So fern wie nah - John Boyne - E-Book

So fern wie nah E-Book

John Boyne

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Beschreibung

Der Autor des Weltbestsellers Der Junge im gestreiften Pyjama schreibt über den Ersten Weltkrieg Als an Alfies fünftem Geburtstag der Erste Weltkrieg ausbricht, verspricht sein Vater, nicht in dem Kampf zu ziehen – und bricht sein Wort am Tag darauf. Vier harte Jahre später geht Alfie heimlich arbeiten, um seine Mutter zu unterstützen. Er ist davon überzeugt, dass er seinen Vater nie wiedersehen wird. Doch dann erfährt Alfie zufällig, dass sein Vater in einer Klinik für traumatisierte Soldaten behandelt wird. Und er beschließt, ihn nach Hause zu holen … »Ein großartiger Antikriegsroman, der nicht nur junge Leser fesseln und berühren wird.« Wilhelmshavener Zeitung + Ausgezeichnet mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2015 + Bei Antolin gelistet

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John Boyne

So fern wie nah

Roman

 

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Martina Tichy

 

Über dieses Buch

 

 

Der Autor des Weltbestsellers Der Junge im gestreiften Pyjama schreibt über den Ersten Weltkrieg

 

Als an Alfies fünftem Geburtstag der Erste Weltkrieg ausbricht, verspricht sein Vater, nicht in dem Kampf zu ziehen – und bricht sein Wort am Tag darauf. Vier harte Jahre später geht Alfie heimlich arbeiten, um seine Mutter zu unterstützen. Er ist davon überzeugt, dass er seinen Vater nie wiedersehen wird. Doch dann erfährt Alfie zufällig, dass sein Vater in einer Klinik für traumatisierte Soldaten behandelt wird. Und er beschließt, ihn nach Hause zu holen …

 

»Ein großartiger Antikriegsroman, der nicht nur junge Leser fesseln und berühren wird.«

Wilhelmshavener Zeitung

 

+ Ausgezeichnet mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis 2015

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

John Boyne wurde 1971 in Dublin, Irland, geboren, wo er auch heute lebt. Er ist der Autor von zwanzig Romanen, darunter Der Junge im gestreiften Pyjama, der sich weltweit über elf Millionen Mal verkaufte, zahlreiche internationale Buchpreise gewann und mit großem Erfolg verfilmt wurde. John Boynes Romane wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Für So fern wie nah wurde er mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet.

Inhalt

[Widmung]

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Für meine Eltern

Kapitel Eins

Jeden Abend vor dem Schlafengehen versuchte Alfie Summerfield sich ins Gedächtnis zu rufen, wie das Leben vor dem Krieg gewesen war. Und mit jedem Tag fiel es ihm schwerer, sich genau daran zu erinnern.

Die Kampfhandlungen hatten am 28. Juli 1914 begonnen. Andere hätten dieses Datum wohl nicht so bestimmt gewusst, doch Alfie würde es nie vergessen, denn das war sein Geburtstag. An jenem Tag war er fünf Jahre alt geworden, und seine Eltern gaben ihm zu Ehren ein Fest, zu dem aber nur eine Handvoll Leute kamen: Oma Summerfield, die in der Ecke saß, in ihr Taschentuch schniefte und immer wieder jammerte: »Es ist aus mit uns, aus mit uns allen«, bis Alfies Mutter sagte, sie solle sich gefälligst zusammenreißen, sonst könne sie gleich wieder gehen; der alte Bill Hemperton, der Australier von nebenan, der ungefähr hundert Jahre alt war und das Kunststück beherrschte, mit der Zunge seine falschen Zähne aus dem Mund heraus und wieder hinein flutschen zu lassen; Alfies beste Freundin, Kalena Janáček, die drei Häuser weiter in Nr. 6 wohnte, und ihr Vater, der den Süßwarenladen an der Ecke betrieb und die blankpoliertesten Schuhe von ganz London besaß. Alfie hatte fast alle seine Freunde von der Damley Road eingeladen, aber am Geburtstagsmorgen klopften ihre Mütter eine nach der anderen bei den Summerfields an die Haustür und sagten, Klein-Soundso könne nicht kommen.

»Das ist ja wohl nicht gerade der richtige Zeitpunkt für ein Fest, oder?«, fragte Mrs Smythe aus Nr. 9, die Mutter von Henry Smythe, der in der Schule direkt vor Alfie saß und mindestens zehnmal am Tag stank wie die Pest. »Am besten, Sie blasen es einfach ab, meine Liebe.«

»Ich blase gar nichts ab«, sagte Margie, Alfies Mutter, und hob enttäuscht die Hände, nachdem die fünfte Mutter aufgetaucht war. »Wenn überhaupt, dann sollten wir unser Bestes tun, um es uns heute gutgehen zu lassen. Und was soll ich mit dem ganzen leckeren Essen anfangen, wenn keiner kommt?«

Alfie folgte ihr in die Küche und sah zum Tisch, wo Sandwichs mit Corned Beef, geschmorte Kutteln, eingelegte Eier, kalte Zunge und Aal in Aspik ordentlich aufgereiht und mit Geschirrtüchern abgedeckt waren, damit sie frisch blieben.

