Der tödliche Ruf - Wolf-Rüdiger Heilmann - E-Book

Der tödliche Ruf E-Book

Wolf-Rüdiger Heilmann

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Beschreibung

Der Versicherungsmathematiker Jürgen Rieger wird auf eine Professur an einer privaten Hochschule berufen. Die Tätigkeit dort beginnt mit einer großen Enttäuschung, denn sein Büro ist eher ein Abstellraum. Bei der Entsorgung des Gerümpels stößt er auf die Leiche des Rektors der Hochschule, der offenbar ermordet wurde. Wenig später wird ein zweiter Professor von einem Zug überrollt. Die ersten Kontakte in der neuen Umgebung lassen erkennen, dass das Leben an seiner Fakultät von Intrigen und Machtkämpfen geprägt war, in deren Zentrum der Rektor stand. Daher hatten viele Personen ein Motiv, sich an diesem zu rächen. Rieger bemüht sich, den Verhältnissen an der Fakultät auf den Grund zu gehen, und begegnet dabei zwei Frauen – einer Studentin und der Witwe eines Professors –, die versuchen, Einfluss auf ihn zu gewinnen. Dies hilft ihm, die Hintergründe der Konflikte an der Hochschule zu durchschauen. Schließlich gelingt ihm die Aufklärung des Mordes zeitgleich mit der Polizei.

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden.

Für Ingrid

Larissa-Valeska

Lisa-Maria und Steffen

Lydia Sara

Lionel Elias

»Though I know I’ll never lose affection

for people and things that went before

I know I’ll often stop and think about them

in my life I love you more.«

John Lennon, In My Life

1

Das Couvert enthielt eine einzige DIN A4-Seite aus schwerem Büttenpapier. Der Briefkopf war edel gedruckt: »Private Hochschule für Finanzen, Geld und Währung. Der Rektor«. Es folgten Ort, Datum, meine Anschrift und dann der Text: »Sehr geehrter Herr Dr. Rieger! Es ist mir eine Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass der Senat der Privaten Hochschule für Finanzen, Geld und Währung beschlossen hat, Sie auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Versicherungs- und Bausparmathematik zu berufen. Hierzu gratuliere ich Ihnen von ganzem Herzen. Bitte wenden Sie sich zur Abstimmung der nächsten nun anstehenden Schritte unter der Ihnen bekannten Rufnummer an mein Sekretariat, Frau Maren Demmler. Mit freundlichen Grüßen, Ihr sehr ergebener Richard Hahne.« Gab es das noch? »Ihr sehr ergebener«? Und das zu einer Unterschrift, die fast so viel Raum einnahm wie der gesamte Brieftext! Zelebriert mit einem vermutlich exquisiten Füllfederhalter, in preußisch-blauer Tinte.

Diese Kombination aus edlen Schreibmaterialien und altfränkischem Briefstil beeindruckte mich sehr und half mir damit für einige Sekunden über den freudigen Schock hinweg, den die Botschaft des Schreibens in mir auslöste.

Ich hatte Hahne, genauer: Prof. Dr. rer. oec. Dr. h. c. mult. Richard Hahne, während des Berufungsverfahrens nicht kennengelernt. Vor meinem geistigen Auge entstand eine auch physisch imponierende Persönlichkeit, ein Hüne vermutlich, raumfüllend, mit ausladenden Gesten und dröhnendem Bass. Ich konnte nicht ahnen, dass ich ihm zu seinen Lebzeiten niemals von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde – dem in Wahrheit kleinen, drahtigen Mann, in seiner Körpersprache und mit der stets leicht geduckten Haltung und einem lauernden Blick an einen Judoka erinnernd, der mindestens den 6. Dan erreicht hatte.

Doch dann wurde mir schlagartig bewusst, was der Brief von Hahne für mich bedeutete – mir lag das Angebot vor, meinem Leben eine ziemlich dramatische Wendung zu verleihen. Vom Abteilungsleiter in einem traditionsreichen Versicherungsunternehmen im Norden Deutschlands zum Professor an einer noch recht jungen Privathochschule im Südwesten. Hieß das: aus dem konservativen Umfeld der Assekuranz in die innovative Welt der Yuppies und der Start-up-Schmieden? Oder eher vom Haifischbecken freie Wirtschaft in das Reservat einer Alma Mater? Oder nur aus dem vertrauten norddeutschen Flachland ins fremdartige Mittelgebirge?

Ich hatte von der Ausschreibung der Stelle ganz zufällig am Rande einer Fachtagung erfahren und mich ohne allzu große Ambitionen beworben. Um so überraschter war ich gewesen, als ich – recht kurzfristig – zu einem Vorstellungsvortrag eingeladen wurde, den ich dann in aller Eile konzipierte und vor einem in seiner Zusammensetzung für mich ungewohnten Auditorium von weniger als zwanzig Personen an einem schwülen sommerlichen Spätnachmittag in einem grotesk überdimensionierten Hörsaal halten musste.

