Oxen. Pilgrim - Jens Henrik Jensen - E-Book

Oxen. Pilgrim E-Book

Jens Henrik Jensen

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Erst wenn die Schuldigen bestraft sind, findet er Vergebung Oxen hat wochenlange Gefangenschaft und grausame Kämpfe in den Katakomben überlebt, aber er ist nicht mehr derselbe. Zum ersten Mal hat er getötet, um zu leben. Um Abstand zu gewinnen und seine Taten zu sühnen, begibt er sich auf Pilgerreise. Auch Margarethe Frank muss sich neu orientieren, denn nach einem Zerwürfnis wird sie vom dänischen Geheimdienst PET suspendiert. Da kommt die Anfrage von Axel Mossman gerade recht. Er braucht Hilfe bei einem unbedeutend wirkenden Fall. Doch was zunächst nach einem kleinen Finanzbetrug aussieht, erreicht ungeahnte Dimensionen. Auch Oxen, der insgeheim noch immer nach den Drahtziehern der Veteranen-Morde sucht, wird in diesen Fall verstrickt. Ohne es zu ahnen, ruft er mächtige Gegner auf den Plan …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 603

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

ERST WENN DIE SCHULDIGEN BESTRAFT SIND, FINDET ER VERGEBUNG …

Niels Oxen hat wochenlange Gefangenschaft und grausame Kämpfe in den Katakomben überlebt, aber er ist nicht mehr derselbe. Um Abstand zu gewinnen, begibt er sich auf Wanderschaft. Auch Margrethe Franck muss sich neu orientieren, denn nach einem Zerwürfnis wird sie vom dänischen Geheimdienst PET suspendiert. Da kommt die Anfrage von Axel Mossman gerade recht. Der ehemalige PET-Chef braucht Hilfe bei einem zunächst unbedeutend wirkenden Fall. Doch was nach einem schlichten Finanzbetrug aussah, erreicht ungeahnte Dimensionen. Und Oxen wird erneut mit seinem schlimmsten Albtraum konfrontiert.

 

Teil sechs der großen OXEN-Serie

 

OXEN – Das erste Opfer

OXEN – Der dunkle Mann

OXEN – Gefrorene Flammen

OXEN – Lupus

OXEN – Noctis

OXEN – Pilgrim

SØG – Dunkel liegt die See

SØG – Schwarzer Himmel

SØG – Land ohne Licht

EAST – Welt ohne Seele

EAST – Auf tiefem Grund

Jens Henrik Jensen

OXEN

Pilgrim

Thriller

Aus dem Dänischen von Friederike Buchinger und Ricarda Essrich

 

Ein Pilger (vom lateinischen peregrinus, »einer, der umherwandert«) ist eine Person, die in der Regel zu Fuß zu einem heiligen Ort reist – aus religiösen Gründen, um Buße zu tun oder um etwas Bestimmtes zu erreichen.

 

Im Hochmittelalter waren zahlreiche Pilger unterwegs, und viele Menschen begaben sich mindestens einmal in ihrem Leben auf Pilgerfahrt.

 

Der bedeutsamste Wallfahrtsort im Mittelalter war die Grabeskirche in Jerusalem, gefolgt von Rom und Santiago de Compostela in Spanien. In Dänemark war meist eine der vielen Heiligen Quellen das Ziel.

 

In allen großen Weltreligionen gibt es besondere Pilgerstätten.

 

Freie Zusammenfassung, Quelle: Wikipedia

1.

Papa. So klein das Wort auch war, es übertrumpfte doch alles. Es war der Schlüssel, der die Schatten der Hölle vertrieb, weil es die Tür zu Licht und Leben öffnete. Eine Tür, durch die er getreten und dann immer weitergegangen war.

Im Universum konnte es keinen größeren Kontrast geben als die Gegenwart im Vergleich zur jüngsten Vergangenheit – auf der anderen Seite der verschlossenen Tür.

Tag versus Nacht. Freiheit versus Gefangenschaft. Plasma und Blut, Bestandteile des so fragilen Lebens, versus gehärteten Stahl …

Er sah das Schwert vor seinem geistigen Auge aufblitzen und spürte die Anstrengung wie einen Phantomschmerz in seinem rechten Arm. Den Hieb der zweischneidigen Klinge, schräg nach unten. Die lange klaffende Wunde, die er hinterließ. Den Schwall von Blut und glänzende Eingeweide, die aus der Bauchhöhle quollen und seinen Gegner in die Knie zwangen wie ein bizarrer, einseitiger und übermäßig schwerer Ballast.

Er meinte, noch immer den Schaft des Schwertes zu umklammern. Doch seine rechte Hand war fest geballt um … nichts …

Er öffnete sie und streckte seine schmerzenden Finger.

Die sanften Sonnenstrahlen bahnten sich einen Weg durch die Schleierwolken und wärmten sein Gesicht, während sie den Schotterweg entlanggingen. Auf das Wetter im April konnte man sich nie verlassen, aber die letzten Tage waren perfekt gewesen. Überall strotzte es nur so von Leben.

»Papa?«

Wieder ließ er das Wort schwerelos zwischen ihnen schweben. Nur zwei verschiedene Buchstaben bildeten diese wichtige Konstruktion des Lebens. Die Säule, die alles trug. Zwei gleichlautende Silben, so selbstverständlich, dass die wenigsten das Wort überhaupt wahrnahmen.

Doch er tat es.

Zwei P und zwei A, ein doppeltes Duett, das ihn mit einer Stärke erfüllte, durch die er bis zum Ende der Welt würde gehen können, ohne zusammenzubrechen.

Er konnte die Pause nicht noch mehr ausdehnen.

»Ja?«

»Warum heißt der Weg eigentlich Hærvejen? Wurde er für Soldatenheere angelegt?«

»Hast du noch nie davon gehört?«

»Nein. Sollte ich?«

»Ihr habt den Hærvejen in der Schule nicht durchgenommen?«

»Nee.«

»Merkwürdig. Das verstehe ich nicht. Der Hærvejen ist berühmt. Teile davon sind viertausend Jahre alt. Er verläuft durch ganz Jütland und folgt der Wasserscheide den jütländischen Höhenrücken entlang. Von dort kann …«

»Wasserscheide?«

Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Eine Wasserscheide ist eine Art Trennlinie. Von da aus fließt das Wasser entweder in die eine oder in die andere Richtung. In diesem Fall nach Osten oder Westen, grob gesagt. Früher konnte man direkt auf dem Höhenrücken gehen, was den großen Vorteil hatte, dass man nicht so viele Flüsse oder unwegsame Moore überqueren musste. Damals konnte die Natur manchmal ein großes Hindernis für uns Menschen sein.«

»Und deshalb hatten die Soldaten Probleme?«

»Ja, auch Heere benutzten den Weg, wenn sie nord- oder südwärts marschierten. Doch eigentlich war es vor allem ein Handelsweg. Er wird auch als Studevejen bezeichnet, der Ochsenweg.«

»Ochsenweg?«

Wieder musste er grinsen. »Ja. Über diesen Weg hat man Rinder getrieben. Er verläuft bis nach Deutschland, in die Nähe von Hamburg.«

»Ernsthaft? Verrückt … Dann könnte man sagen, wir haben unseren eigenen Weg, Papa! Den Oxen-Weg.«

»Ja, Magnus, solange du nicht behauptest, du würdest den Weg mit einem Ochsen gehen.«

Er lachte, legte den Arm um seinen fünfzehnjährigen Sohn und drückte ihn an sich.