»Das kann ich doch essen«, sagte Alfie, der immer gern behilflich sein wollte.

»Ha«, sagte Margie. »Das glaube ich wohl. Du bist ein Fass ohne Boden, Alfie Summerfield. Ich weiß nicht, wo du das alles hinsteckst, ganz ehrlich.«

Als Georgie, Alfies Vater, an dem Tag um die Mittagszeit nach Hause kam, sah er besorgt aus. Er ging nicht wie sonst in den Hinterhof, um sich zu waschen, obwohl er ein bisschen nach Milch und nach Pferd roch. Stattdessen stand er im Wohnzimmer und las in einer Zeitung, faltete sie dann zusammen, versteckte sie unter einem Sofakissen und ging in die Küche.

»Na, Margie«, sagte er und gab seiner Frau ein Küsschen auf die Wange.

»Na, Georgie.«

»Na, Alfie«, sagte er und wuschelte dem Jungen durchs Haar.

»Na, Papa.«

»Alles Gute zum Geburtstag, mein Sohn. Wie alt bist du jetzt noch mal, siebenundzwanzig?«

»Ich bin fünf«, sagte Alfie, der sich nicht vorstellen konnte, wie es wäre, siebenundzwanzig zu sein; schließlich fühlte er sich schon bei dem Gedanken, dass er endlich fünf war, sehr erwachsen.

»Fünf. Aha«, sagte Georgie und kratzte sich am Kinn. »Kommt mir vor, als wärst du schon viel länger in der Gegend.«

»Raus! Raus! Raus!«, plärrte Margie und scheuchte sie zurück ins Wohnzimmer. Sie sagte immer, sie könne es auf den Tod nicht ausstehen, wenn ihre beiden Männer ihr vor den Füßen herumliefen, während sie beim Kochen war. Also verzogen Georgie und Alfie sich brav, spielten am Tisch beim Fenster das Leiterspiel und warteten darauf, dass das Fest endlich losging.

»Papa«, sagte Alfie.

»Ja, mein Sohn?«

»Wie geht es Mr Asquith heute?«

»Schon viel besser.«

»Hat der Tierarzt ihn sich angesehen?«

»Ja, das hat er. Keine Ahnung, was da in ihm rumort hat, aber es scheint sich verdünnisiert zu haben.«

Mr Asquith war Georgies Pferd. Genau genommen war er das Molkereipferd und zog den Wagen, mit dem Georgie jeden Morgen die Milch auslieferte. Als er Georgie vor einem Jahr zugeteilt worden war, hatte Alfie ihn auf den Namen getauft, den er so oft im Radio hörte; es musste jemand sehr Wichtiges sein, deswegen fand Alfie, es wäre genau der richtige Name für ein Pferd.

»Hast du ihn von mir getätschelt, Papa?«

»Ja, mein Sohn«, sagte Georgie.

Alfie lächelte. Er liebte Mr Asquith. Er liebte ihn von ganzem Herzen.

»Papa«, sagte Alfie einen Augenblick später.

»Ja, mein Sohn?«

»Darf ich morgen mit dir zur Arbeit gehen?«

Georgie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Alfie. Du bist noch zu klein für den Milchwagen. Du weißt nicht, wie gefährlich das ist.«

»Aber du hast doch gesagt, wenn ich älter bin, darf ich mit.«

»Ganz richtig – wenn du älter bist.«

»Aber ich bin doch jetzt älter«, sagte Alfie. »Ich könnte unseren Nachbarn helfen, wenn sie alle kommen und ihre Milchflaschen am Wagen auffüllen wollen.«

»Damit setze ich nicht nur meine Arbeit aufs Spiel, Alfie.«

»Na, dann leiste ich eben Mr Asquith Gesellschaft, und du füllst die Milch selber ab.«

»Tut mir leid, mein Sohn«, sagte Georgie. »Aber du bist immer noch nicht alt genug.«

Alfie seufzte. Für sein Leben gern wäre er mit seinem Vater morgens losgezogen, um mit ihm zusammen die Milch auszuliefern und Mr Asquith zwischendurch mit Zuckerstückchen zu füttern, auch wenn das hieß, dass er mitten in der Nacht aufstehen müsste. Bei der Vorstellung, draußen auf den Straßen unterwegs zu sein und die Stadt zu erleben, wenn alle anderen noch im Bett lagen, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Und seinem Vater zur Hand zu gehen – was gab es Besseres als das? Mindestens tausendmal hatte er schon darum gebeten, aber immer lautete die Antwort gleich: Nein, Alfie, du bist noch zu klein.

»Erinnerst du dich noch daran, wie du fünf warst?«, fragte Alfie.

