Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket - John Boyne - E-Book

Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket E-Book

John Boyne

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Beschreibung

Vom Mut, anders zu sein Eine wunderbar phantasievolle Parabel von John Boyne, dem Autor von ›Der Junge im gestreiften Pyjama‹ – nicht nur für Kinder Die Brockets sind eine absolut normale Familie – bis auf Barnaby. Denn der schwebt! Und so gern er es auch lassen würde, es gelingt ihm nicht. An einem schicksalhaften Tag geschieht das Unfassbare: Barnaby schwebt davon, immer weiter, hoch in den Himmel hinein. So beginnt eine magische Reise durch die Welt, in der Barnaby höchst sonderbare Abenteuer erlebt. Er lernt eine Reihe kurioser und liebenswerter Freunde kennen. Und am Ende begreift er, dass er so normal wie seine Eltern gar nicht sein möchte: Er ist froh, anders zu sein. + Nominiert für die CILIP Carnegie Medal 2013 (Longlist) + Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014 (Jugendjury) + Ausgezeichnet mit dem LUCHS-Preis des Monats Januar 2014 (DIE ZEIT / Radio Bremen) Bei Antonlin gelistet Für die Verwendung in der Schule steht auf www.fischerverlage.de ein Unterrichtsmodell für die Unterstufe kostenlos zum Download bereit.

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Seitenzahl: 278

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John Boyne

Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket

Mit Bildern von Oliver Jeffers

Roman

 

Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel

 

Über dieses Buch

 

 

Vom Mut, anders zu sein

 

Eine wunderbar phantasievolle Parabel von John Boyne, dem Autor von Der Junge im gestreiften Pyjama – nicht nur für Kinder 

 

Die Brockets sind eine absolut normale Familie – bis auf Barnaby. Denn der Junge schwebt! Und so gern er es auch lassen würde, es gelingt ihm nicht. An einem schicksalhaften Tag geschieht das Unfassbare: Barnaby schwebt davon, immer weiter, hoch in den Himmel hinein. So beginnt eine magische Reise durch die Welt, in der Barnaby höchst sonderbare Abenteuer erlebt. Er lernt eine Reihe kurioser und liebenswerter Freunde kennen. Und am Ende begreift er, dass er so normal wie seine Eltern gar nicht sein möchte: Er ist froh, anders zu sein.

 

Mit Phantasie und Witz zeigt Bestsellerautor John Boyne, dass nichts glücklicher macht, als man selbst zu sein.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

John Boyne wurde 1971 in Dublin, Irland, geboren, wo er auch heute lebt. Er ist der Autor von Romanen, darunter Der Junge im gestreiften Pyjama, der sich weltweit über elf Millionen Mal verkaufte, zahlreiche internationale Buchpreise gewann und mit großem Erfolg verfilmt wurde. John Boynes Romane wurden in sechzig Sprachen übersetzt.

 

Oliver Jeffers, geboren 1977, ist Designer, Illustrator und Maler. Seine Werke wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt und vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem renommierten Nestlé Children’s Book Prize in Gold und dem BBC Blue Peter Book of the Year. Jeffers reist viel durch die Welt und lebt abwechselnd in Brooklyn, New York, USA, und Belfast, Nord-Irland.

Inhalt

Widmung

Kapitel 1 Eine ganz normale Familie

Kapitel 2 Die Matratze an der Decke

Kapitel 3 Barnaby, der Drachen

Kapitel 4 Der schönste Tag in Barnabys bisherigem Leben

Kapitel 5 Der Zauberer auf der Brücke

Kapitel 6 Das schreckliche Ereignis beim Aussichtspunkt Mrs Macquarie’s Chair

Kapitel 7 Annäherung aus Nordwest

Kapitel 8 Die Kaffeeplantage

Kapitel 9 Endlich etwas zu lesen

Kapitel 10 Der schlechteste Jeremy Potts aller Zeiten

Kapitel 11 Der Wattestäbchen-Prinz

Kapitel 12 Ein neuer Stern am Himmel

Kapitel 13 Little Miss Kirribilli

Kapitel 14 Das Foto in der Zeitung

Kapitel 15 Der Brand im Studio

Kapitel 16 Ein winziges Bonbon, das große Probleme verursachte

Kapitel 17 Die Postkarte, die nach Huhn roch

Kapitel 18 Freaks

Kapitel 19 Die Befreiung der Freaks

Kapitel 20 Stanleys Wunschzettel

Kapitel 2 1Zwanzigtausend Meilen über der Erde

Kapitel 22 Der Weltraumspaziergang

Kapitel 23 Alles, was sie Ihnen erzählt haben, ist wahr

Kapitel 24 Was ist eigentlich normal?

Kapitel 25 Das vertraute Schwebegefühl

Kapitel 26 Die schönste Stadt der Welt

Für Philip Ardagh

Kapitel 1Eine ganz normale Familie

Dies ist die Geschichte von Barnaby Brocket, und um Barnaby zu verstehen, muss man erst einmal seine Eltern verstehen, zwei Menschen, die vor jedem, der anders war, so große Angst hatten, dass sie etwas ganz Schreckliches taten, was für alle, die sie liebten, furchtbare Folgen hatte.

Wir beginnen mit Barnabys Vater, mit Alistair, der sich selbst für einen völlig normalen Menschen hielt. Er führte ein normales Leben in einem normalen Haus, lebte in einem normalen Viertel und machte ganz normal lauter normale Sachen. Seine Frau war normal, genau wie seine beiden Kinder.

