So was von tot - Gerhard Opfer - E-Book

So was von tot E-Book

Gerhard Opfer

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Beschreibung

Zehn Geschichten von Schuld, Vergeltung und Mord: Bernsteinstraße 17 · Liebig muss sterben · Komm nach Hause, Sam · Kotters Stammtisch · Das Prinzip der Rache · Die Methode Kesselmann · Auf ewig vereint · Tod eines Meisters · Die Insel · Totenstille Leseprobe Das wilde, durchdringende Gekläff zweier Hunde auf der Grünfläche unmittelbar vor Friedhelm P.s Haus zerreißt jäh die morgendliche Stille. Langsam und sorgfältig faltet Friedhelm P. die Zeitung zusammen und legt sie zurück auf den Tisch. Einige Augenblicke sitzt er regungslos, den Blick ins Leere gerichtet. Das schrille Gekläff der Hunde nimmt an Lautstärke zu und vermischt sich mit den Kommandorufen und Befehlen ihrer Herrchen. Friedhelm P. erhebt sich. Er durchquert das Wohnzimmer, die Diele und steigt hinab in den Keller. Dort schließt er einen tresorähnlichen Schrank auf und öffnet ihn. Er entnimmt dem Schrank eine großkalibrige Pistole (P. ist Sportschütze) sowie ein mit Patronen gefülltes Magazin. Friedhelm P. verlässt das Haus und betritt die Grünfläche. Ohne die geringste Eile an den Tag zu legen, nähert er sich den noch immer wie toll kläffenden Hunden, zwei mittelgroßen Mischlingsrüden. Er hebt die Pistole und schießt den Tieren aus nächster Nähe je zwei Mal in die Köpfe. Danach wendet er sich den beiden Hundebesitzern zu, die noch gar nicht richtig zu fassen vermögen, was da gerade vor sich geht. Er lächelt den beiden freundlich zu und streckt sie mit vier weiteren Schüssen nieder. Dann geht er ohne Hast in sein Haus zurück. Friedhelm P. betritt die Terrasse und nimmt wieder am Frühstückstisch Platz. Er greift nach der Zeitung, schlägt sie auf und genießt die Stille des Morgens ...

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Ähnliche


Gerhard Opfer

So was von tot

Kriminalgeschichten

Inhalt

Bernsteinstraße 17

Liebig muss sterben

Komm nach Hause, Sam

Kotters Stammtisch

Das Prinzip der Rache

Die Methode Kesselmann

Auf ewig vereint

Tod eines Meisters

Die Insel

Totenstille

BERNSTEINSTRASSE 17

Die Nacht war schon ein erhebliches Stück vorangeschritten, und ich entsprechend spät dran, als ich meinen Wagen drei Straßen weiter abstellte und mich auf den Weg zur Bernsteinstraße 17 machte. Ich parke nachts immer in einer anderen Straße. Die Bernsteinstraße befindet sich in einer ebenso wohlhabenden wie ruhigen Wohngegend. Da können Sie nachts eine Stecknadel fallen hören. Na ja, dieser Vergleich mag wohl gehörig übertrieben sein, aber es ist wirklich verdammt still in dem Viertel, und man möchte ja, wenn man so spät noch unterwegs ist, Rücksicht auf die Nachbarschaft nehmen. Das gehört sich eben so. Ich schloss die Fahrertür so geräuschlos wie möglich und machte mich auf den Weg