Die Atmosphäre bei dieser Veranstaltung war ausgesprochen angenehm. Der Vorsitzende der Berufungskommission, ein Professor Hunger, hatte mich freundlich begrüßt und mir durch seine Jovialität meine Nervosität und Anspannung weitgehend genommen. Hunger war offenbar, ähnlich wie ich, ein akademischer Quereinsteiger, nicht einmal promoviert, der aus der Bankwirtschaft zur Hochschule gekommen war. Seine Attitüde war demgemäß auch wenig professoral – er wirkte offen, hatte ein ansteckendes Lachen und hinter den getönten Gläsern seiner dicken Brille einen stets aufmerksamen, gelegentlich verschmitzten Blick. Seine schlanke, ja, hagere Figur trug auf hängenden Schultern einen schmalen, knochigen Kopf, und ich hatte mich bei unserer ersten Begegnung unwillkürlich gefragt, ob der dadurch hervorgerufene Eindruck der Askese nun zu seinem Nachnamen passte oder gerade nicht. Sein volles, zur Seite gekämmtes Haar war offensichtlich dunkel gefärbt – eine kosmetische Maßnahme, die mir bei Männern immer ein wenig übertrieben, wenn nicht gar suspekt erscheint, vor allem, wenn die dunklen Strähnen nicht so recht mit dem teigigen Teint darunter korrespondieren wollen.

Ich begann meinen Vortrag mit dem Versuch eines Witzes, denn es hatte sich sogar schon bis in die immer noch ziemlich provinzielle Welt der deutschen Personenversicherung herumgesprochen, dass dies in den zunehmend angelsächsisch dominierten Feldern der Wissenschaft geradezu erwartet wurde. »Bekanntlich gibt es drei Sorten Aktuare – die einen können zählen, die anderen können es nicht.«

Es trat für einen Moment lähmende Stille ein – hatte man den Witz nicht verstanden, oder hielt man es für taktlos, dass ich einen Scherz auf Kosten meiner eigenen Zunft zu machen versuchte? Hunger war so freundlich, mich herauszupauken, indem er eine Variante eines bekannteren Witzes über Aktuare nachschob, bei dem die Pointe stets lautet: »Sie müssen ein Aktuar sein. Alles, was Sie sagen, ist hundertprozentig richtig und doch zugleich völlig nutzlos!« Und fortfuhr: »Ich bin sicher, Herr Dr. Rieger wird uns jetzt das Gegenteil beweisen!«

Ich war gerettet und trug aus meinem Spezialgebiet – quantitative Methoden der Risikoeinschätzung und Risikoprüfung in der Personenversicherung – vor, einer Materie, die den Mitgliedern der Berufungskommission ziemlich fremd war. Ich würzte meinen Vortrag reichlich mit Anekdoten aus dem Versicherungsalltag, wobei insbesondere einige spektakuläre Fälle des Versicherungsbetruges Erstaunen und, anders als mein Auftaktwitz, auch Heiterkeit hervorriefen.

Die anschließende Diskussion verlief weitgehend unproblematisch. Die Vertreter des akademischen Mittelbaus stellten einige offenbar vorbereitete und abgestimmte Standardfragen zu meiner Motivation für einen eventuellen Wechsel von der »schmutzigen« Praxis in die hehren Gefilde von Forschung und Lehre, und die Repräsentantin der, wie es hier hieß, Studierendenschaft wollte genau wissen, wie es mit meinen pädagogischen Fähigkeiten bestellt war, ob ich zu allen Lehrveranstaltungen Skripten anfertigen und kostenlos aushändigen beziehungsweise ins Internet stellen würde und wie vertraut mir die modernen elektronischen Medien wären. Später erfuhr ich von einem Mitglied der Berufungskommission, dass ich merkwürdiger Weise der einzige Bewerber gewesen war, den sie nicht dezidiert mit bohrenden Fragen zum Grundsatz der Gleichberechtigung und zu Quotenregelungen bei Stellenbesetzungen gepeinigt hatte.

In der sogenannten Nachsitzung, bei der es Wasser, Tee, Kaffee und Kekse gab – ein Luxus, der in meinem Unternehmen jüngst einer Kampagne »Jeder EURO zählt!« zum Opfer gefallen war – wurde überwiegend Small Talk betrieben. Eine Ausnahme bildeten die Einlassungen eines Professors namens Specht, der offenbar seinem Namen alle Ehre machen wollte und lustvoll auf Reizthemen wie studentische Mitbestimmung und Studienreform und somit auch auf der einzigen anwesenden Studentin herumhackte. Mein Eindruck war, dass Specht darunter litt, statt an einer angesehenen und etablierten staatlichen Universität an dieser privaten Hochschule minderen Ranges tätig zu sein, und dass er seinen Frust darüber an allen Personen, Institutionen und Strukturen ausließ, die nach seiner Einschätzung die Zweitklassigkeit seiner gegenwärtigen akademischen Umgebung bewirkten oder verkörperten.

Nun hatte ich also tatsächlich und gegen meine eigenen Erwartungen den Ruf erhalten und sah mich vor eine bedeutsame, meinen gesamten zukünftigen Lebensweg steuernde Entscheidung gestellt.

Vier Monate später, zu Beginn des folgenden Wintersemesters, fand ich mich in einem kleinen, schäbigen Raum in einem sogenannten Verfügungsgebäude an der Peripherie der Hochschule wieder. Dieser hatte zuletzt offenbar als Abstellraum für meinen Fachbereich gedient, denn die Regale, die den größten Teil des Mobiliars ausmachten, waren voll von Druckstücken aller Art – Vorlesungsskripte, Protokolle, Übungsblätter sowie Flyer und Prospekte verschiedener Generationen, mit denen für die Hochschule und speziell für den Fachbereich »Banken, Versicherungen, Bausparkassen« geworben wurde.