Alistair hatte nichts übrig für Leute, die ungewöhnlich waren oder sich in der Öffentlichkeit auffällig benahmen. Wenn er in der U-Bahn saß und in seiner Nähe ein paar Jugendliche sich laut unterhielten, dann wartete er bis zur nächsten Haltestelle, stieg schnell aus und in einen anderen Wagen, ehe die Türen sich wieder schlossen. Wenn er essen ging – nicht in einem dieser schicken neuen Restaurants mit den komplizierten Speisekarten und den verwirrenden Gerichten, sondern in einem normalen Gasthaus –, dann verdarb es ihm den ganzen Abend, wenn die Kellner für irgendeinen geltungssüchtigen Gast Happy Birthday sangen.

Er arbeitete als Anwalt für die Kanzlei Bother & Blastit in der schönsten Stadt der Welt – in Sydney, Australien. Er war Spezialist für letztwillige Verfügungen und Testamente, eine ziemlich trostlose Arbeit, die ihm aber genau entsprach. Schließlich war es eine absolut normale Angelegenheit, ein Testament zu verfassen. Gar nichts Ungewöhnliches. Wenn Klienten in sein Büro kamen, waren sie oft ein bisschen nervös, denn es kann schwierig oder unangenehm sein, seinen Letzten Willen niederzuschreiben.

»Bitte, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Alistair dann zu ihnen. »Es ist völlig normal zu sterben. Irgendwann trifft es uns alle. Stellen Sie sich vor, wie grauenhaft es wäre, wenn wir ewig leben würden! Der Planet bräche unter dem zusätzlichen Gewicht zusammen.«

Was jedoch nicht heißt, dass ihm das Wohl des Planeten besonders am Herzen lag. Im Gegenteil. Nur Hippies und Ökos machten sich über so etwas Gedanken.

Manche Menschen, vor allem die im Fernen Osten, glauben, dass jeder von uns – auch du und ich – die eine Hälfte eines Seelenpaares ist, das in den unendlichen und verschlungenen Weiten des Universums vor der Geburt getrennt wurde. Deshalb suchen wir unser Leben lang nach der abgetrennten Seele, damit wir wieder vollständig sind. Bis dieser Tag kommt, fühlen wir uns immer ein bisschen unwohl. Manche finden die Vollständigkeit dadurch, dass sie jemanden kennenlernen, der auf den ersten Blick exakt ihr Gegenteil zu sein scheint. Ein Mann, der Kunst und Poesie liebt, verliebt sich zum Beispiel in eine Frau, die jeden Nachmittag bis zu den Ellbogen in Motoröl steckt. Und eine Frau, die auf gesunde Ernährung achtet und regelmäßig Sport treibt, fühlt sich vielleicht zu einem Mann hingezogen, der beim Sport am liebsten nur zuschaut und dabei in seinem bequemen Fernsehsessel hockt, in der einen Hand ein Bier, in der anderen ein Sandwich. Alistair Brocket wusste allerdings genau, dass er sein Leben unmöglich mit einer Person teilen konnte, die nicht ebenso normal war wie er selbst, auch wenn das an sich eine absolut normale Sache gewesen wäre.

Was uns zu Barnabys Mutter bringt, zu Eleanor.

Eleanor Bullingham wuchs in Beacon Hill auf, in einem kleinen Haus mit Blick auf den Nordstrand von Sydney. Sie war von Anfang an der Augapfel ihrer Eltern, denn sie war ganz eindeutig das bravste Mädchen im ganzen Viertel. Sie ging erst über die Straße, wenn das grüne Männchen erschien, selbst wenn weit und breit kein Auto zu sehen war. Im Bus stand sie immer sofort auf, um ihren Platz älteren Leuten anzubieten, selbst wenn noch Dutzende von Sitzplätzen frei waren. Sie war wirklich extrem wohlerzogen, und als ihre Großmutter Elspeth starb und ihr einhundert Stofftaschentücher hinterließ, die alle säuberlich mit den Initialen EB bestickt waren, fasste sie den Entschluss, später einen Mann zu heiraten, dessen Nachname mit B anfing, damit diese Erbschaft ihren Zweck erfüllte.

Wie Alistair studierte sie Jura und wurde Anwältin. Sie spezialisierte sich auf Eigentumsfragen, was sie furchtbar interessant fand, wie sie jedem, der es wissen wollte, sofort mitteilte.

Fast genau ein Jahr nach ihrem zukünftigen Ehemann trat sie eine Stelle bei Bother & Blastit an. Anfangs war sie etwas enttäuscht, wenn sie sich im Büro umschaute, weil sie feststellte, dass viele der jungen Männer und Frauen sich nicht unbedingt professionell verhielten.

Kaum einer ihrer Mitarbeiter hielt seinen Schreibtisch richtig in Ordnung. Stattdessen standen überall Fotos herum: von Familienmitgliedern, von Haustieren oder, noch schlimmer, von Promis. Die Männer zerrupften ihre To-go-Kaffeebecher, während sie sich laut am Telefon unterhielten – das Ergebnis war eine scheußliche Sauerei, die andere nachher beseitigen mussten. Die Frauen schienen den ganzen Tag nichts anderes zu tun als zu essen. Ständig kauften sie sich Snacks von dem Rollwagen, der alle paar Stunden vorbeikam und beladen war mit bunt verpackten Süßigkeiten. So sah nach den gegenwärtigen Normalitätsmaßstäben normales Verhalten aus, aber trotzdem war es nicht normal normal.