Das Anwesen Bernsteinstraße 17 lag völlig im Dunkeln. Alle Rollläden an den Fenstern waren heruntergelassen, wie es sich gehörte. Schließlich war niemand zu Hause. Vorsichtig öffnete ich die Vorgartentür. Leise! Den Nachbarn zuliebe verzichtete ich aus dem gleichen Grund auf das Einschalten der Außenbeleuchtung. Ich wollte doch niemanden um seine Nachtruhe bringen. Der Schlüssel glitt problemlos ins Haustürschloss, machte dann aber einige Zicken, wie das bei brandneuen Schlüsseln leider oft der Fall ist. Schließlich gab das Türschloss nach, und ich glitt, ohne weitere Geräusche zu verursachen, ins Haus. Ich durchschritt die nachtdunkle Diele und knipste erst im Wohnzimmer eine kleine Leuchte an. Dann entledigte ich mich meiner Kopfbedeckung, stopfte sie in den Rucksack und stellte das gute Stück neben der Tür auf den Boden. Mein Blick auf die geöffnete Küchentür erinnerte mich daran, dass ich in den letzten Stunden kaum Flüssigkeit zu mir genommen hatte. Ich war gerade dabei, mir den ersten kräftigen Schluck zu genehmigen, als mich ein verdächtiges Geräusch hinter meinem Rücken innehalten ließ. Als ich mich umdrehte, blickte ich zuerst in das maskierte Gesicht eines Mannes und dann in die Mündung einer großkalibrigen Pistole, die der Bursche auf mich gerichtet hielt. Der Maskierte war von auffallend schlanker Gestalt, überragte mich aber um Haupteslänge. Er war von Kopf bis Fuß pechschwarz gekleidet, die typische Arbeitskleidung der Einbrecher, jedenfalls die der meisten. Der Unbekannte musste sich wohl bei meinem Eintritt ins Haus im Obergeschoss befunden haben.

Mit einer unzweideutigen Bewegung seiner Waffe forderte er mich auf, die Hände hochzunehmen. »Einen Mucks oder eine falsche Bewegung, und ich blas dir das Licht aus«, knurrte er. Ein Blick in seine unstet flackernden Augen verrieten mir, dass er diese Drohung verdammt ernst meinte. Bewaffnete Einbrecher sind unberechenbar und deshalb besonders gefährlich, das war mir nur allzu bewusst. Also tat ich, was der Bursche verlangte, und rührte mich nicht von der Stelle. Schweigend starrten wir uns eine endlose Weile an. Schließlich war ich es, der das Schweigen als Erster brach.

»Wie sind Sie in dieses Haus gekommen?«, fragte ich. »Alle Rollläden sind heruntergelassen, die Fenstern gesichert …«

»Das Kellerfenster«, verkündete er mit unüberhörbarem Triumpf in der Stimme. »Es sind meistens die Kellerfenster, die ihr Hirnies von Hausbesitzern vergesst zu sichern. Dieses hier war kinderleicht zu knacken. Als du nach Hause kamst, war ich gerade im Obergeschoss. Jemand hat mir geflüstert, das Haus stünde zurzeit leer. War wohl ’n Irrtum.« Seine Stimme bekam einen ärgerlichen Unterton. »Tja, nun haben wir beide ein kleines Problem.«

»Und was haben Sie jetzt mit mir vor?«, fragte ich und der Kloß, der tief in meiner Kehle zu stecken schien, nahm an Volumen zu.

»Kommt ganz auf dein Verhalten an, Kumpel«, knurrte der Maskierte, und ich glaubte ihn unter seiner Maske grinsen zu sehen. »Lass dich einfach überraschen.« Die Hand mit der Pistole zuckte plötzlich empor. »Was ist das? Was trägst du da an deinen Händen?«, fragte er argwöhnisch.

»Latexhandschuhe«, erklärte ich. »Ich leide unter einer Allergie.« Ich ließ die Arme um wenige Zentimeter sinken. »Wenn es Sie stört, kann ich die Dinger ausziehen.«

»Soweit kommt’s noch«, knurrte er ungehalten. »Habe nicht die geringste Lust, mir irgendeine Scheißkrankheit von dir einzufangen … Aber genug geplaudert. Kommen wir zum Wesentlichen! Bisher habe ich nichts Weltbewegendes gefunden, aber da du mir jetzt mit Rat und Tat zur Verfügung stehst, kann ich das zeitraubende Ritual der Suche beenden. Wo befindet sich der Safe? Sag jetzt bloß nicht, es gibt keinen? – Also …!«

Ich schluckte und machte eine Kopfbewegung zur Decke hin. Die Hand mit der Waffe zuckte gefährlich.

»Wo?«

»Oben«, kam es aus meiner staubtrockenen Kehle.

»Von dort oben komme ich gerade, hast du mir nicht zugehört? Ich habe dort keine Spur von einem Safe gefunden.«

»Ist das nicht der Sinn der Sache?«

Meine Antwort fiel schnippischer aus als ich es beabsichtigte und das erneute wilde Flackern in seinen Augen, seine Körpersprache, verrieten seine Gereiztheit.