Das mobile Inventar dieser Klause, die den Namen Büro nicht verdiente, bestand aus einem windschiefen Papierkorb, zwei einfachen, mit grauem, abgewetztem Tuch bezogenen Stühlen, deren ohnehin dünne Polster durchgesessen waren, sowie einem Schreibtisch, dessen zerkratzte und beschmierte Platte von rücksichtsloser Nutzung durch frühere Inhaber zeugte und dessen Fächer und Schubladen wie die Regale mit Druckstücken und diversem Krimskrams vollgestopft waren.

Auf dem Schreibtisch befanden sich ein antiquiertes Telefon, das aber außer Betrieb war, sowie einige Utensilien – ein Stifteköcher mit mehreren Kulis, ein leerer Briefkorb sowie, wie ein Relikt aus längst vergangenen Büroepochen, ein aufgeschlagener Stenogrammblock mit teils beschriebenen, teils leeren Seiten, dem offenbar viele Blätter fehlten.

Mehrere Tintenflecken auf der Schreibtischplatte deuteten darauf hin, dass frühere Nutzer Füllfederhalter verwendet hatten und mit diesen nicht sehr sorgsam umgegangen waren.

Durch ein schmales Fenster, das wohl schon lange nicht mehr gereinigt worden war, fiel das schräge Licht der Herbstsonne in den Raum und ließ überdeutlich dichte Staubschichten erkennen, die die meisten freien Flächen bedeckten. Die unverkleidete Neon-Röhre an der Decke würde mit ihrem kalten Licht das deprimierende Interieur dieses Kabuffs vermutlich noch weniger heimelig erscheinen lassen als es das Tageslicht tat.

Von einem Internet-Anschluss oder einer W-LAN-Verbindung konnte natürlich nicht die Rede sein, so dass ich mein privates Notebook gar nicht erst aus der Tasche herauszog.

2

Ich hatte mir den Start in dieser für mich in jeder Hinsicht ungewohnten Umgebung nicht leicht, aber doch auch nicht so katastrophal vorgestellt. Die Berufungsverhandlungen, bei denen ich es mit dem Prodekan des Fachbereichs und dem Kanzler der Hochschule zu tun hatte, waren in freundlicher Atmosphäre verlaufen. Ich hatte mich zuvor bei Hunger erkundigt, auf was ich als unerfahrener Newcomer achten sollte und welche Ausstattung meines Lehrstuhls ich erwarten konnte. Meine personellen Wünsche, je eine Assistenten- und Sekretariatsstelle, waren in der Berufungszusage glatt halbiert worden. Immerhin wurde eine Aufstockung auf eine ganze Assistentenstelle in Aussicht gestellt. Die Sachmittelausstattung erschien mir demgegenüber geradezu opulent.

Aber was ich mir nicht hatte vorstellen können war die völlige Passivität der Fachbereichs-verwaltung in Bezug auf meine Unterbringung und die Erstausstattung meines Arbeitsplatzes. Was dachte sich eigentlich mein neuer Kollege Hunger, der sich als Federführender in dem Berufungsverfahren ganz besonders für meinen Start verantwortlich fühlen sollte? Ich hatte in gut zwei Wochen meine erste Vorlesung zu halten und saß nun in einer besseren Besen-kammer ohne die Minimalausstattung eines arbeitsfähigen Büros.

Mein Unverständnis und meine Empörung hierüber waren so groß, dass ich beschloss, zunächst einmal in eine Art innere Emigration zu gehen und mich um gar nichts zu kümmern. Stattdessen griff ich mir einige der reichlich vorhandenen Unterlagen und blätterte insbesondere die alten Prospekte der Hochschule und des Fachbereichs durch. Da die meisten Abbildungen mit Bildunterschriften versehen waren, konnte ich mich auf diese Weise immerhin mit einigen Personen und mit deren Aussehen vertraut machen.

Die erste Überraschung dabei erlebte ich, als ich in einem mehrere Jahre alten Druckstück ein Konterfei des Gründungsrektors Hahne entdeckte. Der Mann war offenbar älter, als ich vermutet hatte. Aus einem faltigen, stark gebräunten Gesicht blinzelten zwei schmale, sehr wache Äuglein in die Kamera. Ungewöhnlich für einen Mann in seiner Position waren die raspelkurz geschnittenen weißen Haare. Auf einem Gruppenfoto mit Repräsentanten der Hochschule, der Stadt und des Landes sah ich dann, dass Hahne klein von Statur war, aber doch eine starke physische Präsenz ausstrahlte. Der neben ihm stehende Stadtkämmerer überragte ihn um Haupteslänge, wirkte aber lasch und weichlich neben dem drahtigen Rektor, der, anders als alle anderen Personen auf dem Foto, in Freizeitkleidung angetreten war.

Auf anderen Fotos entdeckte ich Mitglieder der Berufungskommission, die sich mir bei meinem Vortrag vorgestellt hatten, deren Namen ich mir aber, außer dem von Specht, nicht gemerkt hatte. Einer hieß Brüggemann und war offenbar für das Gebiet Geld und Währung zuständig, ein anderer, der die Bankbetriebslehre vertrat und während meines Vortrages die meiste Zeit geschlafen hatte, Urban Kettler.