Am Anfang ihrer zweiten Arbeitswoche ging Eleanor zwei Stockwerke nach oben in eine andere Abteilung der Firma, um einem Kollegen ein ungeheuer wichtiges Dokument auszuhändigen, das dieser unverzüglich haben musste, weil sonst die Welt untergegangen wäre. Als sie die Tür öffnete, nahm sie sich vor, die Unordnung und den Schmutz dort lieber nicht zu beachten, weil sie nicht wollte, dass ihr womöglich das Frühstück wieder hochkam. Doch dann sah sie zu ihrer großen Verwunderung etwas – oder besser: jemanden, der ihr Herz einen kleinen Freudensprung machen ließ. Es hüpfte wie eine junge Gazelle, die triumphierend zum ersten Mal über einen Fluss springt.

In der Ecke stand ein Schreibtisch mit einem Stapel Akten, die säuberlich nach Farben geordnet waren, und an diesem Schreibtisch saß ein ziemlich flotter junger Mann in einem Nadelstreifenanzug und mit exakt gescheiteltem Haar. Im Gegensatz zu den nicht ganz stubenreinen Kreaturen um ihn herum hatte er seinen Arbeitsplatz tadellos aufgeräumt: Kugelschreiber und Bleistifte in einem schlichten Sammelbehälter, alle Unterlagen effizient aufgereiht vor sich, während er sie bearbeitete. Weit und breit kein einziges Foto von einem Kind, einem Hund oder einem Promi.

»Dieser junge Mann da«, sagte sie zu dem Mädchen, das an dem Schreibtisch gleich bei der Tür saß und sich gerade einen Bananen-Nuss-Muffin in den Mund stopfte, wobei die Krümel auf ihre Computertastatur rieselten und für immer zwischen den Tasten verschwanden. »Der junge Mann da in der Ecke – wie heißt er?«

»Du meinst Alistair?«, fragte das Mädchen und knabberte nun an der Innenseite der Verpackung, für den Fall, dass dort noch ein bisschen Karamellsauce klebte. »Den langweiligsten Mann im ganzen Universum?«

»Wie heißt er mit Nachnamen?«, erkundigte sich Eleanor hoffnungsfroh.

»Brocket. Grauenhaft, stimmt’s?«

»Nein, perfekt«, sagte Eleanor.

Und so kam es, dass die beiden heirateten. Das war der normale Gang der Dinge, nachdem sie zusammen im Theater waren (dreimal), in einer Eisdiele (zweimal), in einem Tanzlokal (nur einmal, denn es gefiel ihnen dort nicht so gut, zu viel unsympathische Rock-and-Roll-Musik). Und nach einem Tagesausflug zum Luna Park, wo sie Fotos machten und sich sehr nett unterhielten, bis die Sonne unterging und das riesige Clownsgesicht am Eingang durch die Lichter noch bedrohlicher aussah als sowieso schon.

Genau ein Jahr nach ihrem großen Tag konnten Alistair und Eleanor, die nun in einem normalen Haus in Kirribilli in Lower North Shore wohnten, ihr erstes Kind begrüßen, einen Jungen namens Henry. Er kam, nach kurzen Wehen, an einem Montagmorgen auf die Welt, pünktlich um neun Uhr, wog exakt sieben Pfund und lächelte dem Arzt, der ihn entband, höflich zu. Eleanor schrie nicht bei der Geburt, sie stöhnte nicht einmal, ganz anders als die übrigen Mütter, deren vulgär theatralisches Getue jeden Abend den Fernsehempfang störte. Ja, die Geburt war insgesamt eine höchst höfliche Angelegenheit, ordentlich und gesittet, und niemand nahm in irgendeiner Weise Anstoß daran.

Henry passte gut zu seinen Eltern, er war ein sehr braver kleiner Junge, trank aus seinem Fläschchen, wenn man es ihm anbot, aß sein Essen und machte immer ein ganz betroffenes Gesicht, wenn er in die Windel kackte. Sein Wachstum verlief absolut normal, mit zwei Jahren konnte er sprechen, und ein Jahr später kannte er die Buchstaben des Alphabets. Als er vier Jahre alt war, sagte die Erzieherin im Kindergarten zu Alistair und Eleanor, über ihren Sohn gebe es weder Gutes noch Schlechtes zu berichten, er sei in jeder Hinsicht normal, und zur Belohnung kauften ihm die Eltern an diesem Nachmittag auf dem Heimweg ein Eis. Natürlich Vanille.

Das zweite Kind, Melanie, wurde drei Jahre später an einem Dienstag geboren. Genau wie ihr Bruder bereitete auch Melanie weder den Krankenschwestern noch den Erzieherinnen irgendwelche Probleme, und als ihr vierter Geburtstag näher kam und ihre Eltern sich bereits auf die Ankunft eines weiteren Babys freuten, verbrachte Melanie den größten Teil ihrer Zeit mit Lesen, oder sie spielte in ihrem Zimmer mit ihren Puppen. Sie tat nichts, was sie von den anderen Kindern in ihrer Straße in irgendeiner Hinsicht abhob.

Es gab wirklich keinen Zweifel: Die Familie Brocket war so ziemlich die normalste Familie in New South Wales, wenn nicht sogar in ganz Australien.

Und dann wurde das dritte Kind geboren.

