SØG. Schwarzer Himmel - Jens Henrik Jensen - E-Book
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SØG. Schwarzer Himmel E-Book

Jens Henrik Jensen

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Beschreibung

Eine dunkle Nacht bricht an für Nina Portland … In einer Gewitternacht trifft ein gewaltiger Blitzeinschlag die Kohlehalde von Esbjerg. Es regnet Kohlestücke. Und die Leiche eines Ermordeten taucht auf … Der Unbekannte wurde gefoltert, bevor man ihn erlöste. Nina Portland forscht noch nach der Identität des Opfers, von der Regenbogenpresse KOHLENMANN getauft, als wieder ein Mord geschieht. Sie ahnt, dass mehr dahintersteckt als Rache oder Leidenschaft – und ermittelt ohne Rückendeckung. Bald bestätigt sich ihr Verdacht: Sie ist einem internationalen Verbrechen auf der Spur. Der Fall dreht sich um hochbrisantes Material: die Dokumentation einer Hinrichtung. Dem Video sind geheime Mächte auf der Spur – und Nina Portland gerät in die Schusslinie …

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Seitenzahl: 622

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Über das Buch

Der Sommer ist heiß und ruhig. In Ninas Beziehung herrscht Flaute, ihr Vater, der alte Kapitän Portland, hat sich auf seine letzte große Reise übers Meer begeben, und ihr Engagement bei einer polizeiinternen Fort bildung könnte in den Augen ihrer Vorgesetzten größer ausfallen. Da taucht in einer Gewitternacht die Leiche eines Gefolterten bei der Kohlenhalde am Hafen von Esbjerg auf. Bald geraten die Ermittlungen ins Stocken – Nachforschungen zur Identität des Fremden bleiben ergebnislos. Eine Spur führt Nina zu Ib Munk, einem Autisten mit fotografischem Gedächtnis und einer Leidenschaft für Vögel. Endlich gewinnt sie sein Vertrauen und begreift, warum er voller Angst ist. Er hat Unvorstellbares gesehen …

 

Von Jens Henrik Jensen sind bei dtv außerdem erschienen:

OXEN – Das erste Opfer

OXEN – Der dunkle Mann

OXEN – Gefrorene Flammen

OXEN – Lupus

OXEN – Noctis

OXEN – Pilgrim

 

SØG – Dunkel liegt die See

SØG – Schwarzer Himmel

SØG – Land ohne Licht

 

EAST – Welt ohne Seele

EAST – Auf tiefem Grund

Jens Henrik Jensen

SØG

Schwarzer Himmel

Roman

1

Esbjerg, 2007

 

 

Er hatte das Gefühl, als reichten seine Nervenenden bis weit in das nasse Element hinein. Über die Angelschnur, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, verzweigten sie sich in den braunen Wellen und verursachten ein prickelndes Gefühl im Körper.

Mit Sicherheit hatte ihm sein inzwischen so jämmerlich gewordenes Leben kaum etwas Besseres zu bieten. Er konnte in die Rolle des Fängers schlüpfen, obwohl er an seinen elektrischen Rollstuhl gefesselt war. Die Gicht hatte zwar seine Beine angefressen, aber um das Salz des Lebens, das Angeln, konnte die Krankheit ihn nicht bringen.

Mit dem Hemdsärmel wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Obwohl es bereits sieben Uhr abends war, hatte die schwüle Hitze kaum nachgelassen. So ging das nun schon fünf, sechs Tage. Alle stöhnten über das Wetter. Eigentlich konnte er die Hitze nicht ausstehen, aber sie linderte das Reißen in seinem Körper.

Allerdings kündigte sich jetzt ein Wetterumschwung an. Die Wolken türmten sich auf, als wollten sie in einem Wutanfall mit dem Großreinemachen beginnen.

Er fühlte nichts. Es gab keine Verbindung zum Leben unter der Wasseroberfläche. Er hielt die Nylonschnur straff in der linken Hand, sodass er ein unmittelbares Gefühl für das Vorfach und die beiden Haken dort draußen über dem schlammigen Grund bekam. Auch das geringste Schnappen einer Flunder nach den Sandwürmern würde seinen erfahrenen Fingern nicht verborgen bleiben. Mit der Rechten achtete er auf seine zweite Angel, die in einer Halterung an der Armlehne steckte. Hin und wieder rollte er ein Stück der Leine auf, sodass er sie sofort anziehen konnte, sollte eine Meeräsche sich von dem Weißbrot anlocken lassen.

Zwei Angeln und ein Bier in Reichweite – so hatte er schon viele Stunden auf dem Tauruskai verbracht, südlich des Esbjergwerks. Auf der rechten Seite ragte das Kraftwerk in den Himmel, hinter ihm lagen die enormen Kohlenhalden, und zu seiner Linken formten die spitzen Vulkangipfel aus Kies und Splitt von der Schotter- und Kiesfirma Vesterhavsral eine bizarre Landschaft. Die Gegend wurde Sahara genannt. Hier draußen vereinten sich Meer und Land.

Er musste nun immer bis zum Südhafen fahren, man hatte ihn dazu gezwungen. Oder richtiger, das »System« hatte ihn in diese trostlose Landschaft verbannt. Früher hatte er in der Nähe des Hafengebiets angeln können, wo er sich als alter Fischer zu Hause fühlte und jederzeit jemanden zum Klönen fand. Dem hatte dann dieser verdammte Zaun ein Ende gesetzt – der Terrorzaun. Er zog sich beinahe um den ganzen von ihm so geschätzten Hafen und stempelte einen ehrlichen Mann zum Verbrecher, auch wenn er sich nur zum Angeln einschlich.

Jeder dunkelhäutige Mullah, der im Hafen eine Bombe legen wollte, konnte sich doch einfach an den Schranken vorbeidrücken oder über den Zaun klettern, dachte er. Unter der unwahrscheinlichen Voraussetzung, dass der Hafen von Esbjerg jemals Ziel eines Terroranschlags werden könnte.

Das erste drohende Donnergrollen weit draußen auf dem Meer riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Er blickte zum Himmel und stellte fest, dass die blauschwarze Wolkendecke sich näher herangeschoben hatte, jenseits von Fanø baute sie sich auf wie eine Wand. Der Wind hatte aufgefrischt.

Als der Donner zum zweiten Mal leise grollte, verschwand plötzlich der rote Schwimmer. Beinahe hätte er sein Bier fallen lassen, zog aber noch im richtigen Moment an. An der Angel zuckte es gewaltig, eine hübsche Meeräsche musste das sein.

Es zeigte sich, dass er recht hatte, als er den Fisch auf dem Kai von der Angel befreite. Mit dem Messer stach er der Meeräsche in den Nacken und entfernte die Innereien. Im selben Moment bemerkte er, wie die schlappe Schnur der anderen Angel sich über der Wasseroberfläche spannte. Auch hier hatte einer angebissen.

Eine schöne große Flunder tauchte auf, als er hastig am Griff der Rolle drehte und seinen Fang auf den Asphalt zog. Seit Stunden nichts – und nun zwei Fische in zwei Minuten. Vielleicht war ja doch was dran, dass die Fische bei Gewitter besonders gut bissen? Doch ihm gefiel das nicht.

Eine Reihe ohrenbetäubender Schläge ließ die Luft erzittern. Erschrocken blickte er zum Himmel. Die schwarze Wolkendecke hatte Fanø bereits eingeschlossen. Er spürte einen heftigen Windstoß im Gesicht, Sekunden später zerriss ein Blitz den Himmel über dem Meer und ließ die flachen Konturen der Insel scharf in der Dämmerung hervortreten.

Hektisch stopfte er die Fische in eine Tüte und packte sein Angelzeug zusammen. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Seine Hände zitterten, als er die Angeltasche hinter sich in den Korb warf und den Griff am Lenker bis zum Anschlag drehte. Sein Fahrzeug setzte sich mit dem charakteristisch singenden Geräusch des Elektromotors in Bewegung.

Die Donnerschläge dröhnten jetzt in einer erschreckenden Lautstärke. Er bog in die Straße ein, die zwischen den riesigen Kohlenhalden des Kraftwerks verlief. Jetzt musste er die Abkürzung nehmen. Er schaute über die Schulter, als eine Serie von Blitzen über den Hafen zuckte. Das Vorderrad traf auf ein tiefes Schlagloch im Asphalt, sodass er fast die Kontrolle über sein Gefährt verloren hätte. Gerade noch konnte er die Balance halten.

Er verringerte das Tempo, als er die Schranken des Terrorzauns erreichte. Wenn er ein bisschen Gewalt anwandte, konnte er den Rollstuhl zwischen den Schranken hindurchzwängen und auf das verbotene Gelände rollen. Das Verbot war ihm jetzt egal.

Er wollte nach Hause, in Sicherheit, und das ging am schnellsten, wenn er durch das verbotene Hafengebiet fuhr.

Der Regen prasselte auf ihn nieder, er hatte eine Heidenangst.

Seine Arme begannen zu zittern.

 

Die eiskalte Dusche hatte sie abgekühlt. Jetzt saß Nina am Gartentisch auf dem Balkon. Sie hatte sich ein Handtuch um die Taille gebunden und eine kurzärmlige Bluse aus indischer Baumwolle darübergezogen, so dünn und luftig, dass sie sich beinahe nackt fühlte. Sie hatten einen perfekten Sonntag miteinander verbracht. Ihr Sohn Jonas und sie waren an den Strand gefahren, die Räder hatten sie nach Fanø mitgenommen. Mit Sicherheit war es die letzte Strandpartie dieses Jahres gewesen.

