So weit die Störche ziehen // Die Heimkehr der Störche - Theresia Graw - E-Book
SONDERANGEBOT

So weit die Störche ziehen // Die Heimkehr der Störche E-Book

Theresia Graw

0,0
6,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Von Ostpreußen bis ins geteilte Berlin: Theresia Graws mitreißende Gutsherrin-Saga – jetzt als Bundle zum Vorteilspreis  Band 1) Verlorene Träume – eine junge Frau beweist Mut in dunklen Zeiten  Ostpreußen 1939: Während die Welt aus den Fugen gerät, wächst die junge Dora Twardy behütet auf dem Pferdegestüt ihrer Familie auf. Der Tochter des Gutsherren mangelt es an nichts, auch nicht an Verehrern. Doch als die deutsche Wehrmacht Polen angreift, muss Dora schlagartig erwachsen werden. Ihr Vater wird eingezogen und Dora übernimmt die Verantwortung für den Hof. Mit aller Kraft kämpft Dora um den Erhalt des Familienbesitzes. In den Wirren des Krieges stehen ihr zwei Männer bei: der sanftmütige Freund ihres Bruders, Wilhelm von Lengendorff, und der abenteuerlustige Kriegsfotograf Curt von Thorau. Zu spät erkennt Dora, wen sie wirklich liebt … Band 2) Verlorene Heimat – eine Frau kämpft um ihren großen Traum  1952: Dora ist nach ihrer Vertreibung aus Ostpreußen mit ihrer Familie auf einem Hof in der Lüneburger Heide einquartiert worden. Die einstige Gutstochter fühlt sich von der Enge und den täglichen Reibereien mit der Bäuerin erdrückt. Sie träumt davon, Tierärztin zu werden und bricht für ein Studium auf nach Ostberlin. Dort bekommt sie Hinweise zum Verbleib ihrer großen Liebe, Curt von Thorau, der seit Kriegsende als verschollen galt. Sie macht ihn schließlich in einem Stasigefängnis ausfindig und kämpft mit allen Mitteln um seine Freilassung. Doch während der Unruhen im Juni '53 gerät sie zwischen die Fronten und muss Hals über Kopf fliehen. Wird Dora es noch einmal schaffen, neu anzufangen – und Curt wiederzufinden?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



So weit die Störche ziehen // Die Heimkehr der Störche

Die Autorin

THERESA GRAW wurde 1964 in Oberhausen geboren. Nach ihrem Studium der Germanistik und Kommunikationswissenschaft war sie als Reporterin und Moderatorin für verschiedene Privatsender tätig, bevor sie zum Bayerischen Rundfunk wechselte. Neben ihrer Tätigkeit als Journalistin schreibt sie Romane. »So weit die Störche ziehen« ist ihr persönlichstes Buch, in dem sie die Geschichte ihrer aus Ostpreußen stammenden Familie mit einer fiktiven Handlung verwebt. Theresia Graw hat zwei erwachsene Kinder und lebt in München.

Theresia Graw

So weit die Störche ziehen // Die Heimkehr der Störche

Die dramatische Gutsherrin-Saga im attraktiven Bundle

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Sonderausgabe im Ullstein Ullstein TaschenbuchverlagBerlin April 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © Picture PeopleE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-84372-985-7

Theresia Graw - So weit die Störche ziehen 

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: Trevillion Images / © Magdalena Russocka E-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2306-0

Theresia Graw - Heimkehr der Störche 

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Arcangel/Matilda Delves (Kind); © Arcangel/Ildiko Neer (Frau, Feld); © www.buerosued.deE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2550-7

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

So weit die Störche ziehen

Widmung

TEIL I

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

TEIL II

11. 

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

TEIL III

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

NACHWORT

Die Heimkehr der Störche

Textbeginn

Teil 1

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

Teil 2

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

Teil 3

42.

43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

Epilog

Nachwort

Anhang

Leseprobe: Der Freiheit entgegen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

So weit die Störche ziehen

So weit die Störche ziehen

   

Für meine Mutter und meine Großmütter

TEIL I

1.

Ende August 1939

Wie eine Königin thronte Dora Twardy auf ihrem Lieblingsplatz vor dem elterlichen Gutshaus, den Blick aufmerksam auf die Auffahrt des Hofes gerichtet. Sie saß mit überkreuzten Beinen auf der breiten Balustrade der Veranda, den Rücken an einen der weiß getünchten Stützpfosten gelehnt, und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Doch die Ruhe und Gelassenheit, die sie auf den ersten Blick ausstrahlte, täuschten. Unablässig zwirbelten ihre Finger an den langen Enden des Bindegürtels, der um ihr blaugeblümtes Hemdblusenkleid mit den kleinen weißen Kragen geschlungen war. Dora konnte nicht verbergen, wie ungeduldig sie darauf wartete, dass ihr Vater und ihr großer Bruder Hans endlich zurückkamen. Am Vormittag waren sie aufgebrochen, um am Bahnhof in Wormditt den neuen Zuchthengst in Empfang zu nehmen.

»Es kann nicht mehr lange dauern«, sagte sie zu ihren beiden Besuchern. »Vater hat gesagt, dass sie noch vor dem Abendessen zurück sind.«

Ihre Worte waren an die Geschwister Kosubek gerichtet, die es sich neben ihr im Schatten des Verandadaches bequem gemacht hatten. Friedrich Kosubek saß aufrecht in dem weiß lackierten Korbstuhl und drehte das Glas mit Zitronenlimonade, das eines der Hausmädchen gerade herausgebracht hatte, in seiner Hand. Die Eiswürfel darin klirrten leise, während er Dora mit verstohlener Bewunderung beobachtete. Seine Schwester Elsbeth hatte sich auf der hölzernen Schaukelbank niedergelassen, die mit vier langen Ketten unter dem Vordach angebracht war, und ließ sich gemächlich auf und ab schwingen, wobei sie darauf achtete, dass die Limonade in ihrem Glas nicht überschwappte.

»Warum bist du eigentlich so unruhig, Dora? Man sollte meinen, es sei nichts Besonderes, wenn ein neues Pferd auf euren Hof kommt.«

»Oh, Elli, das ist ja nicht irgendein neues Pferd!«, antwortete Dora. »Es ist Siegfried, und das ist einer der besten Trakehnerhengste weit und breit. Er stammt in direkter Linie von einer englischen Vollblutzucht ab. Sein Vater hat schon dreimal den großen Preis von Paris gewonnen. So ein wertvolles Tier haben wir noch nie im Stall gehabt. Ich will ihn unbedingt sofort sehen.«

»Ich wette, du möchtest ihn auch unbedingt sofort reiten«, bemerkte Friedrich.

»Ja, Fritz, nur zu gern. Aber das erlaubt mir Vater ganz sicher nicht. Siegfried soll ein Riesenvieh sein und feurig wie zwei, sagt er.«

»Na«, meinte Friedrich neckend. »Wenn er so viel Temperament hat, dann passt er ja gut zu dir.«

»Das soll wohl ein Kompliment sein, Fritz?«

Dora warf ihm ein kleines spöttisches Lächeln zu. Es entging ihr nicht, dass Friedrich errötete.

»Oh, verzeih«, murmelte er. »Ich wollte dich natürlich keinesfalls mit einem Pferd vergleichen.«

Aber Dora lachte nur. Sie war mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders.

»Im Übrigen, Elli«, rief sie munter. »Vater bringt nicht nur das Pferd mit – sondern auch noch eine Überraschung für dich.«

»Für mich? Aber warum denn? Was für eine Überraschung?«

»Ach, Elli!« Friedrich schüttelte den Kopf. Nach der kleinen Irritation durch Doras unerwarteten Flirt hatte er nun seine feste Stimme wiedergefunden. »Wenn man darüber reden würde, wäre es ja keine Überraschung mehr.«

»Das stimmt.« Dora nickte ihrer Freundin lächelnd zu, sichtlich bemüht, die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, ungesagt hi­nunterzuschlucken.

Die drei Freunde schwiegen wieder und hingen ihren Gedanken nach. Nur das Quietschen der Schaukel war zu hören.

Von ihrem Posten aus beobachtete Dora die von Linden gesäumte Einfahrt mit dem weit offen stehenden Hoftor, neben dem der Schäferhund Thassos mit der Nase auf den Vorderpfoten an seiner langen Kette lag. Vor der Veranda erstreckte sich das Geviert des Gutshofes: die hohe Scheune am anderen Ende des kopfsteingepflasterten Platzes mit dem Storchennest auf dem Dach, das seit ein paar Tagen leer und verlassen war, denn die Störche sammelten sich bereits auf den umliegenden Wiesen für ihren Rückflug in den Süden. Da war die lange Reihe von Pferdeställen mit den grünen zweiteiligen Holztüren, die sich zur Rechten an das Wohnhaus anschlossen, und die Stallungen für das Milchvieh und die anderen Tiere auf der gegenüberliegenden Hofseite. In den reich bepflanzten Blumenrabatten, die rechts und links neben dem Treppenaufgang zur Veranda am Haus entlangführten, blühten die letzten gelben Rosen, dazwischen hellblauer Phlox, ein paar purpurfarbene Lupinen und Büschel von Levkojen in Rosa, Weiß und Lila, welche einen schwachen Vanilleduft verbreiteten, der sich hin und wieder, wenn eine leichte Brise von den Ställen herüberwehte, mit dem Geruch von Stroh und Pferdedung vermischte.