»Und ob, mein Sohn. Das war das Jahr, in dem mein alter Herr gestorben ist. Ein hartes Jahr war das.«

»Wie ist er denn gestorben?«

»In der Mine.«

Alfie dachte nach. Er kannte nur einen Menschen, der gestorben war. Kalenas Mutter, Mrs  Janáček, sie hatte Tuberkulose gehabt. Das Wort konnte Alfie schon buchstabieren. T-u-b-e-r-k-u-l-o-s-e.

»Und was war dann?«, fragte er.

»Wann?«

»Als dein Papa gestorben ist.«

Georgie überlegte einen Augenblick und hob die Schultern. »Tja, dann sind wir eben nach London gezogen«, sagte er. »Deine Oma hat gemeint, in Newcastle hält uns nichts mehr. Wenn wir hierherkämen, könnten wir ganz neu anfangen. Sie hat gesagt, jetzt wäre ich der Mann im Haus.« Er würfelte eine Fünf und eine Sechs, landete auf der blauen 37 und musste eine lange Leiter hinunter bis zur weißen 19. »So ein Pech aber auch«, sagte er.

»Heute Abend kannst du länger aufbleiben, oder?«, fragte Alfie, und sein Vater nickte.

»Extra für dich, jawohl«, sagte er. »Weil heute dein Geburtstag ist, bleibe ich bis neun auf. Na, wie klingt das?«

Alfie lächelte; sonst ging Georgie spätestens um sieben Uhr zu Bett, weil er so früh zur Arbeit musste. »Ohne meinen Schönheitsschlaf bin ich zu nichts zu gebrauchen«, behauptete er immer, und wenn Margie dann lachte, sagte er zu Alfie: »Deine Mutter hat mich nämlich nur geheiratet, weil ich so ein hübscher Bursche bin. Aber wenn ich nicht eine ordentliche Mütze Schlaf kriege, dann wachsen mir dunkle Ringe unter den Augen, und ich werde kalkweiß im Gesicht wie ein Gespenst, und dann brennt sie mir am Ende mit dem Briefträger durch.«

»Ich bin schon mit einem Milchmann durchgebrannt, und was habe ich davon?«, gab Margie darauf stets zur Antwort, aber sie meinte es nicht so, denn dann sahen sie einander an und lächelten, und manchmal gähnte sie und sagte, sie hätte auch nichts dagegen, früh ins Bett zu kommen, und schwups, waren sie oben im Schlafzimmer, was bedeutete, dass Alfie ebenfalls zu Bett gehen musste, und damit stand eins für ihn fest: Gähnen war ansteckend.

Alfie versuchte, es sich nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen, dass sein Geburtstagsfest wohl nicht so sein würde, wie er es sich vorgestellt hatte. Er wusste, da draußen in der Welt ging irgendwas vor sich, über das alle immerfort redeten, aber es klang langweilig und interessierte ihn nicht die Bohne. Seit Monaten ging das schon so: Ewig und drei Tage bekam man von den Erwachsenen zu hören, es stünde etwas Großes bevor, das sie alle betreffen würde. Manchmal sagte Georgie zu Margie, es könne jetzt jeden Tag so weit sein, und sie müssten sich darauf einstellen, und wenn sie dann außer sich geriet, sagte er wieder, sie solle sich keine Sorgen machen, am Ende liefe ja vielleicht doch alles auf Friede, Freude, Eierkuchen hinaus, und überhaupt sei Europa viel zu zivilisiert, um eine Mordskeilerei anzufangen, von der jeder wusste, dass sie nicht zu gewinnen war.

Als das Fest endlich losging, gaben sich alle Mühe, ein fröhliches Gesicht zu machen und so zu tun, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Sie setzten sich in einen Kreis und reichten eine heiße Kartoffel herum; wer sie fallen ließ, war raus. (Dabei gewann Kalena.) Der alte Bill Hemperton baute im Wohnzimmer ein Wurfspiel auf, nach dem Alfie um einen Dreiviertelpenny reicher war. Oma Summerfield gab jedem eine Wäscheklammer und stellte eine leere Milchflasche auf den Boden. Wer die Wäscheklammer vom höchsten Punkt aus in die Milchflasche fallen ließ, hatte gewonnen. (Darin schlug Margie alle anderen um eine gute Länge.) Doch schon bald redeten die Erwachsenen nicht mehr mit den Kindern, sondern steckten mit bedrückten Mienen die Köpfe zusammen; Alfie und Kalena spitzten die Ohren und versuchten sich einen Reim auf das zu machen, was sie hörten.

»Du meldest dich am besten freiwillig, bevor sie dich holen kommen«, sagte der alte Bill Hemperton. »Damit fährst du am Ende besser, glaub mir.«

»Bist du wohl still«, fuhr Alfies Oma ihn an, die Bill gegenüber in Haus Nr. 11 wohnte und nicht gut auf ihn zu sprechen war, weil er jeden Morgen bei offenem Fenster sein Grammophon laufen ließ. Sie war klein und rund, trug ein Haarnetz und hatte immer die Ärmel aufgekrempelt, als wolle sie sich gleich an die Arbeit machen. »Georgie meldet sich zu gar nichts.«

»Mir bleibt vielleicht nichts anderes übrig, Mama«, sagte Georgie und schüttelte den Kopf.

