So viel Freude, so viel Wut - Nora Imlau - E-Book
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So viel Freude, so viel Wut E-Book

Nora Imlau

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Beschreibung

Wenn Kinder starke Gefühle haben

Gefühlsstarke Kinder – so nennt Nora Imlau Jungen und Mädchen, die von Geburt an anders sind als andere Kinder: wilder, bedürfnisstärker, fordernder. Aber gleichzeitig auch feinfühliger, sensibler, verletzlicher. Jedes siebte Kind kommt mit dieser besonderen Spielart der Persönlichkeitsentwicklung zur Welt. So viele! Und doch fühlen sich viele Eltern sehr allein, wenn ihr Kind als gefühlt einziges als Baby den Kinderwagen hasst und im Rückbildungskurs nicht auf der Matte liegen mag, auch als Kindergartenkind noch nicht alleine einschlafen kann und selbst im Schulalter noch viel Hilfe im Umgang mit seinen heftigen Gefühlsausbrüchen braucht.

Gewohnt fachkundig und einfühlsam leuchtet Nora Imlau aus, warum gefühlsstarke Kinder sich so von Gleichaltrigen unterscheiden und was sie von ihren Eltern brauchen, um einen gesunden Umgang mit ihren intensiven Emotionen zu erlernen. Plus: Ganz praktische Hilfestellungen für typische Stress- und Konfliktsituationen mit gefühlsstarken Kindern – vom Anziehen über den Kindergarten- und Schulbesuch bis zum Zähneputzen.

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Seitenzahl: 401

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Über das Buch

Dieses Buch zeigt, wie man gefühlsstarke Kinder erkennt, was sie brauchen und welche großartigen Potenziale in ihnen stecken. Plus: praktische Hilfestellungen für typische Stresssituationen – vom Anziehen über den Kindergarten- und Schulbesuch bis zum Zähneputzen.

Das erste deutschsprachige Buch zum Thema – eine unverzichtbare Unterstützung und Entlastung für Eltern.

Manche Kinder haben extrem starke Gefühle. Sie strotzen vor Energie, Begeisterungsfähigkeit, Bewegungsdrang. Aber sie schreien auch besonders laut, schlafen lange nicht durch, können ihre Emotionen schwer regulieren. Jedes siebte Kind kommt mit dieser besonderen Spielart der Persönlichkeitsentwicklung zur Welt. So viele!

Und doch fühlen sich viele Eltern sehr allein, wenn ihr Baby scheinbar als einziges im Rückbildungskurs nicht auf der Matte liegen mag, als Kindergartenkind keine Mahlzeit ohne Tränen zu sich nimmt und selbst im Schulalter noch viel Hilfe bei seinen heftigen Gefühlsausbrüchen braucht.

Fachkundig und einfühlsam leuchtet Nora Imlau aus, warum gefühlsstarke Kinder sich so von Gleichaltrigen unterscheiden und was sie von ihren Eltern brauchen, um einen gesunden Umgang mit ihren intensiven Emotionen zu erlernen.

Mehr Info und Austausch auf www.gefuehlsstarkekinder.de sowie auf Facebook

»Bisher hatte ich das Gefühl als Mutter versagt zu haben – nun weiß ich, dass es nicht so ist.«

»Es fühlt sich befreiend an, die Signale eines gefühlsstarken Kindes zu verstehen.«

»Endlich habe ich begriffen, dass nicht meine Kinder falsch sind, sondern meine Erwartungen an sie.«

»Meine Kinder sind auch stark: Sie sind gefühlsstark. Diese Erkenntnis macht mich stolz.«

Eltern gefühlsstarker Kinder über dieses Buch

Die Autorin

Nora Imlau, 1983 geboren, gilt hierzulande als eine der wichtigsten Expertinnen für Baby- und Kleinkindthemen. Als Journalistin und Fachautorin für Familienfragen schreibt sie unter anderem für die Zeitschrift ELTERN und hat bereits mehrere erfolgreiche Elternratgeber veröffentlicht. In Vorträgen und Workshops macht sie sich für ein bindungs- und beziehungsreiches Familienleben stark. Durch ihren konsequent bedürfnisorientierten Blick auf Kinder und Eltern haben auch ihre Facebookseite und ihr Blog eine große Fangemeinde. Nora Imlau hat selbst drei Kinder – eines davon gefühlsstark – und lebt in Leipzig.

Nora Imlau

So viel Freude, so viel Wut

Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten

Mit Einschätzungstest für Eltern und Kinder

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Weiss Werkstatt München

Covermotiv: gettyimages/Johner Images

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21493-7V009

www.koesel.de

Für meine Großmutter Margret Imlau,

die immer schon ein großes Herz für wilde Ruschen hatte.

Inhalt

Vorwort

ERSTES KAPITEL Einfach mehr! Gefühlsstarke Kinder erkennen und verstehen

Irgendwie anders als andere

Ist das noch normal?

Worte schaffen Wirklichkeit

Noch ein Label?

Den Blick auf die Stärken richten

Ist mein Kind ein gefühlsstarkes Kind?

Acht typische Eigenschaften gefühlsstarker Kinder

Ihr seid nicht allein!

Die Grundbedürfnisse gefühlsstarker Kinder

Gefühlsstark oder etwas anderes?

Gefühlsstark, hochsensibel, High Need?

Gefühlsstärke als Ausrede?

ZWEITES KAPITEL Angeboren oder anerzogen: Wieso ist unser Kind so anders?

Was haben wir falsch gemacht?

Ein angeborenes Merkmal

Ihr seid nicht schuld!

Gefühlsstark durch eine stressige Schwangerschaft?

Wenn das Gehirn anders funktioniert

Die Kraft der Berührung und Nähe

Gefühlsstarke Kinder sind kein neues Phänomen

Gefühlsstarke Kinder gibt es überall

Werden die gefühlsstarken Kinder immer mehr?

Abschied vom Traumkind

Von Anfang an ist alles anders

Herausforderung gefühlsstarkes Baby

Die Babys der anderen

Raus aus dem Haus!

Wenn ich das gewusst hätte!

DRITTES KAPITEL Mein Kind und ich: Authentische Eltern für gefühlsstarke Kinder

Vorsicht vor schnellen Lösungen

Wer bin ich und wer bist du?

Was können wir wann erwarten?

Gemeinsamkeiten und Unterschiede ermitteln – mit Persönlichkeitsskalen

Wenn ein regulationsstarkes Elternteil auf ein gefühlsstarkes Kind trifft

Wenn ein gefühlvolles Elternteil auf ein gefühlsstarkes Kind trifft

Wenn ein gefühlsstarkes Elternteil auf ein gefühlsstarkes Kind trifft

Sich selbst beruhigen: Was Eltern helfen kann

Von alten Gefühlen übermannt

Mitfühlen, ohne mitgerissen zu werden

Extrovertiert oder introvertiert? Wo wir Kraft schöpfen

Verändern, ohne zu verletzen

Natürliche Autoritäten für gefühlsstarke Kinder

Mit beiden Beinen auf dem Boden

Das Geheimnis der Authentizität

Gut genug ist gut genug

VIERTES KAPITEL Mit intensiven Gefühlen klarkommen lernen

Jedes Gefühl hat einen Namen

Die Sache mit dem Spiegeln

Selbstregulation statt Selbstkontrolle

Achtung: Stress!

Der Notausgang, der immer offen ist

Mein armes, überreiztes Kind

Was gefühlsstarke Kinder stresst

Einen gesunden Umgang mit Stress lernen

Stressfaktoren langfristig verringern

Gefühle sind nur Gefühle

Innere Bilder finden

Kinder dürfen traurig sein

Freiheit als Überlebenselexier

Ich bin so frei – Wie gefühlsstarke Kinder Eigenverantwortung erfahren

Das große Draußen

FÜNFTES KAPITELAlles steht Kopf: Typische Herausforderungen im Alltag

Bist du eigentlich niemals müde? Strategien für erholsame Abende und Nächte

Wie kann Essen nur so ein Kampf sein? Ernährungsdramen entschärfen

Nun zieh dich schon an! Warum Kleidung fürs Wohlbefinden wichtig ist

Abschied, Trennung, Neuanfang: Übergänge erleichtern

So findet man aber keine Freunde! Soziale Herausforderungen begleiten

Die Sache mit den Medien

Jetzt hör mir doch mal zu! Mit gefühlsstarken Kindern sprechen

Wenn gefühlsstarke Kinder zuschlagen. Gewalt verhindern und einhegen

SECHSTES KAPITEL Gefühlsstarke Kinder in Krippe, Kindergarten und Schule

Familienergänzende Betreuung für gefühlsstarke Kleinkinder

Bewährte Erfolgsstrategien für alle Betreuungsorte

Checkliste: Mein Kind in gute Hände geben

Gefühlsstarke Kleinkinder eingewöhnen

Gefühlsstarke Kinder im Kindergarten

Unser Kind – (K)Ein Problemkind?!