Barnaby Brocket kam an einem Freitag auf die Welt, um zwölf Uhr nachts, was schon ein schlechter Anfang war, weil Eleanor befürchtete, sie würde den Arzt und die Schwestern um den Schlaf bringen.

»Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte sie. Sie schwitzte furchtbar, was ihr extrem peinlich war. Bei der Geburt von Henry und Melanie hatte sie überhaupt nicht geschwitzt.

»Das ist doch kein Problem, Mrs Brocket«, beruhigte sie Dr. Snow. »Die Kinder kommen, wenn sie kommen. Wir können diese Dinge nicht kontrollieren.«

»Trotzdem ist es unhöflich«, erwiderte Eleanor, und dann stieß sie einen schrillen Schrei aus, weil Barnaby beschloss, dass sein großer Augenblick kurz bevorstand. »Du meine Güte«, ächzte sie, und ihr Gesicht war ganz rot vor Anstrengung.

»Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen«, sagte der Arzt und begab sich in Position, um das glitschige Kind in Empfang zu nehmen – er sah aus wie ein Rugby-Spieler, der auf dem Spielfeld einen Schritt zurückgeht, den einen Fuß fest auf dem Rasen hinter ihm, den anderen in der Vorwärtsbewegung, beide Hände ausgestreckt, um die erwartete Beute aufzufangen.

Eleanor schrie noch einmal, dann lehnte sie sich zurück und schnappte verwundert nach Luft. Sie spürte, dass sich in ihrem Körper ein ungeheurer Druck aufbaute, und war sich nicht sicher, wie lang sie diesen Druck noch aushalten konnte.

»Pressen, Mrs Brocket!«, rief Dr. Snow, und Eleanor schrie zum dritten Mal. Dabei zwang sie sich, so kräftig zu pressen, wie sie nur konnte, während die Schwester ihr eine kalte Kompresse auf die Stirn legte. Das fand Eleanor allerdings gar nicht angenehm, im Gegenteil, sie begann, laut zu jaulen, und dann stieß sie ein Wort hervor, das sie noch nie im Leben benutzt hatte, ein Wort, das sie, wenn es jemand bei Bother & Blastit verwendete, sehr ungehörig fand. Nur zwei Silben. Aber dieses Wort drückte alles aus, was sie in diesem speziellen Augenblick fühlte.

»So ist es gut!«, rief Dr. Snow fröhlich. »Da kommt er auch schon. Eins, zwei, drei, und dann noch einmal ganz kräftig pressen, okay? Eins …«

Eleanor holte Luft.

»Zwei …«

Sie keuchte.

»Drei!«

Und dann ein Gefühl enormer Erleichterung – und der Schrei eines Babys. Eleanor ließ sich stöhnend in die Kissen zurückfallen, froh, dass die Quälerei endlich vorbei war.

»Ach du liebe Zeit«, brummelte Dr. Snow kurz darauf, und Eleanor hob erstaunt den Kopf.

»Was ist los?«, wollte sie wissen.

»Wirklich sehr ungewöhnlich«, sagte der Arzt, und trotz ihrer Schmerzen richtete Eleanor sich auf, um den kleinen Jungen, der eine so anormale Reaktion hervorrief, näher zu betrachten.

»Aber – wo ist er denn?«, fragte sie, denn der Kleine wurde nicht in Dr. Snows Händen gewiegt, und er lag auch nicht am Fußende des Bettes. In dem Moment merkte sie, dass sowohl der Arzt als auch die Schwestern sie gar nicht mehr beachteten, sondern mit offenem Mund zur Decke hinaufstarrten, wo das neugeborene Kind – ihr neugeborenes Kind – platt gedrückt an den rechteckigen weißen Kacheln klebte und mit einem frechen Grinsen auf die vier Menschen da unten hinabblickte.

BARNABYS Geburt

»Er ist da oben«, sagte Dr. Snow fassungslos, und es stimmte: Da war er. Denn Barnaby Brocket, das dritte Kind der normalsten Familie, die je in der südlichen Hemisphäre gelebt hatte, war offenbar alles andere als normal, wie sich jetzt schon zeigte, denn er weigerte sich, dem elementarsten aller Gesetze zu gehorchen.

Dem Gesetz der Schwerkraft.

Kapitel 2Die Matratze an der Decke

Barnaby wurde drei Tage später aus dem Krankenhaus entlassen und nach Hause gebracht, wo ihn Henry und Melanie zum ersten Mal zu sehen bekommen sollten.

»Euer Bruder ist ein bisschen anders als wir«, eröffnete Alistair ihnen am Morgen beim Frühstück. »Ich bin davon überzeugt, dass es nur eine vorübergehende Erscheinung ist, aber es ist schon sehr befremdlich. Ihr dürft ihn auf keinen Fall anstarren, verstanden? Wenn man ihm zu viel Beachtung schenkt, bestärkt ihn das nur in seinen Launen.«

Die Kinder sahen einander verwundert an. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, was ihr Vater meinte.

»Hat er zwei Köpfe?«, fragte Henry und nahm sich die Orangenmarmelade. Er strich gern jeden Morgen ein bisschen davon auf seinen Toast. Abends war es anders, da aß er lieber Erdbeermarmelade.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Alistair ärgerlich. »Wer hat denn schon zwei Köpfe?«

»Das zweiköpfige Seemonster«, sagte Henry, der gerade ein Buch über ein zweiköpfiges Seemonster namens Orco las, das im Indischen Ozean für große Aufregung sorgte.