In diesem Augenblick war er der glücklichste Mann der Welt. Er hatte einen Sohn. Oder … er hatte seinen Sohn zurückbekommen. Und hier gingen sie nun.

Vater und Sohn.

Mal liefen sie schweigsam, mal unterhielten sie sich über große und kleine Dinge. Mal scherzten sie, mal sprachen sie ernsthaft. Genau, wie es sein sollte.

Vater und Sohn. Seite an Seite in der Sonne auf einem Schotterweg, der sie immer weiter in den Frühling führte.

Er befand sich mitten in einer Metamorphose. Wie eine verpuppte Raupe. Arbeitete sich mühsam aus dem Harnisch des Kriegers heraus.

Mit jedem Schritt seiner Pilgerreise ließ er die apokalyp-tische Eiszeit ein Stück weiter hinter sich und sah sich jeden Tag ein wenig mehr in der Lage, in ein neues Stadium überzugehen.

Als Vater.

Allerdings wusste er noch nicht, ob es ihm gelingen oder ob er wieder scheitern würde.

2.

Über dreißig Kilometer verlief die Verzasca pittoresk wie ein langer Streifen miteinander verbundener Postkarten durch die Schweizer Alpen, von ihrer Quelle in Pizzo Barone bis zur Mündung in den Lago Maggiore.

Ihr Verlauf ließ sich vereinfacht in drei Abschnitte gliedern: der obere leicht zugänglich für jeden, der Lust auf Wassersport hatte, der mittlere schon anspruchsvoller und am beliebtesten, vor allem bei den Tausenden Kajak-Fans, die jedes Jahr herkamen, und schließlich der untere Abschnitt: nur für Outdoor-Leute mit starken Nerven und viel Erfahrung.

Auf dieser Strecke toste die Verzasca in rasender Geschwindigkeit und Kaskaden von whitewater, so die internationale Bezeichnung, die sich nicht missverstehen ließ: ein schäumender Strom, dessen Wassermassen durch enge Schluchten an tückischen Felsen vorbeirauschten und sich in unzähligen Wasserfällen in den Abgrund stürzten.

Am Beginn des untersten Abschnitts stand ein Mann, die Hände in die Seiten gestützt. Ruhig wartete er am Ufer, bis er an der Reihe war, und ließ sich vom strömenden Regen nicht stören. Er stand ein Stück weit entfernt von der kleinen Gruppe in Neoprenanzügen und Schutzhelmen, die mit kurzen, wendigen Kajaks ausgestattet war. Die gesamte Ausrüstung war in grellen, meist fluoreszierenden Farben gehalten.

Vielleicht stand der Mann ein wenig abseits, weil er eindeutig der Älteste der Gruppe war.

Sein Name war Fabian Stadler. Er war zweiundfünfzig Jahre alt, mittelgroß, sehnig und durchtrainiert, und er trug einen eng anliegenden gelben Anzug.

Fabian Stadler war in den Kreisen der bunten Kajakabenteurer ein bekanntes Gesicht. Wie Surfer und Windsurfer betrachteten sich auch diese Sportler als eine Art Bruderschaft, in der man enthusiastisch um die ganze Welt reiste, um es mit den schwierigsten Flüssen aufzunehmen – und sich selbst herauszufordern.

Natürlich hatte das Hobby der eingeschworenen Gemeinschaft auch einen englischen Namen: Man betrieb extreme kayaking.

Diese Disziplin einfach als Jagd nach dem Adrenalinkick zu bezeichnen, wirkte wie eine gewaltige Untertreibung, wenn man einmal gesehen hatte, wie die weißen, schäumenden Wassermassen einen Mann und sein Kajak verschlingen konnten. Um dann zu beobachten, wie beide sich doch aus der Umklammerung des Flusses befreiten.

Fabian Stadler schien einen Blick auf seine Uhr zu werfen. Vermutlich um das Zeitintervall einzuhalten, in dem die Wassersportler starten sollten.

Er hatte die Strecke schon unzählige Male hinter sich gebracht. Seit er in Zürich lebte, war die Anreise ins italienischsprachige Tessin in der Schweiz nicht weit. Auch weitaus gefährlicheren Herausforderungen hatte er sich schon gestellt, zum Beispiel dem Little White Salmon River im US-Bundesstaat Washington, dem Clendinning Creek in British Columbia und dem Río Santo Domingo in Chiapas, Mexiko. Und jedes Mal war er mit heiler Haut davongekommen.

Aber Übermut und selbst kleinste Fehler konnten fatal sein. Auch auf der Verzasca …

Vielleicht dachte er genau darüber nach, während er neben seinem orangefarbenen Dagger-Kajak stand und geduldig wartete.

 

Auf der anderen Seite des Flusses versteckte sich ein Mann hinter einem Felsen, er war in seiner grauen Regenkleidung kaum auszumachen. Der Mann lag auf dem Bauch und hatte die kleine Gruppe auf der gegenüberliegenden Seite schon eine Weile durch sein Fernglas beobachtet.

Von Zeit zu Zeit hatte er über ein Funkgerät den Status durchgegeben. Als Fabian Stadler sich in seinem gelben Anzug bereit machte, meldete er sich erneut:

»Posten 1: stand by, alle. Alpha macht sich bereit. Ich wiederhole: Alpha macht sich bereit.«

Die Meldung erfolgte auf Englisch und wurde flussabwärts an den beiden anderen Stellen, an denen sie ihre Posten eingerichtet hatten, mit konzentrierten Mienen aufgenommen.

Der Mann in Regenkleidung senkte für einen Moment das Fernglas und wischte sich sein Gesicht ab. Dann nahm er die Beobachtung wieder auf, ohne den Regen zu beachten.

Aufgrund des schlechten Wetters hielten sich an der Strecke keine Zuschauer oder neugierigen Touristen auf. Ein unberechenbarer Faktor, der sonst zum Abbruch der Mission hätte führen können.

Endlich schob Fabian Stadler sein Kajak in den Fluss und paddelte energisch los.