Vom Hühnerhof jenseits der Scheune klang ein lebhaftes Gegacker herüber, und ab und zu drang ein leises Schnauben aus einer der Pferdeboxen, in denen zwei trächtige Stuten standen, die nicht mehr hinaus auf die Koppel durften, weil sie in Kürze ihre Fohlen bekommen würden.

Die harte Zeit der Roggenernte war vorüber, keine Mähmaschine klapperte mehr auf den Feldern, und auch das Dengeln war verstummt, dieser helle metallische Klang, der an den ostpreußischen Sommerabenden die Luft erfüllte, wenn die Bauern ihre Sensen auf den Amboss legten und sie mit gleichmäßigen Hammerschlägen auf die Schnittflächen für den Einsatz am nächsten Tag schärften. Nun war es Ende August und die meiste Arbeit getan, Heu und Getreide lagen in der Scheune, das überschüssige Korn war in Säcke verpackt und verkauft und lagerte längst in einem der großen Getreidespeicher am Hafen von Königsberg. Nur im Obstgarten hinter dem Haus stand die Ernte noch an, die Bäume hingen voll mit Äpfeln, Birnen, Quitten und Zwetschgen. Und in ein paar Wochen würden die Knechte und Mägde noch die Kartoffeln und die Rüben vom Feld holen.

Dora liebte diese Zeit des Jahres, wenn die große Gluthitze des Sommers vergangen war, aber der Winter mit den langen dunklen Abenden und dem eiskalten Ostwind, der spätestens im Dezember meterhoch den Schnee aus Sibirien heranwehte, noch in weiter Ferne lag. Das Leichte und Heitere lag ihr näher als die Schwermut und die Melancholie, die sich über das Land legten, sobald die Störche fortgezogen waren und die ersten Herbststürme die Blätter von den Bäumen fegten.

Vor ein paar Wochen war sie sechzehn Jahre alt geworden, und sie blickte voller Offenheit und Neugier auf das Leben, das es bisher so gut mit ihr gemeint hatte und von dem sie noch so viel erwartete.

Dora war eine bemerkenswerte Person, die die Blicke auf sich zog. Das lag nicht nur an ihren ungewöhnlich vollen schwarzbraunen Locken, die ihr beinahe bis zur Taille reichten, wenn sie die Haare offen trug wie jetzt und nur mit zwei Schildpattkämmchen an den Schläfen zurücksteckte, damit ihr keine Strähne ins Gesicht fiel. Es lag nicht nur an dem kecken Schwung ihrer Lippen, die stets bereit waren zu lächeln, weil sie bislang noch nicht viel Veranlassung gehabt hatten, sich vor Schmerz oder Kummer zu verziehen, oder an der kleinen geraden Nase, den hohen Wangenknochen und dem ovalen Kinn mit dem Grübchen darin. Vor allem lag es an Doras großen hellen Augen, die von einer bemerkenswerten Farbe waren, nicht grün und nicht blau, sondern irgendetwas Unbestimmtes dazwischen, und die unter den fein geschwungenen Brauen und den dunklen Wimpern so wach und lebenshungrig in die Welt blickten, als wollten sie alle Bilder und Eindrücke, die das Universum zu bieten hatte, auf einmal in sich aufnehmen und nie mehr vergessen.

Dora war sehr hübsch, und das wusste sie, nahm ihre Schönheit aber mit einer Selbstverständlichkeit hin wie die Sonne am Himmel über sich. Sie war einfach da. So war das Leben eben, und sie kannte es nicht anders, als dass sie Komplimente bekam und im Mittelpunkt stand, wo immer sie in einer Gesellschaft auftauchte. Dass sich die jungen Männer nach ihr umdrehten, wenn sie unter den Lauben am Marktplatz von Wormditt unterwegs war, um ihre Besorgungen zu machen. Dass sie die Erste war, die bei jedem Ball zum Tanzen aufgefordert wurde. Und dass alle Mädchen aus ihrer Schulklasse hofften, von ihr zum Geburtstagskaffeekränzchen eingeladen zu werden. Und obgleich Dora wusste, dass sie ihre ebenmäßigen Gesichtszüge und die prächtigen Locken im Grunde nur einer Laune des Schicksals zu verdanken hatte, so verstand sie es doch, ihr reizendes Lächeln zu ihrem Vorteil einzusetzen, wenn es ihr angebracht erschien. Sogar ihr Lehrer Adomeit, der bei Generationen von Schülerinnen bekannt war für seine unerbittliche Strenge, wenn jemand die Hausarbeiten nicht nach seinen Vorstellungen erledigt hatte, wurde milde, wenn Dora ihn nur lächelnd anblickte. Selbst die Führerin des wöchentlichen Treffens beim Bund Deutscher Mädel verzieh es ihr, wenn sie zu spät kam oder gar eine Gruppenstunde geschwänzt hatte, sobald Dora seufzend und mit einem tiefen Augenaufschlag um Verzeihung bat.

Ihre Mutter verwandte alle Mühe darauf, Dora auf das Leben einer kultivierten und achtbaren Dame vorzubereiten, allerdings hatte diese ihre ganz eigene Vorstellung davon. Weitaus lieber, als still in der Stube zu sitzen und ihre Nase hinter ein Buch zu stecken, sich mit der Lektüre von Haushaltsratgebern, mit Kochrezepten oder Einmachtipps zu befassen oder gar mit Mathematik, Geografie oder französischer Grammatik, war es Dora, vergnügt herumzutoben, sei es beim Tanzen, beim Federballspiel, beim Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Dorfteich oder bei der Schleppjagd im Herbst. Nur dann fühlte sie sich lebendig. Jede Art von häuslichen Handarbeiten, zu denen sie ihre Mutter immer wieder vergeblich anzuleiten versuchte, feine Stickereien etwa, Stricken, Nähen oder Teemützen häkeln, waren ihr ein Graus. Oft genug endeten derlei Bemühungen damit, dass ein Knäuel Wolle oder ein Stickrahmen gegen die Wand flog und Dora aus dem Zimmer stürmte.

In solchen Momenten fand sie Trost bei ihrer Fuchsstute Gilda. Dora nutzte jede Gelegenheit, auf ihrem Pferd zu reiten, stundenlang durch Wälder und Wiesen zu streifen und mit einem Jauchzer über Gräben und Zäune zu setzen. Am liebsten war sie dabei allein unterwegs, sodass niemand sie ermahnen konnte, vorsichtiger zu sein oder sich damenhafter zu benehmen.

Ihr Vater, Josef Twardy, ostpreußischer Landwirt in der vierten Generation, ein tüchtiger, geduldiger Mann, der stets versuchte, auch den größten Fehlschlägen noch etwas Gutes abzugewinnen, beobachtete das lebhafte Naturell seiner ältesten Tochter mit großem Gefallen. Er liebte Dora sehr, wie er sich eingestehen musste, sogar mehr als seine anderen fünf Kinder, und war überzeugt, dass sich die ein oder andere kleine Charakterschwäche in den nächsten Jahren noch auswachsen werde. Doras Mutter Vera war da skeptischer. Die gebürtige Elsässerin, durch deren Adern noch die letzten Tropfen aristokratischen Blutes entfernter französischer Ahnen flossen, war eine disziplinierte und pflichtbewusste Frau, die es in jungen Jahren nach Ostpreußen verschlagen hatte. Während einer Sommerfrische an der See war sie Josef Twardy begegnet, und er hatte nicht lange gebraucht, sie davon zu überzeugen, das schmale Fachwerkhaus in der Enge des elsässischen Dorfes für immer zu verlassen, um auf dem stattlichen Gutshof in der Weite Ostpreußens eine neue Heimat zu finden. Vera war ein paar Jahre älter als ihr Mann und warf ihm regelmäßig vor, bei der Erziehung Doras zu wenig Strenge walten zu lassen. Doch genau so oft, wie er seiner Frau versprach, künftig härter durchzugreifen, kapitulierte Josef immer wieder vor Doras Charme und ihrem treuherzigen Lächeln. Und im Grunde war er froh darüber. Doras unverwüstliche Gesundheit und ihr heiteres, gelassenes Gemüt schienen ihm recht zu geben.

Weil sie sich viel an der frischen Luft bewegte, hatte Dora eine schlanke und sportliche Figur. Ihr schönes Gesicht war nicht von der vornehmen zarten Blässe, die einer Tochter aus gutem Hause nach Überzeugung ihrer Mutter angemessen gewesen wäre, sondern hatte den frischen rosigen Hautton von Leuten, die den größten Teil ihres Lebens im Freien verbringen.