Der Herbst würde wahnsinnig hektisch werden. Die erste Runde des Führungskurses der Polizei war geplant und bedeutete zwei Wochen Aufenthalt im Ausbildungszentrum von Avnø, einem gottverlassenen Ort auf Seeland. Wenn man in die Führungsetage aufsteigen wollte, kam man um Avnø nicht herum. Und das hatte sie vor – der Aufstieg zur stellvertretenden Polizeihauptkommissarin war der nächste Schritt auf der Karriereleiter. Nina hegte keine Machtgelüste, es war eher der banale Wunsch nach neuen Herausforderungen. Sie marschierte doch ohnehin immer vorneweg, und sobald sie das Wort ergriff, hörten die Kollegen ihr zu, unabhängig vom Dienstgrad.

Als stellvertretende Polizeihauptkommissarin würde sie vermutlich kaum eine Krone mehr verdienen, aber sie empfand den Kurs als Fehdehandschuh, den man ihr vor die Füße geworden hatte, und als Herausforderung ihrer fachlichen Kompetenz – eine ziemlich feierliche Formulierung, aber doch so etwas wie die Essenz ihres Entschlusses. Sie war gut, aber sie wollte noch besser werden.

Natürlich ging es auch um Einfluss. Sie hasste es, stupide Befehle von oben zu empfangen. Und ihre Gelassenheit und ihr Selbstvertrauen waren mit den Jahren eher gewachsen. Jetzt wollte sie den Fehdehandschuh aufnehmen und es besser machen – mit einer größeren Umsicht als diejenigen, deren Entscheidungen auf einer Mischung aus männlicher Routine und dem Glauben an ihre eigene Unfehlbarkeit basierten. Die beiden ersten Aufgaben des schriftlichen Vorbereitungskurses hatte sie jedenfalls schon abgeliefert. Der Arbeitsauftrag in Soziologie war nicht sonderlich konkret gewesen. Bei Begriffen wie »primäre und sekundäre Sozialisation« war sie ziemlich ins Schwimmen gekommen. Und für den Organisationstest hatte sie Leavitts Systemmodell durchgeackert und inzwischen längst wieder vergessen.

Verdammt, es durfte gern etwas praktischer werden. Schließlich hatte sie unter anderem deshalb vor vielen Jahren das Jurastudium an der Universität von Århus geschmissen. Auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer lag der dritte Arbeitsauftrag wie eine stumme Drohung: Diesmal ging es um Führung.

Wie sie sich kannte, würde sie erst im allerletzten Moment damit beginnen. Sie gab ein armseliges Vorbild ab. Predigte sie ihrem Sohn nicht ständig, dass die Hausaufgaben an erster Stelle kommen sollten?

Doch bei den schriftlichen Aufgaben handelte es sich nur um den Vorhof der Hölle. Denn bald würde der Kurs in Avnø losgehen. Viermal zwei Wochen lang, nur die Samstage und Sonntage waren frei.

 

Eine Schusssalve. Jonas war nach dem Abendessen aufgestanden und spielte am Computer. »Hitman« – schon wieder.

Auf dem Präsidium hatte ihre Abteilung merkwürdige Arbeitstage hinter sich. Wahnsinnig still, dabei war die vorangegangene Woche auch schon außergewöhnlich ruhig gewesen. Es war kein Problem gewesen, den Mittwoch für ihren Fernkurs freizunehmen. Vielleicht war es zu heiß für Verbrechen? Nina war die Stille jedenfalls nicht geheuer. Seit Tagen spürte sie diese Unruhe.

Die Woche hatte mit einer Serie falscher Reiseschecks begonnen, die in verschiedenen Banken in der Umgebung eingelöst worden waren. Danach hatten sie sich um die eingeschlagene Scheibe eines Bekleidungsgeschäfts in der Kongensgade kümmern müssen. Die Einbrecher hatten einige Lederjacken mitgehen lassen, es gab ein paar Hauseinbrüche – und dann – sozusagen als Krönung – hatte irgendein Idiot einen Hund vor dem Bäckerladen in der Torvegade gestohlen. Allerdings handelte es sich nicht um irgendeinen Köter. Dieser Afghanische Windhund hatte ein kleines Vermögen gekostet, hieß Da Vinci und gehörte der Frau eines Bankdirektors, der zufälligerweise Mitglied der Loge war, der auch Polizeidirektor Friis angehörte.

Das aber war im Großen und Ganzen alles, was die vergangenen Tage an intellektuellen Herausforderungen in der fünftgrößten Stadt Dänemarks geboten hatten, die sich unter der Hitzewelle krümmte. Von dem schneeweißen Windhund hatten sie nicht einmal die kleinste Pfotenspur.

Nina schob den Teller mit Kaltschale in die Mitte des Tisches, lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Die letzte des Tages. Sie hatte beschlossen, mit dem Rauchen aufzuhören. Wie sollte man als Mutter eines zwölfjährigen Jungen Autorität ausstrahlen – noch dazu als alleinerziehende Mutter –, wenn man einen so gewaltigen Verbrauch an krebserregenden Stoffen hatte? Sie war jetzt bei fünf Zigaretten am Tag. Wie eine übel schmeckende Medizin wurden sie jeden Morgen eingeteilt, egal, ob es Werktag oder Wochenende war. Die letzte Zigarette sparte sie für die Zeit nach dem Abendessen auf. Sie war die beste des ganzen Tages.

Nina inhalierte tief, und als sie den Rauch ausstieß, spürte sie den ersten Windstoß im Gesicht, der den Zigarettenrauch mit sich riss.

Kurz darauf hörte sie hinter Fanø das erste leise Donnergrollen, das sie noch unruhiger werden ließ. Jetzt wechselte der Himmel seine Farbe, die Wolken trieben schneller.

Sekunden später donnerte es ernsthaft draußen über dem Meer. Es war so dunkel, dass Nina die Blitze deutlich sah. Lange konnte es nicht mehr dauern, dann würde die Hölle über Esbjerg hereinbrechen.

Sie liebte Donner und Blitz, die Berserkerwut der Elemente. Laut der nordischen Mythologie jagte bei Gewitter der Gott Thor in seinem Streitwagen über den Himmel.

Hoffentlich kam es zu einem richtig heftigen Unwetter.

»Jonas!« Sie stand auf, ging in die Küche und ließ Wasser in den Elektrokocher laufen. Keine Antwort. »Jonas!«

»Was ist denn? Warum schreist du so?«

»Schalt den PC aus, sofort. Es zieht ein Gewitter auf …«

»Ach Mist, ich bin gerade mitten in einem Spiel.«

»Nicht fluchen – und schalt den PC aus. Sofort!«

Sie schüttete Nescafé in die Tasse und goss kochendes Wasser darüber. Jonas spielte noch immer, und sie steckte den Kopf durch die Tür seines Zimmers.

»Sag mal, bist du taub? Mach aus! Und zieh den Stecker!«

Im selben Moment war ein gewaltiger Donnerschlag zu hören. Jonas gehorchte und fuhr den Computer herunter.

»Komm raus, das wird fantastisch.«

Jonas tauchte an der Küchentür auf. Die Kappe mit dem Logo des Fußballclubs von Esbjerg hatte er beleidigt in die Stirn gezogen.

»Wieso bist du eigentlich so scharf auf Gewitter, Mama?«

»So, und jetzt setzt du dich mit deiner alten Mutter auf den Balkon, ja? Und steh gerade, bitte. Sonst endest du noch als Glöckner von Notre-Dame.« Sie schob den Schirm seiner Kappe hoch und küsste Jonas flüchtig auf die Stirn.

»Mit Gewitterkaffee?«

»Ja, natürlich.«

»Und ’ner Gewittercola?«

»Gewittercola? Wann ist die denn erfunden worden? Na, von mir aus.«

Das Gewitter war fabelhaft. Der Regen stürzte erbarmungslos herab, cats and dogs, wie es bei den Engländern hieß. Wie es wohl aussähe, wenn Katzen und Hunde vom Himmel fielen und überall in der Stadt herumlägen? Und was würde der Bankdirektor sagen, wenn der verschwundene Da Vinci plötzlich wie ein breit getretener Flokati auf dem Fußweg auftauchte?

Unendlich lange krachte und polterte es über den Dächern der Stadt, die Blitze zerrissen den inzwischen dunkel gewordenen Abendhimmel. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal eine derartig gewaltige Kraftentladung erlebt hatte.

»Meine Güte, heute ist Thor aber besonders heftig zugange.«

»Ja, er lässt es richtig krachen«, bemerkte Jonas.

»Wie heißen Thors Geißböcke noch gleich?«

»Tanngnjostr und Tanngrisnir. Und sein Hammer heißt Mjølnir. Der Donner ist das Rumpeln seines Wagens, und die Blitze sind die Funken des Hammers. Und wenn Thor den Hammer geworfen hat, fliegt er immer wieder in seine Hand zurück. Er trägt seine Supereisenhandschuhe – und seinen Kraftgürtel. Bist du jetzt zufrieden?«

»Imponierend, dann war ja doch nicht alles vergebens …«

»Das ist doch totaler Megamüll, Mama, diese ganze Mythologie. In Wirklichkeit treffen kalte und warme Luftströme aufeinander, und die Blitze sind elektrische Entladungen.«

»Ja, ja, mein neunmalkluger Sohn … Wenn du meinst.«

Nina stellte sich dicht ans Geländer, dorthin, wo der Balkon über ihr keinen Schutz mehr bot. Es fühlte sich gut an. Befreiend, nach einer Woche quälender Hitze.

»Und was soll man bei Gewitter beachten?« Sie konnte es nicht lassen. Eine der irritierenden Standardfragen auf der mütterlichen Checkliste.

Jonas seufzte tief. »Ich hab keinen Bock zu antworten … Du hast mich das schon eine Million Mal gefragt.«

»Aber es ist wichtig, Liebling. Denk dran, nie unter eine …« Der alberne Klingelton ihres Handys unterbrach sie. Ihr Zwerchfell zog sich zusammen. Sie hatte also recht gehabt. Der Anruf musste aus dem Präsidium kommen. Irgendetwas war passiert. Nein … Sie erkannte die Nummer.

