Zuviel der Toten - Wolf-Rüdiger Heilmann - E-Book

Zuviel der Toten E-Book

Wolf-Rüdiger Heilmann

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Beschreibung

Der Mathematiker Jürgen Rieger ist dem Ruf auf eine Professur an einer Hochschule in Berlin gefolgt. Dort wird er rasch Mitglied in dem angesehenen Joachim-Friedrich-Club, dessen einflussreiches Mitglied Xaver Heck ihm allerdings mit unerklärlicher Abneigung begegnet. Zufällig trifft er eine Mitarbeiterin des Justizministeriums, für das er einmal als Gutachter tätig war. Später stellt sich heraus, dass sie die Nichte von Heck ist. Auch ihr Verhalten ihm gegenüber erscheint ihm rätselhaft. Dann werden innerhalb kurzer Zeit zwei Clubmitglieder ermordet. Der zweite Tote ist Xaver Heck, und ausgerechnet Jürgen Rieger findet beim Joggen dessen Leiche. Den Ermittlern stellt sich die Frage, ob die beiden Morde zusammenhängen und ob Rieger mehr über den Tod von Heck weiß, als er bei seinen Befragungen zugibt.

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Beautiful, beautiful, beautiful

Beautiful boy

(John Lennon, Beautiful Boy)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Prolog

Kein Zweifel – der Mann, der da vor mir auf dem Waldboden lag und mich mit weit aufgerissenen Augen anzustarren schien, war Xaver Heck. Ich war mir sicher, dass er tot war.

Sein Anblick erfüllte mich mit Mitleid. Keine Schadenfreude, kein Gefühl der Überlegenheit, kein Triumph – der leblose Körper des Mannes, der mich seit vielen Wochen mit seiner Missgunst, seinen Schikanen und seiner üblen Nachrede verfolgt hatte, wirkte auf mich so beklemmend, dass keine Häme in mir aufzukommen vermochte.

Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass dieser Mensch mich in Ruhe lassen würde! Wie oft hatte ich ihn verwünscht, war schon wütend geworden, wenn er auftauchte und sofort versuchte, sich in Szene zu setzen, wie sehr hatten mich seine Arroganz, sein Imponiergehabe, sein beißender Spott verärgert, auch wenn ich selbst nicht das Ziel seiner Attacken war.

Und nun hatte ihn jemand zur Strecke gebracht wie ein Jäger ein Stück Wild – und der altböse Feind tat mir einfach nur leid.

Es war mehr die Scheu vor dem leblosen Körper als die rationale Überlegung, keine Spuren zu verwischen, die mich davon abhielt, mich der Leiche Hecks weiter zu nähern. Ich griff nach meinem Mobiltelefon und wählte 110.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang genervt. »Moment, Moment, bin gleich wieder da!« Es klickte, knackte und rauschte, dann fuhr der Mann fort: »So, nun schießen Sie mal los! Wer sind Sie, wo sind Sie, was ist passiert, was wollen Sie?« Ich widerstand der Versuchung, ihm gleich zu antworten, dass hier schon geschossen worden war, und bemühte mich, mein Anliegen so ruhig und sachlich vorzubringen wie möglich: »Mein Name ist Jürgen Rieger. Ich jogge im Grunewald, auf dem Weg, der vom Kronprinzessinnenweg oder Königsweg zum Teufelssee führt. Etwas abseits der Strecke bin ich auf eine männliche Leiche gestoßen. Ich kenne den Mann, und ich vermute, dass er erschossen worden ist.«

1

D a hamse nu ooch wieda Recht!« Unvermittelt fiel er von seinem völlig akzentfreien Hochdeutsch ins Berlinerische. Durfte ich das als Zeichen von Sympathie deuten, oder kaschierte er mit diesem kumpelhaften Ton seinen Unmut über meine negative Antwort auf seine Frage, ob ich Golfspieler sei? War er vielleicht erzürnt über meine Begründung, in der ich ihn mit den Aussagen »Fühle mich noch zu jung dafür«, »Passt wohl nicht zu meinem Temperament und zu meiner Motorik« und »Kostet zu viel Zeit« konfrontiert hatte? Dabei hatte ich mir doch die ganz harten Schläge verkniffen – »Zu elitär!«, »Schickimicki!« oder gar »Drehe lieber ein paar Runden mit dem Fahrrad auf dem Tempelhofer Flugfeld!«

Seine Frage nach dem Golfspiel war nicht die erste Hürde, die Fritz Kniepmann für mich aufgestellt hatte. Heikler noch war seine Aufforderung, ihm doch bitte zu erklären, warum ich bei meinem Wechsel nach Berlin Mitglied des Joachim-Friedrich-Clubs werden wollte – meine bisherige Mitgliedschaft im Karl-Friedrich-Club im Badischen eröffne mir doch schließlich den Zugang zu diversen befreundeten Clubs in der Hauptstadt.