»Posten 1: Alpha take-off, ich wiederhole: Alpha take-off.«

Posten 2 und Posten 3 bestätigten, dass sie verstanden hatten, und drückten gleichzeitig auf ihre Stoppuhren. Posten 2 hatte nur eine Aufgabe: Meldung zu machen, wenn Stadler an ihm vorbeifuhr. Das würde er in etwa fünf Minuten und 30 Sekunden tun.

Ab diesem Moment würde Stadler noch zweieinhalb Minuten zu leben haben. Oder 150 Sekunden.

Posten 3 stand ebenfalls in Regenkleidung auf einem flachen Felsstück an der Stelle, die sie sorgfältig ausgewählt hatten. Hier stürzte das Wasser über einen Felsvorsprung in die Tiefe und bildete einen etwa zehn Meter hohen Wasserfall. Es war nicht der höchste, doch die Einfahrt oben äußerst schwierig. Der Wasserfall endete in einem tiefen Becken, wo die Wassermassen sich verwirbelten, ehe der Fluss weiterströmte und wieder an Geschwindigkeit gewann.

Der Mann auf der Klippe hob seine rechte Hand und ließ sie ein paarmal kreisen. Das Signal veranlasste zwei Kampftaucher, sofort ins Wasser zu gleiten und ihre Position einzunehmen.

Dann kroch die Zeit dahin, bis Posten 2 endlich Meldung machte. Der Taucher auf der rechten Seite des Beckens spannte ein Seil, und ein feinmaschiges Netz, das an der gegenüberliegenden Seite befestigt war, wurde wenige Meter von dem Punkt entfernt sichtbar, an dem die Wassermassen mit enormer Wucht auf die Oberfläche trafen.

Die beiden Taucher behielten den Mann am Ufer aufmerksam im Blick. Er gab ihnen erneut ein Handzeichen. Dann konzentrierten sie sich auf den Felsvorsprung.

Wenige Augenblicke später sahen sie die Spitze des kleinen orangefarbenen Kajaks. Kurz darauf stürzte es in irrem Tempo auf sie zu, während der Mann im gelben Anzug perfekt das Gleichgewicht hielt, das Paddel mit ausgestreckten Armen hochgehoben.

Kurz nach dem Aufprall auf dem Wasser verfing sich das Kajak im Netz und kenterte. Unter normalen Umständen wäre es eine Kleinigkeit gewesen, das Gefährt mit einer Eskimorolle unter Wasser wieder aufzurichten, doch dazu kam der Mann nicht mehr …

Zwei starke Arme zerrten ihn aus dem Kajak, umklammerten ihn und zogen ihn gegen den Auftrieb der Schwimmweste hinunter auf den Grund des Beckens in neun Metern Tiefe.

Der Widerstand des Mannes brach schnell. Dann kam der andere Taucher dazu. Gemeinsam führten sie ihren Auftrag aus:

Sie schlugen den Kopf ihres Opfers fest gegen die Felsen, sowohl mit dem schützenden Helm, als auch mit dem Gesicht. Nachdem sie das Gleiche mit den Armen und Beinen des Mannes getan hatten, ließen sie ihn los und beobachteten, wie die leblose, gelbe Gestalt von der Strömung erfasst wurde und davontrieb.

Mission accomplished.

3.

Das Knistern des Feuers war das einzige Geräusch, das seine Gedanken begleitete. Es war Abend, und Dämmerung senkte sich über die Landschaft.

Sie hatten ihr Lager am Rand einer Baumgruppe aufgeschlagen. Unter ihnen erstreckten sich Felder in Richtung des Hjærbæk Fjords bis zur Mündung des Skals Å, den sie vor einigen Stunden bei der alten Eisenbahnbrücke überquert hatten.

»Papa?«

Er saß nur da, sah in die Flammen und grübelte. Es war das erste Wort, das er wahrgenommen hatte, als er vor zwölf Monaten im Krankenhaus aufgewacht war. Dieses winzige Wort war wirkungsvoller gewesen als alles andere in dem Heilungsprozess, der hinter ihm lag. Und den er noch vor sich hatte.

»Hmm …«

»Muss ich wirklich morgen den fuckin’ Zug nach Hause nehmen? Ich pack das einfach nicht. Also echt nicht! Wir haben es doch super. Nur du und ich. Kannst du Mama nicht einfach anrufen und noch ein, zwei Tage bei ihr rausschlagen? Please …«

Magnus lehnte sich ein wenig gegen ihn. Er legte seinen Arm um die Schulter seines Sohnes. Auch dieser wunderbare, zarte kleine Mensch durchlief eine Metamorphose. Seine Schulterpartie wurde allmählich breiter und kräftiger, die Stimme tiefer, der Schatten über der Oberlippe immer deutlicher sichtbar. Und seine Gedanken änderten sich wie bei einem Pendel, schlugen im einen Augenblick in Richtung Kindheit aus und im nächsten in Richtung erstaunlicher Reife.

»Das kann ich nicht, Kumpel. Leider. Abgemacht ist abgemacht.«

»Aber Papa … Verstehst du das nicht? Ich will nicht nach Hause.«

»Es wird noch viele andere Gelegenheiten geben, das verspreche ich dir. Wir können noch ganz oft zusammen sein und es uns gut gehen lassen, bis du keine Lust mehr hast, mit deinem alten Vater Zeit zu verbringen – in ein oder zwei Jahren. Oder vielleicht schon am Donnerstag …«

»Das passiert nicht. Ich bin echt gern mit dir zusammen, Papa. Du bist cool. Deshalb finde ich ja, du solltest Mama anrufen. Sag ihr, dass wir weitermachen. YOLO, oder?«

»Jolo? Äh, ich weiß nicht, ob …«

»Nutz die Chance, full speed. YOLO. Deshalb. Jetzt ruf schon an.«

Magnus zog sein Handy aus der Tasche und reichte es ihm.

»Okay, ich verstehe. Aber irgendwie auch nicht. Jedenfalls nicht das mit dem Jolo …«

»Y-O-L-O. Come on. You only live once.«

»Ah, jetzt hab ich’s kapiert.«

»Oh my God, du bist echt alt, Papa!«

Magnus schüttelte grinsend den Kopf.

»Danke. Ich rufe deine Mutter trotzdem nicht an. Basta. Kümmerst du dich ums Feuer? Hol aber bitte zuerst den Kessel raus.«

Magnus stand auf, schob einen stabilen Ast unter den Henkel des Kessels, hob ihn aus dem Feuer und stellte ihn vor seine Füße. Dann nahm er etwas Reisig, legte es sorgfältig in die Flammen, ohne den Funkenregen zu beachten, und setzte sich wieder neben ihn.

Oxen gab eine große Portion Kakaopulver in die beiden Thermobecher.