»Nina am Apparat.«

»Hallo, hier ist Jørgen. Wo seid ihr? Ein wahnsinniges Gewitter. Die ganze Insel bebt.«

»Danke, ist uns auch schon aufgefallen. Wir sind zu Hause, wo sonst? Wir sitzen auf dem Balkon und schauen zu.«

Typisch Onkel Jørgen. Der alte Dorfpolizist im Ruhestand war von Natur aus ängstlich. Nur weil Thor auf Fanø eintrommelte, musste nicht gleich der gesamten Familie der Untergang drohen. Sie beruhigte ihn mit ein paar Floskeln und legte rasch auf, um die nächsten Donnerschläge und Blitze in Ruhe zu genießen.

Es dauerte über eine halbe Stunde, bis das Unwetter ins Landesinnere weiterzog. Noch war es kühl und stürmisch. Erst jetzt bemerkte Nina, dass sie vollkommen durchnässt war. Die dünne Bluse klebte an ihrem Körper, aber das war egal. Außer Jonas gab es keine Zuschauer.

Als das Unwetter abgezogen war, wurde es still. Unheimlich still. Die Luft hatte sich gereinigt. Plötzlich schien es, als hätte die Hitzewelle nie existiert.

Es war elf, als sie ins Bett gingen. Eine neue Woche wartete.

 

Die Tasche mit dem Angelzeug … Hoffentlich war sie nicht weg. Sie enthielt ein kleines Vermögen: seine gesamte Ausrüstung, viele Jahre kleiner Einkäufe von Blinkern, Vorfächern und Haken. Eine neue Ausrüstung konnte er sich nicht leisten.

Der Gedanke, dass sein wertvollster Besitz verschwunden sein könnte, hatte ihn die ganze Nacht wach gehalten, aber er hatte nicht gewagt, mit dem elektrischen Rollstuhl durch die Dunkelheit zu fahren. Zu viel konnte passieren. Ja, man konnte überfallen werden. Es standen oft genug solche Geschichten in der Zeitung.

Beim allerersten Tageslicht humpelte er in den Hof und setzte sich in seinen Rollstuhl. Er hatte seine Taschenlampe in die Jacke gesteckt, noch war es so dunkel, dass man leicht etwas übersehen konnte.

Nachts vor dem Fernseher war er zu dem Ergebnis gekommen, dass die Tasche aus dem Korb gefallen sein musste, als er draußen beim Kraftwerk durch das tiefe Schlagloch gefahren war.

Die Leute im Hafen hatten die Arbeit bestimmt schon aufgenommen, also konnte er nicht über das verbotene Gelände fahren. Er hatte den Eindruck, eine Ewigkeit zu brauchen, bis er den Südhafen erreichte. Insgeheim hatte er die Tasche mit dem Angelzeug längst aufgegeben. Er bog rechts ab und rollte den Amerikavej entlang, vorbei an den Kohlenhalden – alle fünf Sinne in Alarmbereitschaft. Das Licht an seinem Gefährt war erbärmlich, darum leuchtete er zusätzlich mit der Taschenlampe. Jetzt kam das Schlagloch. Aber wo lag die Angeltasche?

Der Rollstuhl rumpelte. Merkwürdig. Die ganze Straße war mit kleinen Kohlestücken übersät. Wer zum Teufel kam nur auf die Idee, Kohle durch die Gegend zu werfen – noch dazu mitten in der Nacht?

Er leuchtete in den Straßengraben, der sich an der Betonmauer entlangzog. Der Lichtkegel fiel auf etwas Dunkles. Da lag sie. Seine Angeltasche. Es gab also doch noch so etwas wie Gerechtigkeit. Mühsam erhob er sich und kam auf die Beine. Dann griff er nach der Tasche und ließ sich schwer in den Sitz zurückfallen. Hastig prüfte er, ob alles noch da war. Nein, es fehlte nichts.

Der ganze Ärger umsonst. Aber diese Kohlen auf der Straße, sonderbar … Er ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe ziellos umherschweifen, über die Betonmauer, über die schwarzen Kohlemassen und wieder zurück. Dann hielt er abrupt in seiner Bewegung inne. Kniff die Augen zusammen. Um Himmels willen …

Rasch senkte er die Lampe. Rieb seine müden Augen. Und richtete das Licht erneut auf den schwarzen Berg. Ja, verflucht … Sein Herz hämmerte, während er sein Handy aus der Brusttasche fingerte.

Er traf kaum die Tasten, so sehr zitterte ihm die Hand. Wie war noch die Nummer, unter der man die Bullen erreichte?

2

Die roten Ziffern des Weckers zeigten 05:54, als das Telefon in ihrem Schlafzimmer klingelte. So viel bekam sie gerade noch mit, bevor sie schlaftrunken zum Hörer griff.

»Nina Portland.«

»Birkedal hier. Aufstehen, Portland! Du wirst in zehn Minuten abgeholt. Wir haben eine Leiche – draußen bei den Kohlenhalden am Kraftwerk. Es sieht nach Totschlag aus.«

»Hm …«

»Hallo! Bist du wach? Aufstehen! Wie ich schon sagte – in zehn Minuten.«

»Ja, ja …«

Sie legte auf und setzte sich auf die Bettkante, während sie versuchte, sich an Birkedals Worte zu erinnern. Totschlag? Bei den Kohlenhalden?

Sie ging ins Kinderzimmer und weckte Jonas. Während er langsam wach wurde, schüttete sie sich kaltes Wasser ins Gesicht, zog sich an und stopfte sich nebenher eine Banane in die Jackentasche. Hastig erklärte sie ihrem Sohn, dass er sich sein Frühstück selbst machen müsse. Und er dürfe nicht vergessen, die Haustür richtig zuzuziehen – und er solle pünktlich in der Schule sein.

Im Vorübergehen schaute sie kurz in den Spiegel. Sie sah aus, wie sie sich fühlte. Eine einundvierzig Jahre alte Frau, die man urplötzlich aus dem Bett geworfen hatte – und das zu früh am Morgen. Die feinen Falten um die Augen zeichneten sich wie tiefe Flussbetten ab, fand sie. Und das rotblonde Haar ähnelte unverkennbar einem Haufen Herbstlaub. Sie glättete es ein bisschen mit den Händen und band es mit einem Gummiband, das auf der Kommode lag, zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann noch zwei Striche mit einem diskreten Lippenstift.

Man musste ja als Frau bei der Polizei nicht unbedingt wie ein Mann aussehen. So, mehr war nicht drin.

Sie hatte nur wenige Minuten zu warten, bis der dunkelblaue Streifenwagen am Bordstein hielt. Monberg holte sie ab, einer ihrer Kollegen aus der Sektion A. Bisweilen fand sie ihn so überflüssig wie einen Kropf. Andererseits vermittelte ihr die Gewissheit, dass Torsten Monberg genauso vorhersehbar war wie der Braten am Sonntag und ebenso leicht ablesbar wie ihr Wecker, eine banale Form von Sicherheit.

»Guten Morgen, Nina. Spring rein.«

»Guten Morgen? Eher noch gute Nacht … Weißt du etwas, was ich nicht weiß, Monberg?«

»Nee, glaub ich nicht. Doch, ich weiß, dass es sich um einen Mann handelt. Wusstest du das?«

»Nein, Birkedal war ziemlich kurz angebunden.«

»Und wann haben wir es schon mal mit Mord zu tun? Ich war sofort hellwach«, sagte er.

»Ja, kann ich mir denken …«

Schon bald bogen sie am Schlachthof ab und fuhren in die öde Gegend am Kraftwerk. Über dem Meer schimmerte das bleiche Morgenlicht. Die Sonne ging auf. Es knisterte in dem noch feuchten Gras.

Monberg bremste an der Absperrung. Birkedal war bereits eingetroffen, und Nina erkannte auch Werner Madsen an seiner Pfeife im Mundwinkel. Der knochentrockene Madsen galt mit gut zwanzig Dienstjahren auf dem Buckel als der erfahrenste Kommissar der Sektion A. Die beiden Beamten im Streifenwagen fuhren zurück, sobald sie und Monberg ausgestiegen waren. Ganz hinten am Schlachthof sah sie einen roten Wagen, der rasch auf sie zufuhr. Bei dem Fahrer konnte es sich nur um den stellvertretenden Polizeiinspektor Gunnar Thøgersen handeln.

Sie gingen die schmale asphaltierte Straße entlang, die parallel zu der hohen Betonmauer verlief, die die Kohlenhalden schützte. Der Chef und Madsen standen ein Stück entfernt und betrachteten den vordersten Kohlenberg. Zwischen ihnen saß ein Mann in einem elektrischen Rollstuhl.

»Na, wenn ihr mit mir fertig seid, werde ich mal nach Hause fahren.« Der Mann hob eine Hand zum Abschied. »Ihr wisst ja, wo ich zu finden bin, wenn noch was sein sollte.«

»Ja, vielen Dank. Wiedersehen.«

 

»Guten Morgen«, begrüßte Birkedal wenig später Nina und ihren Kollegen. Madsen nickte nur stumm. Er sagte nie viel, erst recht nicht morgens.

Einige Meter weiter oben in der Kohlenhalde, ein gutes Stück über ihren Köpfen, ragte die Leiche aus dem schwarzen Hang. Der Tote war von der Kohle teilweise verdeckt und lag auf dem Rücken. Halbglatze, dichter schwarzer Schnurrbart. Nina konnte den dunklen Fleck auf seinem Hemd sehen, das einmal hell gewesen sein musste und jetzt verdreckt von Kohlenstaub war.

Eine Autotür knallte. Thøgersen hatte sie so fest zugeworfen, dass der alte Toyota bebte. Jetzt kam er leichtfüßig auf sie zu. Er trug seine obligatorische Wildlederjacke. Nina hatte ihn noch nie anders gesehen. Für Klamotten verschwendete der stellvertretende Chef weder Zeit noch Geld. Und auch nicht für Autos. Der Auspufftopf des Toyota hatte ziemlich hohl geklungen.

