So bin ich - Wolf-Rüdiger Heilmann - E-Book

So bin ich E-Book

Wolf-Rüdiger Heilmann

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Beschreibung

Das vorliegende Buch könnte auch "Szenen einer Kindheit" heißen: In dreißig Kapiteln beschreibt der Autor glückliche und unglückliche, schöne und weniger schöne, häufig auch lustige Erlebnisse und Ereignisse aus dem Leben eines Kindes zwischen Geburt und zwölftem Lebensjahr, geprägt durch eine kleinstädtische Umgebung im schleswig-holsteinischen Rendsburg, die Nachkriegszeit und enge familiäre Bindungen. Von großer Bedeutung ist sein frühes Interesse an allem Gedruckten - Bücher, Zeitungen, Zeitschriften -, welches durch eine persönliche Beziehung zur Rendsburger Tageszeitung noch verstärkt wird. Besonders wichtig sind aber auch die Freundschaften mit Gleichaltrigen in den verschiedenen Phasen seiner Kindheit.

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Seitenzahl: 135

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Für meine beiden süßen Enkelkinder

Merle Philine und Sven Laurin.

C’est ma vie C’est ma vie, Je n’y peux rien C’est elle qui m’a choisi C’est ma vie C’est pas l’enfer C’est pas le paradis (Salvatore Adamo)

Inhalt

Prolog

»Wer holt mich mal ’rüber?«

Der Garten meines Großvaters

Oma Klara

Mein Spielkamerad Rudolf Förster

Der kleine Rebell

Ganz großes Kino

Zwei folgenschwere Stürze und ein folgenloser schwerer Verlust

Menschen, die mir Angst machten

»Drive my car«

Amanda M., Hildegard L., »Hand-zieh« und Onkel Galonski

Die große Katastrophe

Die Altstädter Knabenschule

Familie Seidler

Bücherwurm und Leseratte

»Bloß nicht über Politik reden!«

Von jüdischen Bürgern und dem Antisemitismus

»Music was my first love …«

Die Marienkirche

Das Ehepaar Sachewitz und das Schachspiel

Einkäufe und Besorgungen

»… manchmal aber störend übereifrig«

Fußball – der RTSV

Kirmes-Boxen

Die Herderschule

Der Zirkus kommt!

Der große Fußball (1) – die WM 1958

Der große Fußball (2) – Eintracht Frankfurt als deutscher Meister im Europapokalendspiel 1960

Der große Fußball (3) – Deutscher Meister 1960 HSV, Europapokalsieger 1961 Benfica Lissabon

Der große Fußball (4) – Ein Wort zu László Kubala

»Hör mal ’n beten to«

Epilog

1 Prolog

Ich wurde am 27. September 1948 gegen 10:30 Uhr im Hause Alte Kieler Landstraße 72, erster Stock rechts, in Rendsburg geboren. Mein Sternzeichen ist also die Waage.

Meine Eltern waren Wilhelm und Ursula Heilmann, geb. Schröder. Sie bezeichneten mich in der Geburtsanzeige als ihren Stammhalter. Da ihre Ehe bereits 1950 geschieden wurde – ein damals noch recht seltener Vorgang – , hatte ich einiges zu halten und auch auszuhalten.

Mein Vater verschwand aus Rendsburg – ich traf ihn zum ersten Mal 1958 in seiner neuen Heimat in Frankreich –, und so wuchs ich bei meiner Mutter und deren Mutter Alwine Schröder auf. Meine andere Großmutter, Klara Heilmann, wohnte nicht weit entfernt, in der Wilhelmstraße 19, und ich sah sie regelmäßig. Schon im Alter von vier Jahren besuchte ich sie ohne Begleitung einmal wöchentlich, und als Schulkind verbrachte ich meist zwei Wochen während der Sommerferien bei ihr. Auch an Feiertagen wie Ostern und Weihnachten war ich immer für einige Zeit bei ihr (und mit ihr zusammen im Gottesdienst).

Für meine Erziehung war in erster Linie meine Oma Alwine (die so nicht genannt werden wollte – sie war »die« Oma, ohne Zusatz) zuständig. Meine Mutter nahm – jedenfalls, soweit das für mich spürbar oder erkennbar war – auf meine Entwicklung nur einen indirekten Einfluss, zumal sie als Berufstätige – damals ebenfalls ungewöhnlich – tagsüber selten zu Hause war. Sie arbeitete – und das hatte für mich eine kaum zu überschätzende Bedeutung – als Sekretärin bei der Rendsburger Heimatzeitung, der »Tagespost« (von bösen Zungen auch »Tagespest« genannt, später »Schleswig-Holsteinische Landeszeitung«), und zwar überwiegend in der Lokalredaktion. In dem fast familiären Rahmen des Verlages habe ich mich von klein auf bewegt und wohlgefühlt.