»Gießt du Wasser auf, Magnus?«

Magnus nickte und faltete ein Geschirrhandtuch, legte es über den heißen Henkel, goss Wasser in ihre Becher und rührte mit dem Löffel um.

Verstohlen beobachtete er jede Bewegung seines Sohnes. Es waren ruhige, sichere Bewegungen, die keinerlei Zögern oder Zweifel erkennen ließen. Magnus hatte viel gelernt in den beiden Tagen, an denen sie gemeinsam gewandert waren und unter fast freiem Himmel geschlafen hatten, nur geschützt von einer grünen Plane, die zwischen ein paar Bäumen über ihnen gespannt war.

»Hier ist es schön, oder?«

Magnus nickte schweigend und probierte vorsichtig seinen Kakao.

»Und still … Ich mag … die Stille.«

Magnus nickte wieder.

»Papa?«

»Ja?«

»Du bist jetzt durch ganz Seeland, Fünen und alle möglichen anderen Gegenden gewandert, du warst sogar zu Fuß in Schweden. Warum wanderst du so viel?«

»Das habe ich dir gestern doch erzählt. Ich liebe es, draußen zu sein, in Bewegung. Es erinnert mich ein bisschen an meine Zeit als Jägersoldat.«

»Ach, das ist doch Fake. Ich will den wirklichen Grund wissen, Papa.«

Er zog die Schultern hoch und blies in seinen Becher.

»Ich denke, ich …«

»Du willst es vergessen, nicht wahr?« Magnus unterbrach ihn. »Alles vergessen, was passiert ist, vor einem Jahr.«

Er nickte langsam.

»Eine kluge Zusammenfassung, Kumpel. Wie du weißt, war das alles ziemlich brutal …«

Er zögerte.

Natürlich hatte er Magnus erzählt, dass er während der Ermittlungen in einem Fall rund um mysteriöse Morde an Kriegsveteranen in einem Keller gefangen gehalten worden war. Sein Sohn wusste auch, dass er misshandelt worden war – und schließlich bei der Polizeiaktion zu seiner Befreiung einen Schuss abbekommen hatte.

Allerdings hatte Magnus keine Ahnung von den dunklen Mächten, die unter der alten Ziegelei ein grauenhaftes, aber einträgliches Geschäft betrieben hatten. Er hatte keine Ahnung von dem bizarren Universum in einem Höllenkeller voller verdorbener Menschen, die sich – versteckt hinter unheimlichen Tiermasken – aufführten wie … Tiere … Und er wusste auch nicht, dass es eine geheime Liste steinreicher Gäste gab, die man in regelmäßigen Abständen zu erlesenen Weinen und Sex in jeder denkbaren Schattierung einlud, wobei all das nur der Auftakt zum eigentlichen Höhepunkt war: Käfigkämpfe zwischen gefangenen Männern, auf Leben und Tod. Kämpfe, bei denen die Gäste hohe Summen auf den Gewinner setzen konnten, nur zur Unterhaltung.

Von alldem wusste Magnus nichts. Das war Wissen für Erwachsene.

Wobei eigentlich selbst Erwachsene mit dieser Art von Wissen überfordert waren.

Magnus würde nie erfahren, was wirklich in der alten Ziegelei geschehen war. Deshalb musste er seine Worte sorgfältig wählen.

»Solche Erfahrungen möchte man am liebsten vergessen. Sie sollen so wenig Platz wie möglich im Kopf einnehmen. Insofern hast du recht. Es geht wohl darum, zu vergessen … Wenn man wandert, lässt man etwas hinter sich. Und richtet den Blick auf den Horizont, auf etwas Neues, Unbekanntes, etwas, das hoffentlich besser sein wird. Vielleicht nicht perfekt. Aber wenigstens ein ganzes Stück besser. Jedenfalls geht es mir so. Es ist so wunderbar einfach, zu gehen – einfach einen Fuß vor den anderen setzen, die ganze Zeit.«

»Siehst du, ich habe dich durchschaut …« Magnus grinste.

»Außerdem finde ich, dass man beim Gehen gut denken kann. Alles fließt besser, durch den Körper und den Kopf. Ist dir das aufgefallen?«

»Nein.«

»Vielleicht kann man mich mit den Pilgern vergleichen, die lange vor uns hier gegangen sind … Der Hærvejen war auch eine Pilgerroute. Ein Pilger ist ein …«

»He, das weiß ich selbst. Jemand, der früher zu heiligen Stätten gewandert ist, richtig?«

»Genau. Im Mittelalter gab es überall Pilger. Wer damals mit einem fernen Ziel gewandert ist, ging entweder nach Jerusalem, Rom oder Santiago de Compostela in Spanien. Dort, wo auch der Camino langführt. Hast du schon mal was vom Camino gehört?«

»Ja, Mama hat mal gesagt, dass sie sich vorstellen könnte, den Camino zu gehen …«

»Aber als Pilger konnte man auch andere Ziele haben. Vielleicht eine heilige Quelle hier in Dänemark. So war das bei den Christen. Es hatte immer etwas mit Religion zu tun. Für Katholiken war es eine Möglichkeit, Buße zu tun. Sie konnten eine Pilgerreise antreten, um etwas wiedergutzumachen. Zum Beispiel, wenn sie gesündigt hatten.«

»Ernsthaft? Wenn sie beim Aldi etwas mitgehen ließen, konnten sie dazu verurteilt werden, nach Jerusalem zu wandern?«

»Na ja … Ganz so einfach war es wohl nicht. Und Aldi? Glaubst du, damals gab es einen Aldi?«

Magnus schüttelte resigniert den Kopf.

»Come on. Das war ein Witz.«

»Es gibt auch heute noch viele Katholiken, die nach Lourdes in Frankreich pilgern. Jedes Jahr mehrere Millionen. Dort gibt es eine heilige Quelle. Das Wasser hat angeblich Heilkräfte und kann Schmerzen lindern. Viele Schwerkranke kommen dorthin, manche mit Krebs, auch Behinderte. Und alle hoffen auf ein Wunder.«

»Und dort trinken sie das Wasser, oder wie?«

»Das ist unterschiedlich. Manche lassen sich in das Becken tauchen, andere füllen das heilige Wasser ab und nehmen es mit nach Hause – oder trinken es.«

»Fuckin’ crazy … Und wirkt es? Nein, oder?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht bei manchen. Glauben versetzt Berge, große Berge … Die Kirche hat einige Heilungen in Lourdes als Wunder anerkannt. Aber Mediziner würden das sicher abstreiten.«

»Echt? Heiliges Wasser? Ich glaube nicht daran. Coke Zero, please …«

Überzeugung lag in Magnus’ Stimme.