In einem der Prospekte steckte, möglicherweise als Lesezeichen, ein aus dem Stenoblock herausgetrennter Zettel. Auf ihm befanden sich einige Kritzeleien, wie man sie manchmal anfertigt, wenn man ein langes, möglicherweise langweiliges Telefonat absolviert. Da hatte jemand mit einem blauen Kuli, dessen Mine schmierte, ein schraffiertes Muster gezeichnet. Es fanden sich auch ein paar zackige Linien und, als markantestes Motiv, ein vermutlich männliches Konterfei, über das einige heftige Striche gezogen waren, die ein liegendes Kreuz formten – war das ein als misslungen angesehenes und daher unkenntlich gemachtes Selbstporträt, oder handelte es sich um das Abbild eines Feindes, der symbolisch vernichtet wurde? Ein wenig erinnerte mich dieses Bild an ein polizeiliches Fahndungsfoto, das auf einer »Wanted!«-Liste durchgestrichen worden war, nachdem man die gesuchte Person dingfest gemacht hatte. Das Kunstwerk enthielt keinen Hinweis auf seinen Schöpfer und auch keinen Anhaltspunkt zum Datum seiner Entstehung.

Ich legte den Zettel nicht in den Prospekt zurück, sondern fügte ihn in den Stenoblock ein und war gerade im Begriff, meine Literaturrecherche zu beenden, als es an der Tür klopfte. Auf mein »Ja, bitte!« wurde die Tür gerade so weit geöffnet, dass der Kopf von Beate Ammeyer durch die entstehende Lücke passte. Frau Ammeyer war die Sekretärin von Hunger. Sie wirkte äußerlich spießig, ja, geradezu verklemmt mit ihren blonden Kräusellöckchen, der altmodischen Brille und ihrer offensichtlichen Vorliebe für weit geschnittene lange Kleider, die zwischen Tracht, Landhaus-Stil und großmütterlichem Schürzenkleid changierten, allerdings, soweit ich es beurteilen konnte, durchweg dem gehobenen Preissegment entstammten.

Aber der äußere Eindruck täuschte. Aus meinen zahlreichen Kontakten mit ihr während des Berufungsverfahrens wusste ich, dass Frau Ammeyer sehr zielstrebig und nötigenfalls auch durchsetzungsfreudig und insgesamt offenbar sehr tüchtig war. Die diversen erforderlichen Terminabsprachen, Buchungen und Reservierungen hatte sie mit professioneller Routine erledigt, wobei sie gelegentlich verblüfft über meine Anspruchslosigkeit zu sein schien.

Anscheinend war sie gewohnt, dass die Herren Professoren in solchen Angelegenheiten sehr eigenwillig, egozentrisch und durchaus auch rücksichtslos verfuhren und die daraus resultierenden Misshelligkeiten und kognitiven Dissonanzen gern bei ihr abluden.

Wenn Frau Ammeyer meine Unterbringung für unangemessen hielt – wovon ich überzeugt war -, so ließ sie sich das doch nicht anmerken. Ihre Loyalität gegenüber Hunger, den auch sie sicherlich in der Pflicht sah, war so ausgeprägt, dass sie nicht einmal durch ihr Mienenspiel zu erkennen gab, welchen Eindruck meine ärmliche Behausung auf sie machte.

Sie grüßte freundlich und fragte, wie es mir ginge, wobei sie mich als »Dr. Rieger« ansprach, was völlig korrekt war, denn meine Ernennungsurkunde war mir noch nicht ausgehändigt worden – ruhte sie vielleicht im Briefkorb des Kollegen Hunger? Ich grüßte zurück und fügte hinzu »Willkommen in meiner bescheidenen Klause, Frau Ammeyer!« Ich hatte schon früher festgestellt, dass mein Sinn für Humor mit dem ihren nicht unbedingt kompatibel war und dass sie insbesondere meine Ironie häufig nicht richtig einzuschätzen wusste. Trotzdem fügte ich noch hinzu: »Das Wichtigste ist doch soup, soap and salvation, also Suppe, Seife, Seelenheil, wie wir von der Heilsarmee zu sagen pflegen.«

Frau Ammeyer schaute mich an, als hätte ich in einem völlig unverständlichen, ihr jedenfalls total unbekannten Idiom gesprochen. Und vielleicht war sie auch ein wenig beleidigt darüber, dass ich in Verkennung ihrer Fremdsprachenkenntnisse eine Übersetzung des berühmten Mottos mitgeliefert hatte. Ich setzte schon zu der Bemerkung an »Wissen Sie eigentlich, dass in der Heilsarmee die Frauen schon im 19. Jahrhundert den Männern gleichgestellt waren?«, womit ich mich vermutlich eines Overkills an abseitigem Scherz schuldig gemacht hätte, da fragte sie mich zum Glück ihrerseits, ob ich Zeit hätte für ein kurzes Gespräch mit Herrn Professor Hunger.

Mir lag auf der Zunge, ihr zu antworten, dass ich ja in dem mir zugewiesenen Abstellraum mangels Telefon- und W-LAN-Anschluss ohnehin zur Untätigkeit verdammt und gerade im Begriff war, den alten Spruch vom Müßiggang, der aller Laster Anfang sei, zu validieren, aber ich wollte sie nicht noch mehr verschrecken und sagte stattdessen, dass ich sehr gern mit Herrn Kollegen Hunger sprechen würde. Mit einer um mich herum weisenden Armbewegung fügte ich noch hinzu, dass es ja auch von meiner Seite aus einiges zu besprechen gäbe und dass ich auch von ihr gern erfahren würde, wie ich in den Besitz einer Grundausstattung von Büromaterial gelangen könne.