»Ich versichere euch, dass euer Bruder kein zweiköpfiges Seemonster ist«, sagte Alistair.

»Hat er einen Hundeschwanz?«, fragte Melanie, während sie die leeren Cornflakes-Schüsselchen einsammelte und sie säuberlich in der Spülmaschine verstaute. Der Familienhund, Captain W. E. Johns, ein Mischling, bei dem weder Rasse noch Herkunft genau zu bestimmen waren, spitzte bei dem Wort Hundeschwanz die Ohren und fing sofort an, quer durch die Küche hinter seinem eigenen Schwanz herzujagen, indem er sich ständig im Kreis drehte, bis er umkippte – und dann blieb er vergnügt hechelnd auf dem Fußboden liegen, hochzufrieden mit sich selbst.

»Warum soll denn ein kleiner Junge einen Hundeschwanz haben?«, fragte Alistair und seufzte tief. »Ich muss schon sagen, Kinder – ihr habt eine blühende Phantasie. Keine Ahnung, wo ihr die her habt. Eure Mutter und ich, wir haben beide überhaupt keine Phantasie, und wir haben euch keineswegs dazu erzogen, phantasievoll zu sein.«

»Ich hätte gern einen Hundeschwanz«, murmelte Henry nachdenklich.

»Ich wäre gern ein zweiköpfiges Seemonster«, sagte Melanie.

»Tja – hast du nicht«, sagte Alistair mürrisch zu seinem Sohn. Dann deutete er auf seine Tochter: »Und du bist keins.« Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Deshalb wollen wir uns jetzt alle wieder wie ganz normale Menschen benehmen und dafür sorgen, dass die Wohnung blitzsauber ist. Wir erwarten noch heute Morgen einen Gast.«

»Aber er ist doch kein Gast!«, protestierte Henry mit ernster Miene. »Er ist unser kleiner Bruder.«

»Ja, natürlich«, erwiderte Alistair nach kurzem Zögern.

Eine gute Stunde später fuhr draußen ein Taxi vor. In dem Taxi saß Eleanor, mit einem sehr unruhigen Barnaby im Arm.

»Da haben Sie ja ein ganz schön lebhaftes kleines Bündel«, sagte der Taxifahrer, als er den Motor ausmachte. Eleanor ignorierte die Bemerkung, weil sie sich nicht gern mit Fremden unterhielt, vor allem nicht mit Mitgliedern des Dienstleistungsgewerbes. Ihre Handtasche fiel in die Lücke zwischen den beiden Vordersitzen, und als sie danach griff, ließ sie das Baby einen Moment lang los, und schon schwebte Barnaby von ihren Knien nach oben und stieß sich am Autodach den Kopf an.

»Au«, gurgelte Barnaby Brocket.

»Den Jungen müssen Sie immer gut festhalten«, erklärte der Taxifahrer, der die Szene mit müdem Blick verfolgte. »Der haut sofort ab, wenn Sie nicht aufpassen.«

»Dreißig Dollar, stimmt’s?«, fragte Eleanor und reichte dem Fahrer einen Zwanzig- und einen Zehn-Dollar-Schein. Ja, vermutlich würde er sofort abhauen. Wenn sie nicht aufpasste.

Als sie das Haus betrat, kamen die Kinder angerannt, um ihre Mutter zu begrüßen. Vor lauter Begeisterung hätten sie Eleanor fast umgeworfen.

»Aber er ist ja winzig!«, rief Henry verdutzt. (In der Hinsicht war Barnaby tatsächlich völlig normal.)

»Er riecht so lecker«, lobte Melanie und schnupperte ausgiebig an ihrem kleinen Bruder. »Eine Mischung aus Eis und Ahornsirup. Wie heißt er eigentlich?«

»Können wir ihn Jim Hawkins nennen – wie in der Schatzinsel?«, fragte Henry, der total fasziniert war von den klassischen Abenteuergeschichten.

»Oder Peter – wie der Geißenpeter von Heidi?«, fragte Melanie, die ihrem großen Bruder immer alles nachmachte.

»Er heißt Barnaby«, verkündete Alistair und trat zu seiner Frau, um sie auf die Wange zu küssen. »Nach eurem Großvater. Und nach dem Großvater eures Großvaters.«

»Darf ich ihn mal nehmen?«, fragte Melanie und streckte die Arme aus.

»Jetzt noch nicht«, antwortete Eleanor.

»Darf ich ihn nehmen?«, fragte Henry, dessen Arme weiter reichten als die seiner Schwester, weil er ja drei Jahre älter war.

»Niemand nimmt Barnaby«, blaffte Eleanor. »Nur euer Vater und ich. Jedenfalls bis auf Weiteres.«

»Ich möchte ihn jetzt erst mal nicht nehmen, falls du damit einverstanden bist«, erwiderte Alistair und blickte dabei seinen Sohn an, als wäre dieser aus dem Zoo entsprungen und müsste schleunigst dorthin zurückgebracht werden, ehe er das Mobiliar ruinierte.

»Na ja – du bist auch für ihn verantwortlich«, fuhr Eleanor ihn an. »Glaub nur ja nicht, ich kümmere mich die ganze Zeit um dieses … dieses …«

»Baby?«, schlug Melanie vor.