Nachdem ich mir einige mehr oder weniger plausible Begründungen abgerungen hatte, legte er die Latte dann noch ein wenig höher: »Sie wissen doch, wer unser Namenspatron ist?« Hatte er darauf spekuliert, dass ich an den verstorbenen Journalisten Hanns Joachim Friedrichs denken würde? Zu meinem Glück war ich mit der Geschichte des Hauses Hohenzollern und Preußens immerhin so gut vertraut, dass ich auf den Kurfürsten Joachim Friedrich von Brandenburg verweisen konnte, was er mit einem herablassenden »Genau! Ist ja allgemein bekannt!« quittierte.

Seit einem knappen Vierteljahr lebte ich nun schon in Berlin, nachdem ich den Ruf auf einen Lehrstuhl für Ökonometrie und Wirtschaftsmathematik an der in Dahlem residierenden Hochschule angenommen und eine Wohnung im Bayerischen Viertel von Schöneberg bezogen hatte.

Von meiner bisherigen Wirkungsstätte brachte ich schöne und auch weniger schöne Erinnerungen mit – an eine schwierige Zeit als Mitglied einer zerstrittenen Fakultät, überwiegend erfreuliche Erlebnisse und Erfahrungen bei meinen Aktivitäten in Forschung und Lehre, angenehme und auch weniger angenehme Begegnungen mit Menschen aus meinem beruflichen Umfeld und abseits davon, sowohl oberflächliche als auch intensive Beziehungen zu Menschen unterschiedlichster Herkunft und ein sehr moderates Liebesleben – in eine Studentin hätte ich mich um ein Haar verliebt, und die Beziehung zu der Witwe eines früheren Mitglieds meiner Fakultät bedeutete für fast ein Jahr Himmel und Hölle zugleich und hätte mich am Ende fast um den Verstand gebracht.

Kollegen meiner Fakultät hatten mich seinerzeit überredet, Mitglied des Karl-Friedrich-Clubs zu werden. Dieser Club, benannt nach dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden, war eine lokale Variante von besser bekannten Serviceclubs wie LIONS und Rotary, ein konservativer Herrenclub, in dem dieselben Herrschaften versammelt waren, die auch in vielen anderen Organisationen, Gremien, Verbänden und Vereinen der Stadt und des Regierungsbezirks das Sagen hatten. Man tagte und tafelte mindestens einmal monatlich im ersten Haus am Platze und betrieb auf elegante und diskrete Weise das, was heutzutage als »Networking« im Schwange ist.

Der Club hatte knapp drei Dutzend Mitglieder, alle jenseits der fünfzig, viele auch deutlich darüber, so dass gegen meine Aufnahme nicht nur der Umstand, dass ich der dritte Hochschullehrer im Club sein würde, sondern auch mein geradezu jugendliches Alter und mein fehlender Stallgeruch als »Reingeschmeckter« sprachen. Dennoch wurde ich nach einer umständlichen und, was die Meinungsbildung im Präsidium des Clubs anlangt, wohl auch etwas holprigen Prozedur aufgenommen und gehörte damit fortan zu den Honoratioren der Stadt.

Die Mitgliedsbeiträge, Essenspauschalen, Pflichtspenden und sonstigen Aufwendungen für das Clubleben summierten sich zu einem für einen Beamten mit niedrigem Besoldungsdienstalter und, mangels familiärem Anhang, bescheidenem Ortszuschlag recht stattlichen Betrag. Da meine übrigen Lebenshaltungskosten aber recht gemäßigt waren (bzw. es nach dem Ende der Affäre mit dem Teufelsweib wieder wurden), konnte ich mir den Aufwand leisten.