»Okay«, sagte er schließlich. »Dann werden wir beiden Hübschen jetzt da raufgehen. Du wirst mir das Teil zeigen und es brav öffnen. Erspart mir ’ne Menge Arbeit.«

»Und was ist danach? Was geschieht dann?«

»Wie ich bereits sagte: Lass dich überraschen.«

Mit einem Wink seiner Pistole dirigierte er mich aus der Küche und in die Diele.

»Die Treppe hoch«, befahl er. »Du gehst voran und denk erst gar nicht daran, Dummheiten zu machen.«

Um seinen Worten den gehörigen Nachdruck zu verleihen, drückte er mir den Lauf der Waffe ins Kreuz. Keine Frage, ich steckte in Schwierigkeiten, in gewaltigen Schwierigkeiten, die zu meistern mir schier unmöglich erschien. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass mir nur eine Chance blieb: Ich musste alles auf eine Karte setzten, kostete es, was es wolle. Zunächst aber setzte ich artig meinen Weg nach oben fort und zählte die Stufen. Eins … zwei … drei … Der Druck des Pistolenlaufs in meinem Rücken war verschwunden, also beschloss ich, es zu wagen. Ich schloss die Augen, atmete, vielleicht ein letztes Mal, tief durch und trat mit aller Kraft nach hinten aus. Ich hatte mehr Glück als Verstand und erwischte den Dreckskerl voll zwischen den Beinen, mitten in die Weichteile. Seinem Schrei, der Überraschung und Schmerz zugleich ausdrückte, folgte ein höllisch lautes Poltern.

Ich stand noch immer mit geschlossenen Augen und Pudding in den Knien auf der Treppe und erwartete die Explosion des Schusses, die dem Gepolter unweigerlich folgen musste. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen herrschte eine geradezu gespenstische Stille. Vorsichtig wagte ich einen Blick über die Schulter und begriff, denn was ich erblickte, war eindeutig und ließ keinerlei Zweifel zu. Mein Widersacher würde nie wieder in der Lage sein, einen Einbruch zu begehen, denn er lag mit gebrochenem Genick am Fuß der Treppe und starrte aus ebensolchen Augen zu mir empor. Seine Pistole entdeckte ich ein ganzes Stück abseits in der Diele. Ich stieg über den Toten hinweg, bemüht, ihn unter keinen Umständen zu berühren. Im Wohnzimmer klaubte ich meinen Rucksack auf und verließ das Haus Bernsteinstraße 17 so leise, wie ich es betreten hatte.

Es kann einfach nicht gut enden, wenn sich zwei Einbrecher in ein und demselben Objekt über den Weg laufen. Und was den Haustürschlüssel betrifft, und wie ich in seinen Besitz gelangt bin? Entschuldigung, aber das werde ich Ihnen nun wirklich nicht verraten, denn das ist eine andere Geschichte.

LIEBIG MUSS STERBEN

Liebig muss sterben, das ist eine unumstößliche Tatsache, das Wie aber, wie er sterben würde, würde für ihn zur größten und letzten Überraschung seines verdammten Lebens werden.

Er führte die Hand, die das Schnapsglas hielt, mit einer entschlossenen Bewegung zum Mund und kippte das scharfe Getränk in einem Zug hinunter. Für einen Augenblick verzog er das Gesicht zu einer Grimasse und bleckte die Zähne. Dann stieß er, die Nebenwirkung des Alkohols in seiner Kehle spürend, hörbar die Luft aus. Es war heute Abend bereits der sechste Klare, den er intus hatte, und es würde, da war er absolut sicher, nicht der letzte gewesen sein. Solange seine grauen Zellen noch klar und präzise arbeiteten, spielte das keine Rolle. Mit einem kurzen Fingerzeig auf das geleerte Glas bedeutete er der Dame hinter dem Tresen, es wieder zu füllen. Ihre Frage nach einem weiteren Bier beantwortete er mit einem stummen Nicken.

Liebig, dachte er voller Verbitterung, und seine Galle begann bei dem Gedanken an diesen Bastard zu revoltieren. Sollte man je beschließen, Verrat und Hinterlist einen Namen zu geben, so müsste der Jan Liebig lauten. Kaum denkbar, dass er und Liebig bis vor einigen Monaten noch eng miteinander befreundet waren, einander vertraut hatten und gemeinsam durch dick und dünn gegangen waren. Sie waren als Nachbarskinder in einer unscheinbaren Vorstadtsiedlung aufgewachsen, hatten dieselben Spielplätze, Schulen und Universität besucht. Er als Student der Germanistik mit dem Traum, eines Tages ein angesehener und bekannter Schriftsteller zu sein. Jan Liebig wählte als Studienfach Informatik, denn wenn er von einer Sache wirklich etwas verstand und sich wie kein Zweiter damit auskannte, dann waren es Computer und deren Programme. Ganz im Gegenteil zu ihm.