»Ja, ich denke, das Wort passt ganz gut. Glaub nur ja nicht, ich kümmere mich ganz allein um dieses Baby.«

»Ich helfe natürlich gern«, sagte Alistair und schaute weg. »Aber du bist seine Mutter.«

»Und du bist sein Vater!«

»So wie’s aussieht, hat er bereits eine enge Bindung zu dir aufgebaut. Sieh ihn doch nur an.«

Alistair und Eleanor schauten auf Barnaby hinunter, und er lächelte vergnügt strampelnd zu ihnen hinauf, doch die Eltern weigerten sich beide, sein Lächeln zu erwidern. Henry und Melanie tauschten verdutzte Blicke. Sie waren es nicht gewöhnt, dass ihre Eltern so schroff miteinander redeten. Schnell kramten sie das Geschenk hervor, dass sie am Tag zuvor gekauft hatten. Sie hatten dafür sogar ihr Taschengeld zusammengelegt.

»Das ist für Barnaby«, verkündete Melanie und hielt das Geschenk ihrer Mutter hin. »Um ihn in der Familie willkommen zu heißen.« Es war eine kleine Schachtel, in Geschenkpapier eingewickelt, und Eleanors Herz wurde ein wenig weicher, weil die beiden Kinder ihren kleinen Bruder so lieb begrüßten. Sie griff nach dem Geschenk, und sofort schwebte Barnaby nach oben. Dabei rutschte seine Kuscheldecke weg und fiel auf den Boden, während er zur Zimmerdecke strebte, die natürlich viel weiter entfernt war als die Autodecke im Taxi. Außerdem war sie auch um einiges härter.

»Au!«, jaulte Barnaby Brocket. Sein kleiner Körper schmiegte sich flach ausgestreckt an die Decke, während er auf die Familie hinunterschaute – jetzt allerdings ziemlich brummig.

»Oh, Alistair!«, seufzte Eleanor und warf vor Verzweiflung die Arme in die Luft. Henry und Melanie sagten nichts, sie starrten nur mit offenem Mund ungläubig hinauf zur Decke.

Captain W. E. Johns kam gähnend angetrottet, weil der Tumult ihn aufgeweckt hatte. Interessiert musterte er die Familie, die ihn mit Futter und Wasser versorgte und ihn gefangen hielt, dann folgten seine Augen den Blicken der Kinder, bis auch er Barnaby oben an der Decke schweben sah. Da wedelte er heftig mit dem Schwanz und begann zu bellen.

»Wuff!«, bellte er. »Wuff! Wuff! Wuff!«

Ein bisschen später – längst nicht so rasch, wie man eigentlich erwartet hätte – kletterte Alistair auf einen Stuhl, um seinen Sohn herunterzuholen. Er übernahm jetzt die Aufsicht, da Eleanor sich mit einem Glas heißer Milch und mit Kopfschmerzen ins Bett zurückgezogen hatte. Widerstrebend gab er Barnaby die Flasche und wickelte ihn anschließend, doch als er die frische Windel unter den Babypopo schob, beschloss Barnaby, wieder aufwärts zu streben, und zwar in einem eleganten Bogen. Schließlich packte Alistair ihn in sein Körbchen und schnallte ihn mit den Trägern von Henrys Rucksack fest, damit er nicht wieder davonfliegen konnte. Nach einer Weile schlief Barnaby ein und träumte wahrscheinlich etwas Lustiges.

»Melanie, du musst ein Auge auf deinen Bruder haben«, befahl Alistair, und Melanie setzte sich brav neben Barnabys Körbchen. »Henry, du kommst bitte mit mir mit.«

Vater und Sohn gingen durch den Garten zum Nachbarhaus und klopften dort an die Tür.

»Was wollen Sie, Brocket?«, fragte der mürrische Mr Cody, zupfte einen Tabakkrümel zwischen den Vorderzähnen heraus und schnippte ihn auf den Boden, Henry und Alistair genau zwischen die Füße.

»Ich möchte mir Ihren kleinen Lieferwagen ausleihen«, erklärte Alistair. »Und den dazugehörigen Anhänger. Nur für ein, zwei Stunden, mehr nicht. Und natürlich zahle ich für das Benzin.«

Mr Cody erteilte ihnen die Erlaubnis, und schon fuhren Alistair und Henry über die Harbour Bridge in die Stadt und zu dem großen Kaufhaus in der Market Street. Dort kauften sie drei große Matratzen, jede breit genug für ein Doppelbett, dazu eine Schachtel mit dreißig Zentimeter langen Nägeln und einen Hammer. Zu Hause schleppten sie die Matratzen ins Wohnzimmer, wo Melanie immer noch an derselben Stelle saß wie vorher und ihren schlafenden kleinen Bruder anstarrte.

»Wie war’s?«, fragte Alistair. »Irgendwelche Probleme?«

Melanie schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat die ganze Zeit geschlafen.«

»Gut. Dann sei doch bitte ein braves Mädchen und geh mit ihm in die Küche. Ich muss hier etwas erledigen.«

Alistair holte zwei Leitern aus dem Schuppen im Garten und stellte sie an den entgegengesetzen Enden des Wohnzimmers auf, dann kletterte er auf die eine Leiter und hielt dabei die linke Seite der Matratze fest, während Henry auf die andere Leiter stieg und die rechte Seite festhielt.

»Drück sie nach oben«, sagte Alistair, holte den ersten langen Nagel aus seiner Brusttasche, nahm den Hammer und nagelte die Ecke der Matratze an der Decke fest. Der Nagel ging ohne Probleme durch die Matratze, stieß aber auf einen gewissen Widerstand, als er die Holzdielen des oberen Zimmers erreichte.