Er wünschte guten Morgen, ohne außer Atem zu sein, wobei sein fragender Blick auf Birkedal gerichtet war.

»Mittleren Alters, leicht südländisches Aussehen, ein großer Blutfleck auf der Brust. Ist bereits seit einigen Tagen tot. Durch die Hitze ziemlich aufgedunsen. Ein Arm ist verbrannt. Mehr konnte der Arzt noch nicht sagen, ohne an der Leiche herumzufummeln«, fasste Birkedal zusammen.

»Verbrannt, wieso verbrannt?«, wollte Nina wissen.

»Mehr lässt sich noch nicht sagen. Sie haben ihn ja noch nicht ausgegraben.«

Das war ihr klar. Die Sanitäter eines Krankenwagens und der hinzugezogene Arzt hatten nur einen einzigen Job: herauszufinden, ob sie noch helfen konnten. Ansonsten hieß es: Finger weg. Sie sah sich um. Dort, wo sie standen, lag die Kohle über die ganze Straße verstreut. Monbergs sonnenstudiogebräuntem Gesicht war anzusehen, dass er eigentlich irgendwas sagen wollte, aber offenbar entschied er sich anders. Monberg lief geradezu manisch braungebrannt herum, seit seine Frau ein kleines Sonnenstudio unter ihrem Frisörsalon eröffnet hatte.

»Ein Blitz«, bemerkte Nina nachdenklich.

Madsen nahm bedächtig die Pfeife aus dem Mund.

»Ein Blitz? Was meinst du, Nina?«

»Ein Blitz ist gestern Abend in die Halde eingeschlagen. Es gab doch dieses Wahnsinnsunwetter. So was habe ich selten gesehen. Vielleicht ist der Blitz direkt neben der Leiche eingeschlagen oder hat sie sogar getroffen. Dann hat er ein Loch in die Halde gerissen, die Kohle überall verstreut und den Mann teilweise freigelegt.« Sie trat gegen ein Stückchen Kohle, das gegen die Betonmauer flog.

Alle vier nickten.

»Natürlich war es ein Blitz«, murmelte Birkedal und versuchte, zerstreut zu klingen, als hätte sie ihn mitten in einem wichtigen Gedankengang unterbrochen. »Wer sollte auch sonst mitten in der Nacht Kohle durch die Gegend werfen?«

Madsen lächelte ihr unmerklich zu und platzierte die Pfeife wieder in seinem Mundwinkel.

»Woher zum Teufel beziehen wir eigentlich diese ganze Kohle, Werner?« Birkedal trat gereizt nach einem Kohlenstück. Er war der Einzige, der Madsen beim Vornamen nannte. Sie arbeiteten seit vielen Jahren zusammen.

»Überwiegend aus Südafrika und Polen, aber auch aus Russland, der Rest kommt aus Kolumbien und Australien, soweit ich weiß. Die Hälfte des dänischen Stroms wird von Kohlekraftwerken erzeugt.«

Alle wussten, dass Madsen ein wandelndes Lexikon war, wenn es um Allgemeinwissen ging; daher benutzte ihn auch die ganze Abteilung als Nachschlagewerk. Madsen las viel, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, am liebsten allerdings Biografien.

Doch der hagere Mann hielt sich mit seinem Wissen zurück. Wollte man es anzapfen, musste man ihn schon fragen.

»Aha, die Hälfte? Und wozu gibt es dann die ganzen verdammten Windräder?« Birkedal schaute auf seine Armbanduhr und fuhr mit der Hand durch seine struppiggraue Mähne.

»Sie müssten bald hier sein«, fügte er mürrisch hinzu.

Sie warteten auf die Rechtsmediziner und Kriminaltechniker aus Århus und Kolding.

»Wir sollten noch ein bisschen weiträumiger absperren, oder?«, schlug Monberg vor und sah zu Birkedal hinüber.

»Schon, aber lass uns erst einmal herausfinden, womit wir es hier eigentlich zu tun haben«, meinte Birkedal. »Dann können wir immer noch absperren. Hier ist vor sieben Uhr morgens sowieso kein Verkehr. Wer zum Henker hat hier draußen schon etwas zu suchen? Ehrlich gesagt bin ich noch nie hier gewesen. Sahara wird die Gegend genannt. Sicher nicht ohne Grund.«

»Ich bin ein einziges Mal hier draußen gewesen, zum Angeln mit meinem Sohn, aber das ist lange her«, sagte Nina. »Oh doch, ein bisschen was ist hier schon los. Vesterhavsral, die Kieshandlung, hat ja Kunden. Der eine oder andere Lastwagen kommt hier vorbei. Außerdem gibt’s doch auch die Schrottlaster der Recyclingfirma, oder?«

»Sequenzen«, murmelte Thøgersen und sah sich um. »Der Ablauf kann in Sequenzen eingeteilt werden. Es ist entweder früher Morgen, später Abend – oder Nacht. Jemand will die Leiche loswerden. Und eine Leiche ist wie ein Sack Kartoffeln, praktisch unmöglich zu handhaben. Erste Sequenz: Der Wagen wird dicht an der Mauer geparkt, genau hier. Zweite Sequenz: Raus aus dem Auto, über die Mauer. Es gibt nämlich Spuren am Beton. Dritte Sequenz: Rauf in die Kohlenhalde und die Leiche bedecken.«

Niemand wunderte sich darüber, dass Thøgersen Selbstgespräche führte. Sie hatten sich daran gewöhnt. Er zerteilte alles in Sequenzen und nummerierte die Bruchstücke. Sein systematisches Gehirn hatte die Kapazität einer vollautomatischen Verpackungsanlage.

»Eine von vielen Möglichkeiten, Thøgersen. Er kann auch hier draußen umgebracht worden sein«, brummte Birkedal.

Madsen starrte auf die sonderbare Mondlandschaft mit ihren spitzen kleinen Gipfeln aus Kies und Splitt.

»Nicht gerade der beste Ort der Welt, um nach einem möglichen Tatort zu suchen. Wer hat die Leitung bei denen aus Kolding?«

Birkedal zuckte die Achseln. »Es klang, als könnte es Simonsen sein.«

»Das wäre nicht schlecht. Er ist der Beste, den sie haben. Meiner Meinung nach.«

Auf Madsens Gesicht spiegelte sich ein gewisser Optimismus. Für einen schweigsamen Morgenmuffel hatte er bereits erstaunlich viel gesagt. Wo würde das noch hinführen?

»Wo ist Ulbæk?«, erkundigte sich Thøgersen.

»Ulbæk? Richtig, wo bleibt er? Ich habe ihn kurz nach euch angerufen.« Birkedal sah sich mürrisch um. Kein Auto in Sicht.

Polizeikommissar Johnny Ulbæk war ein ordentlicher Familienvater. Korrekt, engagiert, immer sorgfältig rasiert und gepflegt – und in etwa so aufregend wie das Telefonbuch. Außerdem war er Ninas Mentor bei der Fortbildung. Sorgfältig, pedantisch und ein bisschen zu fürsorglich. Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, zu spät zu kommen.

»Da kommt er!«, rief Monberg.

Ein silberfarbener Kombi tauchte auf, als hätte ihn Birkedals biestiges Brummen gerufen. Ulbæk fuhr offensichtlich mit seinem schlechten Gewissen um die Wette. Dann bremste er abrupt, schwang sich aus dem Wagen und lief auf sie zu.

»Sorry!«, rief er schon von Weitem. »Es war einfach irrsinnig hektisch heute Morgen … Laut Wochenplan bin ich nämlich dran, die Kinder abzuliefern, also mussten wir alles umstellen, und meine Frau hat übernommen.«

»Wochenplan?«, meinte Thøgersen fragend.

Ulbæk nickte, als ginge es um die natürlichste Sache der Welt.

»Ja, wir haben so ein großes Whiteboard bei uns in der Küche. Darauf verteilen wir die Aufgaben, die im Lauf der Woche anfallen. Wer bringt die Kinder, wer holt sie ab, die Fahrerei zum Sport, Pausenbrote, Einkäufe – na ja, also alles. Ungeheuer praktische Einrichtung.«

Thøgersen machte ein verwundertes und beeindrucktes Gesicht. Hätte er Kinder, wäre Ulbæks System bestimmt sofort von ihm übernommen worden.

»Wochenplan«. Allein dieses kleine Wörtchen zeigte den Abgrund zwischen ihr und ihrem Mentor. Sein Leben war bis ins kleinste Detail durchgeplant. Sie selbst dagegen hatte nie irgendetwas schematisiert. Sie praktizierte eine Art verfeinertes Tag-für-Tag-Chaos.

 

Kurz vor halb sieben erschienen die Beamten der kriminaltechnischen Abteilung aus Kolding. Es waren drei Techniker, wie erhofft unter der Leitung von Simonsen. Sie stellten eine Leiter an die Mauer, stiegen in die Kohlen und fingen an, den Fundort und die Leiche zu untersuchen und zu fotografieren. Einer von ihnen maß die Temperatur des Toten, der Kohlenhalde und der Luft. Reine Routine. Daten, die den Rechtsmedizinern helfen konnten herauszufinden, wie lange die Leiche dort gelegen hatte.

Birkedal trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Papiere? Gibt es Papiere?«, schrie er zu den Technikern hinauf.

Simonsen hob den Kopf und schaute über den Brillenrand gereizt zu ihnen herab, ehe er mit der Untersuchung fortfuhr. Erst nach einigen Minuten richtete er sich auf und schrie zurück: »Keine Papiere. Keine Brieftasche. Leere Taschen.«

Birkedal wirkte irritiert. »Verdammt noch mal.«

»Das sieht mir nach Messerstichen in den Brustkorb aus«, schrie Simonsen. »Aber das Gesicht ist okay, du bekommst ein hübsches Foto.«

Madsen seufzte tief. Nina zündete sich eine Zigarette an. Ein Tötungsdelikt, bei dem es einen Namen gab, war etwas ganz anderes als ein Opfer ohne Identität.