»Pst – nicht vor Alfie«, sagte Margie und zupfte ihn am Ärmel.

»Ich sage nur, diese Chose könnte sich Jahre hinziehen. Da habe ich als Freiwilliger vielleicht bessere Aussichten.«

»Ach was, bis Weihnachten ist das Ganze vorbei«, sagte Mr Janáček, über dessen blitzblank polierte schwarze Lederschuhe fast jeder eine Bemerkung verloren hatte. »Das sagen doch alle.«

»Pst – nicht vor Alfie«, sagte Margie wieder, diesmal lauter.

»Es ist aus mit uns, aus mit uns allen!«, wimmerte Alfies Oma, holte ihr riesengroßes Taschentuch aus der Tasche und schnäuzte so laut hinein, dass Alfie sich vor Lachen nicht mehr halten konnte. Margie fand es allerdings weniger komisch; sie fing an zu weinen und lief aus dem Zimmer, und Georgie lief ihr hinterher.

 

Mehr als vier Jahre waren seit jenem Tag vergangen, und Alfie dachte immer noch die ganze Zeit daran. Er war nun neun und hatte in den Jahren dazwischen keinen einzigen Geburtstag mehr gefeiert. Aber wenn er sich abends schlafen legte, erinnerte er sich, so gut er konnte, an seine Familie, bevor alles anders geworden war; denn wenn er die Dinge so im Gedächtnis behielt, wie sie gewesen waren, bestand doch immer die Aussicht, dass sie eines Tages wieder so sein könnten.

Soviel er wusste, waren Georgie und Margie reichlich alt gewesen, als sie geheiratet hatten – sein Vater fast einundzwanzig und seine Mutter nur ein Jahr jünger. Alfie hatte keine klare Vorstellung davon, wie man sich mit einundzwanzig fühlen mochte. Wahrscheinlich hörte man dann schon nicht mehr so gut und sah alles ein bisschen verschwommen. Und man kam abends aus dem ramponierten Sessel vor dem Kamin nur noch mit Ächzen und Stöhnen hoch und sagte: Na, dann will ich mal so langsam – Zeit fürs Bett. Das Wichtigste auf der Welt, schätzte Alfie, waren in dem Alter ein schönes Tässchen Tee, bequeme Hausschuhe und eine kuschelige Strickjacke. Wenn er genauer darüber nachdachte, ging ihm manchmal auf, dass auch er eines Tages einundzwanzig sein würde, aber das schien ihm weit weg. Einmal hatte er zu Stift und Papier gegriffen und gerechnet; demnach wäre es 1930 so weit. 1930! Das war noch Jahrhunderte entfernt. Na gut, vielleicht keine Jahrhunderte, aber ihm kam es so vor.

An das Fest zu seinem fünften Geburtstag hatte Alfie glückliche und traurige Erinnerungen. Glückliche, weil er schöne Geschenke bekommen hatte: einen Kasten mit achtzehn verschiedenfarbigen Buntstiften und einen Zeichenblock von seinen Eltern, eine gebrauchte Ausgabe von Robinson Crusoe von Mr Janáček, der meinte, im Augenblick wäre es für ihn wohl noch zu schwierig, aber eines Tages würde er es schon lesen können, und eine Packung Zitronenbrausepulver von Kalena. Es machte ihm nichts aus, dass auch langweilige Geschenke dabei waren: ein Paar Socken von seiner Oma und eine Landkarte von Australien vom alten Bill Hemperton, der meinte, vielleicht würde Alfie ja irgendwann mal gern ans andere Ende der Welt reisen, und wenn der Tag je käme, wäre ihm die Karte mit Sicherheit von Nutzen.

»Da, siehst du?«, sagte er und deutete auf einen Punkt am oberen Teil der Landkarte, wo die grünen Ränder in die braune Mitte übergingen. »Da komme ich her. Aus Mareeba. Das hübscheste Örtchen in ganz Australien. Ameisenhügel so groß wie Häuser. Wenn du da jemals hinkommst, Alfie, sag ihnen nur, der alte Hemperton hat dich geschickt, dann behandeln sie dich wie einen der Ihren. Da unten bin ich ein Held, wegen meiner Beziehungen.«

»Was denn für Beziehungen?«, fragte Alfie, aber der alte Bill zwinkerte nur und schüttelte den Kopf.

Alfie wusste nicht, was er davon halten sollte, heftete die Landkarte an einem der folgenden Tage aber trotzdem in seinem Zimmer an die Wand; er zog die Socken an, die Oma Summerfield ihm geschenkt hatte; er probierte fast alle seine neuen Buntstifte aus und malte mit ihnen Blatt um Blatt seines Zeichenblocks voll; er machte sich an Robinson Crusoe, hatte aber arg damit zu kämpfen und stellte das Buch schließlich ins Regal (allerdings mit dem Vorsatz, es nochmals damit zu versuchen, wenn er älter wäre), und er teilte sich das Zitronenbrausepulver mit Kalena.