»Auch Muslime gehen auf Pilgerfahrt. Die Regeln des Islam besagen, dass man einmal in seinem Leben nach Mekka reisen soll.«

»Wo liegt Mekka?«

»In Saudi-Arabien.«

»Hm … Wenn man also Mitglied im Islam ist, ist es einfach Pflicht?«

»Nun, der Islam ist nichts, wo man Mitglied wird wie im örtlichen Fußballverein, weißt du? Der Islam ist eine Religion, an die man glaubt. Ein Glaube, den man pflegt.«

»Ja, ja, verstanden.«

»In Dänemark sind wir Christen, sogenannte Protestanten.«

»Papa, ich bin konfirmiert. Weißt du doch.«

Das hatte er schon öfter vergessen. Er war nicht zur Feier eingeladen worden. Natürlich nicht. Birgitte und er im selben Raum, das war undenkbar. Er machte sich auch grundsätzlich nichts aus Konfirmationen, aber für Magnus war es natürlich ein großer Tag gewesen. Er hatte ihm tausend Kronen geschenkt, das Geld mit einer Karte in einen Umschlag gesteckt. Über den Text hatte er lange nachgedacht. Es war …

»Glaubst du an Gott, Papa?«

Er lächelte bei dem Gedanken. Hieß es nicht, ein Lagerfeuer habe seine ganz eigene Magie?

»An Gott? Nein, Kumpel, das tue ich nicht. Ich bin Atheist. Einer, der keinen Glauben hat.«

»Warum nicht?«

»Hm, ich bin Soldat.«

»Nicht mehr …«

»Auch wenn ich es nicht mehr bin, bleibe ich es doch für immer. Ich habe so viel Mist erlebt, so viel Unglück in der Welt gesehen, dass es kaum mit der Vorstellung in Einklang zu bringen ist, dass es einen Gott gibt und einen höheren Sinn der Dinge, die im Leben passieren. Welchen Sinn hat es zum Beispiel, dass Kinder sterben? Sie haben doch noch ihr ganzes Leben vor sich. Ich habe wohl eine … wie soll ich das ausdrücken? … eine etwas biologischere … Sicht auf die Dinge. Der Mensch ist das gefährlichste Raubtier in der Nahrungskette. Nicht, weil er so stark ist, sondern wegen seiner Intelligenz. Wir sind einfach die intelligentesten Organismen der Welt, deshalb sind wir auch diejenigen, die alles lenken. Und die alles zerstören können. Sagt dir Darwin etwas?«

»Yes, das ist eine Stadt in Australien.«

Er musste lächeln.

»Das stimmt. Aber es ist auch der Name eines ehemaligen englischen Wissenschaftlers. Charles Darwin hieß er. Er segelte um die Welt und erforschte, wie Pflanzen- und Tierarten entstanden sind, ihren Ursprung und ihre Entwicklung. Auch den Menschen. Hast du schon mal den Ausdruck survival of the fittest gehört?«

»Nee. Hat aber was mit Überleben zu tun, oder?«

»Das ist eine von Darwins Lehren. Es bedeutet so etwas wie ›das Überleben derjenigen, die am besten geeignet sind‹. Der Mensch ist am besten geeignet. Aber das Krokodil zum Beispiel auch.«

»Was meinst du damit?«

»Es ist sehr gut darin, zu überleben. Das Krokodil ist ein prähistorisches Tier, aber während Dinosaurier und all die anderen Wildtiere es nicht geschafft haben, hat das Krokodil überlebt. Sein Design ist sozusagen auf Haltbarkeit ausgerichtet.«

»Du und deine Tiere, Papa … Du bist echt verrückt«, sagte Magnus grinsend.

»Da muss ich dir recht geben. Und eigentlich ging es ja gerade um Gott. Aber ich kann einem Gott keinen Platz in meinem Weltbild einräumen. Warum sollte ich an ihn glauben, wenn ich an die Nahrungskette glaube, an Krankheiten und all das? Ich glaube auch, dass jeder für das, was passiert, selbst verantwortlich ist. Jeder ist für seine Taten verantwortlich. Und du? Glaubst du an Gott?«

Eine Weile saß Magnus schweigend da. Dann sagte er nachdenklich:

»Also … Gott ist ja nicht irgendeine beliebige Person, an die man glauben kann oder nicht. Es geht doch um die ganze Geschichte in der Bibel, oder? Ich habe zu Gott gebetet. Als ich klein war. Ich erinnere mich, dass ich Gott gebeten habe, Mama und dich wieder zusammenzubringen. Später habe ich ihn gebeten, meinen Vater zurückzubringen. Und am Ende kamst du ja auch zurück …«

Er umarmte seinen Sohn, während das flackernde Feuer vor seinen Augen verschwamm, sodass er sie diskret mit dem Hemdsärmel trocknen musste.

Schweigend saßen sie da und tranken den Kakao in kleinen Schlucken. Es war längst dunkel geworden, der Fjord war nicht mehr zu sehen. Und trotzdem gab es vieles, das man sogar im Dunkeln gut erkennen konnte.

»Ich habe über etwas nachgedacht«, begann Magnus dann. »Hast du eigentlich was gegen Muslime?«

»Nein. Warum?«

»Weil viele das haben. Und du warst im Krieg gegen sie, sie haben deine Kameraden verwundet und getötet, oder?«

»Ich sehe das anders. Der Feind ist Teil einer Bewegung oder Organisation, die uns und die Werte, für die wir stehen, bekämpfen will. Also Osama bin Laden und Al-Qaida damals bei den Türmen in New York, später die Taliban und ISIS. Ein Muslim ist kein Feind. Und ein Katholik übrigens auch nicht.«

»Ich kenne mehrere Muslime. Sie sind ziemlich cool.«

»Klar.«

»Viele sind wegen des Kriegs dort unten nach Dänemark geflohen.«

»Stimmt.«

»Also … Ich kenne eine, die Ayla heißt.«

»Ein Mädchen aus deiner Klasse?«

»Äh, ja … das heißt … eigentlich kenne ich sie richtig gut.«

»Du magst sie?«

Magnus zuckte mit den Schultern.