Er war schließlich Schriftsteller geworden, hatte drei Romane veröffentlicht, die sich aber mehr schlecht als recht verkauften und mit deren Tantiemen er keinesfalls seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Hier und da ergab es sich, dass er eine Kurzgeschichte an die eine oder andere Zeitschrift verkaufen konnte, damit allerdings war seine schriftstellerische Karriere bereits an ihre Grenzen gestoßen. Seine Brötchen verdiente er als Bibliothekar in einer angesehenen, alteingesessenen, familiengeführten Buchhandlung. Nicht, dass ihm sein Beruf keine Erfüllung brächte, oder er keinen Spaß an seiner Arbeit fände. Insgeheim hing sein Herz noch immer an der Schriftstellerei.

Dann kam jener Tag, am dem er plötzlich aus dem Nichts heraus diesen Plot im Kopf hatte. Einen einzigen Gedankenblitz, diese geniale zündende Idee für einen Roman, der, davon war er von der ersten Sekunde an felsenfest überzeugt, das Zeug zu einem Bestseller hatte.

Zwei lange Jahre hatte er jede freie Minute in umfangreiche und mühevolle Recherchen gesteckt und an seinem Manuskript gearbeitet. Nächtelang hatte er geschrieben, bis ihm die Handgelenke schmerzten (er schrieb alle seine Erstmanuskripte mit der Hand) und keiner Menschenseele gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen von seinem Projekt verraten. Anfang des Jahres hatte er es endlich geschafft. Er war am Ziel! Über siebenhundert Seiten Text, in akkurater, deutlich lesbarer Handschrift zu Papier gebracht, lagen vor ihm auf dem Schreibtisch. Kein Wort, keine Passage und kein Satzzeichen mussten mehr geändert werden. Sein Werk, es trug den Titel Schande über die Stadt, war vollendet und wartete nur noch darauf, computermäßig erfasst zu werden. – Und eben damit begann sein Problem. So gut, leicht und flüssig er imstande war, Worte und Sätze zu Papier zu bringen, so schwer tat er sich im praktischen Umgang mit Computern und allem, was damit zu tun hatte. Einen Brief zu tippen ging ihm noch einigermaßen flüssig von der Hand, wenn aber Texte in Massen anfielen …

Es wird Jahre dauern, bis ich das alles verarbeitet habe, dachte er verzweifelt.

In dieser Situation fiel ihm sein alter Freund Jan Liebig ein, und er beging den folgenschwersten Fehler seines Lebens.

Jan Liebig arbeitete als erfolgreicher Informatiker für ein großes IT-Unternehmen und verdiente in seinem Beruf mehr als genug, um sich ein sorgloses Leben leisten zu können. Wäre da nicht sein unstetes Privatleben, das er einfach nicht in den Griff zu bringen vermochte. Denn Liebig hatte ein nicht unwesentliches Problem: Er war nicht in der Lage, vernünftig mit Geld umzugehen, gab mehr aus, als finanziell gesund für ihn war, und hatte zu allem Überfluss eine Unterhaltszahlung, einen einmaligen Fehlschuss, wie er es zu bezeichnen pflegte, am Bein. Kurzum: Jan Liebig steckte in einer nicht enden wollenden Schuldenfalle. Was ihn jedoch nicht davon abhielt, es regelmäßig ordentlich krachen zu lassen. Jan Liebig war ein lebenslustiger, alle Sorgen verdrängender Mensch.

Mit Schaudern erinnerte er sich an ihr Treffen in Liebigs Wohnung, an jenem Abend, als das Verhängnis seinen Lauf nahm.

»Mensch, Kleiner, du hast dich ja eine Ewigkeit nicht mehr blicken lassen!« Liebig war aufrichtig erfreut, ihn zu sehen, und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. Er hatte von jeher die Angewohnheit, ihn »Kleiner« zu nennen, wegen des Unterschieds in der Körpergröße.