»In einer halben Stunde, um 11:30?«, fragte sie schnell, und als ich nickte, fügte sie ein rasches »Danke!« hinzu und verschwand genauso plötzlich, wie sie gekommen war. Ich wollte die Zeit nutzen, um mir Gedanken und Notizen zu dem Gespräch mit Hunger und den Forderungen, die ich stellen wollte, zu machen, ließ mich aber zunächst von einem Gedanken, der im Laufe des Gesprächs mit Frau Ammeyer bei mir aufgeblitzt war, ablenken. Ich hatte beim Blättern in den alten Fakultätsunterlagen auch ein Gruppenfoto gesehen, auf dem Hahne neben einer jungen Frau mit Kräusellöckchen stand, und irgendetwas an der Haltung der beiden war mir ungewöhnlich vorgekommen, ohne dass ich dieser Empfindung weiter nachgegangen war. Ich musste einige Zeit suchen und blättern, dann hatte ich das Foto wiedergefunden. Und tatsächlich – die beiden standen in einem vertraut wirkenden, engen Körperkontakt zueinander, als sei diese Nähe nicht nur dadurch bedingt, dass fast zehn Personen gemeinsam auf einem Foto Platz finden sollten.

Wenn man zu viel Zeit hat oder sich intellektuell unterfordert fühlt, läuft man Gefahr, sich mit Lappalien abzugeben oder unsinnige Spekulationen anzustellen. Frau Ammeyer und der in meiner Vorstellung geradezu majestätische, auf Bütten kommunizierende Hahne? Absurd! Ich ahnte nicht, dass mein Herumphantasieren der Anfang einer Spur war, die einmal zur Aufklärung eines Gewaltverbrechens führen würde.

3

Ich hatte immerhin noch genügend Zeit gehabt, um mich gründlich auf das Gespräch mit Hunger vorzubereiten, nahm mir aber vor, meine Empörung über die meines Erachtens mehr als schäbige Behandlung nicht offen zu zeigen.

Aber auch Hunger war zu meiner Überraschung bestens präpariert. Er verwöhnte mich mit einem Angebot an Kaffee, Tee und Gebäck, das Frau Ammeyer auf einem Besprechungstisch bereitgestellt hatte und durch das ich mich, entwöhnt und bestechlich, wie ich war, sofort zu Wohlverhalten verführen ließ.

Und dann wurde mir auch schon ein wahres Füllhorn an Wohltaten in Aussicht gestellt: Es seien Techniker beauftragt, die am nächsten Vormittag einen Telefon- und FAX-Anschluss legen und eine W-LAN-Verbindung herstellen würden. Die erforderlichen Leitungen seien oder würden gelegt, entsprechende Geräte stünden schon bereit. Noch am selben Tag würde Frau Ammeyer zusammen mit einem Assistenten einen großen Karton mit einer Grundausstattung von Büromaterial – »alles, von der Tesa-Rolle bis zur Büroklammer«, wie Hunger sich ausdrückte – in mein Arbeitszimmer schaffen. Der Hausmeister solle angewiesen werden, schnellstmöglich einen Container zur Entsorgung von Altpapier vor meine Tür zu stellen – in diesen könnte ich alle Papiere hineinwerfen, die in den Regalen herumlägen. Für alles sonstige »Gelumpe« würde ebenfalls ein Container bereitstehen. »Wir nehmen es hier sehr ernst mit der Mülltrennung!«, betonte Hunger, und ich konnte seinem Tonfall nicht entnehmen, ob er diese Grundeinstellung auch selber einnahm oder sich über den Rigorismus des Hauses hinwegsetzte oder zumindest heimlich mokierte oder amüsierte.

»Ja«, schloss er seinen Ankündigungskatalog, »wir wollen dem neuen Kollegen doch mal zeigen, dass wir auch als Bankkaufleute etwas von Logistik und Infrastruktur verstehen!« Das schien sein Schlusswort zu sein – es war offenbar nicht eingeplant, dass seine Agenda möglicherweise unvollständig war oder dass ich von mir aus darüber hinausgehende Wünsche hegte. Ich leerte rasch meine Kaffeetasse – wer weiß, wann ich wieder einen frisch gebrühten Kaffee bekomme, dachte ich -, verabschiedete mich kurz von ihm und anschließend im Vorzimmer von Frau Ammeyer und trollte mich.

Auf dem Rückweg zu meinem Verschlag im Verfügungsgebäude machte ich einen Bogen über das Gastdozentenhaus, wo ich seit einigen Tagen Bewohner einer anderen immobilen Zumutung war. Die Hochschule hatte mir die Freundlichkeit erwiesen, mir bis zu dem Zeitpunkt, zu dem ich eine neue private Bleibe gefunden hatte, ein sogenanntes Appartement in diesem Etablissement zur Verfügung zu stellen.