Das waren die schönen Erinnerungen.

Die traurigen hielten fest, dass an dem Tag alles anders geworden war. Bei Sonnenuntergang hatten sich sämtliche Männer aus der Damley Road draußen auf der Straße versammelt; die Hemdsärmel aufgekrempelt, ließen sie ihre Hosenträger schnalzen, redeten über Dinge wie »Pflicht« und »Verantwortung« und pafften dabei ein-, zweimal an ihren Zigaretten, zwickten die Spitze dann ab und steckten die Kippen wieder in die Westentasche, für später. Georgie war mit seinem ältesten und besten Freund Joe Patience, der in Nr. 16 wohnte, in Streit darüber geraten, wie man sich in der Sache am besten verhalten sollte. Joe und Georgie waren befreundet, seit Georgie und Oma Summerfield in die Damley Road gezogen waren – laut Oma Summerfield war Joe praktisch in ihrer Küche groß geworden –, und es hatte nie ein böses Wort zwischen ihnen gegeben, bis zu jenem Nachmittag. Es war der Tag, an dem Charlie Slipton, der Zeitungsjunge aus Nr. 21, der Alfie einmal ohne jeden Grund einen Stein an den Kopf geworfen hatte, insgesamt sechsmal mit den jeweils neuesten Ausgaben der Zeitung die Straße auf und ab gelaufen war und sie ohne Mühe alle verkauft hatte. Der Tag, der damit endete, dass Alfies Mama in dem ramponierten Sessel vor dem Kamin saß und schluchzte, als stünde ihnen der Weltuntergang bevor.

»Na, nun lass aber gut sein, Margie«, sagte Georgie, der hinter ihr stand und ihr über den Nacken strich. »Was gibt’s da groß zu weinen, hm? Denk dran, was alle sagen – bis Weihnachten ist das Ganze vorbei. Ich bin rechtzeitig wieder da, um dir beim Füllen der Gans zu helfen.«

»Und das glaubst du, ja?«, sagte Margie und sah aus rotgeränderten, tränennassen Augen zu ihm hoch. »Du glaubst, was sie dir erzählen?«

»Was bleibt uns anderes übrig?«, gab Georgie zurück. »Wir müssen das Beste hoffen.«

»Versprich’s mir, Georgie Summerfield«, sagte Margie. »Versprich mir, dass du dich nicht freiwillig meldest.«

Nach langem Schweigen gab Georgie zur Antwort: »Du hast doch gehört, was der alte Bill gesagt hat, Liebes. Wahrscheinlich fahre ich am Ende besser damit, wenn –«

»Und was ist mit mir? Und mit Alfie? Fahren wir damit auch besser? Versprich es mir, Georgie!«

»Schon gut, Liebes. Warten wir einfach ab, wie es weitergeht, ja? Vielleicht wachen die Politiker ja morgen früh auf und überlegen sich die Sache noch mal. Am Ende zerbrechen wir uns die Köpfe wegen nichts und wieder nichts.«

Alfie sollte die Zwiegespräche seiner Eltern eigentlich nicht belauschen – das hatte ihm schon ein-, zweimal ziemlichen Ärger eingebracht –, doch am Abend des Tages, an dem er fünf geworden war, saß er auf der Treppe, wo die beiden ihn nicht sehen konnten, blickte auf seine Zehen und horchte. Er hatte gar nicht vorgehabt, dort so lange zu sitzen, war nur heruntergekommen, um ein Glas Wasser zu trinken und noch ein bisschen von den Resten der verlockenden Zunge zu naschen –, aber was die beiden da redeten, klang so ernst, dass er das Gefühl hatte, etwas falsch zu machen, wenn er nicht in Hörweite blieb. Er gähnte tief – schließlich war es ein langer Tag gewesen, wie es bei Geburtstagen so ist – und legte den Kopf hinter sich auf die Treppenstufe. Als er die Augen wieder aufschlug, fand er sich in seinem Kinderbett wieder, und die Sonne schien durch die dünnen Vorhänge – sie hatten ein hellgelbes Blumenmuster, das Alfies Meinung nach für ein Mädchen passte, aber nicht für einen Jungen.

 

Am Morgen nach seinem fünften Geburtstag ging Alfie hinunter in die Küche, wo seine Mutter, die Haare hochgesteckt und in ihrer Waschtagskleidung, in sämtlichen verfügbaren Töpfen Wasser kochte und genauso unglücklich aussah wie am Abend zuvor, nicht nur so unglücklich wie immer am Waschtag, der für gewöhnlich von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends dauerte. Auf den ersten Blick schien sie ihn gar nicht zu erkennen, auf den zweiten lächelte sie ihm bloß kurz zu.

»Alfie«, sagte sie. »Ich hab mir gedacht, ich lass dich heute ausschlafen. Schließlich hattest du gestern einen großen Tag. Bist du so lieb und bringst mir deine Bettwäsche?«

»Wo ist Papa?«, fragte Alfie.