Ein Zivilfahrzeug fuhr auf die Absperrung zu. Vermutlich war es jemand vom rechtsmedizinischen Institut in Århus. Zu ihrer Überraschung sah Nina, dass in dem Auto zwei Personen saßen.

Bei der Fahrerin handelte es sich um eine jüngere, blonde Frau, die niemand von ihnen kannte. Als Erster stieg der stellvertretende staatliche Pathologe Kjeld Borre aus.

Die Frau stellte sich lächelnd als Anja Poulsen vor und erklärte, dass sie noch nicht besonders lange dabei sei.

Kjeld Borre nickte zur Kohlenhalde hinauf und bemerkte: »Lange her, dass ich zuletzt in Esbjerg war … Ein bisschen ungewöhnlich, was du heute für uns hast, Birkedal, oder?«

»Das ist wahr. Leichen liegen an den merkwürdigsten Stellen, aber da oben? So was habe ich noch nicht gesehen.«

»Hallo, Simonsen! Dürfen wir?«, rief Anja Poulsen und winkte den Männern in Weiß zu.

»Anja! Du schon wieder? Gib uns noch fünf Minuten, dann könnt ihr an Bord!«, schrie er zurück.

Simonsen und Anja Poulsen kannten sich also. Die junge Frau musste gut sein. Das hatte Nina an Simonsens herzlichem Tonfall gehört. Simonsen verhielt sich nur Menschen gegenüber herzlich, von denen er wusste, dass sie ihr Handwerk verstanden.

Sie beobachtete die beiden Rechtsmediziner, die sich gerade umzogen. Sie gaben ein lustiges Paar ab. Borre war ein gepflegter, älterer Herr, der auf den ersten Blick ein wenig reserviert wirkte. Nina war ihm ein paarmal bei früheren Fällen begegnet und hatte schon mal einen Vortrag von ihm gehört. Einen sehr unterhaltsamen sogar. Mit glühender Leidenschaft für sein Fachgebiet.

Sie bemerkte, wie Monberg Anja Poulsen anstarrte. Sicher nicht ohne Grund. Sie sah aus, als sei sie Mitte dreißig. Eine schlanke und elegante Frau in engen Jeans, mit rotlackierten Nägeln und einem passenden Lippenstift. Sie war braungebrannt und hatte langes, blondes Haar, das im Nacken von einer Silberspange zusammengehalten wurde.

So leicht ließen sich Vorurteile widerlegen. Borre und Anja Poulsen hatten beide so gar nichts von der verbreiteten Vorstellung des Rechtsmediziners als eines bleichen, morbiden Typs, der sich in gekachelten Katakomben am wohlsten fühlt.

Monberg glotzte hemmungslos weiter, trotz seiner ausgesprochen hübschen und aufgeweckten Frisörin. Es blieb ein Mysterium, wie er sie damals herumgekriegt hatte. Gut, er hatte ein sympathisches, jungenhaftes Lächeln, einen naiven Blick aus blauen Augen und kräftige Oberarme, aber die Muskeln zwischen den Ohren wirkten eher etwas verkümmert, und die Anzahl der Bücher, die Monberg gelesen hatte, konnte von einem Mann an einer Hand abgezählt werden, der zu lange im Sägewerk gearbeitet hatte.

Sobald die beiden Rechtsmediziner wieder auftauchten, bekamen sie von Simonsen grünes Licht. Sie kletterten über die Mauer und arbeiteten sich in der lockeren Kohle nach oben.

Nina registrierte, dass Borre sich zurückhielt und seine unerfahrene neue Kollegin anleitete.

Es verging einige Zeit, bis sie sich zu den vier Beamten auf der Straße umdrehte.

»Messerstiche! Zwei Stück, mitten ins Uhrwerk. Vermutlich von der tödlichen Sorte. Und mindestens ein ordentlicher Schlag in den Nacken.«

Birkedals Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen, möglicherweise wegen der respektlosen Wortwahl.

»Wie lange ist er schon tot?«, brüllte er.

»Drei, vier Tage. Ungefähr!«

»Danke!«

Birkedal nickte erneut. Jetzt lächelte er breit zu der jungen Rechtsmedizinerin hinauf, als hätte er plötzlich entschieden, sie zu mögen.

»Wir haben es also mit Mord oder Totschlag zu tun, Leute, auf unzweideutige Weise bekräftigt durch die Sachkenntnis aus Århus. Ich fahre jetzt ins Präsidium. Thøger und Ulbæk, ihr kommt mit. Die richterliche Genehmigung fürs Telefonnetz, Ulbæk … das übernimmst du.«

Mobiltelefone waren zum wichtigsten Beweismittel überhaupt geworden. Die Handyverbindungen in der Nähe eines Tatorts wurden immer überprüft. Auf diese Weise hatten sie die Daten zur Hand, wenn sie im Lauf der Ermittlungen auf relevante Nummern stoßen sollten. Alle quasselten in ihre Handys, auch die Täter.

Birkedal deutete auf Nina. »Sorgst du für die Absperrungen, Portland?«

»Wie großflächig willst du sie haben?«

»Sperr die schmale Straße am Terrorzaun ab und den Taurusvej hundert Meter weiter unten. Monberg und Madsen, ihr seht euch um. Fragt diejenigen, die so aussehen, als hätten sie hier zu tun. Und fragt nach, wenn irgendjemand auftaucht und hierherwill. Ich denke an Vesterhavsral und die Recyclingfirma da drüben. Nina, du kannst noch das Kraftwerk übernehmen. Wir müssen herausfinden, ob es theoretisch möglich ist, dass die Leiche von einem Transportband gefallen sein könnte.«

Sie nickte und schaute in den hellen Morgenhimmel. Ein überdachtes Förderband verlief über dem eingezäunten Gelände mit den Kohlenhalden, dazwischen ragte ein Kran über den schwarzen Bergen auf.

»Glaubst du, der Kohlenmann könnte vom Himmel gefallen sein? Ein Art Direktimport?«

»Ich glaube gar nichts. Glauben gehört in die Kirche. Überprüf es einfach!«

Auch wenn Erik Birkedal sie manchmal kurz abfertigte, mochte er sie. Das wusste sie. Nicht, dass er sie öfter gelobt hätte. Die Zuneigung zeigte sich eher darin, dass er ihr die vertraulichen Aufgaben zuteilte. Außerdem arbeitete sie durch ihren »Nebenjob« als Kontaktperson zum Nachrichtendienst der Polizei enger mit dem Chef zusammen als die meisten anderen. Und sie mochte ihn auch, mit all seinen guten und schlechten Seiten. Seine struppige Löwenmähne, seinen strengen Mund und die kurzen zerstreuten Beiträge im Lauf einer Ermittlung, aus denen sie schloss, dass seine Kraft in eine geradezu übermenschliche Konzentration floss.

Birkedal war siebenundfünfzig und hatte glücklicherweise noch ein paar Dienstjahre vor sich. Er hatte sie mehrfach aufgefordert, ja gedrängt, mit der Weiterbildung zum höheren Dienst zu beginnen. Aber jetzt ging es erst mal um die Absperrung.

Nina telefonierte mit dem Präsidium und forderte einen Streifenwagen an. Sobald Birkedal verschwunden war, rief sie zu Hause an. Jonas nahm sofort ab.

»Hallo, Schatz, ich wollte nur sehen, ob du aus den Federn gekommen bist.«

»Immer mit der Ruhe, Mama. Ich hab alles im Griff. Sitze gerade beim Frühstück.«

»Ich gehe davon aus, dass du zurechtkommst, oder? Ich bin möglicherweise erst spät zu Hause. Wenn du nett bist, erledigst du die Hausaufgaben schon heute Nachmittag. Dann können wir uns einen gemütlichen Abend machen.«

»Okay. Was ist eigentlich los?«

»Wir haben einen toten Mann in einer Kohlenhalde am Kraftwerk gefunden.«

»Komische Stelle … Ist der Mann ermordet worden?«

»Ja, aber wir reden heute Abend weiter, okay?«

Jonas kam jetzt in das Alter, wo er alles genau wissen wollte und sich nicht mehr mit oberflächlichen Erklärungen über ihre Arbeit abspeisen ließ. Während des Abendessens würde er sie mit Fragen bombardieren.

Es war erst kurz vor halb acht. Noch zu früh, um sich Hoffnungen zu machen, den Direktor des Esbjergwerks anzutreffen. Der letzte Kriminaltechniker kletterte die Leiter herunter und gesellte sich zu Simonsen und seinen Kollegen, die mit einer Thermoskanne Kaffee dastanden. Sie hatten die Untersuchung des Fundorts abgeschlossen und DNA-Proben genommen. Jetzt würde die Umgebung abgesucht – nach Fußspuren, Reifenabdrücken, Blutspuren. Am allerwichtigsten war, den möglichen Tatort ausfindig zu machen.

Madsen und Monberg gingen mit einem Mann über das Gelände, der an der Absperrung geparkt und sich als Werkführer bei Vesterhavsral vorgestellt hatte.

Nina versuchte, sich die Szene vorzustellen. Wenn die Leiche nicht von einem Transportband gefallen war, dann hatte man sie auf die Kohlenhalde geworfen mit der Absicht, den Körper zu verstecken, jedenfalls für eine bestimmte Zeit. Also musste die Leiche mit einem Auto hierhergebracht worden sein. Man hatte sie über den Asphalt geschleppt, über die Mauer gehoben, den Kohlenberg hinaufgezogen und dann zugedeckt.

Wegen des Blutflecks auf dem Hemd würde es Spuren geben. Das menschliche Auge konnte sie nur nicht sehen. Die Techniker würden Pulver auf die Mauer, den Asphalt und das Gras des Seitenstreifens sprühen. Und bei Dunkelheit leuchteten die Blutspuren dann wie Sterne unter ihren Speziallampen.