Was gefühlsstarken Kindern den Kindergartenbesuch leichter macht

Vorsicht, Schubladendenken!

Betreuungseinrichtungen auf ein gefühlsstarkes Kind vorbereiten

Gefühlsstarke Schulkinder

Wenn es Probleme gibt

»Das ist aber nicht altersgerecht!«

SIEBTES KAPITELEin fast normales Familienleben

»Du bist nicht allein auf der Welt«

Gerechtigkeit und Gleichheit sind nicht dasselbe

Jetzt hab ich Zeit nur für dich!

Rückzug für alle

»Immer sprengt der Kleine alles!«

Wie viel Rücksicht können wir erwarten?

Chaos hoch zwei: Gefühlsstarke Geschwisterkinder

Wir brauchen einen Clan

Die liebe Verwandtschaft

Ausgerechnet bei der Schwiegermutter ...

Gefühlsstärke kann in der Familie liegen

Beziehungsrisiko gefühlsstarkes Kind

Mit unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen umgehen

Ein sicherer Hafen

Alleinerziehend mit einem gefühlsstarken Kind

Trauen wir uns an noch ein Kind?

Was soll nur aus dir werden?

EPILOG Das kostbarste Geschenk

Anmerkungen

Zum Weiterlesen

Register

© Susanne Krauss (www.susanne-krauss.com)

Vorwort

Es gibt Momente, die vergisst man nicht. Für mich war so ein Moment, als ich das erste Mal von gefühlsstarken Kindern hörte, die mir damals unter dem Namen »Spirited Children« begegneten. Besondere Kennzeichen: ein extrem starker Wille, heftige Gefühlsausbrüche, gleichermaßen wild wie sensibel. »Das ist doch mein Kind!«, dachte ich, völlig überrascht, dass es für dieses Phänomen überhaupt einen Namen gibt.

Denn wie viele Mütter und Väter gefühlsstarker Kinder hatte auch ich bis dahin oft das Gefühl, völlig allein zu sein mit meinen Fragen und Problemen, die anderen Eltern oft nur ein erstauntes Stirnrunzeln entlockten: »Wie, dein Kind weigert sich morgens, seine Jeans anzuziehen? Also, das würde ich mir ja nicht bieten lassen.«

Seit ich weiß, dass ich ein gefühlsstarkes Kind habe, bin ich als Mutter nicht mehr allein. Denn ich weiß heute: Es gibt hunderttausende gefühlsstarke Jungen und Mädchen auf dieser Welt. Und sie alle haben Eltern, die tagtäglich vor denselben Herausforderungen stehen wie mein Mann und ich: Mit diesem heiß geliebten, wunderbaren, einzigartigen Kind, dessen explosives Temperament uns manchmal schier in den Wahnsinn treibt, in einen liebevollen, funktionierenden Familienalltag zu finden.

Seit ich zum ersten Mal von gefühlsstarken Kindern erfahren habe, ist viel passiert. Ich habe recherchiert, was die moderne Persönlichkeitsforschung über besonders temperamentvolle, impulsstarke Kinder weiß, und mit Wissenschaftlern gesprochen, die ihre Forscherkarriere der Frage verschrieben haben, wieso unsere Kinder so sind, wie sie sind. Ich habe Studien gelesen, Fachbücher gewälzt, Hirnscans studiert. Vor allem aber habe ich mit anderen Eltern gesprochen, deren Kinder genauso ticken, und habe sie nach ihren persönlichen Erfahrungen im Umgang mit ihren gefühlsstarken Kindern gefragt. Was hat sie beruhigt, was hat ihnen geholfen? Was sind ihre Geheimtipps, wenn mitten in einem Gefühlsausbruch mal wieder gar nichts geht? Und wie haben sie es geschafft, Freunden und Verwandten zu erklären, warum ausgerechnet ihr Kind so anders tickt als andere? Die Erkenntnisse, die ich während dieser langen, hochemotionalen Recherchereise gewonnen habe, haben unser Familienleben verändert und geprägt. Denn je mehr ich darüber weiß, was im Kopf und im Herzen meines gefühlsstarken Kindes vorgeht, desto einfühlsamer und liebevoller kann ich es durch die wilden Stürme, die in seinem Inneren toben, begleiten. Und je größer mein Schatz an Strategien ist, die anderen Familien in unserer Situation geholfen haben, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich auch in schwierigen Situationen die Nerven behalte und meinem Kind das Gegenüber bin, das es jetzt braucht: Die ruhige, selbstsichere Erwachsene, die weiß, wie man das überreizte Nervensystem eines völlig aufgelösten Kindes sanft herunterfährt.

Deshalb ist es mir so ein Herzensanliegen, weiterzugeben, was ich in den vergangenen Jahren über gefühlsstarke Kinder und ihre Familien gelernt habe. Ich möchte dazu einladen, wirklich zu verstehen, was hinter dem besonderen Temperament dieser Jungen und Mädchen steckt. Denn ihr komplexes Innenleben zu begreifen, ist der erste Schritt hin zu einem Familienleben, das nicht mehr von ständigen Kämpfen und Konflikten geprägt ist, sondern von Verständnis und Vertrauen. Und das ist die Grundlage dafür, dass wir unseren Kindern im zweiten Schritt einen gesunden Umgang mit ihren heftigen Emotionen zeigen können – ohne zu verlangen, dass sie sich dafür verbiegen.

Kurze Portraits bekannter Persönlichkeiten, die ebenfalls einmal gefühlsstarke Kinder waren, ergänzen dieses Buch. Grund dafür ist, dass ich mit dem Wissen um das besondere Temperament mancher Kinder plötzlich auch in Biographien ganz unterschiedlicher Berühmtheiten Hinweise darauf entdeckte, dass diese bereits in ihrer Kindheit durch starke Gefühlsausbrüche und einen eigenwilligen Charakter aufgefallen sind. So legte ich mir im Lauf der Jahre einen ganzen Ordner voller Interviews, biographischer Abrisse und Zeitungsausschnitte an, zur Beruhigung und zur Erinnerung daran, dass viele große Genies einmal als »schwierige Kinder« galten, bevor ihr besonderes Temperament sie über sich hinauswachsen ließ. Deshalb hoffe ich, dass eine kleine Auswahl daraus auch anderen Eltern dabei hilft, bei allen Herausforderungen im Alltag nicht das besondere Potential ihres gefühlsstarken Kindes aus dem Blick zu verlieren.

Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, wünsche ich nun viel Freude mit diesem Buch. Möge es Ihnen Selbstzweifel nehmen, Fragen beantworten, Mut machen und ganz konkret weiterhelfen im turbulenten Alltag mit Ihrem Kind. Und wer weiß? Vielleicht wird ja auch für Sie der Moment, als Sie zum ersten Mal von gefühlsstarken Kindern hörten, zu einem echten Wendepunkt, hin zu einem entspannteren Familienleben und einer harmonischeren Beziehung zu Ihrem ganz besonderen Kind. Das wünsche ich Ihnen von Herzen!

Leipzig, im Winter 2017

Nora Imlau

© Nora Imlau

ERSTES KAPITEL Einfach mehr! Gefühlsstarke Kinder erkennen und verstehen

Irgendwie anders als andere

Mehr Begeisterung, mehr Ehrgeiz, mehr Lebensfreude. Aber auch mehr Verzweiflung, Aggression und Traurigkeit: Es gibt Kinder, die sind einfach anders als andere Kinder. Egal um welches Gefühl es geht – sie scheinen nur die Extremvariante zu kennen. Höchste Freude, tiefste Trauer, wildeste Wut. Dazwischen gibt es bei ihnen nicht viel. Einfach mal so mittelzufrieden sind diese Kinder so gut wie nie. Jeder Tag gleicht vielmehr einer hochemotionalen Achterbahnfahrt mit atemberaubend vielen Loopings.