»Du siehst ja aus wie eine Heumagd«, kicherte Marianne manchmal, ihre zwei Jahre jüngere Schwester, wenn sie am Abend nebeneinander im Badezimmer vor dem Spiegel standen und sich die Zähne putzten. »Deine Wangen sind so sonnenverbrannt, als hättest du den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet.«

Marianne, ein mageres, fügsames Mädchen, entwickelte sich viel eher nach den Vorstellungen ihrer Mutter, was beiden Schwestern bewusst war. Dora zuckte bei solchen Worten jedes Mal mit den Schultern. Es interessierte sie nicht, was Marianne über sie dachte, wie sie sich überhaupt herzlich wenig um die Meinung anderer Leute scherte. Abgesehen von Erna vielleicht, die vor mehr als achtzehn Jahren nach der Geburt ihres großen Bruders Hans als Kindermädchen auf den Hof gekommen war und seitdem in der Familie lebte, wo sie sich um jeden Nachkommen der Twardys kümmerte, als wäre es ihr eigenes Kind. Nach Dora und Marianne waren das noch der verträumte elfjährige Erich und die beiden Nesthäkchen, die vierjährigen Zwillingsbrüder Klaus und Arno. Mit den weizenblonden Stoppelhaaren und den vielen Sommersprossen auf der Nase glichen sich die beiden wie ein Ei dem anderen, und sie schienen nur Unsinn im Kopf zu haben. Erna war die Einzige, die sich durch die zwei Lausbuben nie aus der Fassung bringen ließ. Sie war eine kleine, gutmütige, kluge Frau von neunundfünfzig Jahren mit einem von Jahr zu Jahr üppiger werdenden Leibesumfang, die immer einen fröhlichen Spruch parat hatte. Was sie sagte, in bedächtigem breiten Ostpreußisch, das war Gesetz in der Familie, sogar für Dora.

Elsbeth und Friedrich gingen schon seit so vielen Jahren im Gutshof der Twardys ein und aus, dass sie sich beinahe ein bisschen der Familie zugehörig fühlten. Ihr Vater, Dorfschulmeister Kosubek, ein großer, ernster, gutherziger Mann, den jeder im Ort gernhatte, war vor einigen Jahren zum Bürgermeister von Liebenwalde bestimmt worden und war es geblieben, weil sich sonst niemand in der Dreihundert-Seelen-Gemeinde für dieses Amt interessierte. Dora kannte Elsbeth, seitdem sie vor zehn Jahren mit der Schultüte in der Hand zum ersten Mal das Klassenzimmer betreten hatte. Sie hatte sich auf den freien Platz an ihrer Seite gesetzt, und zwei Tage später waren sie schon beste Freundinnen gewesen.

Manch einer mochte sich darüber wundern, wie die beiden Mädchen, die doch so unterschiedlich waren, zueinander gefunden hatten: die aufgeweckte, selbstbewusste Dora mit ihrer wilden dunklen Haarmähne, die von allen geliebt und bewundert wurde, und die kleine zarte Elsbeth mit den Porzellanwangen und den kupferroten Zöpfen, ein zurückhaltendes, besonnenes Mädchen, dem es schwerfiel, seine leise Stimme zu erheben, sobald mehr als drei Menschen im Raum waren. Aber die zwei waren unzertrennlich. Sie ergänzten einander: Wenn Dora allzu ungestüm auftrat, wurde sie von Elsbeth ganz behutsam gebremst, so wie andererseits Dora der Freundin gut zuredete und ihr Mut machte, wenn Elsbeth das brauchte.

Mit im Bunde war häufig, so wie auch heute, Elsbeths Bruder Friedrich. Er war knapp zwei Jahre älter als sie und von ähnlicher Gestalt wie seine Schwester, ein schmalschultriger, blasser junger Mann mit feinem rotblonden Haar, der sich nie in den Mittelpunkt drängte, als habe er selbst noch nicht gemerkt, wie klug und liebenswürdig er eigentlich war. Dass er schüchtern und linkisch wirkte, lag an seiner körperlichen Verfassung. Er litt an einem angeborenen Hüftfehler, durch den er beim Gehen ein wenig hinkte. Um diesen in seinen Augen unmännlichen Makel wieder wettzumachen, ließ er sich einen Bart über der Oberlippe wachsen, der ihm mit seinen nicht einmal achtzehn Jahren allerdings viel Geduld abverlangte, denn bislang war dort nur ein schmaler Streifen rötlicher Flaumhaare zu erkennen.

»Komm!«, rief er Dora zu. »Deine Limonade wird warm!«

Erneut inspizierte Dora die Zufahrt. Als sie feststellte, dass sich noch immer kein Fahrzeug dem Gutshof näherte, rutschte sie von ihrem Aussichtsposten auf der Balustrade herunter und ließ sich auf einem Korbstuhl neben Friedrich nieder. Foxi, der schwarzbraune Dackelmischling, der bis dahin dösend unter dem Tisch gelegen hatte, hob erwartungsvoll den Kopf, worauf Dora mit geübtem Griff sein Nackenfell kraulte. Dann nahm sie ihr Limonadenglas und trank es in wenigen Schlucken aus, bis nur noch eine ausgequetschte Zitronenscheibe darin lag.

»Ach, ich wünschte, dieser Sommer würde nie zu Ende gehen!« Mit einem genüsslichen Seufzer lehnte sie sich zurück. »Die Ferien zu verlängern war die beste Idee, die der Führer je hatte. Noch mehr als zwei Wochen, bis im Herbst wieder die Schule beginnt, herrlich. Ich finde, das sollte er jetzt jedes Jahr anordnen.«

Sie kicherte glücklich. Während Elsbeth zustimmend nickte, wiegte Friedrich skeptisch den Kopf.

»Unser Opa in Berlin sagt, es bedeutet nichts Gutes. Er meint, Deutschland rüstet sich gegen Polen, bestimmt gibt es noch in diesem Jahr Krieg.«

»Ach was«, entgegnete Dora leichthin. »Das wird der Führer doch sicher zu verhindern wissen.«

»Und wenn doch?«, wandte Elsbeth schüchtern ein.

»Na, wenn unsere Soldaten kämpfen müssen, dann geht es bestimmt schnell«, antwortete Dora überzeugt. »Keine Armee der Welt ist so stark wie die unsere, heißt es doch immer. Die Polen werden sich bald ergeben, wenn unsere Soldaten erst einmarschiert sind. Zack, zack – und dann ist wieder alles gut. Mit Österreich und der Tschechoslowakei hat es doch auch geklappt.«

Friedrich seufzte. »Ich bin mir nicht sicher, ob der Rest der Welt auch dieses Mal tatenlos zugucken würde. Wenn Deutschland Polen den Krieg erklärte, wäre das etwas anderes.«

»Oh, jetzt hör bitte auf, lieber Fritz! Ich mag das Wort Krieg nicht mehr hören. Papa und Hans reden auch den ganzen Tag darüber, als gebe es nichts Interessanteres, über das man plaudern könnte. Immerzu geht es nur um Stalin und Chamberlain, um Kampftruppen, Mobilisierung oder Einberufungsbefehle. Lass uns lieber über etwas Angenehmeres reden! Über die Hochzeit von Großcousine Grete in der nächsten Woche zum Beispiel. Wir haben so lange kein richtiges Fest mehr gehabt im Dorf. Und weil dann noch Sommerferien sind, können wir den ganzen Tag lang mitfeiern. Ach, ich freue mich darauf, endlich mal wieder zu tanzen. Ausgerechnet an Gretes Hochzeit.« Dora kicherte ein wenig herablassend. »Unter uns gesagt, ich hätte nicht gedacht, dass sie noch mal einen abkriegt. Die Hübscheste ist sie ja nicht gerade, und demnächst wird sie schon dreißig. Kein Wunder, dass der Brautvater das ganze Dorf zum Mitfeiern eingeladen hat. Der ist sicher heilfroh, dass seine Tochter nicht als alte Jungfer endet.« Sie lachte.

»Stimmt es eigentlich, dass der Bräutigam fast zwanzig Jahre älter ist als Grete?«, erkundigte sich Elsbeth.

»Ja. Und ziemlich reich soll er sein. Ein Reeder aus Hamburg, sagt Mama.«

»Da wird Grete nach der Hochzeit sicher wegziehen aus Liebenwalde, oder?«

Dora nickte. »Sie wird mit ihm nach Hamburg gehen. Ist das nicht eine schreckliche Vorstellung?«

Elsbeth zuckte mit den Schultern. »Warum nicht, wenn sie ihn doch so sehr liebt?«

»So sehr könnte ich niemanden lieben, dass ich so furchtbar weit wegziehen würde. Ich würde mein Zuhause viel zu sehr vermissen.«

Dora ließ ihre Blicke über den Gutshof wandern. Dann schüttelte sie so heftig den Kopf, dass sich eines der Kämmchen aus ihren Locken löste. Entschlossen schob sie es zurück in die Haare. »Ich könnte nicht leben ohne das alles hier, ohne die Pferde, ohne die Hunde, ohne die Störche, ohne die Wiesen, ohne den Wald und die Seen. Ach Elli, auch wenn ich mich manchmal mit meiner Mutter oder Marianne zanke, ich könnte Ostpreußen niemals für immer verlassen. Dazu liebe ich das hier alles viel zu sehr.«

In diesem Augenblick klirrte unten die Kette des Hofhundes. Foxi fuhr unter dem Tisch auf, sprang mit einem Satz von der Veranda hinunter und fegte quer über den Hof bis zum Einfahrtstor, wo er laut kläffend herumsprang. Mit etwas Abstand zu dem quirligen Hündchen stand unbewegt und aufrecht der Schäferhund Thassos. Mit gespitzten Ohren und erhobener Rute beobachtete er die Zufahrtsstraße, aufmerksam und ohne einen Laut von sich zu geben.