Vielleicht würden sie hier in der Nähe auf den Tatort stoßen. Ohne Tatort zu arbeiten, war, als würde man ein Buch irgendwo aufschlagen und anfangen zu lesen, nachdem die Handlung sich schon über mehrere Kapitel entwickelt hatte.

Jetzt sah Nina auf dem Taurusvej den Streifenwagen, der für die Absperrung sorgen sollte. Sie winkte und ging ihm entgegen.

 

Der Mann mit dem grünen Jägerhut verhielt sich äußerst vorsichtig. Er hielt genau dort, wo der Wagen hinter einer Anhöhe versteckt war.

War es denkbar, dass die plötzliche Hektik im Polizeipräsidium damit zusammenhing, dass sie den zweiten der beiden ermordeten Männer gefunden hatten? Der für ihn bisher unauffindbar geblieben war? Er hoffte es. Es würde die ganze Angelegenheit voranbringen.

Seit den frühen Morgenstunden war er ziellos in Esbjerg umhergefahren und hatte Ausschau nach dem dänischen Kontaktmann gehalten, der wie vom Erdboden verschluckt war. Sein Verschwinden und der Tod der beiden Männer hatten das Ganze außerordentlich kompliziert werden lassen. Und diese brütende Hitze der letzten Tage hatte es nicht besser gemacht. Er fühlte sich nicht wohl bei derartigen Temperaturen. Zum Glück war das Wetter umgeschlagen.

Es hing wohl mit seiner jahrelangen Erfahrung zusammen, dass er schließlich am Polizeipräsidium geparkt hatte. Es hatte sich immer als großer Vorteil erwiesen, zu wissen, wer an den Ermittlungen beteiligt war. Und vielleicht würde ja irgendetwas passieren?

Er griff zu seinem Fernglas und stieg mit einiger Mühe aus. Seine alten Beine schmerzten nach so vielen Stunden im Auto. Zwei Personen standen am rot-weißen Kunststoffband, das sich quer über die Straße zog. Ein Mann in Uniform und eine Frau in einer schwarzen Lederjacke und blauen Jeans. Er betrachtete sie etwas länger. Eine schöne Frau. Ein feines, markantes Gesicht mit regelmäßigen Zügen, einer geraden Nase und einem entschlossenen Zug um den Mund, außerdem eine angenehm aufrechte Haltung. Ihr blondes Haar hatte einen leicht rötlichen Schimmer, sie trug es nach hinten gebürstet und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Frau strahlte Energie aus. Sie gestikulierte und erklärte dem Mann irgendetwas.

Ein Stück weiter oben, auf dem schwarzen Berg, sah er zwei Gestalten in weißen Overalls, ein Mann und eine Frau. Die Rechtsmediziner bei der Arbeit mitten in der Kohlenhalde. Die Frau lag auf den Knien, vornübergebeugt. Ja, es handelte sich um eine Leiche.

Er blieb mit erhobenem Fernglas stehen. Es gab keinen Zweifel. Es musste der Ort eines Verbrechens sein, oder in der Terminologie der Polizei ein »Fundort«. Im Moment wussten sie ja noch nicht, ob man den Mann tatsächlich dort oben in den Kohlen getötet hatte. Die Zeitungen würden ihm den Rest erzählen. Als Deutscher, der viele Jahre lang in den Diensten verschiedenster Nationen gestanden hatte, verstand er glücklicherweise genug von den skandinavischen Sprachen, um den Inhalt eines dänischen Zeitungsartikels zu begreifen.

Wenn sich herausstellte, dass der Tote einer der beiden Männer war, die in Blåvand ermordet worden waren, wann würde die Polizei wohl die andere Leiche finden? Die, die er selbst gesehen hatte, durch das Fenster des Ferienhauses, das die beiden Männer für ihren Aufenthalt in Dänemark als Basis gemietet hatten. Er stieg ins Auto und fuhr weiter. Für den Augenblick hatte er genug gesehen. Es galt, vorsichtig zu sein. Er beschloss, auf einen abgelegenen Parkplatz zu fahren und eine Weile zu schlafen. Danach würde er seine Suche nach dem verschwundenen Dänen fortsetzen, der die Ware bei den beiden Männern hätte abliefern sollen, aber in Panik geraten war.

Es würde eine langwierige Suche werden, und er hatte das Gefühl, dass sie ihn gefährlich dicht an seine unbekannten Gegner heranführte – die Täter. Wenn er selbst den Dänen nicht fand, musste er sich wie ein Blutegel an seinen Feinden festsaugen und sie die Arbeit erledigen lassen. Alternativ konnte er der dänischen Polizei auf den Fersen bleiben, falls Bewegung in die Ermittlungen kommen sollte.

Früher oder später musste der Däne ja wieder an der Oberfläche auftauchen.

 

Ninas Treffen mit dem Chef des Kraftwerks war ziemlich kurz. Der dänische Sommer ging zu Ende – und damit eine Periode mit eher niedrigem Stromverbrauch. Am Kai des Werks hatte schon seit geraumer Zeit kein Kohleschiff mehr festgemacht. Also konnte die Leiche nicht über das Förderband von der Seeseite her gekommen sein. Sie bat den Direktor um eine Liste der Angestellten, die an den letzten sechs Tagen gearbeitet hatten. Möglicherweise hatten sie irgendetwas beobachtet.

Die Techniker hatten den Fundort verlassen, als sie dorthin zurückkehrte. Die Leiche lag noch immer auf der Kohlenhalde. Auf der Suche nach eventuellen Spuren würde die gesamte Kohle mit der Schaufel abgetragen werden müssen.

Madsen und Monberg standen drüben beim Wagen der Rechtsmediziner. Nina gesellte sich zu ihnen. Anja Poulsen lehnte am Auto und rauchte eine Zigarette. Sie hatte den Overall ausgezogen, trug aber noch immer die hellblauen Plastiküberzieher über den Schuhen. Kjeld Borre machte Dehnübungen am Kofferraum.

»Ich habe einen Krankenwagen angefordert, um die Leiche abtransportieren zu lassen«, sagte Monberg.

»Ja, wir sind fertig«, bestätigte Anja Poulsen. »Der Rest muss warten.«

»Wann fängst du an – vorausgesetzt, du übernimmst die Obduktion?«

»Ich übernehme sie – zusammen mit Borre natürlich. Wir beginnen heute Nachmittag. Die aus Kolding wollen uns einen Fotografen schicken. Er kann aber erst gegen zwölf hier sein.«

»Ich denke, ich sollte dabei sein«, schlug Nina den Rechtsmedizinern und ihren beiden Kollegen vor.

Madsen nickte und zündete sich seine Pfeife an. »Gute Idee, Nina.«

Normalerweise war die Polizei bei Obduktionen nicht anwesend, aber es gab Ausnahmen. Im Augenblick benötigten sie sämtliche Informationen, die sie bekommen konnten – und zwar umgehend. Sie konnten nicht den endgültigen Bericht abwarten, der erst gegen Abend fertig sein würde. Nina würde von Århus aus anrufen und das Team auf dem Laufenden halten. Auf diese Weise gewannen sie kostbare Zeit.

»Herzlich willkommen«, sagte Anja Poulsen.

»Und das vorläufige Ergebnis? Messerstiche und ein Todeszeitpunkt vor zirka drei Tagen?«

»Ja. Zwei Messerstiche in die Herzregion. Keine Totenstarre, also hat die Leiche ungefähr drei Tage dort gelegen, wenn der Rigor Mortis nicht bei einem eventuellen Transport unterbrochen wurde. Ich habe ein paar Hemdknöpfe geöffnet. Verfärbungen im Bauchbereich, Blasen auf der Haut, Leichenflecken. Aber das muss noch warten, bis wir den Burschen auf dem Tisch haben und er sich für uns freigemacht hat. Wir müssen sehen, dass wir loskommen. Bis später.«

Sie gaben sich die Hand. Nina mochte Anja Poulsens zwanglose und zupackende Art.

Sie hatte Lust, die zweite Zigarette des Tages zu rauchen, aber vielleicht konnte sie noch etwas ausharren. Schließlich ging sie davon aus, dass nach der Obduktion eine Zigarette notwendig sein würde. Obwohl sie schon ein paar Male dabei gewesen war, schätzte sie scharfe Werkzeuge in Verbindung mit toten Körpern nicht besonders.

»He, Nina, hast du mit dem Chef abgesprochen, dass du nach Århus fährst?« Monberg sah sie fragend an.

»Nein, wieso?«

»Vielleicht ist er ja anderer Ansicht, wer weiß? Wir brauchen schließlich alle Kräfte vor Ort.«

»Ach was. Natürlich ist es sinnvoll, dass ich fahre. Im Moment haben wir hier nichts. Wir verlieren nur Zeit.«

»Wir wissen nicht, ob die Techniker im Lauf des Tages noch was finden.«

»Und selbst wenn, müssen wir diesen Fall zügig aufklären, oder? Ich werde nicht jedes Mal um Erlaubnis fragen. Wir sind doch nicht im Kindergarten.«

»Oh, tut mir leid, aber ich bin ja auch kein Anwärter für Führungsaufgaben …«

»Nein, und ich habe dein saublödes Gerede satt, Monberg. Du hast deine acht Jahre voll, also kannst du dich auch einfach bei der Fortbildung anmelden, wenn dich das so reizt!«

Monberg erwiderte nichts, sondern starrte nur schweigend vor sich hin.

»Nina hat recht«, entschied Madsen, nachdem er die Spannung zwischen Nina und Monberg einen Moment lang genossen hatte. »Wir brauchen so schnell wie möglich festen Boden unter den Füßen. Und darum benötigen wir die Informationen aus Århus sofort. Ich gebe Birkedal Bescheid, wenn wir zurückkommen, Nina.«

»Gut. Dann nehme ich jetzt den Wagen. Wir sehen uns spätestens morgen früh, okay?«

Sie setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. Während sie die Straße hinunterrollte, konnte sie die beiden im Rückspiegel sehen. Monberg blickte ihr böse nach, die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben. Alles wie immer …

 

Sie zog sich die Maske vom Gesicht, sobald sie in den Hinterhof der Rechtsmedizin trat, deren betagtes Gebäude eingeklemmt im großen Komplex des Städtischen Krankenhauses von Århus lag. Die frische Luft tat gut nach der ersten Stunde im süßlichen Gestank des Obduktionssaals.