Vorbereitungen im WOHNZIMMER

»Jetzt die andere Ecke«, verkündete er, schob die Leiter an die entsprechende Stelle und schlug wieder einenNagel ein. So ging es weiter. Er arbeitete fast eine Stunde und verwendete insgesamt vierundzwanzig Nägel. Am Schluss war die bisher weiße Zimmerdecke hinter dem Blumenmuster einer mittelweichen David-Jones-Bellissimo-Matratze verschwunden.

»Na, was sagst du?«, fragte Alistair seinen Sohn beifallheischend.

»Es ist gewöhnungsbedürftig«, antwortete Henry mit einem Blick nach oben.

»Da hast du recht«, murmelte Alistair.

Inzwischen war Barnaby von dem lauten Hämmern aufgewacht und gab in seinem Körbchen eine Serie unverständlicher Gurgeltöne von sich, während Melanie ihn unterm Kinn und an den Ärmchen kitzelte und sich überhaupt ziemlich albern aufführte. Eleanors Kopfschmerzen waren schlimmer geworden, und sie kam nach unten, um herauszufinden, was das höllische Gehämmer zu bedeuten hatte. Als sie sah, was ihr Mann mit der Wohnzimmerdecke angestellt hatte, starrte sie ihn sprachlos an. Waren jetzt alle hier im Haus verrückt geworden?

»Was – um Himmels willen –?« Sie suchte nach Worten, aber Alistair lächelte sie nur an, stellte Barnabys Korb in die Mitte des Wohnzimmers und löste die Rucksackgurte, damit der Kleine nach oben schweben konnte. Diesmal schlug er sich nicht den Kopf an und rief auch nicht »Au«. Stattdessen landete er sanft an der Matratze und schien sehr zufrieden zu sein da oben, spielte mit seinen Fingern und untersuchte seine Zehen.

»Es funktioniert!«, rief Alistair begeistert und schaute seine Frau an. Er erwartete, dass sie ebenfalls begeistert sein würde, doch Eleanor, diese absolut normale Frau, war entsetzt.

»Das sieht bekloppt aus«, schimpfte sie.

»Es ist ja nicht für lange«, sagte Alistair. »Nur, bis er sich richtig eingelebt hat.«

»Und was ist, wenn er sich nie richtig einlebt? Wir können ihn nicht ewig da oben lassen.«

»Glaub mir – er wird schon bald genug haben von diesem Geschwebe«, sagte Alistair. Er bemühte sich, optimistisch zu klingen, obwohl er überhaupt nicht optimistisch war. »Wart’s nur ab. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass er sich in der Zwischenzeit jedes Mal, wenn er uns entschlüpft, den Kopf anstößt. Sonst bekommt er noch einen Gehirnschaden.«

Eleanor schwieg und machte ein unglückliches Gesicht. Sie legte sich aufs Sofa und schaute hinauf zu ihrem Sohn, der sich gut drei Meter über ihr befand. Was hatte sie nur getan, dass ihr so etwas Grauenhaftes widerfuhr, fragte sie sich. Womit hatte sie das verdient? Sie war doch eine absolut normale Frau. Sie war nicht der Typ Frau, die ein schwebendes Baby bekommt.

Währenddessen arbeiteten Alistair und Henry unverdrossen weiter, befestigen die zweite Matratze in der Küche, direkt über der Stelle, wo Barnabys Körbchen stehen würde, und die dritte im Elternschlafzimmer, weil er ja nachts dort in seinem Gitterbettchen schlafen sollte.

»Alles erledigt«, sagte Alistair, als sie wieder nach unten kamen. Eleanor lag immer noch auf dem Sofa. Melanie hockte neben ihr auf dem Fußboden und las zum siebzehnten Mal Heidi. »Wo ist Barnaby?«

Melanie deutete mit dem Zeigefinger zur Decke, ohne ein Wort zu sagen. Ihr Blick blieb auf die Buchseite gerichtet. Gerade redete nämlich der Geißenpeter, und sie wollte keine einzige Silbe verpassen. Dieser Junge war sehr weise für sein Alter.

»Tja«, brummte Alistair, der sich überlegte, was er als Nächstes tun sollte. »Meinst du, es ist in Ordnung, wenn wir ihn für den Rest das Tages da oben lassen?«

Melanie las weiter, bis sie ans Ende eines langen Absatzes kam, dann nahm sie ihr Buchzeichen, platzierte es ordentlich zwischen Seite hundertvier und hundertfünf und legte den Roman auf das Kissen neben Eleanor. Nun schaute sie ihrem Vater direkt in die Augen. »Du fragst mich, ob es in Ordnung ist, wenn unsere Mutter Barnaby den ganzen Tag da oben an der Wohnzimmerdecke lässt?«, fragte sie kühl.

»Ja, genau.« Alistair konnte ihren Blick nicht erwidern.

»Barnaby«, sagte sie noch einmal, »Barnaby ist erst ein paar Tage alt. Und du willst wirklich wissen, ob ich es okay finde, ihn einfach da oben zu lassen.«

Es folgte eine lange Pause.

»Dein Tonfall gefällt mir nicht«, sagte Alistair schließlich leise und beschämt.