»Wo, um alles in der Welt, hast du dich die ganze Zeit über versteckt? Zigmal habe ich versucht, dich ans Telefon zu kriegen, aber du besitzt ja weder einen Anrufbeantworter noch ein Handy. Für so was …«

»Jan.« Lächelnd unterbrach er die Wortkaskaden seines Freundes. »Ich habe bis über beide Ohren in Arbeit gesteckt, und ich glaube, … nein, ich bin sicher, es ist etwas ganz Großes entstanden.«

»Lass mich raten: Du hast ein Buch geschrieben – wieder mal.«

»Einen Roman – einen Zwitter sozusagen –, halb Krimi, halb Politthriller.«

»Sag bloß? Und wann erscheint das Ding? Hast du schon ’nen Verlag?«

»Das ist das große Problem, Jan.«

»Entschuldige, ich hab dir ja noch gar nichts angeboten. Ein Bier?« Liebig verschwand in der Küche. »Welches Problem?«, fragte er und stellte zwei Bierflachen und ein Glas auf den Tisch.

Er griff nach dem leeren Bierglas und hielt es spielerischgegen das Licht. »Na ja«, sagte er nach einer Weile, »mein Werk … äh, der Roman, er ist fix und fertig … im Prinzip.«

»Was heißt das: im Prinzip?«

»Er ist handschriftlich fertig.«

»Was denn, du hast das Manuskript …«

»Handschriftlich verfasst. So verfahre ich immer … zunächst.«

»Ja und? Ich verstehe noch immer nicht, wo das Problem liegt.«

»Jan, du kennst meine Schwäche, was den Umgang mit Computern und allem was dazu gehört betrifft«, druckste er herum.

»Jetzt komm endlich auf den Punkt, Kleiner.«

»Also, die Sache ist die: Bis ich die siebenhundertzweiundvierzig Seiten in den Computer getippt habe, kann ich in Rente gehen«, platzte er heraus. »Jan, ich brauche deine Hilfe. Ich komme mit den verdammten Dingern einfach nicht zurecht!«

»Warum beauftragst du nicht ein Schreibbüro, einen Service oder wie diese Institutionen heißen? So was gibt es doch heutzutage.«

»Weil … weil ich denen nicht vertraue, verstehst du. Außerdem sind solche Dienste nicht gerade billig. Ich dachte mir …«

»Was?«

»Na ja, vielleicht könntest du … Du bist doch Experte und als mein ältester Freund … du sollst es ja auch nicht gratis machen … Ich meine, schick essen gehen und um die Häuser ziehen … auf meine Kosten …«

»Jetzt mal sachte, Kleiner. Du bittest mich darum, deinen Roman abzutippen! Liege ich da richtig?«

Er nickte und stieß vor Aufregung beinahe die Bierflasche um.

Jan Liebig blieb zunächst eine Antwort schuldig. Einzig seine Fingerspitzen trommelten ein wildes Stakkato auf die Tischplatte. »Okay«, sagte er schließlich mit einem fröhlichen Grinsen. »Dann bring mir mal deine siebenhundertzweiundvierzig Seiten vorbei. Für einen Freund ist mir keine Arbeit zu viel – ohne Bezahlung, versteht sich. Hoffentlich kann ich deine Klaue entziffern.«

»Kein Problem. Alles sauber und in leserlicher Schrift geschrieben, wie in der Schule. – Wie lange, schätzt du, wirst du brauchen?«

»Stehst du unter Termindruck?«, fragte Liebig, so, als wittere er einen Haken bei der Sache.

»Nein, ich habe noch keinerlei Kontakte geknüpft. Außer dir weiß keine Menschenseele von diesem Roman.«

»Gut, gut«, murmelte Liebig und ließ seinen Blick an die Zimmerdecke schweifen. »Gib mir sechs Wochen. Ist das okay? Ich habe nämlich noch einige andere …«

»Das ist mehr als okay.« Ihm fiel ein Stein der Erleichterung vom Herzen. »Aber Jan, du darfst unter keinen Umständen auch nur eine Silbe Text verändern oder unterschlagen. Und sei bitte vorsichtig mit dem Manuskript. Es gibt nämlich nur ein einziges Exemplar davon.«

»Was denn, du hast keine Kopie gemacht?«, fragte Liebig ungläubig. »Mein lieber Freund, das ist aber mehr als fahrlässig. Aber keine Sorge, ich werde dein Manuskript hüten, als wäre es der Heilige Gral. Du kannst mir vertrauen, Kleiner.«

Sein Blick pendelte zwischen dem halbleeren Bierglas und dem randgefüllten Schnapsglas. Wie von selbst griff seine Hand nach der Zigarettenschachtel, die zwischen den Gläsern auf dem Tresen lag. Seit Liebig ihn so hundsgemein hintergangen hatte, hatte er wieder mit dem Rauchen angefangen, heftiger als je zuvor.