Wenn ich schon früh lesen konnte, mich rasch zu einer »Leseratte« entwickelte, eine starke Affinität für alles Gedruckte – neben Büchern auch Zeitungen und Zeitschriften – hatte, selber gern und viel schrieb, so ist dies auch darauf zurückzuführen, dass ich sozusagen in der Umgebung von Schreibmaschinen, Fernschreibern und Rotationsdruckern aufgewachsen bin.

Noch mehr hat mich aber die strenge Erziehung durch meine Oma Alwine geprägt, die in meiner Grundschulzeit durch die Härte und Rigorosität vieler Lehrer noch verstärkt wurde. Meine Oma Klara dagegen war mir gegenüber meist milde und verständnisvoll. Ihr war es besonders wichtig, mich zu einem gläubigen evangelischen Christen zu erziehen – weniger durch Druck, als durch in ihrem Sinne vorbildhaftes Verhalten. Auch hierdurch wurden meine Kindheit und meine frühe Jugend maßgeblich beeinflusst.

Ich berichte im Folgenden fast ausschließlich über meine ersten etwa zwölf Lebensjahre, die ich, von ganz kurzen Abwesenheiten abgesehen, durchweg in meiner Heimatstadt Rendsburg verbracht habe. Auch dieser Umstand – das behütete Aufwachsen in einer alles in allem intakten, übersichtlichen Kleinstadt ohne allzu heftige Spannungen und allzu massive Probleme – hat mich geformt, obwohl mir im Laufe der Zeit bewusst wurde, dass auch diese Welt keine heile war.

Ich schreibe also außer von mir selber überwiegend über Menschen, die nicht mehr leben, und hoffe, dass ich ihnen nicht Unrecht tue. Diejenigen, die mich später kennengelernt haben, werden sich in diesem Buch nicht finden, können aber prüfen, ob die von mir geschilderte ferne Vergangenheit und die ihnen bekannte Gegenwart ein schlüssiges Gesamtbild ergeben.

2 »Wer holt mich mal ’rüber?«

Die Gegend Alte Kieler Landstraße – Kaiserstraße – Friedrich-Voß-Straße war in den frühen fünfziger Jahren ein fast dörfliches Idyll. Auf den Straßen, die großenteils nicht geteert waren, fuhren kaum Autos, so dass nicht nur die Fußwege, sondern auch die Fahrbahnen als Ersatz für die nicht vorhandenen Spielplätze genutzt werden konnten; dort wurde Kibbel-Kabbel oder Fußball gespielt. Im Winter konnten die Hänge, die von dem Gelände der Wrangel-Kaserne zur »Alten Kieler« hinab führten, als Schlittenbahnen genutzt werden – in meiner frühen Kindheit sogar ohne jede Absicherung. Später standen unten auf der Straße sicherheitshalber »Wachtposten«, die die Startbereiten oben warnten, wenn ein Auto sich näherte.

An der Kreuzung Alte Kieler-Friedrich-Voß-Straße lagen drei Geschäfte – der SPAR-Laden von Günther Taube, die Bäckerei Hoop und eine Filiale der Schlachterei Voßberg, die sich »Vohsberg« schrieb – eine Schreibweise, die mir, als ich lesen konnte, rätselhaft erschien.

Ab dem Alter von ca. drei Jahren wurde ich zum Einkaufen geschickt – ein Fußweg von knapp hundert Metern, bei dem ich allerdings die Friedrich-Voß-Straße überqueren musste. Anfangs traute ich mich nicht, allein über die Straße zu gehen, auch wenn, wie meist, weit und breit kein Auto zu sehen war. Dann rief ich »Wer holt mich mal ’rüber?«, und tatsächlich öffnete sich in der Regel schon bald eine Ladentür und jemand kam, um Wölfchen über die Straße zu führen.