»Er ist unterwegs.«

»Wohin unterwegs?«

»Ach, was weiß ich«, sagte sie und konnte ihm dabei nicht in die Augen sehen. »Du kennst doch deinen Vater, der erzählt mir nie irgendwas.«

Alfie wusste, dass das nicht stimmte, denn wenn sein Vater nachmittags von der Molkerei nach Hause kam, erzählte er Margie immer von Anfang bis Ende alles, was sich an dem Tag ereignet hatte, und sie mussten beide lachen, wenn sie dasaßen und er beschrieb, dass Bonzo Daly ein halbes Dutzend Milchkannen offen im Hof hatte stehen lassen; ein gefundenes Fressen für die Vögel, die sich darüber hergemacht und die Milch verdorben hatten. Oder dass Petey Staples sich mit dem Boss angelegt und von ihm zu hören bekommen hatte, wenn er mit dem Gemecker nicht bald aufhöre, könne er gern gehen und sich eine Arbeit suchen, bei der die Leute sich solchen Unfug gefallen ließen. Oder dass Mr Asquith sein großes Geschäft (das größte aller Zeiten) an dem Tag ausgerechnet vor Nr. 4 gemacht hatte, dem Haus von Mrs Fairfax, die doch (behauptete sie) direkt vom letzten englischen König aus dem Haus Plantagenet abstammte und für Besseres bestimmt war als für die Damley Road. Wenn Alfie eines über seinen Vater wusste, dann war das, dass er seiner Mutter alles erzählte.

Eine Stunde später saß er im Wohnzimmer und zeichnete etwas in seinen neuen Skizzenblock; Margie legte gerade eine Waschpause ein, und Oma Summerfield, die zu einem Schwätzchen vorbeigekommen war – so nannte sie es, in Wahrheit hatte sie ihre Bettwäsche dabei, die Margie mitwaschen sollte –, hielt sich die Zeitung vors Gesicht, kniff die Augen zusammen und beschwerte sich, dass alles so kleingedruckt sei.

»Ich kann das nicht lesen, Margie«, sagte sie. »Wollen die uns alle in die Blindheit treiben? Läuft es darauf hinaus?«

»Glaubst du, Papa nimmt mich morgen auf dem Milchwagen mit?«, fragte Alfie.

»Hast du ihn gefragt?«

»Ja, aber er hat gesagt, erst wenn ich älter bin.«

»Na dann«, sagte Margie.

»Aber morgen bin ich doch schon älter als gestern«, sagte Alfie.

Bevor Margie etwas erwidern konnte, ging die Tür auf, und zu Alfies Verwunderung kam ein Soldat hereinmarschiert. Er war groß und stattlich, genau wie Alfies Papa, aber wie er da stand und sich umsah, wirkte er ein bisschen verlegen. Seine Uniform machte auf Alfie großen Eindruck: eine khakifarbene Jacke mit fünf Messingknöpfen und zwei Schulterstreifen, unten mit Gamaschen umwickelte Hosen und wuchtige schwarze Stiefel. Aber wieso kam ein Soldat in ihr Wohnzimmer marschiert? Und klopfte nicht mal an die Haustür? Doch dann nahm der Soldat seine Schirmmütze ab und klemmte sie unter den Arm, und da dämmerte es Alfie, dass das kein x-beliebiger Soldat war und auch kein Fremder.

Es war Georgie Summerfield.

Sein Vater.

Margie ließ ihr Strickzeug zu Boden fallen, schlug die Hände vor den Mund und blieb eine Weile so sitzen; dann lief sie aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. Georgie sah von seinem Sohn zu seiner Mutter und hob die Schultern.

»Es ging nicht anders«, sagte er schließlich. »Das verstehst du doch, oder? Es ging nicht anders.«

»Es ist aus mit uns«, sagte Oma Summerfield, legte die Zeitung weg und wandte sich von ihrem Sohn zum Fenster, durch das weitere junge Männer in Uniformen zu sehen waren, wie sie ihre Häuser betraten. »Es ist aus mit uns allen.«

An mehr konnte Alfie sich von seinem fünften Geburtstag nicht erinnern.

Kapitel Zwei

Die Janáčeks waren schon fast zwei Jahre fort, als Alfie die Schuhputzkiste an sich nahm.

So lange er sich erinnern konnte, hatten sie drei Häuser weiter gewohnt, und Kalena, sechs Wochen älter als er, war von klein auf seine beste Freundin gewesen. Wenn Alfie abends bei ihr zu Hause war, saß Mr Janáček immer am Küchentisch, mit der offenen Schuhputzkiste vor sich, und wienerte seine Schuhe für den kommenden Tag.