Insgesamt hatte ich mich, nach einigen anfänglichen Akklimatisierungsproblemen, in dem Club so wohl gefühlt, dass ich kurz nach meinem Umzug nach Berlin von meinem Recht Gebrauch machte, in einem laut Satzung »befreundeten« Club um Aufnahme zu bitten. Meine Wahl war dabei auf den Joachim-Friedrich-Club gefallen, weil die Mischung der Mitglieder nach Lebensalter und Berufsgruppen mir zusagte und weil das Hotel, in dem die Clubabende stattfanden, einen sehr guten Namen hatte und sehr günstig gelegen war: Ich konnte es sowohl von meiner Wohnung in Schöneberg als auch von meinem Institut in Dahlem aus bequem mit dem Fahrrad erreichen – ein pragmatisches Motiv, das ich dem mir gegenübersitzenden Namensvetter und Gefolgsmann des Alten Fritz aber ebenso verschwieg wie überhaupt den Umstand, dass ich leidenschaftlicher Radfahrer war.

»Ja«, fuhr Kniepmann fort, »wir sind preußisch bis auf die Knochen! Treue, Mut, Gehorsam – darunter tun wir es nicht! Aber auch Toleranz – jeder soll nach seiner Façon selig werden!« Er musterte mich streng, als wolle er prüfen, ob ich wohl einerseits die preußischen Tugenden in hinreichendem Maße verkörperte oder ob ich umgekehrt womöglich den Mitgliedern des Joachim-Friedrich-Clubs ein zu hohes Maß an Toleranz abverlangen würde.

Es klopfte an der Tür. Auf das herrische »Herein!« von Kniepmann betrat eine Dame, die man früher als Sekretärin oder Vorzimmerdame bezeichnet hätte, die nun aber als Assistentin firmierte, den Raum. »Ihr Termin mit Dr. Heck, Herr Direktor!« flüsterte sie mehr, als dass sie es aussprach, in das fragende Gesicht ihres Chefs. »Isser da?« fragte dieser zurück. »Er wurde vom Pförtner gemeldet und fährt gerade seinen Wagen in die Tiefgarage«, antwortete sie – so devot, so gottergeben, dass es mir nachgerade peinlich war, Zeuge dieses Dialogs zu sein. »Soll gleich `reinkommen. Und fragen Sie ihn, ob er einen Kaffee will«, ordnete Kniepmann an.

»Xaver Heck ist Mitglied des Präsidiums. Schatzmeister. Gründungsmitglied. Hauptberuflich Unternehmensberater. Bestens vernetzt in der Politik. Bis ganz oben!« Kniepmann spulte diese Kurzbiographie so lapidar herunter, als täte er dies regelmäßig oder zumindest nicht zum ersten Mal. Ich hätte ihn gern gefragt, wo dieses »ganz oben« denn zu lokalisieren sei, im Roten Rathaus, im Reichstag oder gar im Bundeskanzleramt, aber er fuhr schon fort: »Ich hab ihn dazugebeten, weil es unsere Satzung vorsieht – zwei Bürgen für jeden, äh. …«

Hier versagte offenbar seine Routine. Ich spürte förmlich, wie er zwischen Begriffen wie Kandidat, Aspirant und Antragsteller schwankte, bis er sich für »neu Aufzunehmenden« entschied und hinzufügte: »Mit der Zustimmung von Heck haben wir praktisch schon mehr als die halbe Miete.« In meinen Ohren klang das allerdings so, als habe er eigentlich sagen wollen, dass gegen den Willen des Herrn Dr. Heck im Club nichts liefe.

Obwohl Frau Moritz, die scheue Assistentin, beim Verlassen des Büros die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, hörte man nun vom Vorzimmer her den dröhnenden Bass eines Mannes. »Hängen Sie ihn auf?«, fragte dieser als Erstes, womit er vermutlich weder Kniepmann noch mich, sondern seinen Mantel meinte. Die Antwort der Vorzimmerdame war nicht zu verstehen und auch nicht ihr nächster Satz, der wohl einem etwaigen Kaffeewunsch des lautstarken Gastes galt.