Die vereinbarten sechs Wochen gingen vorüber, ohne dass Liebig etwas von sich hören ließ. Seit der Übergabe des Manuskripts hatte er keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Zwei weitere Wochen später begann er unruhig zu werden. Seine Versuche, Liebig zu Hause aufzusuchen, blieben erfolglos, seine Anrufe landeten auf dessen Anrufbeantworter, ohne dass je ein Rückruf erfolgt wäre, und eine Handynummer Liebigs besaß er nicht. Schließlich erinnerte er sich an eine Visitenkarte von Liebigs Firma, die dieser ihm irgendwann einmal zugesteckt hatte. Nach nervenaufreibender Suche in seinem Arbeitszimmer wurde er endlich fündig. In Liebigs Firma erfuhr er zu seiner grenzenlosen Überraschung, dass sein Freund bereits seit einer Woche Urlaub hatte.

Endlich, nach weiteren zermürbenden vierzehn Tagen, in denen er Blut und Wasser schwitzte, gelang es ihm, Liebig telefonisch zu erreichen.

»Mein Gott, Jan«, stöhnte er erleichtert auf, »seit geschlagenen vier Wochen versuche ich dich zu erreichen. Wo um alles in der Welt hast du die ganze Zeit über gesteckt?«

»Tut mir aufrichtig leid, Kleiner, aber ich war geschäftlich unterwegs und habe dich bei all dem Stress total vergessen. Ich wollte …«

»In deiner Firma sagte man mir, du hättest Urlaub!« Der Ton seiner Stimme geriet um eine Nuance schärfer als er es beabsichtigt hatte.

»Nun ja«, entgegnete Liebig nach einigen Sekunden des Schweigens. »Eigentlich sollte es ja noch ein Geheimnis bleiben, aber egal. Ich hege die Absicht, mich selbstständig zu machen, und war unterwegs, um einige wichtige Kontakte zu knüpfen.« Liebig lachte. »Das muss ich meiner Firma ja nicht groß und breit unter die Nase reiben, meinst du nicht auch?«

»Wie steht es mit der Arbeit an meinem Manuskript?«

»Oh, die! Tut mir leid, aber das wird sich wohl noch zwei, drei Wochen hinziehen. Aber ich konnte ja nicht ahnen … sind aber nur noch zirka hundert Seiten. Ist das ein Problem?«

»Ist es nicht. Nur … ich dachte … du weißt, es gibt nur diese eine Fassung.«

»Und du glaubtest, ich sei damit durchgebrannt«, spielte Liebig den Entrüsteten. »Mach dir keinen Kopf, mein Kleiner, sobald ich die letzte Silbe getippt habe, melde ich mich bei dir.«

Bevor er fragen konnte, ob sie beide sich auf ein Bier treffen könnten, hatte Liebig bereits aufgelegt.

»Sind Sie sicher, dass Sie noch ’n Schnaps vertragen?« Die Bardame musterte ihn mit einem merkwürdig prüfenden Blick.

»Bin sicher«, nuschelte er. »Bestell mir später ’n Taxi.«

Die Frau zuckte die Schultern und füllte einmal mehr sein Glas.

Zwei Wochen nach ihren Telefonat, erinnerte er sich voller Hass und Bitterkeit, meldete sich Liebig wieder, bat ihn in seine Wohnung zu kommen und ließ ohne Umschweife die Katze aus dem Sack. Auf dem gläsernen Tisch seines Wohnzimmers lag, akkurat ausgerichtet, ein Stapel bedruckter Papierbögen. Auf der oben aufliegenden Seite prangte unübersehbar der Titel seines Romans: Schande über die Stadt. Soweit war alles noch in Ordnung und korrekt. Was er aber dann zu lesen bekam, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

»Jan, was soll das?«, fragte er völlig entgeistert und zeigte auf das Manuskript. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Wieso steht da: Roman von Jan Liebig? Das meinst du doch nicht ernst. – Das ist mein Manuskript!«