»Ich finde, ein Mann sollte sich der Welt stets schmuck und elegant präsentieren«, sagte er zu Alfie. »Das unterscheidet uns von den Tieren.«

Alle Anwohner der Damley Road waren befreundet – oder waren es gewesen, bis der Krieg ausbrach. Zu beiden Seiten der Straße standen zwölf Reihenhäuser, mit den angrenzenden durch eine dünne Wand verbunden, die gedämpfte Gespräche zu den Nachbarn weitertrug. Vor manchen Häusern waren Blumenkästen angebracht, vor manchen nicht, aber alle Bewohner gaben sich Mühe, ihre Anwesen in Ordnung zu halten. Alfie und Kalena wohnten auf der Seite mit den geraden Hausnummern; Oma Summerfield wohnte gegenüber, wo es nur krumme Nummern gab, was Margie höchst passend fand. Jedes Haus hatte im Erdgeschoss ein Wohnzimmerfenster zur Straße, im ersten Stock zwei weitere Fenster, und die Türen waren allesamt gelb. Alfie erinnerte sich noch an den Tag, an dem Joe Patience, der Drückeberger aus Nr. 16, seine Tür rot gestrichen hatte; alle Frauen kamen auf die Straße, um ihm dabei zuzusehen, schüttelten die Köpfe und tuschelten entrüstet. Joe hatte es mit der Politik – das wusste jeder. Der alte Bill sagte, er hätte »seinen eigenen Kopf«, was immer das heißen mochte. Er war öfter im Streik als bei der Arbeit und verteilte ständig Flugblätter über die Rechte der Arbeiter. Er sagte, Frauen sollten das Stimmrecht bekommen, und darin waren nicht mal alle Frauen mit ihm einer Meinung. (Oma Summerfield sagte, lieber bekäme sie die Pest.) Er besaß eine schöne alte Klarinette, und manchmal setzte er sich vor die Haustür und spielte darauf; dann stand Helena Morris immer auf der Schwelle von Nr. 18 und sah zu ihm hin, bis ihre Mutter herauskam und sagte, sie solle aufhören, sich so zur Schau zu stellen.

Alfie mochte Joe Patience, und er fand es lustig, dass sein Name offenbar so gar nicht zu seinem Wesen passte, denn er war keineswegs geduldig, sondern regte sich ständig über irgendwas auf. Nachdem er seine Haustür rot gestrichen hatte, machten sich drei Männer, Mr Welton aus Nr. 5, Mr Jones aus Nr. 19 und Georgie Summerfield, Alfies Vater, zu ihm auf, um ein Wörtchen mit ihm zu reden. Georgie wollte erst nicht mitgehen, aber die beiden anderen Männer bestanden darauf, weil er Joes ältester Freund war.

»Das geht so nicht, Joe«, sagte Mr Jones, während sämtliche Frauen aus ihren Häusern kamen und vorgaben, die Fenster zu putzen.

»Und wieso nicht?«

»Na, sieh dich doch mal um. Es fällt aus der Reihe.«

»Rot ist die Farbe des Arbeiters! Und wir sind doch alle Arbeiter, oder?«

»Hier in der Damley Road sind die Türen nun mal gelb«, sagte Mr Welton.

»Und wer sagt, dass sie gelb sein müssen?«

»So ist es schon immer gewesen. An Traditionen wird nicht gerüttelt.«

»Wie soll dann jemals irgendwas besser werden?«, fragte Joe mit erhobener Stimme, obwohl die drei Männer direkt vor ihm standen. »Um Himmels willen, es ist doch bloß eine Tür! Was spielt da schon die Farbe für eine Rolle?«

»Vielleicht liegt Joe damit ja gar nicht so falsch«, sagte Georgie, darum bemüht, die Gemüter zu beruhigen. »So wichtig ist es nun auch wieder nicht, oder? Solange die Farbe nicht abblättert und es kein Schandfleck für die Straße ist.«

»Das hätte ich mir denken können, dass du auf seiner Seite bist«, sagte Mr Jones höhnisch. Dabei war es ursprünglich seine Idee gewesen, Georgie zum Mitgehen zu bewegen. »Alte Kumpel halten zusammen, hm?«

»Ja«, sagte Georgie mit einem Achselzucken, als sei es das Natürlichste auf der Welt. »Alte Kumpel halten zusammen. Was ist daran verkehrt?«

Letztendlich konnten Mr Welton und Mr Jones wegen der Tür nichts unternehmen, und so blieb sie rot, bis zum folgenden Sommer, in dem Joe es sich wieder anders überlegte und sie grün strich, zum Zeichen der Unterstützung für die Iren, die laut Joe alles Menschenmögliche taten, um die Ketten ihrer britischen Beherrscher abzuschütteln. Alfies Papa lachte nur und sagte, wenn Joe sein Geld unbedingt auf Farbe verschwenden wolle, sei das seine Sache. Oma Summerfield sagte, wenn Joes Mutter noch am Leben wäre, würde sie sich in Grund und Boden schämen.

»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte Margie. »Er lässt sich nun mal nicht gern was sagen. Das gefällt mir an ihm.«

»Joe Patience ist kein schlechter Kerl«, stimmte Georgie ihr zu.

»Er hat seinen eigenen Kopf«, wiederholte der alte Bill Hemperton.