Es gibt Momente, da ist es einfach toll, ein Kind mit einem so überschießenden Temperament zu haben: Wenn der Dreijährige knallvergnügt aus dem Bett springt und mit einer ungeheuren Energie bastelt, werkelt, spielt und turnt, wenn die Siebenjährige großzügigst Liebesworte und Komplimente verteilt: »Du bist die beste Mami der Welt, ich bin so glücklich, dass ich dich hab!«

Doch es gibt mit Kindern wie diesen auch andere Momente, viele andere Momente. In denen es schon morgens vorm Frühstück Tränen gibt, weil die Lieblingsjeans in der Wäsche ist und jede andere Hose sich gerade unerträglich anfühlt auf ihrer Haut. In denen das neckische »Guten Morgen, Kleiner!« der Bäckersfrau einen anderthalbstündigen Wutanfall provoziert, weil der »Kleine« kein Kleiner ist, sondern ein großes Schulkind, das sieht man doch wohl, verdammt! In denen Gläser umstürzen und Teller zerbrechen, weil das achtjährige Kind es einfach nicht schafft, beim Abendessen einigermaßen ruhig am Tisch sitzen zu bleiben – zu viel Zappel in den Beinen.

»Ach, so sind doch alle Kinder manchmal«, bekommen Eltern oft zu hören, wenn sie von ihren emotionsgeladenen Töchtern und Söhnen erzählen. Doch der Unterschied zwischen den ganz normalen Hochs und Tiefs, die alle Kinder mal durchleben, und dem chaotischen Gefühlshaushalt der Kinder, um die es in diesem Buch gehen soll, liegt in dem kleinen Wörtchen manchmal.

Klar zappelt fast jedes Kind mal am Tisch herum oder legt einen Zornausbruch im Supermarkt hin. Natürlich fließen in jeder Familie mal die Tränen, gibt es heftige Streits und große Empörung. Aber danach ist es dann irgendwann auch wieder gut. Die Wogen glätten sich, es kehrt Ruhe ein, alle sind wieder einigermaßen ausgeglichen.

Genau das passiert in den Familien, an die sich dieses Buch wendet, meistens nicht. Im Gegenteil: Hat das eigene Kind irgendwann mit viel Begleitung und Unterstützung aus einer alles beherrschenden Emotion herausgefunden, springt es wie ein kleiner Flummi sofort ins nächste intensive Gefühl. Tatendrang zum Beispiel. »Jetzt muss ich unbedingt ein Floß bauen. Sofort, Mama!« Und wenn dieses Vorhaben dann scheitert – etwa an der schlichten Tatsache, dass gerade kein Holz da ist –, ist für die nächsten anderthalb Stunden wieder Holland in Not.

Sind so viele Tränen, so viel Verzweiflung, so viel Wut noch normal? Viele Eltern zweifeln daran: Wenn die Vierjährige ihren Kopf voller Zorn gegen den Fußboden knallt, wieder und wieder und wieder. Wenn der Fünfjährige fast vom Balkon gesprungen wäre, vor lauter Abenteuerlust und Übermut. Wenn das Vorschulkind seinen Freund im Kindergarten so stürmisch umarmt, dass dieser vor Schreck hintenüber fällt – und der kleine Wirbelwind daraufhin so betroffen und bestürzt ist, dass er wochenlang nicht mehr in den Kindergarten gehen will.

So sind andere Kinder doch nicht?!

Doch. Es gibt hunderttausende solcher Kinder, die die Welt intensiver wahrnehmen als andere und tagtäglich von extrem starken Emotionen überrollt werden. Sie leben überall auf dem Globus, in armen und reichen, großen und kleinen Familien, in Industrienationen ebenso wie in traditionellen Kulturen. Sie unterscheiden sich in ihrer Art und ihrem Wesen oft stark von ihren Altersgenossen. Aber nicht, weil sie unnormal wären, sondern weil die normale Entwicklung von Menschenkindern sehr viel vielfältiger ist, als wir oft meinen.

Ist das noch normal?

»Es ist normal, verschieden zu sein« – dieser Ausspruch Richard von Weizsäckers könnte auch als Motto der Entstehung unserer menschlichen Art herhalten. Evolutionär betrachtet ist Vielfalt unsere Stärke, Verschiedenheit unser Überlebensgarant. Denn wo ganz unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinander treffen, gibt es zwar die meisten Konflikte, aber auch den größten Fortschritt, weil die Temperamente sich in ihren Stärken und Schwächen ergänzen.

So kommt es, dass wir alle mit einer individuellen Persönlichkeitsstruktur zur Welt kommen – die einen scheuer, die anderen neugieriger, die einen robuster, die anderen sensibler. Die Kinder, um die es in diesem Buch gehen soll, wurden dabei mit einem besonders explosiven Mix ausgestattet: Sie sind einerseits extrem verletzlich, andererseits aber auch extrem lebhaft. Das heißt: Sie sind von der Wut, Trauer oder Empörung anderer schnell tief verletzt – teilen selbst aber scheinbar ohne Rücksicht auf Verluste aus, weil sie ständig von ihren eigenen Gefühlen überwältigt werden.

Wenn wir uns die verschiedenen angeborenen, ganz normalen Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen als ein Spektrum vorstellen, in dem die meisten sich selbst und ihre Kinder irgendwo leicht rechts oder links der Mitte einordnen würden, stehen die Kinder, von denen dieses Buch handelt, mit ihrem Fühlen und Erleben jeweils am alleräußersten Rand dieses Spektrums: Sie sind extrem feinfühlig und gleichzeitig extrem impulsiv, extrem neugierig und extrem schnell von neuen Reizen überfordert, extrem nähebedürftig und extrem freiheitsliebend, extrem mutig und extrem ängstlich, extrem begeisterungsfähig und extrem schnell am Boden zerstört.

Worte schaffen Wirklichkeit

Jungen und Mädchen mit so einem intensiven Gefühlsleben und so einem ausufernden Temperament bezeichnen wir oft als

schwierigwildungestümforderndanstrengendwiderspenstigrebellischunruhigsturdickköpfigtrotzigaufbrausendüberempfindlichhyperaktivweinerlichunentspannt

Wir nennen sie

TräumerMimosenMonsterTyrannenDiktatorenZappelphilippeZerstörerDrama QueensTroublemakerTerrormacherHeulsusenWutzwergeStinkstiefelMotzbackenZicken

Wir bemängeln ihre

fehlende Impulskontrollegeringe SelbstregulationsfähigkeitStarrköpfigkeitLautstärkeHibbeligkeitRücksichtslosigkeitÜberschwänglichkeitHypersensibilitätAggressionübertriebene Emotionalität

Wir haben also einen ganzen Strauß an Worten und Begrifflichkeiten zur Verfügung, um die problematischen Seiten des besonderen Temperaments herauszustellen. Und keinen einzigen Begriff, der zum Ausdruck bringt, was für ein unglaubliches Potential in dieser ungewöhnlichen Persönlichkeitsstruktur steckt. Denn Kinder, die alle Emotionen besonders intensiv sowohl er-leben und aus-leben, sind meist auch

kreativbegeisterungsfähigaufgewecktneugierigausdauernddurchsetzungsfähigmutigehrgeizigsprachgewandtehrlichmeinungsstarkmitreißendleidenschaftlichstarkklug

Sie sind oft

WeltverbessererStreitschlichterForscherEntdeckerErfinderhingebungsvolle FansKünstlerSportlerVerfechter von Fairness und GerechtigkeitDiskussionstalenteFührungspersönlichkeitenVisionäreRevolutionäre

Sie verfügen häufig über auffallend viel

EnergieKonzentrationMitgefühlPerfektionismusZielstrebigkeitNachdenklichkeitrhetorisches GeschickTraditionsbewusstseinAusdrucksstärkeWissbegierdeStandhaftigkeit

Das Brisante an diesen ganz unterschiedlichen Begrifflichkeiten: Mit Worten erschaffen wir Wirklichkeit.