Liebig hörte ihm mit einem boshaften, hinterhältigen Grinsen zu. Dann sagte er seelenruhig: »Beweise es.«

»Mein … mein Manuskript«, stammelte er und rang wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Atem. »Mein handschriftl…«

»… ist längst in Asche und Rauch aufgegangen. Erinnerst du dich, als ich davon sprach, mich selbstständig machen zu wollen? An den Urlaub, den ich genommen hatte? Nun, ich habe dir wohl nicht die volle Wahrheit gesagt. Urlaub, okay, den hatte ich genommen, aber der Grund dafür war ein anderer.«

»Was …«

»Unterbrich mich nicht! Ich hatte das Manuskript längst fertig bearbeitet. Eine absolut brillante Story, das habe sogar ich auf der Stelle festgestellt. Also habe ich damit mehrere renommierte Verlage konsultiert. Was soll ich dir sagen? Sie alle waren begeistert, einfach hin und weg, und geizten nicht mit Angeboten. Letztendlich habe ich mich für das mir am besten erscheinende Angebot entschieden und einen äußerst lukrativen Vertrag ausgehandelt – für mich, den Autor des Werkes.«

Liebigs hämisches Gelächter hallte in seinen Ohren wider. »Aber es ist mein Roman und ich werde verhin dern …«

»Was willst du verhindern, Kleiner? Und wie, bitteschön, willst du es verhindern? Wie willst du beweisen, dass es dein Roman ist? Du kannst es nicht beweisen. Der Einzige, der von dem Roman weiß, bin ich, das hast du selbst gesagt, und das einzige Manuskript, das es beweisen könnte, existiert nicht mehr. Oh Mann, wie kann man bloß so bescheuert sein, ein Unikat aus der Hand zu geben, ohne sich vorher abzusichern.«

»Ich habe dir vertraut, Jan, wir sind … waren doch Freunde.«

Erneut brach Liebig in dieses widerliche Gelächter aus. »Freundschaft!« Er spie das Wort aus, als hätte er zuvor Dreck gefressen. »Freundschaft, mein Kleiner, ist ein Mythos, nicht mehr und nicht weniger. Das Leben ist viel zu hart, es duldet und verzeiht keine Freundschaften. Siegen oder untergehen, das ist das Gesetz. Die Starken gewinnen, die Schwachen verlieren, versuche, das zu akzeptieren. Mehr ist nicht mehr zu sagen.«

Nächste Woche wird Liebigs, nein – sein – Roman Schande über die Stadt in der renommiertesten Buchhandlung der Stadt als die Neuerscheinung des Jahres vorgestellt werden. Vorgesehen ist eine Lesung des »Autors« mit anschließender Autogrammstunde. Aber Liebig wird weder lesen noch Autogramme schreiben, denn Liebig wird zu diesem Zeitpunkt bereits tot sein.

Er kippte seinen – wie vielten auch immer – Schnaps hinunter, den letzten Alkohol für die nächsten Tage. Denn von Stunde an musste er nüchtern bleiben und hochkonzentriert sein. Es gab noch eine Menge zu erledigen und vorzubereiten, denn schließlich musste Liebig sterben.

Auszug aus einem Pressebericht

»Der Schriftsteller Jan Liebig, dessen Erstlingswerk Schande über die Stadt morgen der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte, wurde in den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages tot in seiner Wohnung aufgefunden. Wie die Polizei mitteilte, fiel Liebig einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Der Mord an dem Autor, so ein Polizeisprecher, sei in Vorbereitung und Ausführung exakt identisch mit einer in Liebigs Werk beschriebenen Gewalttat. Der Inhalt des Buches aber, so versicherte ein Sprecher des Verlags, sei zur Zeit der Bluttat nur einigen wenigen Verlagsangestellten und dem Autor selbst bekannt gewesen. Wie Liebigs Mörder davon Kenntnis erhalten haben konnte, sei ihm ein Rätsel. Die Polizei hat bisher keinerlei …«

KOMM NACH HAUSE, SAM

Stella Freewater riss erschrocken die Augen auf und starrte in ein milchiges weißes Nichts. Sie stieß keuchend den Atem aus, und ihr fülliger Busen hob und senkte sich dabei wie ein hochtourig arbeitender Blasebalg. Stellas Blicke tasteten sich orientierungslos durch das nicht enden wollende undurchdringliche Weiß, bis sie, von einer plötzlichen gleißenden Helligkeit geblendet, die Augen wieder schloss. Mit einer krampfartig zuckenden Bewegung drehte sie den Kopf zur Seite. Ein stechender Schmerz zerschnitt ihr Nacken und Schulter. Als Stella ein zweites Mal wagte, die Augen zu öffnen, nahm sie die sich immer klarer abzeichnenden Konturen ihres Wohnzimmers wahr.