Eine vermummte Anja Poulsen hatte unter fachkundiger Anleitung von Borre konzentriert an der Leiche gearbeitet, wobei sie in regelmäßigen Abständen ihre Beobachtungen in ein Diktaphon gesprochen hatte. Bisher gab es noch keine sensationellen Entdeckungen, aber immerhin einige wichtige und verwertbare Informationen. Besser, sie rief Birkedal an.

Das Telefon klingelte ein paarmal, bevor jemand am anderen Ende abnahm.

»Nina Portland hier, ich rufe aus der Rechtsmedizin an.«

»Das höre ich. Und was gibt’s, Nina?«

Das war einer der unsichtbaren Tricks ihres Chefs. Wenn sie unter vier Augen waren, nannte er sie beim Vornamen. Aber nur, wenn er gute Laune hatte – und zufrieden war. Und so lag durchaus eine Bestätigung in den vier Buchstaben N-i-n-a – ihre Entscheidung, bei der Obduktion dabei zu sein, war korrekt gewesen.

»Vorläufig nur die endgültige Bestätigung. Zwei Messerstiche in die Herzregion, dünne Klinge, nur eine Abwehrläsion, und am rechten Unterarm eine lange Schramme … Alter zwischen fünfzig und fünfundfünfzig Jahren.«

»Wir suchen also nach einer Stichwaffe. Irgendwas Stilettartiges?«

»Jedenfalls eine schmale Klinge. Die Einstiche sind nur einen Zentimeter breit. Nicht von der Sorte, die wir normalerweise zu Gesicht bekommen.«

»Und der Zeitpunkt?«

»Unverändert. Drei, maximal vier Tage.«

»Hm, das heißt Donnerstag oder Freitag. Sonst noch etwas?«

»Gebrochene Nase und ein Riss an der Augenbraue. Er hat ziemlich kräftige Schläge auf den Kopf bekommen. Und was ich über den Blitz gesagt habe … Das stimmt vermutlich haargenau. Es gibt Verbrennungen am rechten Arm und am rechten Bein, aber nur dort. Vermutlich, weil ein Blitz die Kohlen kurz entzündet hat. Dann wurde die Glut wieder gelöscht, es regnete ja in Strömen. Ich habe selbst auf dem Balkon gestanden und mir das Gewitter angesehen. Seid ihr weitergekommen?«

»Nein. Kolding hat nichts gefunden, aber sie bleiben dran und untersuchen, ob es Blutspuren gibt, wenn es dunkler ist.«

»Und die Hunde?«

»Auch nichts.«

»Das klingt nicht gut … Ich bleibe hier, bis sie fertig sind. Du hörst von mir. Ist heute Abend noch Besprechung oder erst morgen früh?«

»So, wie es jetzt aussieht, erst morgen. Ich habe den Termin eine Stunde vorverlegt, auf sieben Uhr.«

»Okay, bis dann.«

Eigentlich musste sie zurück in den Obduktionssaal, aber sie überlegte es sich anders. Sie brauchte frische Luft und eine Zigarette im Hof. Nur fünf Minuten.

Zehn Minuten, vielleicht eine Viertelstunde waren vergangen, als sie in den Obduktionssaal zurückkehrte. Anja Poulsen beugte sich über die Leiche des Kohlenmanns, während Borre und ein Assistent verschiedene Proben nahmen und sie in kleinen Gläsern ablegten.

»Rauchpause?« Die junge Rechtsmedizinerin blickte auf.

»Ja. Eigentlich versuche ich aufzuhören.«

»Es hilft, wenn du dir einmal ein paar ordentliche Raucherlungen von innen ansiehst – garantiert. Ich bin jetzt bei vier am Tag. Wir haben übrigens ein Röntgenbild von der rechten Hand des Burschen gemacht. Keine fehlerhafte Stellung der Finger. Die Mumifizierung macht es nicht gerade einfacher, aber … die Fingerknochen haben während der Untersuchung so merkwürdige Geräusche gemacht. Die Bilder müssen jeden Moment kommen.«

»Sonst noch was?«

»Nee, bisher nicht …«

Anja Poulsen entnahm konzentriert Proben unter den Fingernägeln. Plötzlich unterbrach sie sich mitten in der Bewegung, stellte ein kleines Glas ab, hob den verbrannten rechten Arm der Leiche und studierte ihn eingehend.

»Borre!«, rief sie. »Schau mal hier, oberhalb der Verbrennungen! Wir haben beim ersten Mal etwas übersehen.«

Er trat zu ihr und studierte den rechten Unterarm der Leiche aus wenigen Zentimetern Abstand. »… oder?« Anja Poulsen sah ihren Kollegen fragend an.

»Ja. Wie konnten wir das übersehen?«

In diesem Augenblick kam ein junger Mann in einem Kittel zur Tür herein und schwenkte eifrig ein Röntgenbild. »Hättet ihr damit gerechnet? Gleich drei Stück auf einmal, Mann!«

Borre hob langsam den Kopf. Er sah sie mit einem ernsten Blick an. »Du rufst besser noch einmal deinen Chef an, Nina. Sofort.«

3

Die Fahrt von Århus nach Hause fühlte sich kurz an. Auf der Autobahn hatte Nina den Fall noch einmal so konzentriert mit sich selbst diskutiert, dass nicht einmal der traditionelle Stau an der Brücke über den Vejlefjord sie irritieren konnte. Sie bekam den Kohlenmann nicht aus dem Kopf.

Birkedal hatte es kurz die Sprache verschlagen, als sie ein zweites Mal aus der Rechtsmedizin angerufen und ihm die neuesten Erkenntnisse mitgeteilt hatte.

»Folter? Das ist ja unglaublich, Nina …«

Es war tatsächlich – unglaublich. Die Verletzungen rückten einiges in ein neues Licht.

Auf dem rechten Unterarm des Kohlenmanns befand sich eine kreisförmige Verbrennung von der Größe einer Fünfkronenmünze. Vermutlich hatte ihm jemand ein Streichholz oder ein Feuerzeug an den Unterarm gehalten. Sowohl Anja als auch Borre hatten es zunächst übersehen, weil die Verbrennung sich genau in dem Bereich befand, wo der Mann auf den glühenden Kohlen gelegen hatte. Außerdem breitete sich die Abwehrläsion an beinahe derselben Stelle aus.

Und dem Mosaik wurde noch ein weiteres Steinchen hinzugefügt, als der Assistent das Röntgenbild brachte. Drei Finger der rechten Hand waren gebrochen. Direkt an der Handwurzel. Nur der kleine Finger und der Daumen waren intakt.

Birkedal hatte die Nachricht am anderen Ende der Leitung mit einem unheilverkündenden Schweigen aufgenommen. »Das ist ja unglaublich, Nina«, kam dann, mürrisch und nachdenklich.

Wenn es sich beim Täter nicht gerade um einen Sadisten handelte, war der Fall relativ klar: Man foltert jemanden, um etwas von ihm zu erfahren. Das brachte sie in ihren Ermittlungen nicht unmittelbar weiter, aber es lüftete einen Zipfel des schweren Bühnenvorhangs, der sie vorläufig daran hinderte, irgendetwas zu erkennen.

Am nächsten Tag würde sie sich beim Briefing einen Überblick über die Situation verschaffen. Birkedal hatte zehn bis zwölf Leute auf den Fall angesetzt – ein Drittel der gesamten Belegschaft.

Sie sah auf ihre Uhr. Es war acht, als sie den Dienstwagen bei sich zu Hause im Hinterhof abstellte. Sie winkte den Leuten im kleinen Laden nebenan zu. Seit einigen Tagen brannte dort abends wieder Licht. Im Wochenblatt hatte sie gelesen, dass ein Obst- und Gemüseladen eröffnet wurde. Bei den neuen Mietern handelte es sich allem Anschein nach um Iraker.

Sie dachte an das Abendessen. Wo war der gute alte Zlatan, wenn man ihn und sein ausgezeichnetes Junkfood am meisten brauchte? Nach der Geschichte mit dem Axtschiff, die für ihn und seine Familie beinahe übel ausgegangen wäre, hatte der nette Bosnier seinen Laden aufgegeben und war nach Kopenhagen gezogen. Es war noch gar nicht lange her, kam Nina aber vor wie eine Ewigkeit.

Nina legte die Unterlagen zum Thema Führung beiseite und gähnte laut und herzhaft. Situationsabhängige Führung. War das nicht einfach ein Begriff dieser blöden Kursleiter, der nichts anderes besagte, als dass eine Führungspersönlichkeit natürlich unterschiedlich aufzutreten hatte, je nachdem, in welcher Situation sie sich befand?

Es war genauso gekommen, wie sie erwartet hatte. Jonas hatte sie bei ihrem späten Abendessen über die Leiche auf der Kohlenhalde ausgefragt, als würde er ein Verhör leiten. Sie hatte ihm genau so viel erzählt, wie er ihrer Ansicht nach wissen durfte, und genug, damit er mit seinem Bombardement von Fragen aufhörte.

Sie schaltete den Fernseher an und zappte ein bisschen durch die über dreißig Kanäle, gab aber bald wieder auf. So etwas nannte man wohl ein waschechtes Ablenkungsmanöver. Sie schielte zu dem Papierstapel mit der unerledigten Aufgabe. Ihre Augenlider fühlten sich an wie Jalousien, die sich nur in eine Richtung ziehen ließen – nach unten.

 

Der Kaffee war stark, glücklicherweise. Nina hielt ihren Becher mit einem Motiv des Städtchens Sønderho in der Hand und wartete darauf, dass sich endlich auch der letzte Kollege im Besprechungsraum einfand.