»Sie kommen!«, rief Dora und sprang nun ebenfalls auf. »Endlich. Ich höre ein Motorengeräusch. Das muss der Transporter sein. Los!«

Im nächsten Moment fuhr ein offener Lastwagen in den Hof ein, eine Wolke von Staub hinter sich herziehend. Er rollte langsam noch ein paar Meter weiter über das Kopfsteinpflaster und kam unweit der Pferdeställe zum Stehen. Unmittelbar hinter dem Lkw bog ein Pferdegespann in die Hofeinfahrt und stoppte ebenfalls. Josef und Hans Twardy sprangen vom Kutschbock, während sich die Türen des Lastwagens öffneten und zwei Männer herausstiegen.

»Da sind wir«, rief der Vater. »Dann lasst uns mal loslegen!«

Kaum war das Motorengeräusch verstummt, wurde es lebendig auf dem Hof, drei Stallburschen eilten heran, um mitzuhelfen, den Hengst aus dem Wagen zu laden. Auch Erich und die Zwillinge stürmten aus dem Haus. Weil sie sich aber nicht näher heranwagten, setzten sie sich auf die Stufen der Veranda und beobachteten von dort aus das geschäftige Treiben im Hof. Marianne begnügte sich damit, das Geschehen von ihrem geöffneten Zimmerfenster aus zu betrachten wie aus einer Theaterloge.

Am Einfahrtstor tummelte sich in respektvollem Abstand zum Hofhund eine Traube lebhaft krakeelender Kinder, die am unteren Ende der Zufahrtsstraße aus den Häusern der Gutsarbeiter gekommen und der Fahrzeugkolonne nachgelaufen waren. Mit bloßen Füßen und schmutzigen Knien standen sie neugierig da, weil auch sie sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten. Es kam schließlich nicht alle Tage vor, dass ein so großes motorisiertes Fahrzeug durch das Dorf fuhr.

Während Elsbeth und Friedrich es bevorzugten, das Abladen des Tieres von ihren bequemen Sitzen aus mitzuerleben, war Dora bereits zu ihrem Vater und ihrem Bruder geeilt, um den Hengst etwas näher in Augenschein zu nehmen. Doch Josef Twardy hielt sie zurück.

»Stopp, halt bitte etwas Abstand, Dora!«, sagte er, und Hans rief dem noch immer wie toll kläffenden Foxi zu: »Mach, dass du hier fortkommst, du Racker! Du machst uns noch das Pferd verrückt.«

Erich stieß einen gellenden Pfiff aus, und der kleine Hund schoss japsend und mit flatternden Ohren in die ausgestreckten Arme des Jungen, wo er Erich aufgeregt die Hände leckte.

Sehen konnte man von dem neuen Hengst noch nicht sehr viel hinter den hohen Holzlatten, mit denen die Ladefläche des Lastwagens abgeschirmt war, aber man konnte Siegfried hören: Er wieherte und bockte, trampelte und buckelte, seine Hufe donnerten gegen Holzplanken und Metallverstrebungen, als setze er alles daran, das Fahrzeug in seine Einzelteile zu zerlegen.

»Herrje«, murmelte Dora und rang die Hände, unzufrieden darüber, dass sie zur Untätigkeit verdammt war. »Hoffentlich bekommen sie ihn heil da herunter.«

Das Pferd beruhigte sich ein wenig, als die Männer die Verladeklappe öffneten. Josef Twardy stieg hinauf. Mit ruhigen Worten redete er dem Hengst gut zu und klopfte ihm besänftigend auf den Hals. Dann erst band er die Stricke los, mit denen das Tier während der Fahrt gesichert gewesen war, und führte es vorsichtig und Schritt für Schritt die Rampe hinunter. Immer wieder schüttelte Siegfried sichtbar unwillig den Kopf. Als der Hengst endlich auf sicherem Boden stand, nahm Twardy eine Möhre aus seiner Jackentasche und gab sie ihm zur Belohnung.

»Gut gemacht, Siegfried«, lobte er, den Führstrick fest in der Hand.

Da war er, der große prächtige Hengst, den Kopf in die Höhe gereckt, mit bebenden Nüstern und angespannten Muskeln. Aber er wieherte nicht mehr. Ein Zittern lief über sein glänzendes tiefbraunes Fell. Auf seiner linken Hinterhand prangte deutlich sichtbar das Brandzeichen der Trakehner, zwei schwarze Elchschaufeln.

»Oh, Papa, das ist wirklich ein Mordstier!«, flüsterte Dora, ohne den Hengst aus den Augen zu lassen. »Aber er ist wunderschön.«

Bei ihren Worten drehte das Pferd seine Ohren, als verstünde es, was sie gesagt hatte. Langsam wagte sich Dora näher heran, während Siegfried sie aus großen, glänzenden braunen Augen ansah. Sie verharrte einen Augenblick neben ihm und gab ihm Zeit, ihren Geruch aufzunehmen. Dann legte sie ihm eine Hand an den warmen Hals und tätschelte ihn. Als Siegried nicht protestierte, strich sie sanft über seinen Nasenrücken. Das Pferd spitzt die Ohren nach vorn. Es war jetzt ganz still geworden.

»Braver Junge«, sagte Dora leise. »Herzlich willkommen auf dem Gutshof der Twardys, Siegfried. Du wirst es gut bei uns haben, du und deine vielen wunderschönen Nachkommen.«

Während sie mit der einen Hand noch immer das Pferd streichelte, griff sie mit der anderen in die Seitentasche ihres Kleides und holte ein paar Zuckerstücke heraus, die sie Siegfried auf der flachen Hand reichte. Vorsichtig nahm er die Leckerei an. Dora spürte die samtigen Pferdelippen und seinen warmen Atem in ihrer Handfläche, die langen Barthaare kitzelten sie ein wenig.

»Braver Junge«, wiederholte sie und beklopfte noch einmal zärtlich seinen Hals.

Als sie hörte, wie Siegfried leise und zufrieden schnaubte, machte ihr Herz einen kleinen freudigen Hüpfer. Der erste Moment mit einem neuen Pferd war immer etwas ganz Besonderes für Dora. Etwas Magisches schien ihr in jenem Augenblick zu liegen, in dem sie spürte, dass das Tier ihr vertraute. »Jetzt bist du zu Hause, Siegfried. Und wir zwei verstehen uns, nicht wahr? Wir werden beste Freunde werden.«

»Du sollst ihn doch nicht mit Zucker verwöhnen«, mahnte Josef Twardy, aber der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Und so fügte er denn auch hinzu: »Er mag dich, Dora. Du hast wirklich ein ganz besonderes Händchen für Pferde. Wie ruhig er da steht. Man merkt, dass du meine Tochter bist.«

Als einer der Fahrer in den Lastwagen stieg und die Tür hinter sich mit einem lauten Krachen zuwarf, zuckte das Pferd zusammen und begann erneut, unruhig zu tänzeln. Unwillkürlich trat Dora einen Schritt zurück. Twardy fasste den Führstrick kürzer.

»Aber nun wollen wir Siegfried seine wohlverdiente Ruhe gönnen. Ich bringe ihn erst mal in seine Box. Die lange Fahrt war sehr anstrengend für ihn, und er braucht dringend Wasser. Na, komm schon, guter Junge!«

Dora sah zu, wie ihr Vater das Pferd über den Hof zu den Ställen führte. In ruhigem Schritt klapperten die Hufe des Tieres über das Pflaster.

»Papa!«, rief Dora ihm nach. »Darf ich seinem ersten Hengstfohlen den Namen geben? Bitte sag Ja! Der erste kleine Hengst von Siegfried soll unbedingt Sultan heißen. Was hältst du davon? Ist das nicht ein großartiger Name für den Sohn eines großartigen Pferdes?«

Twardy drehte sich noch einmal lächelnd um, während einer der Knechte die Stalltür aufklappte.

»Ja, Dora, das ist es. Aber eines nach dem anderen. Jetzt lass Siegfried doch erst mal ankommen und sich auf dem Hof einleben. Und wenn die erste Stute trächtig ist, werden wir uns auch Gedanken über einen Namen für das Fohlen machen.«

Mit diesen Worten verschwand er mit dem Pferd im Stall.

Die Männer im Lastwagen verabschiedeten sich, warfen den Motor an, und nach einem aufwendigen Wendemanöver im Hof brauste der Wagen davon, gefolgt von einem Schwarm johlender Kinder, die ihren Posten am Hoftor verließen, um dem Fahrzeug so schnell und so weit sie konnten hinterherzulaufen.

Nachdem wieder Ruhe auf dem Hof eingekehrt war, verschwanden Erich und die Zwillinge zusammen mit Foxi im Haus, und Marianne schloss ihr Zimmerfenster.

Hans tippte seiner Schwester an die Schulter, und Dora fuhr erschrocken herum.

»Wir haben dir noch etwas mitgebracht«, sagte er grinsend. »Hast du das vergessen?« Er hielt ihr ein flaches, in Seidenpapier gehülltes Päckchen entgegen, das bei der Ankunft des Pferdegespanns auf dem Führersitz gelegen hatte.

»Oh, ja«, rief Dora. »Daran habe ich bei der Aufregung beinahe nicht mehr gedacht.«

»Viele Grüße von Schneider Steinke soll ich ausrichten«, sagte Hans. »Und viel Spaß beim Tanzen. Was immer darin sein mag …« Er ließ das Papier in seinen Händen knistern und zwinkerte Dora zu.