Das Gebäude hatte ursprünglich einem anderen, mir nicht bekannten Zweck gedient und war nach Gründung der privaten Hochschule auf Betreiben des damaligen Oberbürgermeisters, der auf den schönen Namen Rüsselkopf hörte, umgewidmet worden. Wie ich später erfuhr, war vorgesehen, dies durch die Namensgebung »Gastdozentenhaus Erwin Rüsselkopf« dankbar zu dokumentieren, doch im Stadtrat war man sich uneins, ob dies schon zu Lebzeiten des verdienstvollen Kommunalpolitikers geschehen solle oder erst posthum. Spötter verwiesen mit Blick auf die Trinkfreude des Alt-OB darauf, dass sich dieses Dilemma bald schon auf natürliche Weise erledigt haben würde.

Auf meinem Weg begegnete mir kaum ein lebendes Wesen. Der Campus liegt am Stadtrand, so dass ihn nur selten ein Außenstehender betritt, und wegen der vorlesungsfreien Zeit ließen sich auch nur wenige Universitätsangehörige auf dem Gelände blicken. Dass unter diesen irgendein mir bekanntes Gesicht erscheinen würde, war ziemlich unwahrscheinlich – bisher kannte ich ja höchstens ein Dutzend Dozenten, Studenten und Angehörige des sogenannten Technischen und Verwaltungspersonals, kurz TVP.

Das Gastdozentenhaus, ein liebloser Betonklotz aus den siebziger Jahren, verband den architektonischen Charme einer Jugendherberge mit der Ausstattungseleganz eines Wohncontainers. Und wenn diese Äußerlichkeiten vielleicht noch zumutbar gewesen wären – ich hatte schließlich mein bisheriges Leben auch nicht in einer Millionärsvilla an der Côte d’Azur verbracht –, so war da aber doch ein weiterer Umstand, der mir den Aufenthalt in diesem gastlichen Hause verleidete: In jedem Stockwerk gab es eine mit allen einschlägigen Accessoires ausgestattete Küche – Elektroherd, Kühlschrank mit Gefrierfach, Geschirrspüler, Wasserkocher, Geschirr, Bestecke, Töpfe und Pfannen und natürlich Abfallbehälter, die eine ordnungsgemäße Mülltrennung erlaubten.

Es gab auch eine Putzfrau, die einmal am Tag für Sauberkeit in diesem Gemeinschaftsraum sorgen sollte und sich vermutlich dabei redlich bemühte – aber ihr Wirken, mochte es auch noch so aufopferungsvoll sein, verpuffte angesichts dessen, was jeweils ein Dutzend Stockwerksbewohner aus aller Herren Länder anzurichten imstande waren: Jeder siedete und kochte, briet und brutzelte nach Herzenslust, aber keiner machte anschließend sauber. Und da dieses kulinarische Treiben sich sieben Tage in der Woche fast rund um die Uhr vollzog und dabei auch noch regelmäßig das Fett spritzte, die Suppen überkochten und mit aromatischen Gewürzen und sonstigen Spezereien nicht gespart wurde, war diese Küche ein hygienisches Notstandsgebiet sondergleichen, eine olfaktorische Hölle und eine Zumutung für jeden, der auch nur den bescheidenen Anspruch hatte, sich in einem sauberen Becher mit keimfreiem kochendem Wasser einen löslichen Kaffee oder einen Tee aus dem Beutel zuzubereiten.

Der Zustand der Küche stand in krassem Gegensatz zu den Texten auf diversen Blättern und Zetteln, die auslagen bzw. an die Wände und Schränke gepinnt waren und Aufforderungen, Hinweise und meist mit verzweifeltem Unterton formulierte Bitten enthielten, mit denen die Küchenbenutzung geregelt und rücksichtsvolles Gebaren erheischt oder angemahnt wurde.

Da ich nie in einer Wohngemeinschaft gelebt hatte und seit dem Auszug aus dem Elternhaus immer selbst und ganz allein für den Zustand meiner Küche verantwortlich gewesen war, hatte ich keinerlei Widerstandskräfte gegen derartige Manifestationen von Unappetitlichkeit entwickelt. Und so kostete es mich immer wieder eine gewisse Überwindung, dieses Gebäude zu betreten oder meine Zimmertür zu öffnen, um es zu verlassen. Ich wusste ja nur allzu gut, dass ich mich dabei in eine Duftwolke aus strengem Curryaroma, dem beißenden Geruch von angebrannter Milch und den Ausdünstungen saurer Konserven, deren Saft beim Öffnen der Gläser und Dosen übergeschwappt und in den Teppichboden eingesickert war, begeben würde.

Ich hatte vor, die nächsten Stunden mit dem Aufräumen meines Büros zu verbringen, und wollte mir dazu aus meinem Appartement etwas zu essen und zu trinken holen. Damit ausgestattet und nach dem Verlassen des Gebäudes einige Male tief durchatmend begab ich mich zurück zum Verfügungsgebäude. Zu meinem freudigen Erstaunen sah ich bereits von weitem vor der Eingangstür zwei Container stehen. Kollege Hunger, Frau Ammeyer und der Hauswart hatten also sehr schnell reagiert. Als ich näher kam, konnte ich an Hand der Beschriftungen erkennen, dass der eine Container für Altpapier und Pappen, der andere für Restmüll vorgesehen war.