Sekundenschlaf, begriff ihr Verstand. – Der Sekundenschlaf hatte sie jäh übermannt. Ein Blick hinüber zur Wanduhr, eine original Schwarzwälder Uhr, auf die sie mächtig stolz war, bestätigte ihre Vermutung. Denn seit ihrem letzten Kontrollblick auf das Zifferblatt hatte sich der Minutenzeiger um keinen Deut weiterbewegt. Auch das monotone dumpfe Gewummere der Bässe aus der Musikanlage in der Wohnung über ihr vernahm sie wieder genauso laut und störend wie zuvor. – Nur Sam war noch immer nicht nach Hause gekommen.

Die Zeiger der Schwarzwälder Uhr zeigten anklagend dreiundzwanzig Uhr und siebzehn Minuten an. – Warum tust du mir das an, Sam?, dachte Stella mit einer Mischung aus Verbitterung und Selbstmitleid und verlagerte das Gewicht ihres korpulenten Körpers in eine bequemere Sitzposition. Ich könnte längst in meinem Bett liegen, dachte sie, um sich Sekunden später eine Närrin zu schelten. Wozu sollte das nütze sein? Sie würde sowieso kein Auge zu tun, solange Sam da draußen war.

Stella räusperte sich. Das kratzige Gefühl in ihrer Kehle, trocken und spröde, bereitete ihr Unbehagen. Aber jetzt in die Küche zu gehen, um etwas zu trinken, dazu fehlte ihr die Energie.

Der auf- und abschwellende Ton einer Polizeisirene hallte in den Häuserschluchten der Stadt wider.

»Sam, um Gottes willen«, stöhnte Stella auf und presste beide Fäuste vor den Mund. Zitternd lauschte sie dem nervigen Auf und Ab der Sirene, bis ihr Heulen allmählich in der Ferne verebbte.

Diese Welt da draußen, dachte Stella und rief sich die täglichen TV-Nachrichten und Presseberichte ins Gedächtnis. Nichts als Mord und Totschlag, nichts als pure Gewalt. Wurde man nicht von einer Bande marodierender Jugendlicher überfallen und halbtot oder gar zu Tode geprügelt, da draußen, auf den Straßen oder in der U Bahn, dann war es ein sturzbetrunkener oder zugekiffter Raser, der einen mit seinem Wagen über den Haufen fuhr. Was um alles in der Welt trieb Sam an, freiwillig da hinauszugehen? Stella wusste nur allzu gut, warum sie schon vor geraumer Zeit dazu übergegangen war, diesen Dschungel vor ihrer Haustüre zu meiden, wann immer es ihr möglich erschien. Nur Sam wollte das bis zum heutigen Tag nicht begreifen.

Als er noch seiner Arbeit nachging, war die Welt für sie beide in Ordnung. Sam kam abends mehr oder weniger müde und abgespannt nach Hause und sah sich mit ihr gemeinsam eine Show oder einen Film im Fernsehen an. Danach bereitete er alles für den neuen Arbeitstag vor, und sie und er gingen zu Bett. Auch nach seiner Pensionierung änderte sich nichts an diesen Gewohnheiten – zunächst. Sam hatte das frühere Kinderzimmer ihres einzigen Sohnes Tommy, das beide bisher als sogenannten Allzweckraum benutzten, zu einer Art Arbeitszimmer für sich umfunktioniert. Sein Refugium, wie er es zu nennen pflegte, in das er sich nach Belieben zurückziehen konnte. Stella hatte nichts daran zu bemängeln, Hauptsache, Sam war bei ihr zu Hause.

»Mein Stern, was hältst du davon«, begann er eines Abends, »wenn wir beide mal wieder richtig nett ausgehen würden. Zuerst Kino oder Theater und danach in ein schickes Restaurant?«