Sie nahm ihm das Päckchen ab. Es wog beinahe nichts in ihren Händen, so leicht war es.

»Danke, dass ihr es für mich abgeholt habt. Das ist mein neues Festkleid für Gretes Hochzeitsfeier. Und weißt du was?« Sie senkte die Stimme. »Für Elli habe ich auch eines schneidern lassen. Sie besitzt nämlich keine vernünftige Festgarderobe mehr, nachdem sie sich ihr Kleid auf dem Heimweg vom Abschlussball der Tanzschule an einem rostigen Nagel am Gartenzaun aufgerissen hat. Zwar hat sie den Riss geflickt, aber die Stelle ist natürlich noch immer zu sehen, und ihre Eltern erlauben es ihr nicht, in einer Saison zwei Abendgarderoben zu kaufen. Nun hat Elli auch ein schönes Kleid. Und das Beste ist: Es ist im gleichen Schnitt gemacht wie meines, nur in einer anderen Farbe, damit wir uns ähnlich sehen auf dem Fest. Ist das nicht eine gute Idee?«

Hans nickte. »Sie wird sich bestimmt freuen. Das ist wirklich ein feiner Zug von dir.«

Er legte ihr freundlich eine Hand auf die Schulter. Dora liebte ihren drei Jahre älteren Bruder, ihren Spielkameraden und Beschützer aus Kindertagen, und sie wusste, dass er sie ebenfalls liebte, wenngleich ihre Gemeinsamkeiten mit jedem Jahr, das sie älter wurden, weniger wurden. Wie alle männlichen Twardys war Hans von großer, schlanker Statur. Seine Haare hatten dieselbe Farbe wie Doras, doch waren sie weniger lockig. Er trug sie auf der Seite streng gescheitelt und an den Schläfen kurz geschoren. Eine spitze Strähne fiel ihm schräg in die Stirn. Dora neckte ihn manchmal deswegen. »Wenn du dir noch einen kleinen schwarzen Bart wachsen lässt, siehst du aus wie der kleine Bruder vom Führer«, hatte sie neulich einmal kichernd bemerkt, als Hans gerade vom Friseur zurückkam. Hans hatte das mit einer unwirschen Bemerkung zurückgewiesen, aber eine feine Röte war dabei über sein Gesicht geflogen, und Dora ahnte, dass er mit seinem Haarschnitt genau diese Wirkung beabsichtigt hatte, auch wenn er das seinen Eltern und Geschwistern gegenüber niemals zugeben würde.

Er war ernster und strenger geworden, seitdem er sich darauf vorbereitete, in ein paar Jahren von seinem Vater die Leitung des Gutshofes zu übernehmen. Wenn man sich den Leuten gegenüber einmal zu nachsichtig zeigt, tanzen sie dir am Ende auf der Nase herum, war seine Devise. Aber Dora war sich sicher, dass er mit seiner Härte und seinen bisweilen allzu ruppigen Anweisungen an das Gutspersonal nur die Sanftheit und Gutmütigkeit überspielte, die viel mehr seinem Naturell entsprachen, derer er sich aber insgeheim schämte, weil er sie für ein Zeichen von Schwäche hielt. Im Grunde schlug er charakterlich nach seinem Vater, doch während es der alte Twardy verstand, seine Leute mit Freundlichkeit, Milde und Großmut zu leiten, misstraute Hans diesen Eigenschaften und hielt sich beim Umgang mit Arbeitern und Dienstboten eher an den schneidigen Umgangston, den er während seiner Gruppenstunden bei der Hitlerjugend gelernt hatte. Doch im Kreise der Familie blieb er der ruhige, freundliche Junge, der er schon immer gewesen war. Auch gegenüber den Pferden erhob Hans niemals seine Stimme, und sie gehorchten ihm aufs Wort.

»Du wirst staunen«, sagte Dora, »was für ein schönes Kleid ich auf der Hochzeit tragen werde. So etwas Feines habe ich noch nie angehabt.«

Hans betrachtete seine Schwester mit einem langen wohlwollenden Blick. »Da wird sich dein Wilhelm aber freuen, wenn du dich so herausputzt.«

Seine Worte trafen Dora unerwartet. Erschrocken starrte sie ihren Bruder an und begann schließlich zu stottern:

»Was sagst du da? Wilhelm? Wieso mein … Was weißt du …?«

Diesmal war es an ihr, rot zu werden. Sie sprach den Satz nicht zu Ende und senkte den Blick. Es war unmöglich, dass Hans ihr Geheimnis herausgefunden hatte. Mit niemandem hatte sie darüber geredet, nicht einmal Elsbeth gegenüber hatte sie ein Wort verloren, obwohl sie mit der Freundin normalerweise jedes noch so geheime Gefühl teilte.

Aber dieses? Niemals. Dieses Gefühl war zu neu, zu unbekannt, zu verwirrend und viel zu aufregend. Niemals hatte irgendjemand erfahren sollen, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt hatte. Verliebt in den besten Freund ihres großen Bruders, Wilhelm von Lengendorff, den schönen, klugen Mann mit den sanften braunen Augen. So viele Jahre kannten sie einander schon, die Twardy-Geschwister und der älteste Sohn des größten Gestüts in der Gegend, sie hatten miteinander gespielt und gelacht. Es war so selbstverständlich gewesen, dass Wilhelm zu Besuch kam, dass sie zusammen ausritten, im Badeteich herumtobten oder im Heuschober. Sie hatte Wilhelm als guten Kameraden gemocht, aber mehr nicht. Und dann musste er fort. Zwei Jahre lang hatten sie einander nicht gesehen, weil Wilhelm seinen Militärdienst ableisten musste. Gelegentlich hatte er seinem Freund Hans einen Brief geschrieben, den dieser pflichtbewusst der Familie vorgelesen hatte. Aber Dora hatte keine Veranlassung gesehen, Wilhelm selbst einmal zu schreiben. Papier und Füllfederhalter waren ihr von jeher eher lästig, und außerdem war ja nicht sie, sondern Hans sein bester Freund. Eines Tages war Wilhelm plötzlich wieder aufgetaucht. Dora würde sich ihr Leben lang an diesen Moment erinnern, von dem an nichts mehr so war wie früher.

Es war vor ein paar Monaten gewesen, ein milder Maiabend kurz nach dem Abschlussball. Sie hatte gerade auf der Veranda gesessen und in einer Pferdezeitschrift geblättert, als Wilhelm durch das Hoftor geritten kam. Zuerst hatte sie ihn gar nicht wiedererkannt, so sehr hatte er sich verändert. Er war ein stattlicher junger Mann geworden, schlank und hochgewachsen, alles Kindlich-Knabenhafte, alles Verspielte und Burschikose war einer ruhigen und eleganten Erscheinung gewichen. Erst als er lächelnd ihren Namen rief, erkannte sie ihn. Er stieg aus dem Sattel, machte sein Pferd fest und kam zu ihr auf die Veranda gelaufen, leichtfüßig und federnd wie immer.

»Dora!«, hatte er gerufen. »Bist du es wirklich? Wo ist denn das kleine Mädchen geblieben, von dem ich mich vor zwei Jahren verabschiedet habe? Du bist ja eine richtige junge Dame geworden.«

»Und du ein richtig schicker, feiner Herr«, hatte sie geantwortet. Gleichermaßen verblüfft über die Verwandlung des anderen, hatten beide zu lachen begonnen, herzlich und vertraut, und in diesem Moment war es um Dora geschehen gewesen. Ein Glücksgefühl hatte ihre Seele erfasst, wie sie es nie zuvor erlebt hatte, nicht beim wildesten Ritt und nicht beim schwungvollsten Tanz. Das, was sie beim Blick in Wilhelms Augen empfunden hatte, war einmalig. Es lag ein Strahlen darin, das ihr nie zuvor aufgefallen war, und als er ihr ein Kompliment machte, errötete sie bis unter die Haarwurzeln. Wie gebannt hing sie an seinen Lippen, während er erzählte, wie froh er sei, den Militärdienst endlich hinter sich zu haben und nun bald den Gutshof seines Vaters übernehmen zu können.

»Ich möchte eine Reitschule aufbauen, Dora. Nicht nur für die Kinder im Dorf, aus der ganzen Umgebung sollen die Leute kommen und den Umgang mit Pferden lernen. An den Wochenenden könnte ich für die fortgeschrittenen Reiter längere Ausritte ins Gelände anbieten. Vielleicht werde ich sogar regelmäßige Turniere veranstalten, zu denen ich die besten Reiter Ostpreußens einlade.«

»Das klingt alles so himmlisch, Wilhelm. Wie ich dich beneide! Was für ein aufregendes Leben wirst du haben!«

»Ja, glaub mir, ich habe lange genug davon geträumt, während ich in der Kaserne das Schießen und den preußischen Paradeschritt üben musste. Und wenn es so weit ist, frage ich dich vielleicht, ob du Lust hast, mir zu helfen, und bei uns ab und zu Reitstunden geben möchtest.«

»Oh, ja, das möchte ich. Das möchte ich unbedingt.«

Wilhelm zwinkerte ihr zu. Er schien ganz vergessen zu haben, dass er eigentlich gekommen war, um seinen Freund zu sehen. Als Hans seinen Kopf aus dem Fenster steckte und nach ihm rief, sprang er erschrocken auf und lief ins Haus. Im Vorbeigehen strich er Dora über die Schulter, und für einen Augenblick war es ihr, als strömte das Blut schneller durch ihre Adern.