»Ja, gerne doch!«, ließ sich dieser daraufhin vernehmen. »Und Sie wissen ja – so wie meine Seele!«, fügte er kryptisch hinzu und riss im selben Moment auch schon die Tür auf. »Also schwarz?«, hörte ich Frau Moritz zaghaft fragen. »Rein, Mädel, rein!«, bellte Heck zurück und schritt, ohne mich zu beachten, auf Kniepmann zu. Dieser erhob sich, und in einer skurril anmutenden Choreographie umarmten sich die beiden ohne ein Wort der Begrüßung über den Schreibtisch hinweg. Es war Heck, der diese merkwürdige Pantomime beendete, indem er die Arme von Kniepmanns Schultern löste, sich zu mir umdrehte und fragte: »Sie sind also der Mathematiker?« Ich erhob mich von meinem Stuhl, um die nach Selbstauskunft »reine Seele« zu begrüßen und mich vorzustellen, aber Heck wartete nicht einmal eine Antwort auf seine Frage ab und fuhr fort: »Kennen Sie den besten Mathematiker-Witz? Was sagt ein Mathematiker, der auf dem Sterbebett liegt? Hä? Na? Er sagt ›Damit war nicht zu rechnen!‹«, um gleich darauf in ein homerisches Gelächter auszubrechen.

Ich wagte nicht, diesem akustischen Berserker irgendetwas zu entgegnen, und Kniepmann unternahm auch keinen Versuch, sich Gehör zu verschaffen. Es war ausgerechnet die schüchterne Frau Moritz, die Heck vorübergehend bremste, indem sie an die Tür klopfte und auf Kniepmanns »Ja, bitte!« – die ersten Wörter, die er von sich gab, seit Heck in sein Vorzimmer eingedrungen war – mit einem Tablett das Büro betrat. Heck, der sich inzwischen unaufgefordert auf den zweiten Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand, gesetzt hatte, erhielt Kännchen, Tasse und Untertasse vom gleichen Service Maria Weiss wie zuvor schon ich.

Vor Kniepmann stand dagegen ein großer Becher, der mit einem hässlichen Muster versehen war, welches im Kleinformat auch die Nadel zierte, die sein Revers schmückte. Hätte mich Kniepmann auch noch nach der Bedeutung dieses Motivs gefragt, wäre ich kläglich gescheitert. Wie ich später herausfand, handelte es sich um eine – zeichnerisch auch noch total missglückte – Darstellung des Stammwappens der Hohenzollern mit dem sogenannten Brackenhaupt an Stelle des Adlerkopfs, den Uneingeweihte dort eigentlich erwartet hätten.

Die kleine kommunikative Pause, die dadurch entstand, dass sich Heck mit, wie mir schien, etwas zittriger Rechten den Kaffee einschenkte, nutzte ich, ihn zu mustern. Er hatte einen schmalen Kopf mit noch ziemlich vollem, aber ergrautem, kurz geschnittenem Haar. Seine eng stehenden, leicht wässrigen Augen erzeugten zusammen mit den Tränensäcken eine Art harmlosen Dackelblick, den der traurig herabhängende Schnurrbart noch unterstrich – ein Eindruck, dem ich aber angesichts des barschen Auftretens dieses Herrn nicht so recht traute.

Er trug einen dunkelgrauen Anzug, dessen Hose über der Bauchgegend deutlich spannte. Unter dem Jackett, das sich die Bezeichnung ausgeleiert redlich verdiente, prangte auf einem schwarzen Oberhemd eine Krawatte, die man mit etwas Wohlwollen als schrill bezeichnen konnte. Ich fragte mich, ob Heck denn niemanden hätte, der korrigierend auf sein Erscheinungsbild einwirken konnte. Später erfuhr ich, dass er seit einiger Zeit Witwer war und sich seit dem Tod seiner Frau äußerlich ein wenig vernachlässigte. Auch er trug die Clubnadel mit dem Brackenhaupt am Revers und schmückte sich außerdem mit einer klotzigen Uhr am linken Handgelenk und einem dicken Siegelring an der rechten Hand.