»Und ist dabei auch noch hübsch anzusehen«, sagte Margie. »Helena Morris ist in ihn verschossen.«

»In Grund und Boden würde sie sich schämen«, beharrte Oma Summerfield.

Doch davon abgesehen vertrugen sich die Leute von der Damley Road anscheinend bestens. Sie waren Nachbarn und Freunde. Und niemand schien mehr dazuzugehören als Kalena und ihr Vater.

 

Mr Janáček betrieb den Süßwarenladen am Ende der Straße. Natürlich war es kein reiner Süßwarenladen – er verkaufte auch Zeitungen, Schnüre, Notizblöcke, Bleistifte, Geburtstagskarten, Äpfel, Steinschleudern, Fußbälle, Spitze, Schuhcreme, Karbolseife, Tee, Schraubenzieher, Geldbörsen, Schuhlöffel und Glühbirnen –, aber Alfie waren die Süßigkeiten das Wichtigste, und deshalb nannte er ihn eben den Süßwarenladen. Hinter der Theke standen reihenweise hohe, durchsichtige Glasbehälter, randvoll mit Zitronenbrausepulverpäckchen, Apfel- und Birnendrops, Pfefferminztalern, Lakritzstangen und Schokoladenkaramell, und wenn Alfie ein, zwei Pennys übrig hatte, lief er damit sogleich zu Mr Janáček, der ihn immer in aller Ruhe aussuchen ließ.

»Weißt du was, Alfie«, sagte er, beugte sich über die Theke und nahm seine Brille ab, um sie zu putzen, »manchmal habe ich das Gefühl, dir macht es mehr Freude, zu überlegen, wofür du deine Pennys ausgeben willst, als die Süßigkeiten dann tatsächlich zu essen.«

Mr Janáček sprach ein bisschen komisch, weil er kein Engländer war. Er stammte aus Prag und lebte zwar schon seit zehn Jahren in London, hatte seinen Akzent aber nicht verloren. Was klang bei ihm wie Wos, euch wie ejch. Kalena sprach nicht so, weil sie in Haus Nr. 6 geboren und ihr ganzes Leben nicht aus London herausgekommen war.

»Du bist der größte Glückspilz, den ich kenne«, sagte Alfie eines Tages zu ihr, als sie am Rand des Gehwegs saßen, Lakritzbonbons kauten und dem Mann zusahen, der Mrs Scutworth aus Nr. 15 einen Sack Kohlen lieferte. Seine Hände und sein Gesicht waren vollkommen rußgeschwärzt, aber seine Unterarme, über die er offenbar gerade erst die Hemdsärmel hochgekrempelt hatte, waren ganz bleich.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Kalena und schälte dabei sorgsam eine Banane.

»Weil dein Vater einen Süßwarenladen hat«, antwortete er, als hätte sie sich das nun wirklich denken können. »Eine bessere Arbeit gibt es doch gar nicht. Außer vielleicht auf dem Milchwagen.«

Kalena schüttelte den Kopf. »Es gibt jede Menge bessere Arbeit«, sagte sie. »Ich will jedenfalls keinen Süßwarenladen haben, wenn ich groß bin.«

»Was willst du dann machen?«, fragte Alfie mit gerunzelter Stirn.

»Ich werde Premierminister«, sagte Kalena.

Alfie wusste nicht, was er darauf sagen sollte, aber er fand es sehr beeindruckend. Als er seinen Eltern beim Essen davon erzählte, brachen sie beide in schallendes Gelächter aus.

»Kalena Janáček? Premierminister?«, sagte Georgie und schüttelte den Kopf. »Da hört sich doch alles auf. Gib mir die Möhren, Liebes.«

»Wohl eher die Frau eines Premierministers«, sagte Margie und griff nach der Schüssel.

»Also ich würde sie wählen«, nahm Alfie seine Freundin in Schutz. Es gefiel ihm nicht, dass seine Eltern das so komisch fanden.

»Da wärst du wohl der Einzige«, sagte Georgie. »Sie könnte ja nicht mal sich selbst wählen – wie sie da an die Spitze kommen will, ist mir ein Rätsel. Nicht so richtig durch, die Möhren, oder?«

»Wieso kann sie sich nicht selbst wählen?«, fragte Alfie.

»Frauen dürfen nicht wählen, Alfie«, sagte Margie, schnitt eine weitere Scheibe vom Rinderbraten ab und tat sie ihm mit einer Extrakartoffel auf den Teller. (Das waren die Zeiten, in denen es noch Sachen wie Rinderbraten und Kartoffeln zum Abendessen gab. Bevor der Krieg ausbrach.)

»Warum nicht?«

»Das war schon immer so.«

»Aber warum?«

»Ist die Banane krumm?«, sagte Margie. »Jetzt iss, Alfie, und stell nicht so viele Fragen. Und mit den Möhren ist alles in bester Ordnung, Georgie Summerfield, also sieh zu, dass du sie wegputzt. Ich stehe nicht den ganzen Nachmittag in der Küche, um mich hinterher noch mit irgendwelchen Resten herumzuschlagen.«