch nur zu schmunzeln. «Zeig mal!», ergänzt sie schnell in einem Ton, der einem Befehl gleichkommt.

Sven reicht ihr sein i-Phone nur äußerst ungern, schließlich ist das Gerät brandneu und noch ohne irgendwelche Kratzer und Fingerabdrücke.

«Und wo sind die anderen beiden?», fragt sie. «Ich will alle lesen, und zwar sofort!»

Nun muss Sven doch lachen. Über Hilke. Denn sie reagiert, als habe er ihr soeben von einer spontanen Papstaudienz oder der Auferstehung von Elvis berichtet.

«Was ist?», fragt sie empört.

«Ach, nichts», erklärt Sven und schüttelt amüsiert den Kopf.

«Hast du schon mal geantwortet?»

«Nö. Wieso?»

«Männer!» Hilke verdreht ihre Augen und zieht eine Braue in die Höhe. «Na ja, du könntest zumindest mal Bescheid geben, dass sich da jemand all die Mühe umsonst macht. Schließlich kann dieser Lilime ja nicht wissen, dass seine Nachrichten einen falschen Empfänger erreichen!»

Sven ist plötzlich verunsichert.

Doch Hilke fährt ungerührt fort: «Die SMS landen nämlich bei einem gefühlskalten Monster, das auch noch gehässig ist und kein Herz hat für ein kleines Kind. Ein Kind, das offensichtlich großen Kummer wegen seines kranken Opas hat!»

Auf einmal hat Sven wirklich ein schlechtes Gewissen. Er fragt sich, ob er tatsächlich so ein Ekelpaket ist, das bloß noch Technik und Titten im Kopf hat.

Empört fegt er den Gedanken beiseite und kontert: «Also, erstens würde ein Kind niemanden mit ‹Liebling› anreden und so kitschig rumsülzen. Und zweitens: Wenn es sich unwahrscheinlicherweise doch um ein geistesgestörtes Kind handelt, wäre es sicher pädagogisch wertvoller, ihm nicht jede Illusion eines Gottes oder sonst einer himmlischen Gestalt zu nehmen. Man könnte also sagen, ich tue ihm einen Gefallen!»

Hilkes Telefon klingelt, und sie wirft Sven schnell noch einen strafenden Blick über den Schreibtisch zu, bevor sie abnimmt.

Sven grinst sein süffisantes Siegerlächeln und widmet sich nun wieder seinem Text über Wirtschaftskriminalität und Insiderwissen an der Börse.

Dennoch springen seine Gedanken immer wieder zu dieser kuriosen SMS-Geschichte. Vielleicht sollte er eines Tages versuchen, einen Krimi darüber zu schreiben.

Er lässt seiner Phantasie freien Lauf, während er weiter konzentriert auf seinen Bildschirm starrt, damit Hilke nicht mit einem ihrer bissigen Kommentare dazwischengehen kann.

Der Krimi würde von einem Mordfall im versnobten Milieu der HafenCity handeln. Irgendein Versicherungsbetrug mit Schmiergeldern in Millionenhöhe. Ein Angestellter bekommt Wind davon und erpresst den fiesen Oberboss. Im Affekt erwürgt er dann einen Mitwisser in der Tiefgarage und wirft ihn in die Elbe, ohne zu ahnen, dass er dabei von einem neunjährigen Jungen beobachtet wird. Doch aus Angst mag dieser sich niemandem anvertrauen. Weil er jedoch nicht weiß, wie er mit seiner Beobachtung umgehen soll, schaut er im Telefonbuch nach der Nummer eines Privatdetektivs. Da er befürchtet, ein Anruf oder ein handgeschriebener Brief könnte leichter zurückverfolgt werden, will er den Detektiv lieber per SMS