»Könnte man so sagen.«

»Seid ihr zusammen?«

»Das ist jetzt auch wieder zu viel gesagt. Manchmal ghostet sie mich ganz plötzlich. Es ist nicht …«

»Ghostet? Was bedeutet das?«

»Kriegst du eigentlich gar nichts mit? Das heißt, dass man plötzlich nicht mehr so interessant ist, wie man gedacht hat. Man ist beinahe ein Geist. Also pure Luft, verstehst du? Das ist ziemlich … weird. Aber wenn ich dann auch nicht mehr so interessiert bin, ist sie es plötzlich wieder. Irgendwie fucked up. Kennst du das?«

»Kommt mir bekannt vor.«

»Hattest du eine Freundin, Papa, also, seit Mama?«

»Nicht richtig.«

»Es bedeutet ›Eiche‹.«

»Was?«

»Ayla.«

»Eiche?«

»Ja.«

»Robustes Holz.«

»Typisch. So was sagst du immer.«

»Hmm.«

»Also ist es okay für dich?«

»Was ist okay?«

»Wenn ich … eine muslimische Freundin habe … oder bald bekomme?«

»Natürlich!«

»Gut. Dann wäre das geklärt … Eigentlich waren wir aber beim Wandern. Du wanderst – nicht weil du ein Christ bist, nicht weil du gesündigt hast, sondern um etwas hinter dir zu lassen. Egal was. Ist vielleicht etwas passiert, das du mir nicht erzählt hast? Darüber habe ich viel nachgedacht. Ob ich alles erfahren habe.«

»Ich habe dir alles erzählt, keine Sorge. Was meinst du, wäre es nicht allmählich Zeit, in den Schlafsack zu kriechen?«

»Noch nicht. Ich muss doch morgen nach Hause. Sagst du.«

Unbewusst hatte Magnus in der Wunde gebohrt. Religiös oder nicht, er hatte gesündigt, in seinen Augen. Er hatte Unschuldige getötet. Und wenn sie morgen nach Viborg kamen, wo er Magnus in den Zug setzen und anschließend an eine unbekannte Tür klopfen würde, was war das dann? Buße? Oder die Hoffnung auf einen Spritzer der heiligen Quellen von Lourdes?

»Aber, wenn dich das nicht interessiert, das mit der Religion, meine ich, wie kann es dann sein, dass du so viel darüber weißt? Hast du darüber gelesen?«

»Ach … ich lese eigentlich nicht viel. Das kommt wohl eher vom Fernsehen. Ich schaue mir gerne Sendungen an, durch die man schlauer wird. Dokumentarfilme, über Geschichte, etwas mit Fakten und so.«

»Und Tiere. Das mit dir und den Tieren ist echt witzig.«

Magnus lächelte kopfschüttelnd.

»Genau. Tiere … He! Findest du nicht, wir sollten mal wieder in den Zoo?«

Sie lachten.

Magnus leerte seinen Becher und wandte sich plötzlich mit ernstem Ausdruck an ihn.

»Da ist etwas, Papa … über das ich viel nachgedacht habe … wahnsinnig viel. Mama und du. Es gibt Dinge, die ich einfach nicht verstehe. Auch wenn ihr vielleicht keine guten Freunde seid … Im Krankenhaus hat Mama mich zu deinem Zimmer begleitet, aber sie wollte nicht mit rein. Sie ist einfach wieder runtergegangen und hat im Eingangsbereich gewartet. Jedes Mal. Sie hat überhaupt nicht traurig ausgesehen. Sie war nur … ernst. Und selbst als du beinahe gestorben wärst, hat sie Tennis gespielt, wie immer – und ist mit einer Freundin Kaffee trinken gegangen … Und ich erinnere mich nicht daran, dass sie je etwas Gutes über dich gesagt hat. Das verstehe ich nicht. Wie kann das sein, Papa?«

Magnus sah ihn an, fünfzehn Jahre alt, mit eindringlichem Blick. Er würde nicht darum herumkommen.

»Hast du sie nicht danach gefragt?«

»Doch. Sie ist bloß sauer geworden und hat nicht richtig geantwortet.«

Wenn er seinem Sohn die Wahrheit sagte, würde das gravierende Folgen haben. Gerade hatte Magnus seinen Vater wiederbekommen, aber dann würde er wahrscheinlich seine Mutter verlieren. Nicht physisch, und doch … Die Geschichte von Birgittes Betrug würde sein Bild von seiner Mutter schwer beschädigen. Kalt und zynisch hatte sie Straftaten begangen und sich von den Menschen kaufen lassen, die vor langer, langer Zeit eine Verschwörung gegen ihn ausgeheckt hatten. Noch immer könnte er sie sofort ins Gefängnis bringen, wenn er wollte. Doch das wollte er nicht. Er wollte Magnus nicht seine Mutter wegnehmen. Magnus würde die Wahrheit nie erfahren, denn die Wahrheit würde zu viel zerstören.

»Wenn Erwachsene sich trennen, wird das manchmal hässlich. Richtig hässlich. Man tut dann Dinge, sagt Dinge, die man sich vorher nie hätte vorstellen können. Deine Mutter und ich, wir waren uns über fast alles uneinig. Deshalb wurde es hässlich. Außerdem litt ich an schwerer PTBS. Das habe ich dir mal erklärt. Dadurch wurde es auch nicht besser. Die Situation hat sich immer mehr zugespitzt. Und wir haben uns so zerstritten, dass wir nie wieder Freunde sein können. Traurig, aber wahr. Ich glaube, dass es sie deshalb nicht besonders berührt hat, dass ich vielleicht gestorben wäre …«

»Und wenn Mama sterben würde, was dann?«

»Ganz ehrlich, Kumpel: Das wäre keine große Veränderung in meinem Leben.«

Magnus nickte langsam.

»Ich finde das blöd«, begann er, »richtig scheiße eigentlich, dass ihr keine Lösung dafür findet. Die Eltern von meinem Freund leben auch getrennt. Trotzdem sind sie beide an seinem Geburtstag da. Und beide waren bei seiner Konfirmation.«

»Manche schaffen das besser als andere. Deine Mutter und ich haben es überhaupt nicht geschafft. Leider … Jetzt ist aber wirklich Schlafenszeit. Wir müssen morgen früh raus.«

Er konnte unter der Plane hervorschauen und die Sterne am Himmelsgewölbe sehen. Das war die Gegenwart. Vater und Sohn, Seite an Seite in Schlafsäcken. Alles, was vor der Gegenwart geschehen war, war jetzt egal.

Nicht einmal die Tatsache, dass er morgen an eine fremde Tür klopfen und dahinter auf eine massive Wand aus Trauer stoßen würde, konnte ihm im Moment etwas anhaben.

Das Letzte, woran er dachte, waren Bruchstücke aus ihrem Gespräch. Das beste Gespräch seit Langem. Vielleicht das beste überhaupt …

Dann schlief er unter dem Geräusch von Magnus’ ruhigen Atemzügen ein.

4.

Die Lesebrille wurde abgelegt, als gehörte sie exakt auf die unsichtbare Stelle auf dem Schreibtisch, der sich unter Papierbergen bog. Der Leiter der operativen Abteilung, Chefinspektor Ove Worre, rieb sich mit den Händen das Gesicht, bevor er zu ihr aufsah und sie mit einem kurzen Nicken aufforderte, sich zu setzen.

»Franck«, begann er, aber dann ging ihm offenbar schon die Inspiration aus.

Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Wir müssen miteinander reden«, fuhr er fort. »Über Ihre aktuelle Arbeitssituation.«

»Meine Arbeitssituation?«

»Das war vielleicht nicht der richtige Ausdruck … Es geht eher darum, wie Sie Ihre Aufgaben priorisieren.«

»Okay … Nun, das ist keine Priorisierung, die ich allein und nach eigenem Ermessen vornehme.«

»Ich hatte eine Besprechung mit Salomonsen. Unter anderem haben wir noch mal den Fall der Heckenschützenmorde an den Veteranen diskutiert, den ganzen Dreck, der in diesem Keller geschehen ist, und die mutmaßliche Verbindung zu den Iranern und ihrer möglichen Operation in Skandinavien.«

»Ist das nicht eine Untertreibung? Der Fall ist eigentlich recht eindeutig.«

Worre zuckte mit den Schultern.

»Die Beweislage ist es jedenfalls nicht. Sie haben seitdem viele Stunden auf die Sache verwendet. Mehr als die Hälfte Ihrer Arbeitszeit, nicht wahr?«

»Ah, da liegt also der Hund begraben.«

Sie blieb demonstrativ ruhig sitzen und wartete ab.

Worre erwiderte ihren Blick.

»Franck, die Gesamtzahl der Arbeitsstunden, die die Abteilung in diesen Fall investiert hat, übersteigt bei Weitem die geringe Hoffnung darauf, dass etwas dabei herauskommen könnte.«

»Richten wir uns hier inzwischen nach Ihrer Kosten-Nutzen-Analyse?«

»Auf der ganzen Welt geht es immer um Prioritäten, auch hier, bei unseren Ressourcen. Die Kurzfassung lautet also: Lassen Sie die Sache fallen.«

»Ich soll Recht und Gerechtigkeit fallen lassen. Das sagen Sie mir damit doch, oder, Worre?«

»Warum müssen Sie immer so polemisch sein, Franck?«

»Polemisch? Sie verlangen von mir, auf das Recht zu scheißen. Das ist überhaupt nicht polemisch.«

»Doch.«

»Nein. Es ist einfach erbärmlich.«

»So ist es jetzt aber. Salomonsens Worte. Und meine …«

»Ein Heckenschütze, der mindestens sechs Veteranen ermordet hat, läuft frei herum.«

»Nach ihm wird weltweit gefahndet. Was wollen Sie noch? Mit dem Rucksack losziehen und ihn suchen?«

»Außerdem sind zwei Personen, die an den Grausamkeiten im Keller beteiligt waren, auf freiem Fuß. Der Mann mit der Löwenmaske und der Mandrill … Einer von ihnen oder beide haben den dritten Geflohenen getötet, den Holländer Dirk de Windt.«

»Sie sind unsichtbar. Haben keine Identität. Wie kann man jemanden jagen, von dem man nicht weiß, wer er ist? Jemanden, den man nicht sehen kann? Wollen Sie in sämtlichen Ecken der Welt fragen: ›Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht einen Mandrill gesehen – im Anzug?‹«

Sie ließ sich nicht provozieren.

»Indem man sie zunächst sichtbar macht. Durch mühsame, aber notwendige Polizeiarbeit.«

»Wir haben alles versucht, soweit mir bekannt ist. Ohne Erfolg.«

»Und die Hintermänner, die Iraner? Drücken wir ein Auge zu, was ihre Mission auf dänischem Boden betrifft? Das ist doch totaler Irrsinn, Worre.«

»Was können wir beweisen? Was haben wir vorzubringen? Null … Jeder Richter würde sich an den Kopf fassen. Wenn man trotz aller Bemühungen mit leeren Händen dasteht, muss man irgendwann einen Schlussstrich ziehen. Lassen Sie die Sache fallen. Das war alles, Franck. Sie können die Tür offen lassen.«

5.

Der große, breitschultrige Mann in weißem T-Shirt und zerschlissenen Jeans saß, in sein Handy vertieft, über seiner zweiten Tasse Flat White am Fenster des Espresso House in der Fußgängerzone Strøget in Dänemarks Hauptstadt Kopenhagen.

Ray Bowman, amerikanischer Staatsbürger mit ständigem Wohnsitz in Antigua, Guatemala, war zufrieden mit den Überschriften, auf die er in den elektronischen Medien stieß. Gleich würde er zurückgehen und einige ausgewählte Artikel lesen.

Doch das Wichtigste zuerst.

Er loggte sich bei seiner Bank ein, scrollte durch seine Konten – und stellte zu seiner Befriedigung fest, dass der vereinbarte Betrag eingegangen war.

»Beratungshonorar« stand im Verwendungszweck. Jetzt musste er nur noch seine »Berater« so bezahlen, wie sie es haben wollten. Einige in bar, andere per Expressüberweisung.

Bowman loggte sich aus und widmete sich den Nachrichten.

»Stadler-Erbe bei Kajakunglück ertrunken«, lautete die Überschrift der digitalen Ausgabe des Tagesanzeiger, einer der größten Zeitungen der Schweiz. Dass die Nachricht auf Deutsch verfasst war, stellte für Ray Bowman, der fünf Sprachen beherrschte, kein Hindernis dar.

Er begann zu lesen.

»Die Polizei hat nun den Namen des Extremkajakers bekannt gegeben, der gestern im unteren Abschnitt der Verzasca tot aufgefunden wurde. Es handelt sich um den 52-jährigen Fabian Stadler, Alleinerbe des großen Industriekonzerns Stadler Industrie. Das tödliche Unglück schockiert die Sportwelt und die Branche gleichermaßen, und seit der Bekanntgabe des Namens vor einigen Stunden häufen sich die Beileidsbekundungen. Der eigentlich sehr erfahrene Fabian Stadler, der auch als engagierter Kletterer bekannt war, verunglückte offenbar in einer der gewaltigen Stromschnellen des Flusses. Nach Angaben der Polizei vor Ort verlor er vermutlich das Bewusstsein und ertrank. Stadler wurde in der Nähe des Verzasca-Damms einige Kilometer nordöstlich des Lago Maggiore gefunden. Der sehr vermögende 52-Jährige war Mehrheitsaktionär bei Stadler Industrie. Er hinterlässt seine Frau Dolores sowie die Töchter Anna (16) und Nicole (14). Trotz seines Postens als Vorstandsvorsitzender hat sich Fabian Stadler nie um das Tagesgeschäft des großen internationalen Unternehmens gekümmert. Mehr als ein Jahrzehnt lang war er einer der großen Schweizer Mäzene, und er hat beträchtliche Summen für wohltätige Zwecke gespendet, sowohl privat als auch über die Stadler-Stiftung, die seine Frau und er vor sieben Jahren gegründet haben.«

Es folgten Nachrufe und ein kurzes Interview mit einem erschütterten CEO der Stadler Industrie.

Das genügte ihm. Es schien alles in bester Ordnung zu sein.