Ich betrat meinen Raum, deponierte meine Mitbringsel auf dem Schreibtisch und inspizierte die Regale, um ein wenig Lesestoff zu finden, mit dem ich meine frugale Mahlzeit anreichern konnte. Ich stieß auf eine etwas dickere Broschüre, die ich vorher übersehen hatte, weil sie unter einem hohen Stapel bedruckter DIN A4-Seiten lag. Es handelte sich um eine Festschrift für einen Professor Finke aus Anlass von dessen Emeritierung. Sie trug den Titel »Staat, Nation, Wirtschaft« und enthielt auf der ersten Seite ein Foto des Geehrten, der in etwa so aussah, wie ich mir Hahne vorgestellt hatte – ein mächtiger Schädel mit einer langen Mähne nach hinten gebürsteter schlohweißer Haare, eine dunkle Hornbrille mit dicken Gläsern, die die Augen stark vergrößerten, kräftige, buschige Augenbrauen und unter einer ziemlich dicken Nase ein leicht geöffneter Mund, der durchaus die Vorstellung zuließ, dass er brüllen und auch zuschnappen konnte.

Ich ließ mich auf den Stuhl fallen, streckte ohne Bedenken die Beine auf der Schreibtischplatte aus, langte nach dem mitgebrachten Apfel – Topaz, knackig und säuerlich im Geschmack – und begann, in dem Buch zu blättern. Die Festschrift war von mehreren Fachkollegen Finkes herausgegeben worden, der als Volkswirt und Staatswissenschaftler vorgestellt und in einer langen Widmung dafür gerühmt wurde, dass er auf diesen Gebieten bahnbrechende wissenschaftliche Leistungen erbracht hatte. Der Band enthielt über zwanzig Beiträge, die offenbar alle von Schülern Finkes verfasst worden waren. Beim Überfliegen des Inhaltsverzeichnisses stolperte ich über den Titel einer Arbeit, in der offenbar versucht wurde, das berühmte Peter-Prinzip (»In a hierarchy every employee tends to rise to his level of incompetence«) mit Hilfe eines mathematischen Modells zu begründen und zu verifizieren. Als ich die Stelle aufschlug, an der der Artikel beginnen sollte, fiel ein Stück Papier heraus. Es handelte sich um ein kleinformatiges Schwarz-Weiß-Foto, auf dem eine Frau abgebildet war. Ihr Gesicht war durch ihre nach vorn fallenden, langen dunklen Haare teilweise verdeckt. Die Frau stand vor einer hellen Wand und war gänzlich unbekleidet.

»Bella figura«, dachte ich und fragte mich, ob ich nun das gesamte zu entsorgende Altpapier auf solche Trouvaillen durchsuchen sollte, bevor ich es dem Papiercontainer überantwortete. Ich ließ die Antwort auf diese Frage zunächst einmal offen, beendete meine Mittagspause und begann damit, dem Restmüll, der sich in meinem Zimmer befand, zu Leibe zu rücken – wild entschlossen, im Zweifelsfall lieber ein Objekt zu viel als eins zu wenig in den Container zu werfen.

An das antike Wählscheiben-Telefon traute ich mich zunächst noch nicht heran, aber ich entdeckte in einer Ecke neben einem der Regale einen Karton, der offenbar die Reste eines uralten Wachsmatrizen-Druckers samt Zubehör enthielt – dieser Schrott durfte und musste weg! Der Karton war schwer und unhandlich, dazu noch innen und außen stark verschmutzt. Ich öffnete also zunächst die Tür und ging zum Restmüll-Container, schob dessen Klappe zurück und warf sicherheitshalber auch einen Blick hinein, um zu überprüfen, ob er leer war oder zumindest noch über hinreichend viel Raum für die erste Fuhre verfügte. Ich konnte aber nicht ahnen, welch ungewöhnlichen Inhalt man mir vor die Tür geschoben hatte.

4

Auf Grund meiner Erfahrungen mit vierschrötigen und in ihrem Ressort, das sich heute anmaßend Facility Management nennt, geradezu allmächtigen Hausmeistern hielt ich es für nicht völlig ausgeschlossen, dass man mir einen bereits gut gefüllten Container vor die Tür gestellt hatte. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass diese Füllung aus einem menschlichen Körper bestehen könnte. Dies war aber offensichtlich der Fall. Der Blick, den ich in den Container warf, fiel auf einen hellbraunen Cordanzug, in dem offensichtlich ein Mensch und zwar, wie ich rasch erkannte, ein Mann steckte. Und es war auch unübersehbar, dass es sich hierbei in der Tat um ein menschliches Wesen und nicht etwa um eine Schaufensterpuppe, einen Dummy oder eine sonstige Attrappe handelte.

Im ersten Moment kam mir nichts anderes in den Sinn, als dass sich hier jemand einen üblen Scherz erlaubte oder dass schlimmstenfalls ein skurriler Unglücksfall vorlag: Der Mann war vielleicht aus irgendeinem Grund und auf irgendeine Weise in den geöffneten Container gestürzt, die Klappe hatte sich über dem Ohnmächtigen geschlossen, und der Hausmeister hatte ihn ahnungslos als Containerfracht an mich, den ebenfalls arglosen Empfänger, ausgeliefert. Aus dieser Vorstellung erwuchs sofort der Impuls, dem offenbar Verunglückten schnellstmöglich Erste Hilfe angedeihen zu lassen und ihn dann, soweit erforderlich, in die Hände geschulten und sachkundigen Sanitätspersonals zu übergeben.