»Die Antwort auf deine Frage lautet: nein. Nein, ich finde es nicht in Ordnung, ihn da oben zu lassen.«

»Also gut«, sagte Alistair und kletterte auf einen Stuhl, um den Jungen zu holen. »Das hättest du auch gleich sagen können.«

In dem Moment klingelte es an der Tür. Es war der Nachbar, Mr Cody, der den Schlüssel für seinen Lieferwagen zurückhaben wollte, und weil ihm nicht gleich jemand öffnete, marschierte er einfach ins Haus, ohne lang zu fackeln. Alistair legte Barnaby in seinen Korb, vergaß aber, die Gurte anzulegen, und schon schwebte der kleine Junge wieder nach oben zur Decke, wo er sich bequem an die Matratze schmiegte.

Mr Cody war schon lange auf der Welt, hatte in zwei Weltkriegen gekämpft, Roald Dahl die Hand geschüttelt und im Verlauf von sieben Jahrzehnten auch sonst viele ungewöhnliche Dinge erlebt, von denen er manche verstanden hatte und andere nicht. Er schaute nach oben, legte den Kopf schief, strich sich mit der Hand übers Kinn und leckte mit der Zunge langsam über seine Lippen, erst über die Oberlippe, dann über die Unterlippe. Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte zu Eleanor: »Das ist doch nicht normal, das da!«

Sofort brach Eleanor in Tränen aus, rannte die Treppe hoch und warf sich aufs Bett, fest entschlossen, die Augen geschlossen zu halten, weil sie auf keinen Fall die monströse dritte Matratze über ihr sehen wollte.

Kapitel 3Barnaby, der Drachen

Vier Jahre vergingen, und nichts änderte sich. Barnabys Familie musste wohl oder übel akzeptieren, dass das Schweben keine Phase war. Ihr drittes Kind war und blieb so. Alistair und Eleanor gingen mit ihm zu einem Arzt in der Nähe, der ihn gründlich untersuchte und dann vorschlug, sie sollten ihm zwei Tabletten geben und am nächsten Morgen wiederkommen, aber dadurch wurde nichts besser. Also besuchten sie mit ihrem Sohn einen auswärtigen Spezialisten, der ihm einen Zyklus Antibiotika verschrieb, doch Barnaby schwebte immer weiter, war allerdings immun gegen die schlimme Grippe, die in dieser Woche in Kirribilli umging. Schließlich fuhren sie mit ihm ins Zentrum von Sydney, weil sie einen Termin bei einem berühmten Facharzt hatten. Doch der Facharzt schüttelte nur den Kopf und sagte, der Junge werde mit der Zeit schon daraus herauswachsen.

»Letzten Endes wachsen die Jungen irgendwann aus allem heraus«, fügte er hinzu und schob ihnen lächelnd eine fette Rechnung für die magere Untersuchung hin. »Sie wachsen aus ihren Hosen heraus. Aus ihren guten Manieren. Aus ihrer Bereitschaft, die Autorität der Eltern zu respektieren. Man braucht nur Geduld, mehr nicht.«

All das half Alistair und Eleanor nicht weiter, im Gegenteil, sie wurden immer frustrierter.

Barnaby schlief nun im unteren Teil des Etagenbetts in Henrys Zimmer. An der Unterseite von Henrys Bett waren mehrere Wolldecken angebracht, damit er nicht mit dem Kopf gegen die Spiralfedern stieß.

»Es ist schön, dass wir unsere Decke wieder sehen können, stimmt’s?«, sagte Alistair, als er endlich die Matratze im Elternschlafzimmer entfernt hatte. Eleanor nickte, sagte aber nichts. »Sie muss frisch gestrichen werden«, fuhr er fort, um die Lücke zu füllen, die durch Eleanors Schweigen entstand. »Da, wo die Matratze war, ist ein großes gelbes Rechteck. Sogar das Blumenmuster hat Spuren hinterlassen.«

Es gab immer wieder schwierige Situationen, zum Beispiel, wenn Barnaby Bad und Toilette benutzte, aber vielleicht ist es ein bisschen indiskret, ausführlich darüber zu berichten. Deshalb soll hier nur erwähnt werden, dass es ihm extrem schwerfiel zu duschen, und zu baden war völlig unmöglich. Bei der Benutzung der Toilette entstanden so viele Komplikationen, dass selbst ein hochbegabter Verrenkungskünstler überfordert gewesen wäre.

Wenn abends manchmal der Grill angeworfen wurde, versammelte sich die Familie um den Gartentisch: Alistair, Eleanor, Henry und Melanie saßen auf den vier Stühlen unter dem großen Sonnenschirm, während Barnaby oben in der Leinenbespannung schwebte. Der kräftige grüne Stoff verhinderte, dass er in die Atmosphäre davonflog. Leider durfte er auf seine Hotdogs oder Hamburger kein Ketchup geben, da dieses die unangenehme Eigenschaft hatte, den anderen Familienmitgliedern auf den Kopf zu platschen.

»Aber ich mag Tomatenketchup«, beschwerte sich Barnaby, der das sehr unfair fand. Inzwischen konnte er selbstverständlich mehr sagen als Au.

»Und ich habe keine Lust, mir jeden Tag die Haare zu waschen«, entgegnete sein Vater.

An solchen Abenden kauerte Captain W. E. Johns auf dem Boden, schaute unverwandt zu dem Jungen hinauf und wartete auf Anweisungen. Er hatte nämlich beschlossen, dass dieses schwebende Kind sein Herrchen war, und hörte auf sonst niemanden.