Sie versuchte, etwas abzuschütteln – das Gefühl, von dem Moment an beobachtet worden zu sein, als sie aus der Haustür trat und sich aufs Fahrrad schwang. Erst als sie ein Stück die Kirkegade entlanggefahren war, war ihr dieses Gefühl bewusst geworden. Und erst von da an hatte sie sich immer wieder umgesehen.

Alles schien normal. Alles sah aus, wie es an einem frühen Morgen auszusehen hatte. Die Leute hasteten zur Arbeit, die Kinder waren auf dem Weg zur Schule. Ein Mann, der sich das Schaufenster eines Computerladens ansah. Ein schwarzes Auto, das in die Nørregade bog, sich also von ihr entfernte. Aber … war nicht auch ein schwarzes Auto an ihr vorbeigefahren, als sie im Hof des Präsidiums mit dem Fahrradschloss hantierte? Vielleicht. Auf jeden Fall gab es viele schwarze Autos.

Sie vergaß ihr merkwürdiges Gefühl und sah sich im Raum um. Frisch rasiert, machte Ulbæk sich eifrig Notizen. Madsen sah aus, als würde er eine unsichtbare Pfeife halten. Thøgersen trug das gleiche Sweatshirt wie am Tag zuvor.

Unter den Anwesenden registrierte Nina Vertreter der Sektion N. Das bedeutete, dass auch die entlegensten Ecken des Netzes aufgeribbelt werden sollten – sogar von der Drogenfahndung. Im Übrigen kümmerte sich die Sektion N um Abhörmöglichkeiten. Im kriminellen Milieu wurde ja gern geredet, manchmal redete man auch über die eigene Person, und außerdem interessierte man sich immer für die Verbrechen der Kollegen. So bekamen sie manchmal Hinweise, die Fälle betrafen, die mit der eigentlichen Abhörmaßnahme gar nichts zu tun hatten.

Die Uhr zeigte vier Minuten vor sieben. Birkedal trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Er schien ein Uhrwerk in sich zu tragen und wollte pünktlich beginnen.

Sie hatte gerade noch Zeit gehabt, einen Blick in die Lokalzeitung ›JydskeVestkysten‹ zu werfen, bevor sie losfuhr. »Mysteriöser Leichenfund auf Kohlenhalde« oder irgendwas in der Art lautete die Schlagzeile auf der Frontseite. Wenn man genau las, merkte man, dass die Zeitung nicht viel wusste.

Birkedal hatte der Presse kurz und knapp erklärt, dass die Polizei derzeit keinerlei weiterführende Erkenntnisse habe. Konfrontiert mit der unseriösen Information eines Journalisten, dass die Leiche zerteilt und enthauptet aufgefunden worden sei, hatte er bloß erwidert: »Das ist eine kopflose Behauptung, die ich nicht kommentieren werde.«

Sie schielte auf die Wanduhr. Es war sieben. Birkedal stand auf. Wie immer.

»Guten Morgen. Ihr alle seid mit dem Fall des getöteten Mannes am Kraftwerk betraut. Da wir nicht wissen, wer er ist, nennen wir ihn …«

Birkedals Blick traf sich für eine Sekunde mit ihrem.

»Tja … lasst ihn uns den Kohlenmann nennen. Und jetzt zum Stand der Ermittlungen: Die Leiche wurde gestern frühmorgens von einem körperbehinderten Mann entdeckt, der seine Angeltasche beim Kraftwerk suchte, die er am Abend zuvor während des heftigen Unwetters verloren hatte, also am Sonntag. Der Wachhabende nahm seinen Anruf um 5:22 Uhr entgegen. Die Leiche wurde in einer Kohlenhalde gefunden, nahe der Mauer, die das Gelände umgibt, einige Meter über dem Erdboden. Der Kopf, ein Teil des Oberkörpers und ein Arm ragten heraus. Vermutlich hat ein Blitz …«

Die Tür des Besprechungsraums wurde vorsichtig geöffnet, Monberg schlich herein und setzte sich auf den erstbesten Stuhl. Birkedal taxierte ihn über den Rand seiner Lesebrille mit einem eiskalten Blick.

»Tut mir leid, dass ich mich verspäte, aber der Kleine ist krank, und ich musste bleiben, bis meine Frau …«

Birkedal hob eine Löwentatze, und Monberg schwieg. Nina musste lächeln. Birkedal konnte Schwanzwedeln auf den Tod nicht ausstehen. Es war idiotisch von Monberg, in dieser Situation mit einem längeren Bericht aus seinem Privatleben anfangen zu wollen.

»Also, heute Morgen haben die Techniker uns folgenden Ablauf bestätigt: Ein Blitz ist in der Kohlenhalde eingeschlagen und hat die Leiche zum Vorschein gebracht. Der linke Arm und das linke Bein des Mannes sind verbrannt. Vermutlich haben die Kohlen geglüht wie in einem Grill, bevor der Regen einsetzte. Unsere Techniker prüfen das. Wir haben den Toten bislang nicht identifizieren können. Wir haben noch keinen Hinweis auf den Tatort, aber es wurden Blutspuren auf dem Asphalt, am Seitenstreifen und an der Betonmauer gefunden, der die Halde begrenzt. Das heißt, der Kohlenmann ist in einem Auto dorthin transportiert worden, dann wurde er über die Mauer gehoben und mit Kohle bedeckt. Im Splitt an der Mauer haben wir Fußabdrücke gefunden, außerdem gibt es diverse Reifenspuren im Seitenstreifen.«

Der Polizeiinspektor blätterte in seinen Papieren und fuhr dann konzentriert fort: »Der Einsatz der Hundestaffel blieb leider ergebnislos. Todesursache: zwei tiefe Stiche in die Herzregion. Mordwaffe: eine Stichwaffe mit einer langen und außerordentlich schmalen Klinge. Von besonderem Interesse ist, dass der Kohlenmann vor seinem Tod gefoltert wurde. Am rechten Unterarm des Toten wurden kreisförmige Brandwunden gefunden. Und … jemand hat dem armen Kerl drei Finger der rechten Hand gebrochen. Portland, informierst du uns bitte über die weiteren Ergebnisse aus Århus?«

Nina überflog die Notizen, die sie sich während des Frühstücks am Küchentisch gemacht hatte.

»Alter: zwischen fünfzig und fünfundfünfzig. Herkunft: Naher Osten. Keine besonderen Kennzeichen. Der Kohlenmann hat mehrere kräftige Schläge ins Gesicht erhalten. Ein Vorderzahn wurde ihm ausgeschlagen, eine Augenbraue ist aufgerissen, die Nase gebrochen. Abwehrläsion am rechten Unterarm direkt über der Brandwunde. Es finden sich diverse Hautabschürfungen. Höchstwahrscheinlich rühren einige vom Transport und der rauen Kante der Betonmauer her. Die Leichenflecken zeigen, dass der Mann in den ersten Stunden nach seinem Tod auf dem Rücken lag. Kleidung: eine Jeans, Marke Wrangler, die man überall bekommt. Ein langärmliges Hemd ohne Marke, wahrscheinlich irgendein billiger Mist von einem Flohmarkt. Dasselbe gilt für die Unterhose und die Strümpfe. Schuhe: Freizeitschuhe von Adidas. Und schließlich die Zähne. Laut dem Rechtsodontologen hat das Opfer eine passable zahnärztliche Behandlung genossen – wie es in Europa heutzutage üblich ist.« Sie nickte Birkedal zu. »Das ist alles.«

Der Chef übernahm wieder: »Die bisherigen Daten und Aufnahmen wurden gestern Mittag an die Fahndungsabteilung der Reichspolizei übermittelt. Der Abgleich des Fingerabdrucks mit unseren Datenbanken blieb erfolglos. Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Wir haben keine Ahnung, wer der Kohlenmann ist, woher er kommt und warum das passiert ist, was passiert ist.«

Birkedal setzte sich, legte die Brille weg und massierte sich das Gesicht mit beiden Händen. Dann schaute er auf. »Irgendwelche Fragen?«

Rund um den Tisch herrschte Schweigen.

»Ja, Thøger?«

»Eher eine Ergänzung … Natürlich haben wir alle verhört, die sich in der Umgebung aufhielten. Rentner, Hundebesitzer, das Kraftwerkspersonal und die Angestellten von Vesterhavsral. Ohne jedes Resultat.«

Birkedal nickte. Thøger, den nur der Chef so nennen durfte, war ein treuer Knappe. Nina schätzte den stellvertretenden Chef mit seinem Lockenkopf, der immergleichen Wildlederjacke und dem rostigen Toyota sehr. Er war Mitte fünfzig und mit einer Bankangestellten verheiratet. Aber genau genommen war er mit seinem Job verheiratet.

Thøgersen galt als ein Mann, der niemals aufgab. Knochentrocken, aber herzlich. Wenn er nicht arbeitete, verwendete er seine Zeit auf seine große Sammlung kostbarer historischer Schusswaffen und seinen Posten als zweiter Vorsitzender der waffenhistorischen Gesellschaft. Die vielen Raritäten waren eine plausible Erklärung dafür, dass er immer nur Klamotten trug, die sie aus den Sonderangebotsprospekten der billigen Warenhäuser kannte. Außerdem lief Thøgersen mit dem Enthusiasmus eines Erweckungspredigers Marathon.

Er würde die praktische Leitung des Falles übernehmen. Nina lehnte sich zurück. Es sah nicht sonderlich vielversprechend aus. Sie hatten nichts. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass Monberg sich zu Wort meldete. Jetzt wollte der Schwachkopf den Schaden von vorhin wiedergutmachen.

»Es ist Ende August. Viele Deutsche machen Urlaub, es gibt Tausende von Touristen an der Westküste, alle Ferienhäuser sind vermietet. Na ja, also, es war nur so ein Gedanke …«