Damals gab es noch keine Plastiktüten, und daher ging ich, wie die meisten Leute, mit einem Netz einkaufen. Der Einkaufszettel wurde um das mitgegebene Geld – Münzen, manchmal auch ein klein gefalteter 5- oder 10-Mark Schein, gewickelt, den ich in die Hosentasche steckte. Manchmal trug ich eine Hose, die keine Taschen hatte, z. B. eine Lederhose. Dann legte ich Zettel und Geld ins Netz, und einmal sind Zettel und Geld durch die Maschen gerutscht, was ich erst bemerkte, als ich bereits im Laden stand und die Bestellung aufgeben wollte. Es muss sich um eine kleine Bestellung und einen geringen Geldbetrag gehandelt haben (vielleicht ging es um Kaffee, der in kleinen Tüten für fünfzig Pfennig gekauft wurde – eine Pfund-Packung wäre Prasserei gewesen, so etwas Wertvolles gab es als Geschenk zum Geburtstag oder zu Weihnachten!), daher fiel die Strafe für meine Schlamperei ungewöhnlich milde aus.

Manchmal gab es »etwas dazu« – beim Schlachter eine Scheibe Wurst, bei SPAR ein Bonbon und bei Bäcker Hoop die sogenanten Schlangen – die Ränder, die bei Plattenkuchen wie Butter- und Streuselkuchen abgeschnitten wurden. Manchmal konnte ich der Versuchung nicht widerstehen und musste sofort in die frisch gebackenen »Schlangen« beißen, was bei größeren Kindern, die das sahen, Neid und Begehrlichkeiten hervorrief. Ich weiß nicht mehr, wie ich damit umgegangen bin, jedenfalls provozierte der »Welpenschutz«, der mir beim Einkaufen zuteil wurde, Sanktionen von Seiten der Großen, z. B. bei Ingo G., der im gleichen Haus wohnte. Unter Ausnutzung meiner kindlichen Gutgläubigkeit erzählte er mir einmal, dass es bei SPAR etwas umsonst gäbe – man müsste nur hingehen und um eine Tüte »Haumiblau« bitten. Ich ging tatsächlich in den Laden, weiß aber leider nicht mehr, wie die Geschichte weiterging – ob man mir ganz ernsthaft sagte, so etwas gäbe es nicht, oder es sei gerade ausverkauft, ob man sich ärgerte und mir den Ärger zeigte oder ob man mir ein Bonbon gab als »Haumiblau«-Placebo.

Ingo G. gab auch beim Fußballspielen den Ton an, an dem ich mich ab dem Alter vier oder fünf beteiligen durfte. Nach dem »Wunder von Bern« im Juli 1954, von dem ich nichts mitbekommen hatte, gab es einen Wettbewerb darum, wer welchen Namen der »Helden« tragen durfte. Ingo beanspruchte selbstverständlich, Fritz Walter zu sein, andere waren Helmut Rahn, und irgendwann wurde mir zugestanden, Toni Turek zu sein, eine kleine, mir nicht bewusste Bosheit, denn als der Kleinste stand ich ja nie im Tor.

Ich erinnere mich noch an eine Schrecksekunde bei einer meiner Einkaufsaktionen, als ich schon sehr früh unterwegs war, um Brötchen zu kaufen: An der Stelle, an der ich die Friedrich-Voß-Straße überquerte, lag auf dem Bürgersteig ein Kasten und im Rinnstein daneben – ein lebloser Mann. Ich weiß nicht mehr, wie ich bei diesem Anblick reagierte – wandte ich mich ab, lief ich ein Stückchen zurück, rief ich irgendwen zur Hilfe? Jedenfalls war zum Glück bald ein Erwachsener bei mir, der auch sofort erkannte, was hier vorlag: In dem Haus an der Ecke Alte Kieler-Friedrich-Voß-Straße wohnte eine Familie W. Großvater W. war Musiker – er spielte irgendein Blasinstrument und kam meist sehr spät von seinen Engagements nach Hause, oft in angeheitertem Zustand. Und an diesem frühen Morgen hatte er es gerade noch bis vor sein Haus geschafft, war aber dann auf der Straße neben seinem Instrument eingeschlafen.

Ich war also durchaus nicht der einzige, der von dem schwachen Verkehrsaufkommen in der damaligen Zeit profitierte.

3 Der Garten meines Großvaters

Mein Großvater mütterlicherseits, Wilhelm Friedrich Johann Schröder – wie mein Vater kurz »Willy« gerufen –, stammte aus Hagenow in Mecklenburg. (Meine Wurzeln sind also recht vielfältig: der Großvater väterlicherseits unbekannt, angeblich aus dem Rheinland stammend, die Großmutter väterlicherseits aus Thüringen, der Vater in Schlesien aufgewachsen, die Großmutter mütterlicherseits aus Schleswig Holstein, deren Mutter Anna Alma Wilhelmine Fietz, geborene Stolley, vermutlich aus Pommern.) Willy Schröders Geburtstag war der 21. September 1884.