Für ein Kind, das wir als schwierig, widerspenstig und übermäßig anstrengend wahrnehmen, prägen genau diese Zuschreibungen auch sein Selbstbild und sein Verhalten. Sehen wir hingegen seine Leidenschaft, seine Energie, seine funkensprühende Kreativität und Klugheit, werden diese Attribute nicht nur unser Kind entscheidend beeinflussen, sondern auch unsere Beziehung zu ihm.

Deshalb ist es mir so wichtig, von der Beschreibung dieser Jungen und Mädchen als schwierige, stets fordernde, nie zufriedene Problemkinder wegzukommen und für sie einen neuen Namen zu finden, der die ganze Kraft und den ganzen Reichtum ihres besonderen Temperaments zum Ausdruck bringt: gefühlsstarke Kinder.

Noch ein Label?

Jedem Kind ein eigenes Label: Vielen Eltern geht der Trend, jeder Abweichung von einer wie auch immer definierten Norm kindlicher Entwicklung gleich einen eigenen hochtrabenden Namen zu verpassen, gehörig auf den Keks. Marlies ist nicht einfach zart besaitet, sie ist hochsensibel. Jan ist nicht einfach ein bisschen ungeschickt, sondern hat eine sensitive Wahrnehmungsstörung. Und Moritz ist kein kleiner Rabauke, sondern ein Kind mit gestörter Impulskontrolle. »Geht’s auch eine Nummer kleiner?«, fragen sich Mütter und Väter angesichts solcher Wort-Ungetüme, die zwar wie medizinische Diagnosen klingen, jedoch oft einfach nur ganz normale Charakterzüge beschreiben. Und jetzt also gefühlsstark als noch eine neue Mode-Diagnose, mit der wir Kinder in Schubladen einsortieren können? Nein, im Gegenteil: Ich verstehe den Begriff »gefühlsstarke Kinder« als Gegenentwurf zu all den Etiketten, mit denen unsere Gesellschaft besonders sensible, impulsive Kinder oft belegt. Ich halte Gefühlsstärke eben nicht für eine Anomalie, nichtfür eine behandlungsbedürftige Problematik, sondern für eine zwar herausfordernde, aber letztlich ganz normale Spielart der Persönlichkeitsentwicklung. Den Ausdruck »gefühlsstarke Kinder« begreife ich deshalb nicht als Diagnose, sondern als eine Art Schlagwort, das zwei wichtige Funktionen erfüllt: Zum einen gibt es Familien einen Begriff an die Hand, mit dem sie ihr Kind wertschätzend beschreiben können, und der ihren Blick auf die Stärken und Potentiale ihres Kindes lenkt. Zum anderen ermöglicht eine einheitliche Bezeichnung Eltern gefühlsstarker Kinder, sich untereinander zu finden und zu vernetzen und die Gemeinsamkeit, ein gefühlsstarkes Kind zu haben, zum Ausgangspunkt für Austausch und gegenseitige Unterstützung zu nehmen. Im englischsprachigen Raum ist diese Entwicklung bereits weit vorangeschritten: Seit die US-amerikanische Erziehungswissenschaftlerin Mary Sheedy Kurcinka 1992 in ihrem Buch Raising Your Spirited Child erstmals den Begriff »Spirited Children« für Kinder verwendete, die in jeder Hinsicht einfach »mehr« sind (mehr Emotion, mehr Energie, mehr Impulsivität, mehr Sensibilität), verbreitete sich der positive Name für bis dahin auch im Englischen immer als »schwierig« bezeichnete Kinder wie ein Lauffeuer. Kein Wunder: Kurcinka zufolge ist jedes siebte bis zehnte Kind ein gefühlsstarkes Kind.

Heute gibt es in Nordamerika in jeder größeren Stadt Elterngruppen, in denen sich Mütter und Väter gefühlsstarker Kinder zum Austausch treffen, und in einer »Raising Your Spirited Child«-Facebook-Gruppe stärken sich über 10 000 Eltern gegenseitig den Rücken. Mein Wunsch ist es, ein ähnliches Netz gegenseitiger Unterstützung auch im deutschsprachigen Raum zu knüpfen.

Den Blick auf die Stärken richten

Wenn wir unsere besonderen Kinder mit einem liebevollen Begriff wie »Gefühlsstärke« neu betrachten, nutzen wir damit ein beliebtes Werkzeug in der Psychotherapie: das so genannte »Re-Framing«, was wörtlich übersetzt »neu einrahmen« bedeutet. Die Grundidee dabei ist, eine bestimmte, in unserem Denken und Fühlen fest verankerte Sichtweise oder Erfahrung sinnbildlich aus ihrem angestammten Rahmen zu nehmen und aus einem anderen Blickwinkel neu zu betrachten. Vergleichbar ist das mit einem Gemälde in einer Galerie, dem wir bewusst einen neuen, anderen Rahmen verleihen, der uns das Bild aus einer ganz neuen Perspektive wahrnehmen lässt. Was auf den ersten Blick wie ein billiger Psycho-Trick wirken mag – schließlich ist und bleibt das Bild trotz neuem Rahmen ja dasselbe –, ist in Wirklichkeit nachweislich ein kraftvolles Instrument, das es selbst schwer traumatisierten Menschen ermöglichen kann, die Deutungshoheit über ihr eigenes Erleben und Empfinden (wieder) zu erlangen. Doch auch für uns Eltern eröffnet ein neuer, bewusst anderer Blick auf unsere Kinder ungeahnte Möglichkeiten: Wenn wir aufhören, unsere Söhne und Töchter als fordernd, anstrengend und problematisch zu betrachten und zu beschreiben und anfangen, sie als feinfühlig, ausdrucksstark und besonders zu sehen und zu benennen, verändert sich allein dadurch unser gesamtes Familiengefüge. Ein liebevoller Blick und eine wertschätzende Sprache beeinflussen nämlich nicht nur, wie wir mit unserem Kind umgehen – sie prägen auch das Selbstbild unseres Kindes sowie die Art und Weise, wie andere Menschen es wahrnehmen. Denn ein positiver Blickwinkel und Wortschatz sind ansteckend: Wir fühlen, was wir hören und was wir sehen.

Mit diesem Buch möchte ich Eltern deshalb dazu einladen, ihr Kind in neuem Licht zu sehen, ohne dabei die eigenen dunklen oder schwierigen Gefühle unter den Teppich zu kehren. Ja, das Leben mit einem gefühlsstarken Kind ist anstrengend. Ja, die ständigen Hochs und Tiefs zu begleiten, lässt uns manchmal in unsere eigenen emotionalen Abgründe blicken. Doch all das ändert nichts daran, dass unsere gefühlsstarken Kinder einfach wunderbar sind. Genau so, wie sie sind.

»Als ich meine Therapeutin mal wieder vollheulte, was für ein schwieriges, forderndes, auslaugendes Kind Max ist, schlug sie mir vor, doch für jede seiner anstrengenden Eigenschaften einen positiven Begriff zu finden – die andere Seite der Medaille sozusagen. Nicht Zappelphilipp, sondern Bewegungstalent. Nicht ungezogen, sondern selbstbewusst. In den darauf folgenden Wochen war es für mich eine total erstaunliche Erfahrung, zu merken, was für eine große Veränderung alleine durch die Wahl meiner Worte passierte. Wenn ich mich über Max’ Verhalten ärgerte, suchte ich bewusst nach einem wertschätzenden Begriff für das, was er gerade tat: ›Er sorgt gut für sich‹ statt ›Er ist rücksichtlos!‹ – und schon konnte ich viel freundlicher und verständnisvoller mit ihm umgehen. Das funktionierte sogar bei anderen! Als seine Erzieherin mir seufzend berichtete, Max sei im Kindergarten wieder so wild und ungestüm gewesen, antwortete ich: ›Er ist wirklich ein süßer kleiner Wirbelwind, nicht wahr?‹ Da lächelte sie und sagte: ›Ja, das ist er, und das ist ja eigentlich auch gut so.‹«

Karina, Mutter von Svea, 5 Jahre, und Max, 3 Jahre

Ist mein Kind ein gefühlsstarkes Kind?