»Ja, Xaver, das ist Herr Professor Rieger, der sich um die Aufnahme in unseren Club beworben hat. Ich hab Dir seine Vita ja zugeschickt – in wenigen Worten: Er ist Mathematiker, hat kürzlich einen Lehrstuhl in Dahlem übernommen, Anfang vierzig, unverheiratet, keine Kinder, war bisher Mitglied im Karl-Friedrich-Club …« An dieser Stelle wurde er von Heck unterbrochen, der mich während der Kniepmannschen Kurzbiographie streng fixiert hatte und sich auch jetzt nicht seinem Clubfreund zuwandte. »Weiß ich doch. Hast Du mit dem Präsidenten von Karl-Friedrich telefoniert?« Kniepmann schien von dem schroffen Verhalten Hecks keinesfalls überrascht zu sein und antwortete ergeben: »Ich habe ihn bisher nicht erreicht. Es ist für heute Abend ein Telefonat verabredet.«

Dies war ein bei einem Clubwechsel übliches Verfahren – der Präsident des aufnehmenden Clubs erkundigte sich bei seinem Amtskollegen vom bisherigen Club nach dem Kandidaten. Wie detailliert eine solche Erkundigung üblicher Weise ausfiel, wusste ich nicht. Da mein bisheriger Präsident keine Plaudertasche und mir darüber hinaus sicherlich gewogen war, machte ich mir über das Ergebnis dieser Befragung keine Sorgen.

Heck hatte offenbar das Interesse an meiner Person schon wieder verloren. Unvermittelt fragte er Kniepmann: »Wie geht’s Siegmund?« Kniepmann war auch von diesem abrupten Wechsel des Gesprächsgegenstandes keinesfalls verblüfft und antwortete trocken: »Wenn er ein Auto wäre, würde ich sagen, er kommt nicht mehr durch den TÜV.« Heck nahm diese doch offenbar wenig erfreuliche Auskunft kommentarlos zur Kenntnis, trank seinen restlichen Kaffee aus und erhob sich.

»Gut, mein Lieber! Wir sehen uns morgen.« Ich stand ebenfalls auf, aber mehr als einen sehr kurzen Blick und ein knappes, beinahe barsches »Wiederschaun!« hatte Heck nicht für mich übrig.

Kniepmann fühlte sich offenbar bemüßigt, das ruppige Verhalten von Heck zu entschuldigen. »Ja, so ist er, unser Xaver«, sagte er, »immer geradeheraus und ohne große Umschweife!« Mir lag der Einwand auf der Zunge, dass dies nicht gerade die typischen Tugenden eines Unternehmensberaters seien, aber ich verkniff mir diese Unbotmäßigkeit.

Er bemerkte mein Unbehagen und sah sich wohl genötigt, noch etwas Erklärendes nachzuschieben. »Wissen Sie, eins seiner großen Idole ist Adenauer. Und der hat mal gesagt, man muss sich erst ein bisschen unbeliebt machen, um ernstgenommen zu werden.«

Nun schien er keinen weiteren Gesprächsbedarf zu haben. Unter Verweis darauf, dass er sich zeitnah bei mir melden werde, begleitete er mich aus seinem Büro und verabschiedete sich immerhin mit einem kräftigen Händedruck von mir. Und als mich die schüchterne Frau Moritz sogar noch mit einem freundlichen »Auf Wiedersehen, Herr Professor!« verwöhnte, hatte ich die Ruppigkeit des Herrn Dr. Heck fast schon wieder vergessen. Ich sollte schon bald wieder daran erinnert werden.

2

Es war Anfang April, vorlesungsfreie Zeit, so dass ich weder Lehr- noch Prüfungsverpflichtungen hatte. Auf meinem Schreibtisch – genauer: in meinem PC – wartete zwar ein angefangenes Vortragsmanuskript auf seine Fertigstellung, aber der Abgabetermin war erst Ende Mai, und ich verspürte noch keinen Zeitdruck. Meiner Sekretärin hatte ich gesagt, dass ich, wenn überhaupt an diesem Tag, erst am späten Nachmittag wieder ins Büro kommen würde, und ich wollte den Umstand, dass Kniepmanns Firmensitz in der Nähe der Tauentzienstraße lag, zu einem kleinen Bummel in der City West nutzen.

Ich schob mein Fahrrad die kurze Strecke zum KaDeWe, wo ich es am Seiteneingang Passauer Straße abstellte, um zunächst meinen Espresso-Vorrat in der dortigen Boutique aufzufrischen. Wie jedesmal, wenn ich die Stangen mit den Kapseln orderte, plagte mich ein wenig das schlechte Gewissen: War es vertretbar, so viel von dem kostbaren Rohstoff Aluminium zu verbrauchen, um auf besonders praktische Weise eine Tasse Espresso zuzubereiten? Und, möglicherweise noch schlimmer: der immense Wasserverbrauch, um überhaupt Kaffee zu erzeugen! Und dann auch noch der grinsende George Clooney, der auf einem Monitor in einer Endlos-Schleife für die aktuelle Sorte mit einem ganz speziellen Aromaprofil warb und vermutlich an jeder von mir erworbenen Kapsel ein paar Cent verdiente.