Seit jenem Abend waren sie einander anders begegnet. Jedes Mal, wenn er ihren Bruder besuchte, warfen Wilhelm und Dora einander verstohlene Blicke zu, Blicke, die ihr Herz zum Rasen brachten. Die Unbefangenheit, mit der sie bis dahin miteinander umzugehen pflegten, war verschwunden. Sosehr Dora sich auch nach Wilhelms Besuchen sehnte, sobald er ihr gegenüberstand und ein freundliches Wort zu ihr sprach, versagte ihr die Stimme, und häufig floh sie vor Scham in ein anderes Zimmer. Manchmal antwortete sie doch etwas oder machte einen Scherz, nur um sich anschließend darüber zu ärgern, was für ein dummes Zeug sie da zu Wilhelm gesagt hatte. Ernsthaft miteinander gesprochen hatten sie nie mehr seit jenem Abend auf der Veranda, sie waren auch nie mehr miteinander allein gewesen.

Seitdem Dora erfahren hatte, dass auch Wilhelm zu Gretes Hochzeitsfeier kommen würde, war ihre Vorfreude auf das Fest unbändig gewachsen. Ganz sicher würde Wilhelm mit ihr tanzen, sie würden endlich miteinander reden können, vielleicht noch einmal über die erwähnten Reitstunden … und dann? Ob er sie vielleicht küssen würde? Endlich, zum ersten Mal? Allerdings hatte Wilhelm ihr gegenüber noch nie etwas über seine Gefühle gesagt, so wie sie ihm ihre bislang verschwiegen hatte. Das Einzige, was zu ihr sprach, waren seine Augen, die sie jedes Mal, wenn sie einander begegneten, mit so viel Leidenschaft und Wärme ansahen, dass Dora meinte, vor Glück zerbersten zu müssen.

Als sie wieder aufsah, hatte sich ein warmherziges Lächeln im Gesicht des Bruders ausgebreitet.

»Also habe ich doch recht«, sagte er leise. »Mein kleines Schwesterchen ist verliebt. Dein Gesicht spricht ja Bände.«

»Oh, Hans, was soll ich dir sagen … Ist es wirklich so: Er freut sich, mich zu sehen? Er freut sich darauf, mit mir zu tanzen?«

Hans nickte. »Das hat er mir jedenfalls gesagt.«

»Aber wie kommst du darauf, dass auch ich … ich weiß nicht …, dass auch ich mich vielleicht ein bisschen in Wilhelm verliebt habe?«

Es kostete Dora Mühe, diese Worte auszusprechen.

»Ach, Schwesterchen, ich habe doch Augen im Kopf. Ich sehe doch, wie du ihn ansiehst, wenn er zu Besuch kommt. Neulich erst, als du in der Stube warst und ich Wilhelm hier draußen verabschiedet habe, wie ihr einander durchs Fenster angeschmachtet habt …« Hans schüttelte bei der Erinnerung daran grinsend den Kopf und fuhr neckend fort: »Eure Blicke waren so voller Sehnsucht und Wärme. Ich dachte, die Glasscheibe schmilzt!«

»Also ist es wirklich wahr und er ist verliebt in mich? Ach, Hans, ich bin so aufgeregt. Ich kann Gretes Hochzeitsfest gar nicht mehr erwarten.«

Das Gespräch mit ihrem Bruder hatte Dora in eine Hochstimmung versetzt, als hätte sie ein Glas Champagner getrunken. Zu wissen, dass Wilhelm tatsächlich verliebt in sie war und sie sich seine Zuneigung nicht nur eingebildet hatte, das fühlte sich so wunderbar an, dagegen verblasste sogar die Freude über den neuen, großartigen Hengst im Stall. Nun zählte nur noch die anstehende Hochzeitsfeier, und es war noch wichtiger, dass sie dabei eine atemberaubende Figur machte. Dora presste das Päckchen mit den Kleidern an ihre Brust und eilte mit geröteten Wangen zurück auf die Veranda, wo ihre beiden Freunde geduldig auf sie gewartet hatten.

Elsbeths Augen blitzten auf, als sie sah, was es mit der angekündigten Überraschung auf sich hatte, doch gleichzeitig wies sie das Geschenk beschämt zurück mit der Begründung, so etwas Kostbares dürfe sie nicht annehmen.

»Aber doch«, entgegnete Dora. »Du musst ja! Es ist nach den Maßen deines Abschlussballkleides geschneidert und passt niemandem sonst.«

Von diesem Argument und der Tatsache, dass sich der hauchzarte Seidenstoff des Kleides wundervoll zwischen den Fingern anfühlte, ließ sich Elsbeth schließlich doch überzeugen. Und während sich Friedrich noch einmal in seinem Korbstuhl zurücklehnte, liefen die beiden Mädchen zur Anprobe der neuen Kleider ins Haus.

Rötliches Abendlicht fiel durch die geöffneten Fenster auf den hellen Holzfußboden, als die beiden Freundinnen Doras Schlafzimmer im ersten Stock des Gutshauses betraten und leise die Tür hinter sich schlossen. Von draußen klang der späte Gesang einer Amsel herein, zusammen mit den Geräuschen aus dem gegenüberliegenden Stall, in dem die Knechte jetzt damit beschäftigt waren, das Vieh für die Nacht zu versorgen.

Rasch wusch sich Dora die Hände in der Waschschüssel, die auf dem schmalen weißen Tisch neben dem Fenster stand, und trocknete sie mit dem bereitliegenden Leintuch ab. Prüfend hielt sie sich die Finger vor die Nase, und nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sie tatsächlich nicht mehr nach Pferd rochen, sondern nach lieblicher Rosenseife, rieb sie sich unternehmungslustig die Hände.

»So. Melde mich bereit zur Verwandlung in eine Ballprinzessin.«

Die Mädchen schlüpften aus ihren Kleidern, bis sie nur noch in Unterwäsche nebeneinanderstanden. Dann streiften sie die Festgewänder über. Mit bloßen Füßen und klopfenden Herzen traten sie vor den großen ovalen Spiegel, der neben Doras geräumigem Kleiderschrank aufgestellt war.

Dora hielt den Atem an. Es war, als würde Schneewittchen ihr gegenüberstehen. Das Kleid sah genauso aus, wie sie es sich erträumt hatte: Das knöchellange nachtblaue Seidengewand war gerade geschnitten und ärmellos, es wurde nur durch zwei schmale Satinbänder an den Schultern gehalten. Über dem Oberkörper lag es eng an, um dann von der Taille abwärts locker zu fallen. Der dünne, schimmernde Stoff umfloss ihren schlanken Körper wie eine zweite Haut.

»Sieht es nicht einfach himmlisch aus?«, flüsterte Dora und betrachtete mit ehrfürchtigem Staunen ihr eigenes Spiegelbild. »Es ist sogar noch viel schöner geworden, als ich es mir je erhofft hatte.«

Sie sah zu Elli hinüber, deren Kleid eine exakte Kopie des ihren war, allerdings aus einem smaragdgrünen Seidenstoff, der ihrer marmorweißen Haut schmeichelte und gut zur Farbe ihrer kupferroten Zöpfe passte.

»Oh mein Gott«, entfuhr es Elsbeth nach einem Augenblick erschrockenen Schweigens, während sie neben Dora stand und sich in dieser ungewohnten Garderobe beäugte. »Das Kleid sieht traumhaft aus, aber was ist denn das für ein Dekolleté? Da guckt ja der halbe Busen raus.«

Dora schüttelte den Kopf.

»Aber nein. Du übertreibst. Das muss so sein. Ich finde, wir sehen fantastisch aus, Elli. Wie zwei UFA-Filmschönheiten. Vor allem die Rückenpartie ist etwas ganz Besonderes.«

Elsbeth drehte sich zur Seite und stieß einen leisen Schrei aus, als sie sah, welchen Anblick der Spiegel ihr nun bot.

»Aber Dora. Hinten ist der Ausschnitt ja noch tiefer. Diese Kleider sind schrecklich unanständig. Man sieht den Büstenhalter!«

Dora lachte und machte ein paar Tanzschritte durchs Zimmer, sodass der Saum des Kleides wippte.