Ich stellte mich also auf die Zehenspitzen und beugte mich tief in den Container hinein, um so gut wie möglich in das abgewandte Gesicht des Mannes blicken zu können. Vorsichtig drehte ich den Kopf ein wenig herum und erkannte zweierlei: Der Mann war vermutlich tot, und es handelte sich, wenn ich den vor ein paar Stunden intensiv studierten Fotografien trauen konnte, um keinen anderen als um Richard Hahne, den Rektor, persönlich.

Bisher war ich erstaunlich ruhig geblieben, aber jetzt, als ich in meiner Hosentasche nach meinem Mobiltelefon nestelte, überkam mich zum ersten Mal eine leichte Panik. Kein Mensch war in meiner Nähe, den ich auch nur hätte fragen können, welche Notrufnummer in einem solchen Fall am besten und zuerst anzurufen wäre – 110, 112 oder noch eine andere? Da ich nicht genau wusste, wofür die 112 zuständig war, wählte ich die 110 – das musste nach meiner schwachen Erinnerung die Polizeirufnummer sein, hoffentlich ohne irgendeine Vorwahl.

Nach kurzem Klingeln meldete sich eine sonore männliche Stimme, ein akustisches Sedativum wie aus dem Bilderbuch oder dem Fernsehkrimi. Der Aufforderung, den Anlass meines Notrufes zu schildern, folgte ich so sachlich und sachdienlich, wie es mein inzwischen doch etwas konfuser Gemütszustand zuließ. Auf diesen führte mein Gesprächspartner vermutlich auch meine mangelnde Orts- und Namenskenntnis bei dem Versuch der genauen Beschreibung meines Standortes zurück, obwohl es hierfür ja einen ganz anderen Grund gab.

Der Mann forderte mich schließlich auf, Ruhe zu bewahren, den Platz nicht zu verlassen und auch kein weiteres Aufsehen zu erregen – es sei denn, es kämen zufällig geeignete Nothelfer von der Polizei oder von der Feuerwehr vorbei. Er versprach, dass in wenigen Minuten seine Kollegen sowie Sanitätspersonen erscheinen würden, und legte mit einem ebenso knappen wie etwas deplatzierten »Machen Sie’s gut!« auf.

Schon kurze Zeit später vernahm ich in der Ferne das Aufheulen von Martinshörnern, und tatsächlich trafen bald darauf zwei Polizeiwagen und ein Rettungswagen vor dem Gebäude ein. Ich hatte in dieser Zeit nur einmal kurz am leblosen Körper von Hahne gerüttelt in dem vergeblichen Bemühen, vielleicht doch noch einen Funken Leben darin zu erwecken oder zu erspüren.

Vier Polizeibeamte und zwei Sanitäter stürmten auf mich zu, und ich deutete stumm auf den Container, von dem ich mich dann einige Schritte entfernte, um den Experten das Feld zu überlassen. Alle sechs warfen einen Blick in den Behälter, und dann hoben die Sanitäter den, wie ich nun endgültig überzeugt war, Leichnam des Rektors heraus. Sie trugen ihn in das Verfügungsgebäude, wo sie ihn genau vor meiner Tür auf den nackten Boden legten. Aus meiner Position konnte ich nicht erkennen, ob sie ihn näher untersuchten. Doch schon nach kurzer Zeit lief einer von ihnen zu ihrem Wagen und schleppte etwas heran, was nach meiner schwachen Erinnerung an einen Kursus über Notfallmedizin ein AED-Gerät zur Durchführung einer Defibrillation sein musste.

Die Polizisten hatten in der Zwischenzeit das vorgenommen, was in Zeitungs- und Fernsehberichten immer als »weiträumige Absperrung« bezeichnet wird – um den Container war in großem Abstand ein rot-weißes Flatterband gespannt worden und bildete eine halbkreisförmige No-go-Area, aus der ich mich jetzt unaufgefordert vorsichtig hinaus bewegte. Ich fragte den mir am nächsten stehenden Beamten, ob ich nun auch Universitätsangehörige benachrichtigen sollte – ich hatte auf meinem Mobiltelefon immerhin die Nummern von Hunger, Frau Ammeyer und auch von Hahnes Sekretariat gespeichert -, aber mit einem barschen »Auf gar keinen Fall!« und einer Geste, als müsse man mich energisch daran hindern, einen zweiten Todesfall zu verursachen, wurde mein Vorschlag abgewürgt. Auf diese präpotente Wichtigtuerei hätte ich am liebsten mit der Bemerkung »Sie wollen sicher zunächst einmal feststellen, ob im anderen Container auch noch ein Toter liegt?« reagiert, aber ich verkniff mir die Spöttelei und sah im gleichen Moment, wie einer der Sanitäter aus dem Gebäude kam und kopfschüttelnd auf die Polizeibeamten zuging.

Es folgte eine in gedämpftem Ton durchgeführte kurze Unterredung des Einsatzkommandos, in deren Folge einer der Beamten zu seinem Mobiltelefon griff und dann offenbar sehr routiniert Informationen und vielleicht auch Instruktionen durchgab. Kurioserweise musste ich bei seinen knappen Durchsagen an die Zeile in dem Lied »Nathalie« von Gilbert Bécaud » … sprach in gelerntem Ton von der Oktoberrevolution« denken. Als ich einmal im Französischunterricht den Originaltext mit den »phrases sobres« übersetzen sollte, hatte ich versucht mir vorzustellen, wie der sogenannte »Monsieur 100.000 Volt« die wortwörtliche Übersetzung »in nüchternem Ton« wohl ausgesprochen hätte.