Um herauszufinden, ob ein Kind hochbegabt ist, gibt es standardisierte Intelligenztests. Für Eltern, die sich fragen, ob ihr Nachwuchs hochsensibel ist, werden Fragebögen zum Selberbeantworten im Internet angeboten. Um zu sagen, ob ein Kind gefühlsstark ist oder nicht, braucht es keine solchen Tests. Denn wenn Gefühlsstärke keine Diagnose darstellt, sondern vielmehr ein Erkennungsmerkmal für betroffene Eltern und unter betroffenen Eltern, ist es letztlich vollkommen unerheblich, welche Kriterien ein Kind nun ganz objektiv auf einer Skala von 1 bis 10 erfüllt. Es gibt für Gefühlsstärke zum Glück keine standardisierten Testverfahren und keine medizinischen oder psychologischen Autoritäten, die unseren Kindern eine entsprechende Bezeichnung verleihen oder verwehren könnten. Nein, beim Erkennen gefühlsstarker Kinder zählt letztlich vor allem eins: das subjektive Empfinden der Familien. Sie kennen ihr Kind schließlich am besten.

»Wenn ich an meine älteste Tochter denke, sehe ich ein klares Bild vor mir: ein kluges, sanftmütiges, aufgewecktes Mädchen, das stundenlang Lego spielt, gern zur Schule geht, manchmal wütend und manchmal traurig ist, aber meist eine gut gelaunte Leichtigkeit ausstrahlt, die das Zusammenleben mit ihr ziemlich einfach macht. Denke ich an ihre kleine Schwester, ist es, als fange sich in meinem Kopf ein Karussell an zu drehen: so viele Gefühle, so viele Eigenschaften, so viele Extreme vereinigen sich in diesem einen kleinen Menschen. Sie ist so laut, und so still. Sie ist so witzig, und so ernst. Sie kann unfassbar wild sein, mich regelrecht umhauen mit ihrer Energie. Um dann abends im Bett nahezu in mich hineinzukriechen, wenn sie sich an mich kuschelt, als wäre ihr alle Nähe dieser Welt nicht genug. Sie kämpft viel, mit sich, mit uns, mit der Tatsache, dass sie in den Kindergarten gehen muss und dass die Nacht zum Schlafen da ist. Von ihren Gefühlen wird sie oft völlig übermannt, dann weiß sie nicht mehr ein noch aus vor lauter Traurigkeit und Zorn. Dann beißt und schreit und spuckt sie wie ein wildes Tier, ihre Wut kennt keine Grenzen. Sie ist das Kind, das die Krabbelgruppe sprengt und den Musikkurs, das mir skeptische Blicke im Supermarkt einbringt und Zweifel an meinen Fähigkeiten als Mutter sowieso. Sie ist das Kind, das mich mit einer Heftigkeit braucht und liebt, wie ich sie bisher nicht kannte, und dem all die Liebe und Aufmerksamkeit und Nähe, die ich ihr gebe, niemals zu reichen scheinen, um einfach einmal ruhig zu werden und loszulassen und wirklich zu entspannen. Und ich habe oft das Gefühl: Niemand sonst auf der Welt hat so ein intensives, forderndes, über alle Maßen anstrengendes und trotzdem wunderbares Kind wie ich.«

Carola mit Wilma, 8, und Emma, 6

Wenn Sie sich beim Lesen dieses Erfahrungsberichts der Mutter eines gefühlsstarken kleinen Mädchens immer wieder dabei ertappt haben, heftig mit dem Kopf zu nicken und »Genau so ist es, genau so fühlt es sich an« zu denken, wenn Ihnen vielleicht sogar Tränen in die Augen gestiegen sind angesichts der Tatsache, dass Sie mit Ihren Gedanken und Gefühlen Ihrem besonderen Kind gegenüber nicht alleine sind – dann sind Sie höchstwahrscheinlich die Mutter oder der Vater eines gefühlsstarken Kindes.

Acht typische Eigenschaften gefühlsstarker Kinder

Die Pädagogin Mary Sheedy Kurcinka benennt in ihrem Buch Raising Your Spirited Child acht typische Charaktereigenschaften, die bei gefühlsstarken Kindern übermäßig stark ausgeprägt sind. Nicht jedes verkörpert alle diese Eigenschaften, doch sie geben Aufschluss darüber, woran wir alle gefühlsstarke Kinder besonders gut erkennen können.

1. Mein Kind erlebt Gefühle unglaublich intensiv.

Gefühlsstarke Kinder verhalten sich oft schon als Babys nicht wie andere Neugeborene. Sie quäken nicht – sie schreien. Sie schmatzen nicht leise, wenn sie Hunger bekommen, sondern brüllen von jetzt auf gleich los. Sie haben eine unglaubliche Angst vor dem Alleingelassenwerden und weinen panisch, sobald sie keinen Körperkontakt haben. (Sie hassen deswegen auch oft den Kinderwagen und das Babybett und lieben das Tragetuch.) Werden sie älter, bleibt das Auf und Ab intensiver Gefühle ihr stetiger Wegbegleiter: Jedes umgeschüttete Saftglas ist ein Drama, die falsche Mütze kann einen ganzen Nachmittag ruinieren. Belanglose Kleinigkeiten gibt es für diese Kinder nicht. Jede Sache ist eine große Sache, und jede emotionale Reaktion geht bei ihnen ganz, ganz tief. Die meisten gefühlsstarken Kinder tragen diese intensiven Emotionen relativ ungefiltert nach außen: Sie schreien und weinen laut und schrill, wenn es ihnen mit etwas schlecht geht (und das ist oft der Fall). Ihre Wutanfälle sind deshalb lang und gefürchtet. Es gibt allerdings auch gefühlsstarke Kinder, die Emotionen ebenso heftig erleben, diese jedoch nicht nach außen, sondern nach innen hin verarbeiten. Diese Kinder werden in den vielen für sie herausfordernden Situationen im Alltag ganz still und in sich gekehrt und versuchen angestrengt, die über sie hineinbrechende Flut der Gefühle mit sich selbst abzumachen.

2. Mein Kind ist extrem ausdauernd und hartnäckig.

Wenn gefühlsstarke Kinder sich etwas in den Kopf gesetzt haben, lassen sie sich davon oft nicht mehr abbringen. Papas Smartphone durch ein singendes Spielzeughandy ersetzen? Nicht mit einem gefühlsstarken Kleinkind! Es will genau dieses Handy, das es gerade hatte, und wird diesen Wunsch auch nicht durch kreative Ablenkungsmanöver aufgeben, sondern schreit und tobt mit unfassbarer Ausdauer bis zur totalen Erschöpfung. Gefühlsstarke Kinder wirken dadurch oft sehr starrsinnig, in Wirklichkeit sind sie aber einfach sehr determiniert: Wenn sie sich in den Kopf gesetzt haben, alleine ein Vogelhaus zu bauen oder in sämtlichen Hauptfächern mindestens eine Zwei zu schaffen, lassen sie von diesen Zielen ebenso wenig ab wie einst von Papas Telefon.

3. Mein Kind ist überdurchschnittlich sensibel.

Gefühlsstarke Kinder nehmen sämtliche Sinneseindrücke besonders stark wahr und lassen sich von einem unwillkommenen oder unerwarteten Geruch, Geräusch oder Gefühl auf der Haut oder im Mund leicht aus der Ruhe bringen. Typisch für gefühlsstarke Babys ist, dass sie unglaublich empfindliche Schläfer sind und beim kleinsten Geräusch weinend hochschrecken. Später sind gefühlsstarke Kinder oft sehr wählerisch, sowohl was Essen als auch was Kleidung angeht, die sie auf ihrer Haut ertragen können (Wolle empfinden sie oft als zu kratzig, Jeans als zu steif und eng, Knöpfe als drückend, Socken als unangenehm ...). Besonders tricky für Eltern ist, dass gefühlsstarke Kinder oft ganz besonders feine Antennen für die Emotionen der Erwachsenen im Raum haben (auch die, die den Menschen selbst gar nicht bewusst sind). Gefühlsstarke Kinder neigen sehr stark dazu, ihren Eltern diese Emotionen unbewusst zu »spiegeln«, also in ihrem eigenen Verhalten die Gefühle auszuleben, die sie unbewusst wahrgenommen haben. Sie legen dementsprechend beeindruckende Wutanfälle hin, wenn sie unterdrückte Wut spüren, weinen ohne ersichtlichen Grund, wenn jemand in ihrer Nähe – möglicherweise, ohne es selbst zu wissen – traurig ist, und beantworten jede Unsicherheit und jeden Selbstzweifel von Mutter oder Vater, indem sie selbst alles in Frage stellen und ganz viel Rückversicherung brauchen.