»Ach, Elli. Den Büstenhalter muss man bei so einem Kleid natürlich weglassen.«

»Ich weiß nicht. Meinst du wirklich, dass wir diese Sachen auf der Hochzeit tragen sollten? Es ist so eine goldige Idee von dir, dass wir beide da wie Schwestern auftauchen, und dieser zarte Stoff ist ein Traum. Aber sind die Kleider nicht ein bisschen zu frivol für den Kirchgang? Ich wundere mich, dass dir deine Mutter erlaubt hat, ein solches Kleid schneidern zu lassen.«

Dora unterbrach ihren kleinen Freudentanz. Ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Ehrlich gesagt, kennt meine Mutter diese Modelle noch gar nicht. Als ich ihr erzählte, ich würde gern zwei gleiche Kleider für uns machen lassen, da war sie sofort einverstanden. Sie dachte natürlich, Schneider Steinke fabriziert die Kleider aus seinen üblichen Schnittmustern. Aber weißt du was, Elli?«

Sie zwinkerte der Freundin verschwörerisch zu. »Ich habe als Modell ein paar Fotos von Zarah Leander genommen, die ich aus einer Filmzeitschrift ausgeschnitten habe.« Dora wies auf ihr Nachtschränkchen, auf dem sich die letzten Ausgaben des Magazins Die junge Dame stapelten. »Beim Filmball neulich hat sie so ein fantastisches Kleid getragen. Atemberaubend. Das musste ich einfach auch haben. Ich habe die Fotos in ein Kuvert gesteckt und sie Papa mitgegeben, damit er sie dem Schneider bringt, und Papa hat sich die Bilder gar nicht erst angesehen. Herr Steinke hatte ja deine und meine Maße noch von unseren Abschlussballkleidern im Mai, sodass er gleich loslegen konnte und wir nicht zur Anprobe in die Stadt fahren mussten. Ach, die Kleider sind ihm wirklich gut gelungen! So herrliche Stoffe! Na gut. Zarah Leanders Kleid war tiefschwarz, sie trug dazu noch lange verführerische Satinhandschuhe, und es war etwas mehr Glitzer an ihrer Garderobe, aber trotzdem: Ich finde unsere Kleider phänomenal. Und – ha! – guck mal hier!«

Dora zog die Schublade der kleinen Kommode auf, die neben dem weißen Metallbett mit dem hohen verschnörkelten Kopfteil stand, und nahm zwei Ohrclips heraus. Es waren kleine goldene Hänger mit einer Perle darin, die sie sich an die Ohrläppchen steckte.

»Na, wie gefalle ich dir?«

Sie schüttelte den Kopf, sodass die Perlenohrringe zappelten.

»Du bist wunderschön, Dora. Aber deine Mutter wird schimpfen, wenn sie dich mit diesem Ausschnitt sieht.« Elsbeth seufzte. »Und meine auch.«

Sie zupfte an ihrem Dekolleté herum und zog den dünnen Stoff mit den Fingern zusammen. »Ich werde das Kleid über dem Busen ein wenig enger nähen. Und der tiefe Ausschnitt im Rücken lässt sich sicher mit ein paar Häkchen und Ösen schließen.«

»Aber nein! Das darfst du auf keinen Fall. Dann ist doch der ganze Pfiff weg.«

»Besser, das Kleid hat etwas weniger Pfiff, als dass ich es überhaupt nicht anziehen darf.«

Dora zuckte mit den Schultern. »Ich finde uns wunderbar in diesen Kleidern. Genau so, wie sie sind. Ich wette, wir werden die Stars der Feier sein. Wir müssen aufpassen, dass wir der Braut nicht die Schau stehlen …«

In diesem Moment flog hinter ihnen die Tür auf, und Marianne stand im Zimmer. Dora und Elsbeth fuhren erschrocken herum.

Marianne setzte an, um etwas zu sagen, doch beim Anblick der Mädchen in den ungewohnten Kleidern blieb ihr der Mund offen stehen.

»Wie seht ihr denn aus?«, entfuhr es ihr verblüfft.

»Gut sehen wir aus«, erklärte Dora kokett. »Wir probieren unsere Garderobe für Gretes Hochzeit an. Wie gefallen dir unsere neuen Kleider?«

Sie tanzte ein paar Schritte durch das Schlafzimmer. Marianne rümpfte die Nase.

»Man sieht ziemlich viel Haut«, sagte sie, ohne näher auf die Frage der Schwester einzugehen. »Hat Mama dir erlaubt, so was anzuziehen? Das kann ich mir nämlich durchaus nicht vorstellen. Wir gehen doch auf eine Hochzeit und nicht auf einen Filmball …«

»Und wenn schon«, entgegnete Dora. »Warum überhaupt platzt du einfach so in mein Zimmer?«

»Mama schickt mich. Ich soll dich zum Abendessen rufen. Das Mädchen hat schon zweimal den Gong geschlagen, aber du hast wohl nichts gehört vor lauter Kleiderprobieren. Es sitzen alle am Tisch und warten auf dich.«

»Oh!«, rief Elsbeth erschrocken. »So spät ist es? Dann muss ich schnell nach Hause. Fritz wartet ja draußen schon die ganze Zeit auf mich.«

»Bleibt doch noch. Wollt ihr nicht bei uns zu Abend essen? Zwei Gedecke sind schnell aufgelegt.«

»Nein, nein, wir haben Mutter versprochen, rechtzeitig daheim zu sein.«

So schnell es die feinen Seidenstoffe zuließen, zogen sich die Mädchen wieder um. Dora überkam plötzlich ein mulmiges Gefühl. Zwar freute sie sich sehr über ihr hinreißendes neues Kleid, doch gleichzeitig fürchtete sie sich ein wenig vor der Reaktion ihrer Mutter. Und so wie Dora ihre Schwester kannte, würde sie es sich nicht nehmen lassen, der Mutter umgehend von der heimlichen Modenschau zu berichten, deren Zeugin sie gerade geworden war. Andererseits, sagte sich Dora, wäre es vermutlich besser, die unweigerliche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter gleich heute zu führen, als es erst unmittelbar vor der Hochzeitsfeier zum Streit kommen zu lassen. Bis dahin war es noch eine Woche hin, und dann, so hoffte sie, würde sich die größte Aufregung über das Kleid sicher gelegt haben.

Nachdem sie Elsbeth und Friedrich verabschiedet hatte, betrat Dora das hohe, holzgetäfelte Esszimmer, wo die anderen Familienmitglieder und Erna bereits um die gedeckte Tafel versammelt saßen. Im Raum duftete es köstlich nach Königsberger Klopsen, aber noch waren die Teller leer. Die beiden Hausmädchen Anni und Gertrud standen mit dampfenden Schüsseln in den Händen an der offenen Flügeltür, wie immer adrett gekleidet in ihren blauweiß gestreiften Batistschürzen, und warteten auf die Order, die Speisen auftragen zu dürfen.

»Wie schön, dass du auch endlich da bist«, tadelte ihre Mutter in feiner Ironie, nachdem Dora Platz genommen hatte. »Dann können wir ja endlich mit dem Abendessen anfangen.«

Josef Twardy nickte den beiden Hausmädchen vom Stirnende des Tisches her zu, wo er in seinem Stuhl mit der hohen gedrechselten Lehne saß. Seit Dora denken konnte, hing hinter ihm an der Wand in einem kunstvoll geschnitzten Ebenholzrahmen das dunkle Ölgemälde, von dem Vaters Urgroßvater Johann Gottfried Twardy, der im vorigen Jahrhundert den Gutshof erbaut und damit den Wohlstand der Familie begründet hatte, gütig auf die Tischgesellschaft herabblickte.

Doch der gute Geist des Ahnen wehte an diesem Abend nicht durch das Esszimmer der Familie Twardy. Dora hatte sich gerade den ersten Bissen in den Mund geschoben, als Marianne auch schon herausplatzte:

»Hast du das neue Kleid schon gesehen, Mama, das sich Dora für Gretes Hochzeitsfeier hat schneidern lassen? Es hat einen so tiefen Ausschnitt, dass es einem schwindlig wird, wenn man hineinsieht.«

»Stimmt ja gar nicht!«, protestierte Dora und versuchte, die Schwester mit einem heimlichen Tritt gegen den Fuß zum Schweigen zu bringen, aber sie erwischte nur ein Stuhlbein.

»Was hat es mit dem Kleid auf sich, Dora?«, erkundigte sich ihre Mutter. »Ich dachte, Schneider Steinke nimmt dasselbe Schnittmuster wie bei deinem letzten Ballkleid?«

»Nein, das hat er nicht!«, trumpfte Marianne auf. »Dora hat ihm ein Foto mitgegeben, das sie aus Die Junge Dame ausgeschnitten hat. Das Kleid solltest du dir mal ansehen, Mama. Du wirst in Ohnmacht fallen.«

»Du Biest, du hast an meiner Tür gelauscht!«, empörte sich Dora.

»Nein, habe ich gar nicht, ihr habt bloß so laut geredet, dass es bis ins Treppenhaus hinausgeklungen ist.« Marianne zuckte mit den Schultern, aber die flammende Röte, die bei diesen Worten ihre Wangen färbte, strafte sie Lügen.

»Jetzt hört auf zu zanken, ihr zwei!«, mahnte Vera Twardy. »Dora, du ziehst gleich nach dem Essen das neue Kleid an, damit ich es mir ansehen kann, und jetzt lasst uns bitte in Frieden speisen.«

Eine Stunde später trat Dora in ihrem neuen Festtagsgewand in den Salon. Es war etwas anderes, sich mit der besten Freundin im eigenen Zimmer kichernd vor dem Spiegel zu betrachten oder unter den kritischen Blicken der Eltern anzutreten. Obwohl sie es normalerweise liebte, im Zentrum des Geschehens zu stehen, fühlte sie sich jetzt unwohl, als sie die Augen der anderen auf sich gerichtet sah. Ihr Vater hatte es sich in seinem ledernen Chesterfieldsessel bequem gemacht, die Beine behaglich von sich gestreckt, und rauchte seine Tabakspfeife – ein Ritual, das er jeden Abend nach dem Essen pflegte, wenn die Arbeit des Tages getan war und in der Nacht nicht noch eine Fohlengeburt anstand. Neben dem Sessel tickte leise die hohe Standuhr, und in der Ecke stand, schon länger nicht mehr benutzt, das schimmernde schwarze Klavier mit geschlossenem Deckel. Doras Mutter saß aufrecht auf dem grünen Samtsofa mit der geschwungenen Rückenlehne und ließ die Zeitschrift sinken, in der sie gerade geblättert hatte, als Dora ins Zimmer kam. An Veras Seite lehnte Marianne, die sich die zu erwartende Auseinandersetzung nicht entgehen lassen wollte, und auch Erna war dabei. Sie lebte schon so lange auf dem Gutshof, dass sie von allen eher als Familienmitglied denn als Hausangestellte angesehen wurde. Mit einem Strickstrumpf in den Händen, saß sie auf einem breiten Plüschhocker vor dem Fenster und ließ die Nadeln klirren. Erna betrachtete ihr ehemaliges Ziehkind mit warmem Lächeln, und als Dora ihrem liebevollen Blick begegnete, wurde sie für einen Augenblick etwas zuversichtlicher.