Aus seiner ersten Ehe (seine Frau starb früh) stammte die Tochter Elvira, die später in Hamburg mit Eduard K. verheiratet war und eine Tochter namens Ingrid hatte. Warum er nach Rendsburg zog, weiß ich nicht – vermutlich hatte es berufliche Gründe. Er heiratete dort die wesentlich jüngere Alwine Hermine Fietz, geboren am 11. Februar 1899. Aus dieser Ehe ging meine Mutter Ursula, geboren am 2. Mai 1925, hervor.

Wilhelm Schröder war Polizeihauptwachtmeister (damals eine recht angesehene Position – so sehr, dass dieser Rang sogar auf dem Grabstein stand). Er starb bereits am 7. März 1939 an den Folgen einer Krankheit und hinterließ eine vierzigjährige Witwe und eine fünfzehnjährige Tochter, die, weil das Schulgeld nicht mehr aufgebracht werden konnte, sofort die Mittelschule verlassen musste. Er war, so deute ich manche Aussagen meiner Oma, kein Anhänger des Nationalsozialismus und hätte vermutlich, wenn er länger gelebt hätte, in seiner Position ernsthafte Probleme bekommen.

Die Witwenpension meiner Oma war anfangs so niedrig, dass sie in den schlimmsten Notzeiten des Zweiten Weltkriegs in Ermangelung von anderem Heizmaterial einen Teil des Mobiliars und sogar einige Bücher verbrennen musste. Einen »Reichtum« hatte mein Großvater allerdings hinterlassen: seinen großen Garten. Dieser umfasste Spargel- und Erdbeerbeete und viele Obstbäume, vor allem Äpfel, auch Quitten. Von diesem Segen habe auch ich noch profitiert: Eins der wenigen Fotos aus meinem dritten oder vierten Lebensjahr zeigt mich beim Einsammeln der Äpfel. [Anders als viele andere Kinder aß ich auch gern Spargel – eine Vorliebe, die sich bis heute erhalten hat und der ich an verschiedenen Wohnsitzen (Karlsruhe – Schwetzinger Spargel, München – Spargel aus Abensberg und Schrobenhausen, Berlin – Beelitzer Spargel) ausgiebig frönen konnte.]

Meine Oma hat sich von dem frühen Tod ihres Mannes nie richtig erholt. Ein zweites großes Unglück traf sie, als sie 1955 die Wohnung in der Alten Kieler Landstraße, in der sie seit 1930 – also auch noch zusammen mit ihrem Mann – gelebt hatte, verlassen musste.

4 Oma Klara

Klara Ella Ottilie Drawer wurde am 26. Januar 1887 in Tschirnau, Kreis Guhrau, in Schlesien, von 1937 bis 1945 »Lesten« (weil »Tschirnau« zu slawisch klang), heute Czernina (Góra), geboren. Zu dieser Zeit hatte der Ort knapp 800 Einwohner.

Sie heiratete 1911 den, wie es im Familienstammbuch heißt, Wurstfabrikanten Ernst Max Heilmann, geboren 1882, aus Guhrau. Da die Ehe kinderlos blieb, adoptierten sie 1926 den damals sechsjährigen Wilhelm Fries aus einem Waisenhaus in Arnstadt in Thüringen, meinen Vater. (Ich habe nie erfahren – habe aber als Kind auch nie danach gefragt –, warum ein Ehepaar in Schlesien ein Kind aus Thüringen adoptiert hat.)

Guhrau hatte damals etwa 5.000 Einwohner, Góra heute etwa 13.000. Die Schlachterei und Wurstfabrik der Familie Heilmann war wohl die größte am Ort. Max Heilmann starb bereits 1933 im Alter von 51 Jahren, seine Ehefrau musste danach den Sohn alleine großziehen und die Schlachterei selbstständig führen.

Über die letzten Kriegsjahre und die Umstände ihrer Flucht hat sie nie gesprochen. Die Stadt Guhrau wurde am 23. Januar 1945 von der Roten Armee besetzt. Oma Klara floh nach Rendsburg, wo ihr Sohn im Lazarett lag und wo seine Verlobte Ursula Schröder lebte. Die Eheschließung erfolgte 1946, 1948 wurde ich geboren, 1950 wurde die Ehe geschieden.