4. Mein Kind ist außergewöhnlich offen für alle Eindrücke.

Gefühlsstarke Kinder sind häufig geborene Detektive. Durch ihre rasche Auffassungsgabe und ihr Auge fürs Detail bemerken sie jede kleine Veränderung und ziehen ihre Schlüsse daraus: »Du riechst heute anders, nach Parfum – gehst du etwa nachher noch weg?« Viele Eltern fühlen sich dadurch beobachtet und überwacht, dabei achten gefühlsstarke Kinder gar nicht bewusst auf solche Kleinigkeiten – diese springen sie regelrecht an und lenken sie oft von anderen Dingen ab. Typisches Beispiel: Für gefühlsstarke Kinder ist es häufig geradezu unmöglich, die simple Aufforderung umzusetzen, rasch in die Küche zu gehen und dort das Salz zu holen. Denn auf dem Weg dorthin bannen so viele Dinge ihre Aufmerksamkeit, dass sie darüber nach kurzer Zeit ihren ursprünglichen Auftrag komplett vergessen. Nach einer halben Stunde kann man sie dann auf halbem Weg zur Küche im Flur vorfinden, wo sie fasziniert beobachten, wie eine Stubenfliege einen Brotkrümel verspeist.

5. Mein Kind kann Abweichungen von Routinen kaum aushalten.

Gefühlsstarke Kinder fühlen sich oft völlig überfordert, wenn vertraute Routinen unverhofft durchbrochen werden. Als Gegenpol zu ihrem von Natur aus chaotischen und überwältigenden Innenleben schätzen sie nämlich häufig klare und berechenbare Strukturen, an denen sie sich im Alltag entlang hangeln können. Ferien und Feiertage stellen für sie deshalb oft nur schwer zu bewältigende Herausforderungen dar, auf die sie sich zwar einerseits freuen, die aber andererseits oft in Wutanfällen und Tränen enden. Ein unklarer Tagesablauf plus viele Menschen plus ein hoher Geräuschpegel plus unzählige weitere Sinneseindrücke führen oft dazu, dass gefühlsstarke Kinder das Gefühl haben, ihr Kopf stünde kurz vorm Explodieren. Unkontrollierte Zornausbrüche, heftige Aggressionen und provozierendes Verhalten sind oft der Ausdruck dieser Überforderung – und lassen Eltern oft wütend und enttäuscht zurück, weil der liebevoll vorbereitete Kindergeburtstag, die große Ostereiersuche im Familienkreis oder der feierliche Gottesdienst zur Kommunion der Cousine wieder mal vom eigenen Kind gesprengt wurden.

oder

Mein Kind empfindet jede äußere Struktur als Freiheitsberaubung.

Während sich viele gefühlsstarke Kinder dankbar an Routinen und Strukturen orientieren, gibt es andere, die eine regelrechte Aversion gegen alles Regelmäßige, Immergleiche, Festgezurrte haben. Diese Kinder etwa an eine feste Bettgehzeit zu gewöhnen, ist ein aussichtsloses Unterfangen, ebenso wie das Einführen einer klaren Morgenroutine. Sie haben einen unglaublichen Freiheitsdrang und können nur dann kooperieren, wenn ihnen eine aktive Entscheidung ermöglicht wird, was sie in welcher Reihenfolge und zu welchem Zeitpunkt tun wollen.

6. Mein Kind hat scheinbar niemals endende Energie.

Gefühlsstarke Kinder werden oft als wilde Kinder beschrieben. Tatsächlich haben viele von ihnen einen immensen Bewegungsdrang, der dazu führt, dass sie ganz zappelig werden, wenn sie sich nicht genügend auspowern konnten. Ganz typisch ist das Bedürfnis, selbst beim Stillsitzen etwas mit den Händen zu tun: Papier in kleine Schnipsel zu reißen, an der eigenen Kleidung herumzufummeln, wieder und wieder die eigenen Buntstifte zu spitzen.

Doch die Zuschreibung, dass energiegeladene Kinder sich einfach nur müde turnen müssen wie Hütehunde, greift zu kurz. Gefühlsstarke Kinder sind weniger wild, sie haben vielmehr einen starken Selbstwirksamkeitsdrang. Das heißt: Dass sie so viel klettern, rennen und hüpfen, hat oft weniger mit einem unbändigen Bewegungsbedürfnis zu tun als mit der Hartnäckigkeit, mit der sie bestimmte Ziele verfolgen. Wenn sie aus dem Gitterbettchen klettern wollen, dann klettern sie aus dem Gitterbett, auch wenn sie dazu hundert Versuche brauchen. Wenn die Schokolade im obersten Regal der Speisekammer liegt, dann hieven sie eben einen Stuhl auf den Wäschetrockner und versuchen so lange, da hoch zu kommen, bis es klappt. Und wenn sie nicht nach Hause gehen wollen, bis sie den Basketball in den Korb geworfen haben, mobilisiert dieses Ziel in ihnen die Energie, es stundenlang weiter zu probieren.

7. Mein Kind tut sich sehr schwer mit Veränderungen.

Dass Mama eine neue Brille bekommt, kann für ein gefühlsstarkes Kind eine echte Katastrophe bedeuten – von einem Kindergartenwechsel oder gar dem Umzug in eine andere Wohnung ganz zu schweigen. Die Schwierigkeit, mit neuen Situationen klarzukommen, wächst dabei mit jeder Beteuerung der Eltern, dass das doch alles nicht so schlimm sei, weil das gefühlsstarke Kind dann den Eindruck hat, seiner eigenen Wahrnehmung nicht vertrauen zu können. Gefühlsstarke Kinder brauchen deshalb Gelegenheit, sich langsam, schrittweise und mit viel einfühlsamer Begleitung an neue Situationen zu gewöhnen.

8. Für mein Kind ist das Glas oft halbleer.

Gefühlsstarke Kinder können sich unglaublich freuen, aber sie sind oft auch sehr grüblerische, nachdenkliche Menschen, die sich auf das Schwierige, Problematische, Negative fokussieren. Für Eltern ist das nur schwer zu ertragen, wenn die prägendste Erinnerung an den Ausflug in den Zoo das heruntergefallene Eis ist. Doch gefühlsstarke Kinder entscheiden sich nicht bewusst dazu, die Welt durch diese Brille zu sehen. Sie sind vielmehr ständig auf der Suche nach Problemen, weil sie durch ihren wachen Geist auch an deren Lösung interessiert sind, erforschen also gewissermaßen das Verbesserungspotential in jeder Situation, das, was man noch verändern könnte. Auch wenn sie oft skeptisch und grummelig wirken, sind sie also mit ihrer manchmal defizitorientierten Sicht auf die Dinge keine Schwarzmaler, sondern eher auf dem Weg dahin, kluge Skeptiker und konstruktive Kritiker zu werden.

Ihr seid nicht allein!

Ein gefühlsstarkes Kind ins Leben zu begleiten, ist eine tierisch anstrengende, extrem herausfordernde, absolut nervenaufreibende Angelegenheit. Die Kraft, die es kostet, jeden Tag aufs Neue Beifahrer einer niemals endenden emotionalen Achterbahnfahrt zu sein, ist mit der Anstrengung normaler Elternschaft nicht zu vergleichen. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass Mütter und Väter gefühlsstarker Kinder immer wieder an einen Punkt tiefer Verzweiflung kommen, an dem sie nicht wissen, wie sie weitermachen sollen im Umgang mit diesem so heiß geliebten, aber eben auch so verflixt anstrengenden Kind, mit dem nichts einfach mal leicht, unkompliziert, easy-going sein kann.

Meine wichtigste Botschaft an all diese Eltern ist: Ihrseidnichtallein. Es mag euch so vorkommen, als kämpfe niemand jeden Tag denselben Kampf wie ihr. Aber in Wirklichkeit sind wir Tausende.