»So kannst du auf keinen Fall zur Hochzeit gehen«, entschied Vera kopfschüttelnd, kaum dass Dora die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Was hast du dir nur dabei gedacht?« Und zu ihrem Mann gewandt, sagte sie: »Ach, Josef, wie konntest du es bloß zulassen, dass der Schneider so ein freizügiges Kleid für unsere Tochter näht?«

Twardy nahm die Pfeife aus dem Mund und hob entschuldigend die Hände. »Ich habe das Kleid nur abgeholt, liebste Vera. Ich dachte, du und Dora, ihr hättet eure Garderobenangelegenheiten miteinander abgesprochen. Woher soll ich wissen, was die Damen heutzutage tragen? Natürlich ist das Kleid etwas zu …« Er neigte den Kopf und suchte nach dem richtigen Wort. »Etwas zu … ungewöhnlich vielleicht, um es auf einer Dorfhochzeit zu tragen, mein liebes Mädchen, aber du siehst sehr hübsch darin aus.«

»Du siehst darin aus, als seiest du unterwegs in einen Nachtklub in Berlin oder Königsberg«, empörte sich Vera. »So gehst du jedenfalls nicht auf Gretes Hochzeit und schon gar nicht in die Kirche!«

»Aber Mama, es ist nach einem exklusiven Schnitt gemacht«, versuchte sich Dora in einer Verteidigung. »Mit so einem Kleid ist Zarah Leander erst kürzlich aufgetreten …«

»Mir ist egal, was dieses Filmsternchen anzieht. Meine Tochter wird so ein Kleid nicht in der Öffentlichkeit tragen. Punkt.«

Dora spürte, wie ihre Lippen vor Enttäuschung bebten. Sie fing Mariannes schadenfrohes Grinsen auf und funkelte die kleine Schwester wütend an. Nein, sie würde noch nicht aufgeben, beschloss Dora. Es war einfach zu wichtig, dass sie die schönste Frau auf dem Fest war. Jetzt erst recht. Es schien ihr plötzlich, als hinge ihr Leben davon ab, dass sie genau dieses Kleid auf Gretes Hochzeitsfeier trug. Als wäre es undenkbar, dass Wilhelm ihr jemals einen Antrag machen würde, wenn sie nicht an jenem Tag genau dieses Kleid anhatte.

»Ich könnte ja vielleicht den Ausschnitt etwas enger nähen«, schlug Dora vor, wobei ihr ein Schauer über den Rücken lief bei der Vorstellung, dass ihre des Nähens unkundigen Hände mit einer Nadel den feinen Seidenstoff durchstechen und ganz sicher ruinieren würden. »Auch wenn das Kleid dann natürlich nicht mehr so viel Pfiff hat.« Sie stöhnte leise. »Aber ich kann es doch nicht unbenutzt im Schrank hängen lassen!«

Mit dem treuherzigsten Augenaufschlag, zu dem sie fähig war, blickte Dora in die Runde. Doch ihre Zuversicht sank, als sie sah, wie ihre Mutter den Kopf schüttelte.

»Du kannst das Kleid ja als Nachthemd tragen«, spottete Marianne.

»Ei, Marjellchen, nu zieh nicht so e Flunsch«, mischte sich Erna in das Gespräch ein und ließ den Strickstrumpf sinken. Wie immer, wenn Dora den breiten ostpreußischen Singsang ihrer ehemaligen Kinderfrau hörte, wurde sie ruhiger. »Wo Muttche recht hat, da hat sie recht, Dora. Neij. Neij.So kannst du das Kleijdche nu wirklich nicht anziejen. Das ist nuscht für die Kirche. Nie nimmer nich. Da fällt dem Pfarrer ja das Jesangbuch aus der Hand. Aber nu, was wär denn …«

Sie zog das wollene Tuch ab, das sie sich über den Rücken gelegt hatte. »Was wär denn, wenn du dir e Schultertuchche nimmst, Dora? Dann bist du obenrum nicht mehr nackig und kannst doch deijn scheenes Kleijdche anziehen.«

Als Erna den fragenden Blick bemerkte, mit dem Dora den grob gestrickten grauen Wollschal in ihren Händen betrachtete, der so ganz und gar nicht zu ihrem eleganten Seidenkleid passte, da fügte sie schulterzuckend hinzu: »Muss ja nicht unbedingt meijn altes Tuch hier sein, da jibt es sicher noch was Scheeneres im Haus.«

»Vielleicht …«, begann Josef Twardy, dem jede Art von Disharmonie in der Familie zuwider war, und räusperte sich, »… vielleicht ist das tatsächlich ein Vorschlag zur Güte. Was meinst du, Vera? Du hast doch dieses hübsche helle Satintuch, das ich dir zu Weihnachten geschenkt habe. Würde das nicht gut zu Doras Kleid passen? Es ist groß genug, um ihre Schultern und alle anderen Körperstellen, die nicht an die frische Luft kommen sollen, zu bedecken.«

Dora frohlockte. Erna und ihren Vater hatte sie beinahe schon auf ihrer Seite. Dass sie ein Schultertuch tragen sollte, war zu verkraften, wenn sie darunter nur das schöne Kleid anziehen konnte. Aber Dora wusste, solange ihre Mutter nicht zugestimmt hatte, war nichts entschieden.

»Na gut«, sagte Vera Twardy unerwartet milde. »Mit meinem großen Tuch über den Schultern soll Dora in Gottes Namen dieses schreckliche Kleid tragen. Ich habe noch eine schöne große Brosche in meinem Schmuckkästchen. Mit der werde ich dir das Tuch gut zusammenstecken, damit es nicht herunterrutscht.«

»Danke«, hauchte Dora und senkte fügsam den Blick. Doch hinter den langen schwarzen Wimpern blitzten ihre Augen triumphierend. Sie presste die Lippen zusammen, um den glücklichen Jauchzer zu unterdrücken, der aus ihrer Kehle zu platzen drohte. Sie hatte es geschafft, sie durfte ihr Kleid tragen! Mochte sie sich auch in der Kirche das dämliche Tuch umlegen, spätestens beim Tanzen würde es ihr wie zufällig von der Schulter rutschen. Sie würde nur noch in ihrem bezaubernden Kleid dastehen und die schönste und begehrenswerteste Frau der Feier sein, Wilhelm würde mit ihr tanzen, er würde sie küssen, ihr seine ewige Liebe gestehen, vor ihr niederknien und um ihre Hand anhalten. Es würde der schönste Tag ihres Lebens werden. Mochte ihre Mutter auch anschließend mit ihr schimpfen! Selbst wenn sie für den Rest des Jahres dazu verdonnert werden sollte, jeden Abend drei Stunden lang öde Stickarbeiten zu erledigen – was bedeutete das schon? Wenn sie erst Wilhelms Braut war, dann war ihr alles andere egal.

Noch einmal traf sie Mariannes Blick, in dem sich jetzt Missmut und Enttäuschung mischten, so als wäre ihr ein großes Stück Schokolade, das ihr jemand versprochen hatte, plötzlich und unerwartet verwehrt worden. Blitzschnell und ohne dass ihre Eltern etwas davon mitbekamen, streckte Dora ihrer Schwester die Zunge heraus.

2.

Der 1. September 1939 war ein freundlicher, warmer Tag in Ostpreußen. Wiesen und Felder schimmerten golden im milden Licht des Altweibersommers. In der Luft glitzerten die vielen Spinnweben und kündeten den nahenden Herbst an. Im Hause Twardy war man seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen gewesen, um sich auf die Hochzeitsfeier im Dorf vorzubereiten. Es wurden noch schnell Hemden gebügelt und Schuhe geputzt, verlegte Manschettenknöpfe gesucht und dem Personal letzte Anweisungen für den Tag erteilt.

Ungeachtet der Hektik im Haus hatte Dora lange vor dem Spiegel gestanden, unentschlossen, auf welche Weise sie ihre Haare frisieren sollte, bis sie sich dazu entschied, sich einen langen Zopf zu flechten, den sie mit einer Perlmuttspange im Nacken zu einem schweren Knoten zusammensteckte. Wie vereinbart legte Vera ihrer Tochter das Satintuch über die Schultern, bevor sie das Haus verließen, und steckte es unter dem Hals mit einer Brosche fest. Das Schmuckstück passte zwar nicht zu ihren goldenen Perlenohrringen, aber es war hübscher, als Dora erwartet hatte: eine silberne Libelle, auf deren Flügeln Strasssteinchen blitzten.