Obwohl der Kaffee der Frau Moritz noch nicht allzu lange zurücklag, machte ich von dem Angebot, einen kostenlosen Espresso zu verzehren, gern Gebrauch. Zusammen mit anderen Kaffeefreunden stand ich an einem runden Tisch und warf, während das erlesene Getränk ein wenig abkühlte, einen Blick auf das Display meines Smartphones. Es gab keine wichtigen Meldungen.

Dann fiel mein Blick auf die Frau, die mir gegenüber stand, mich offenbar kurz fixiert hatte und sich, als ich in ihre Richtung sah, ganz rasch abwandte, als sollte ich nicht bemerken, dass sie mich angesehen hatte. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor, aber ich konnte es nicht zuordnen. Sie war wohl etwa so alt wie ich, hatte dunkelbraune Haare, einen modernen Kurzhaarschnitt und trug einen knallroten Sommermantel. Die ebenfalls rote Handtasche, die sie neben ihre Espressotasse auf den Tisch gestellt hatte, trug das Enblem »MK« – sie hatte offenbar nicht nur in Bezug auf den Espresso einen exquisiten Geschmack.

Neben mir auf dem Monitor war George Clooney gerade als Konsument eines koffeinfreien Espressos entlarvt worden. Dies veranlasste die Dame in dem Werbespot zu der Bemerkung »I always imagined you to be much more … Ristretto!«, und einen Moment lang hatte ich die verrückte Vorstellung, die Dame in dem roten Mantel könnte dies zu mir gesagt haben. Als ich zu ihr hinüberschaute, ergriff sie gerade ihre Handtasche und verließ den Verkaufsraum, ohne noch einmal einen Blick über den Tisch zu werfen.

Als ich, kurz nach meinem Umzug nach Berlin, zum ersten Mal in aller Ruhe die Tauentzienstraße, den Breitscheidplatz und den Ku’damm bis zum Olivaer Platz entlangflaniert war, gab es dort zu meiner großen Enttäuschung keine einzige Buchhandlung mehr. Die exorbitant hohen Mieten und der Versandhandel hatten für diesen kulturellen Kahlschlag entlang der »Luxusmeile« gesorgt. Zum Glück gab es immerhin den Ableger einer Buchhandelskette im KaDeWe – für mich ein noch stärkeres Motiv als die Espresso-Bar, diesen Konsumtempel des öfteren aufzusuchen.

Der von Rolltreppen erleichterte Aufstieg in den fünften Stock vermittelte mir wieder einmal den Eindruck, dass ich in diesem Hause überwiegend von Touristen umgeben war und dass diese großenteils sogenannte Seh-Leute waren, die, wenn überhaupt, in der Feinschmecker-Abteilung im sechsten Stock ihrer Bestimmung als Konsumenten nachkamen. Der Versuchung, die von der dortigen Pâtisserie-Abteilung oder der opulenten Käsetheke ausging, war ich auch schon mehr als einmal erlegen.

Ein Stockwerk tiefer wählte ich nun drei Neuerscheinungen aus und suchte nach einer freien Sitzgelegenheit, um auf der Basis von Leseproben zu entscheiden, ob und in welchem Ausmaß ich meinen nicht gerade schmalen Buchbestand erweitern würde.

Der Angriff auf mein Seelenheil traf mich völlig überraschend. Ich hatte es mir gerade in einem der bequemen Sessel gemütlich gemacht, zwei der Bücher auf der Tüte mit den Espresso-Stangen abgelegt und betrachtete nun das Cover des Buches »50 Tiere, die unsere Welt veränderten«, auf dem naheliegender Weise diverse Tiere – vom längst ausgestorbenen Dodo bis zur leider höchst präsenten Ratte – abgebildet waren. »I thought you were more Ristretto!« erklang es da von rechts oben – nicht ganz korrekt zitiert, aber mit einer mindestens ebenso samtigen Frauenstimme wie in dem Werbespot. Ich schaute auf und erblickte die Trägerin des roten Mantels.