Wir alle lieben unsere Kinder – und könnten sie trotzdem manchmal auf den Mond schießen. Wir würden sie um keinen Preis jemals eintauschen wollen – und tagträumen trotzdem manchmal von einem Familienleben, in dem der Tagesablauf sich nicht nach den komplizierten Emotionen unserer Kleinen richtet. Wir beneiden manchmal still die Eltern jener Kinder, die uns im Vergleich oft schon geradezu unheimlich ausgeglichen erscheinen. Und sind unglaublich verletzt, wenn die Mütter und Väter dieser Kinder uns gut gemeinte Ratschläge geben, die mit unseren Kindern ohnehin nie funktionieren würden. Wir zweifeln ständig an uns selbst und fragen uns, was wir falsch gemacht haben, dass unsere Kinder so sind, wie sie sind. Und sehen gleichzeitig, dass sie von Anfang an einfach anders waren als andere Babys, oft auch als ihre Geschwister, mit denen wir doch auch nicht anders umgegangen sind.

Wir sehen die Kraft und die Stärke, die in dem besonderen Temperament unserer Kinder liegen. Und wünschen uns doch manchmal, ein Kind zu haben, mit dem man nicht überall heraussticht, das nicht alle Blicke auf sich zieht, das uns nicht als inkompetente, überforderte Eltern dastehen lässt.

Wir sind glücklich und dankbar über unser Kind. Aber wir sind auch unfassbar erschöpft.

Und wir denken immer wieder: Wer es nicht selbst erlebt hat, der kann sich schlicht nicht vorstellen, was es bedeutet, so ein Kind zu haben.

Die Grundbedürfnisse gefühlsstarker Kinder

Wir alle brauchen Luft zum Atmen, genügend zu essen und zu trinken, eine sichere Umgebung sowie ausreichend Schlaf, um zu überleben. Doch neben diesen körperlichen Grundbedürfnissen haben wir Menschen auch seelische Grundbedürfnisse, die erfüllt sein müssen, damit es Kindern wie Erwachsenen auf Dauer gut gehen kann. Zu diesen gehören

das Bedürfnis nach Nähe und Bindung,das Bedürfnis nach Halt und Orientierung,das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und Autonomie,das Bedürfnis nach Wertschätzung und Akzeptanz.

Anders als bei unseren körperlichen Grundbedürfnissen liegt es in der Natur unserer seelischen Grundbedürfnisse, dass diese sich in einem ständigen Widerstreit befinden und niemals alle gleichzeitig komplett erfüllt sein können: Völlige Verbundenheit ist schließlich das Gegenteil vollkommener Autonomie, und begrenzender Halt von außen steht der freien Entfaltung in totaler Selbstwirksamkeit entgegen. Doch genau aus diesem Spannungsfeld entsteht jene gesunde Balance der Bedürfnisse, die für unsere seelische Gesundheit so wichtig ist. In Bezug auf gefühlsstarke Kinder heißt das: Es kann nicht unser Ziel als Eltern sein, ihren inneren Konflikt zwischen Nähebedürfnis und Freiheitsdrang, Sehnsucht nach Strukturen und Rebellion gegen Grenzen aufzulösen. Denn genau diese Spannung gehört zum menschlichen Dasein untrennbar dazu. Wir können unseren Kindern aber zeigen, wie aus den widerstreitenden Impulsen in ihrem Inneren ein kraftvoller Motor werden kann, der sie in ihrer persönlichen Entwicklung nach vorne bringt. Denn wo Spannung ist, da ist auch Energie, und innere Konflikte sind der Treibstoff für Veränderung. Schauen wir uns also die seelischen Grundbedürfnisse unserer Kinder etwas genauer an – und sehen, wie wir sie unter einen Hut bekommen können.

»Ich brauche deine Nähe«

Wir Menschen sind von Natur aus soziale Wesen und haben ein biologisch tief in uns verankertes Bedürfnis nach liebevollen Beziehungen mit anderen Menschen. Das macht evolutionär auch Sinn, denn in der Geschichte unserer Art war klar: Ohne Bindung kein Überleben. Das gilt insbesondere für Kinder – sie brauchen Erwachsene, die sich über viele Jahre für sie verantwortlich fühlen, bis sie für sich selbst sorgen können. Das so genannte Bindungssystem eines jeden Menschen – also die innere »Blaupause« dafür, wie jemand Beziehungen angeht und gestaltet – entwickelt sich in der frühen Kindheit auf Grundlage unserer Erfahrungen mit unseren ersten Bezugspersonen – also in den meisten Fällen mit den Eltern. Entscheidend für die Entstehung einer sicheren, vertrauensvollen Bindung ist dabei zum einen die körperliche Nähe, mit der Eltern ihrem Kind Sicherheit und Geborgenheit schenken – und zum anderen die Feinfühligkeit, mit der sie insbesondere auf die Stresssignale des Kindes reagieren. Weint oder schreit das Kleine und wird dann sofort liebevoll, angemessen und prompt getröstet, entwickelt es ein tiefes Vertrauen in andere Menschen und die Welt, das es fürs Leben stark macht: das so genannte Urvertrauen. Gefühlsstarke Kinder kommen mit einem besonders ausgeprägten Bindungsbedürfnis zur Welt und brauchen überdurchschnittlich viel körperliche Nähe und feinfühlige Rückversicherung, um sich sicher und geborgen zu fühlen – auch weit über die Babyzeit hinaus.

»Ich brauche deinen Halt!«

Vor seiner Geburt erfährt jedes Baby im Bauch der Mutter ganz unmittelbar das Gefühl von Halt und Begrenzung: Die Wände der Gebärmutter beschränken seine Bewegungen und markieren die Grenze seiner eigenen kleinen Welt. Typisch für gefühlsstarke Kinder ist es, auch nach der Geburt ein besonders starkes Bedürfnis nach Enge und Halt zu haben: Sie lieben es, eng im Tragetuch eingebunden herumgetragen oder fest in ein Pucktuch eingewickelt zu werden und schlafen oft besser, wenn das Stillkissen wie ein Nest um sie herumliegt. Werden gefühlsstarke Kinder älter, haben sie immer noch ein starkes Bedürfnis nach Begrenzung – aber nun ist es nicht mehr vorrangig körperlicher Natur. Stattdessen treten Klarheit und Berechenbarkeit an die Stelle von Puck- und Tragetuch: Verlässliche Strukturen im Tagesablauf sowie Eltern, die freundlich und gleichzeitig bestimmt ihre persönliche Grenzen aufzeigen, geben gefühlsstarken Kindern Halt und Orientierung.

»Ich bestimme über mich!«

Wer genau hinsieht, kann erkennen, dass schon kleinste Kinder das Bedürfnis haben, ihren Babyalltag aktiv mitzugestalten: Sie zeigen deutlich, welche Rassel sie gerade interessiert, ob sie lieber spielen oder lieber in Ruhe gelassen werden wollen, ob sie auf den Arm mögen oder herunter wollen. Mal helfen sie beim Anziehen mit, indem sie ihre Arme selbstständig durch die Ärmel fädeln, mal wehren sie sich vehement gegen das Wickeln. Mit Beginn der so genannten Autonomiephase entdecken sie ihren eigenen Willen dann mit Wucht – und fordern ihr Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung fortan mit viel Elan ein. Gefühlsstarke Kinder kämpfen dabei typischerweise besonders stark für ihre Selbstbestimmtheit und stellen auch im späteren Leben immer wieder Autoritäten und Hierarchien in Frage, vor allem, wenn diese sie in ihrer persönlichen Freiheit beschränken. Für ihre seelische Gesundheit ist es sehr wichtig, diesen immensen Drang nach Freiheit und Selbstwirksamkeit ausleben zu können in einer Umgebung, in der ein eigener starker Wille als etwas Kostbares und Schützenswertes angesehen wird, und in einer Umgebung, in der Eltern und Erzieher viel häufiger Ja als Nein zum Selbermachen und Entdecken sagen können.

Gefühlsstark oder etwas anderes?

Die Kernbotschaft dieses Buches ist, dass wir unser Bild vom »normalen Kind« erweitern müssen, dass normales kindliches Verhalten also ein viel breiteres Spektrum umfasst, als wir oft meinen. Längst nicht jeder Junge, jedes Mädchen kann mit einem Jahr ohne Hilfe in den Schlaf finden, lässt sich mit zwei Jahren problemlos in der Krippe eingewöhnen, hat mit drei Jahren keine Wutanfälle mehr und mit sechs die Fähigkeit, fünf Stunden am Stück still zu sitzen und zu lernen. Dass gefühlsstarke Kinder all dies oft nicht bewältigen, heißt nicht, dass sie unnormal oder therapiebedürftig wären, sondern dass es sehr viele unterschiedliche Wege gibt, ein ganz normales Kind zu sein. Was für eine Erleichterung!