Oma Klara erhielt eine Kriegsschadenrente nach dem Lastenausgleichsgesetz, die, soweit ich dies einschätzen konnte, noch niedriger war als die Witwenpension meiner Oma Alwine, deren Ehemann, Polizeihauptwachtmeister Wilhelm Schröder, im Alter von 54 Jahren verstorben war. Diese Pension betrug wohl etwas mehr als 300 Mark.

Der Verlust der Heimat und die Hoffnung, irgendwann nach Schlesien zurückkehren zu können, bestimmten das Denken meiner Oma bis in die sechziger Jahre hinein. Sie reiste in der ersten Zeit zu den alle zwei Jahre veranstalteten »Deutschlandtreffen« der Schlesier, die bis 1969 fünfmal in Hannover stattfanden. In Rendsburg hatte sie mehrere Bekannte und Freunde, die aus ihrer schlesischen Umgebung stammten. Es ist bezeichnend dafür, wie ausgeprägt ihre Heimatliebe und zugleich ihr Einfluss auf mich war, dass ich einige Strophen des Riesengebirgsliedes (»Blaue Berge, grüne Täler«) auswendig singen konnte, während das »Schleswig-Holstein meerumschlungen, deutscher Sitte hohe Wacht!« mir eher fremd war. (Besonders fremd war mir als Kind das Wort »stammverwandt« – als ich es zum ersten Mal hörte, deutete ich die Zeile wirklich als »Schleswig-Holstein Stampferwand«.)

Zu ihren Gewohnheiten gehörte es, am Samstag kurz vor den 19-Uhr-Nachrichten das Radio anzuschalten – dann gab es für einige Minuten die Sendung »Die Glocken läuten den Sonntag ein«. Besonders wichtig waren ihr dabei die Glocken von Kirchen und Kathedralen, die jenseits des Eisernen Vorhangs standen oder gestanden hatten – etwa der Dom zu Magdeburg, die Dresdner Frauenkirche und, absoluter Höhepunkt, der Breslauer Dom.

Ihre Geburtstage feierte Oma Klara, ungeachtet ihrer winzigen Wohnung in der Wilhelmstraße 19 (Wohnküche und ein Zimmer mit einer Couch, die abends zum Bett umgebaut wurde), mit etwa so vielen Freunden und Bekannten, wie es Sitzgelegenheiten gab. Ich wurde dann regelmäßig zum Singen aufgefordert, wobei die Auswahl der Stücke mir überlassen blieb. Und ich wusste ja, was bei Oma Klaras Gästen ankam: natürlich das Riesengebirgslied, aber auch »Bei mir zu Haus, da blüht ein wunderschöner Garten«, »Man müsste noch mal zwanzig sein« und ähnliches Liedgut der fünfziger Jahre.

Einmal sorgte ich mit meinem Vortrag für einen kleinen Eklat, für den aber mehr der Zufall als böser Wille verantwortlich war. Anwesend waren »Onkel« August Kunert, der auch aus Guhrau stammte und den ich besonders gern mochte, und Tante Louise (wirklich eine Tante, nämlich die zweite Ehefrau von Walter Schönau, der in erster Ehe mit der verstorbenen Schwester Wilhelmine meiner Oma Alwine verheiratet gewesen war). Tante Louise kam, wie meistens, als letzte, und setzte sich, ohne ihren Mantel und ihren Hut abzulegen, auf einen noch freien Stuhl. Ich wunderte mich darüber, es war aber durchaus nicht unüblich, dass Frauen bei kurzen Besuchen in der Wohnung ihren Hut aufbehielten.

Zu der Zeit gab es einen Schlager, der mir zu dieser Situation zu passen schien und den ich nun mit Blick auf Tante Louise zum Besten gab: »Nimm die Mütze ab, Du bist hier nicht zu Hause, zieh den Mantel aus und setz Dich ruhig hin!« Tante Louise war empört, aber ihre Verärgerung richtete sich nicht gegen mich, sondern gegen Onkel Kunert (den sie, was ich nicht wusste, verdächtigte, Sympathien für die Sozialdemokratie zu hegen). Sie hatte mich zuvor in dessen Nähe gesehen und schloss daraus, dass er mich dazu animiert hatte, dieses Spottlied zu singen. Irgendwie gelang es meiner Oma dank ihrer Autorität, die festliche Geburtstagsstimmung wieder herzustellen.