Doch auch, wenn all die eingangs beschriebenen Verhaltensweisen oft völlig normale und gesunde Ausprägungen kindlichen Temperaments sind – es gibt Fälle, da verweisen extreme Unruhe, unkontrollierte Wutanfälle, heftiges Schwarzmalen oder massive Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle auch auf ein medizinisches oder psychologisches Problem, das genauerer Diagnostik und Behandlung bedarf. Spüren Eltern also, dass ihr Kind unter seinem Anderssein dauerhaft leidet, oder haben sie das Gefühl, dass es Verhaltensweisen zeigt, die ihnen Sorgen bereiten, ist es selbstverständlich immer eine gute Idee, dies von entsprechenden Fachleuten abklären zu lassen. Wenn sie dann eine Diagnose haben, können sie ja immer noch entscheiden, wie sie damit umgehen. So gibt es beispielsweise Schlaflabore, die Babys und Kleinkindern großzügig behandlungsbedürftige Schlafstörungen attestieren, wenn sie nicht im Alter von wenigen Monaten (!) alleine ein- und durchschlafen, was gefühlsstarke Kinder so gut wie nie tun. Von solchen Befunden sollten sich betroffene Eltern tunlichst nicht ins Bockshorn jagen lassen: Nicht jede medizinisch klingende Etikette bedeutet auch einen tatsächlichen Therapiebedarf.

Andersherum ist es jedoch selbstverständlich möglich, dass gefühlsstarke Kinder zusätzlich zu ihrem sensiblen, impulsiven, reizoffenen, empathischen Grund-Temperament noch eine weitere »Baustelle« haben: eine Wahrnehmungsstörung, eine Hochbegabung, eine Teilleistungsschwäche, ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, eine Form von Autismus. Fachkundige medizinische sowie therapeutische Begleitung ist in solchen Fällen Gold wert – doch auch dann kann dieses Buch eine wertvolle Ergänzung sein. Denn selbst wenn ein gefühlsstarkes Kind einen besonderen Förder- oder Therapiebedarf hat, ist es immer noch ein gefühlsstarkes Kind, das von seinen Eltern Verständnis, Begleitung und bedingungslose Liebe auf dem Weg durch den wilden Dschungel seiner Emotionen braucht. Die Anregungen, die dieses Buch dafür bereithält, helfen dabei den Eltern kranker Kinder genauso wie den Eltern gesunder.

Gefühlsstark, hochsensibel, High Need?

Auf der Suche nach einer Erklärung für das besondere Temperament ihres Kindes sind viele Eltern bislang häufig bei zwei Begriffen gelandet: Besonders nähebedürftige, anspruchsvolle Babys und Kleinkinder werden manchmal als High Need beschrieben, also als besonders bedürfnisstark – ein Begriff, der auf den US-amerikanischen Kinderarzt William Sears zurückgeht. Ältere Kinder mit einem besonders intensiven Gefühlsleben wurden von ihren Eltern häufig als »hochsensibel« erkannt. Ist »gefühlsstark« nun einfach ein Synonym für diese Begriffe? Nein: Als »High Need« definiert Sears Babys und Kleinkinder mit einem unruhigen Temperament und einem immensen Nähebedürfnis. Diese Babys wollen besonders häufig gestillt werden und schlafen nachts nicht durch. Auf ältere Kinder sind seine Kriterien deshalb kaum anwendbar.

Insofern gilt: Ja, es gibt sicherlich Überschneidungen, und viele gefühlsstarke Kinder erfüllen in der Baby- und Kleinkindzeit auch sämtliche Kriterien für ein High-Need-Kind. Doch nicht jedes gefühlsstarke Kind war ein High-Need-Baby, und nicht aus jedem High-Need-Baby wird später ein gefühlsstarkes Kind.

Und was den Begriff der Hochsensibilität angeht: Dieser beschreibt tatsächlich einen Persönlichkeitszug, den fast alle gefühlsstarken Kinder gemeinsam haben. Aber: Gefühlsstärke, wie ich sie definiere, geht weit über Hochsensibilität hinaus. Denn zu der immensen Feinfühligkeit kommen bei gefühlsstarken Kindern noch all die anderen Charakteristika hinzu: das Energiegeladene, das Wilde, das Rebellische, das »nur« hochsensible Menschen oft gar nicht verkörpern. Es ist also tatsächlich ein Großteil aller gefühlsstarken Kinder auch hochsensibel – aber längst nicht jeder hochsensible Mensch ist oder war ein gefühlsstarkes Kind.

Gefühlsstärke als Ausrede?

Ob in der Schule oder im Supermarkt: Wenn das eigene Kind irgendwo unangenehm auffällt, sind für uns Eltern Scham und Schuldgefühle niemals weit. Und so ist es verständlich, dass Mütter und Väter von Kindern, die mit ihrem Verhalten regelmäßig anecken, manchmal Labels und Diagnosen wie Schutzschilde vor sich her tragen: »Mein Kind kann nichts dafür, es ist eben gefühlsstark!« Aussagen wie diese haben in den USA bereits dazu geführt, dass insbesondere Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher mittlerweile manchmal reichlich genervt darauf reagieren, wenn eine Familie ihnen ihr Kind als »spirited« vorstellt. Denn auch wenn wohl kaum jemand von ihnen anzweifeln würde, dass es Kinder gibt, die durch ihr intensives Gefühlsleben vor besonderen Herausforderungen stehen, haben viele von ihnen den Eindruck, individuelle Besonderheiten im Temperament müssten heute als Entschuldigung für alles herhalten. Zugespitzt formuliert: Kann ein gefühlsstarkes Kind wirklich nichts dafür, wenn es im Rausch seiner Gefühle einen Klassenkameraden vermöbelt?

Um echtes Verständnis für die besonderen Herausforderungen ihres Kindes zu wecken, ist es deshalb wichtig, dass Eltern den Begriff der Gefühlsstärke als Erklärung, aber nicht als Entschuldigung für jedes unangemessene Verhalten heranziehen. Konkret heißt das: Gefühlsstarke Kinder verdienen Rücksichtnahme und Verständnis, aber sie haben genauso wenig wie jedes andere Kind das Recht, im Überschwang ihrer Emotionen die Grenzen anderer Menschen zu übertreten. Wir Eltern sind deshalb herausgefordert, unsere Kinder einerseits verständnisvoll und einfühlsam zu begleiten, ihnen andererseits aber auch ein ganz konkretes Rüstzeug mit an die Hand zu geben, wie sie insbesondere ihre aggressiven und destruktiven Impulse in zivilisierte Bahnen lenken können, auch wenn ihnen das sehr viel schwerer fällt als anderen Kindern.

© Susanne Krauss (www.susanne-krauss.com)

ZWEITES KAPITEL Angeboren oder anerzogen: Wieso ist unser Kind so anders?

Was haben wir falsch gemacht?

17 kleine Nachwuchs-Ballerinas stehen brav nebeneinander und üben Pliés – nur mein Kind hängt kopfüber an der Stange und zieht Grimassen. Alle Cousins und Cousinen lächeln fürs Familienfoto adrett gekleidet in die Kamera – nur unser Sohn weigert sich, sein orangenes Bob-der-Baumeister-Shirt auszuziehen, und in die Kamera guckt er erst recht nicht.

Für sämtliche Kindergartenkinder scheint die Regel klar zu sein, dass im Gruppenraum und im Flur nicht gerannt werden soll – nur unser Kleines springt allen Ermahnungen zum Trotz wie ein Flummiball durch die Garderobe.

Von drei Geschwisterkindern freuen sich zwei auf den Nikolaus. Aber eins weint seit einer halben Stunde angesichts der Tatsache, dass an diesem Abend die Stiefel vor und nicht hinter der Türe stehen, wo sie hingehören.

Wenn der eigene Sohn, die eigene Tochter so heraussticht, sich so anders verhält als gefühlt alle anderen Kinder, fragen sich Eltern unweigerlich: Warum ist das so?