Er hob den Blick und sah die Menschen auf dem Bürgersteig vorbeieilen. An der Ecke gegenüber lag ein Geschäft, das Normal hieß. Wie um alles in der Welt jemand in Dänemark auf die Idee kommen konnte, sein Geschäft Normal zu nennen, war ihm ein Rätsel. Was oder wer war schon normal? Und von welcher Definition musste man abweichen, um nicht länger … normal zu sein?

»Hallo Schatz, ich gehe gleich zum Normal …« Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sagten sie so etwas zueinander, die Dänen?

Auch wenn das Leben Ray Bowman gelehrt hatte, sich nie allzu sicher zu sein, sah es so aus, als sei der Job in der Schweiz perfekt ausgeführt worden. Er nahm den letzten Schluck Kaffee.

Jetzt konnte er zur Normalität zurückkehren.

6.

Das Herz hämmerte in seiner Brust, als er vor dem Haus am Ende der Gothersgade in Viborg stehen blieb.

Neue Kontraste …

Das war der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam, als er sich nach allen Seiten umsah und schließlich den Blick auf dem gelb gestrichenen Stadthaus mit dem kleinen, gepflegten Vorgarten ruhen ließ. Kontraste, wie er sie sich am Tag zuvor vorgestellt hatte, als er mit Magnus auf dem Hærvejen gewandert war.

Vor einem Monat war er schon einmal in einer ähnlich angespannten Situation gewesen, nur damals vor einem heruntergekommenen Wohnblock in Vestegnen, wo lose Fahrradrahmen herumlagen und einem überall Graffiti ins Auge sprangen.

Anstatt die Einfahrt hochzugehen und anzuklopfen, ging er weiter am Haus vorbei. Er war weder im Herzen noch im Kopf bereit für diese Konfrontation. Brauchte eine kurze Pause, um seine Gedanken zu sortieren.

Es war noch nicht lange her, dass er Magnus auf dem Bahnsteig umarmt und ihn in den Zug nach Kopenhagen gesetzt hatte. Die Erinnerung an die intensiven Tage, die sie zusammen verbracht hatten, gab ihm ein warmes Gefühl im Bauch. Aber beim Gedanken daran, was gleich passieren würde, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter.

Vor einem Jahr hatte er in dem Keller zwei Menschen umgebracht. Es waren nicht die ersten Leben, die er auf dem Gewissen hatte, aber es war ein Unterschied, ob man den Feind auf dem Schlachtfeld tötete oder gezwungen war, an einem Schauspiel auf Leben und Tod teilzunehmen. Echte Leben, echte Tode. Mann gegen Mann in einem Käfig. Ausschließlich zur Unterhaltung.

Nur der Sieger blieb am Leben. Alles, was geschehen war, hatte er nur getan, um genau diese kostbaren Augenblicke zu erleben, die er gerade mit Magnus geteilt hatte. Darum konnte er nichts bereuen. Aber er konnte es aus tiefstem Herzen bedauern. Er konnte seine Seele erforschen und Buße tun durch das, was er jetzt vorhatte. Sich selbst bestrafen, indem er sich seiner Schuld stellte.

Eine kleine, dünne Frau mit trübem Blick hatte ihm geöffnet, nachdem er an die Tür in der vierten Etage in Vestegnen geklopft hatte. Sie war die Mutter des Mannes, dem er das Genick gebrochen hatte.

Er atmete ein paarmal tief durch, wandte sich dann um, ging wieder den Bürgersteig hinunter und bog in die Einfahrt zum gelben Haus.

Kurz ließ er den Zeigefinger auf der Klingel liegen, dann betätigte er sie. Er kam unangekündigt. So war es einfach … Aber der Sonntagmittag schien ein Zeitpunkt zu sein, an dem eigentlich immer jemand zu Hause war.

Er konnte hören, wie drinnen eine Tür zugeknallt wurde, dann sah er eine Frau zum Eingang kommen.

Ihren Sohn hatte er mit seinem Gladiatorenschwert aufgeschlitzt.

Die Tür wurde geöffnet.

Eine grauhaarige Frau in den Siebzigern, eine Lesebrille ganz vorn auf der Nase, sah ihn fragend an.

»Guten Tag, mein Name ist Niels Oxen. Entschuldigen Sie die Störung, aber ich würde gerne über Gert, Ihren Sohn, sprechen.«

Die Frau nickte, sah aber schockiert aus. Mit der Hand vor dem Mund stieß sie hervor:

»Aber … er ist … tot.«

»Ich weiß. Mein Beileid …«

»Aber was wollen …«

»Ich war bei ihm, als er starb. Darf ich hereinkommen?«

Die Frau zögerte kurz, ehe sie die Tür weiter öffnete und ihn bat, ihr zu folgen.

In einem kleinen Wintergarten, der nach dem Hinterhof ging, saß ein älterer Mann, versteckt hinter einer Zeitung.

»Åge, wir haben Besuch … Das ist mein Mann«, sagte sie. »Kaffee? Es ist noch einer in der Thermoskanne.«

»Ja, danke. Niels Oxen. Guten Tag.«

Er reichte dem Mann die Hand, der die Zeitung abgelegt hatte. Aber nicht seine Wachsamkeit.

»Es geht um Gert«, erklärte ihm die Frau, die mit Thermoskanne und Tasse zurückgekehrt war.

Nickend wies sie auf einen Stuhl, stellte die Tasse ab und goss ein, dann nahm sie selbst auf einem Hocker Platz.

Er sah den Vater an, der ihn durch seine glänzenden Brillengläser misstrauisch beäugte.

»Mein Beileid«, begann er. »Wie ich schon Ihrer Frau sagte, ich war bei Gert, als er starb.«

Der Mann kniff seine Augen fast vollständig zu – schwieg aber.

»Ich bin nicht ganz sicher, wie viel Sie wissen. Wer hat Sie benachrichtigt?«

»Das war die örtliche Polizei«, antwortete die Frau.

»Und die Todesursache?« Er musste sich ganz sicher sein.

»Ermordet. Durch Schüsse«, kam es verbittert von dem Mann.

»Sie haben uns erzählt, dass mehrere Verbrecher eine Schießerei veranstaltet haben in diesem Behandlungszentrum auf Seeland, in dem Gert offenbar war. Tja … Davon hatten wir keine Ahnung.« Die Frau schüttelte traurig den Kopf.

»Ich bin selbst Veteran, genau wie Gert. Ich stand direkt neben ihm, als er getroffen wurde. Der Schuss war tödlich. Gert hat also nicht gelitten. Überhaupt nicht …«

Er war ein verdammter Lügner. Aber wenn Lügen Schmerzen lindern konnten?

Seine Strafe war, dass er die Wahrheit außen vor lassen und die Lüge als Wahrheit verkleidet überbringen musste. Ohne in Selbstmitleid zu versinken.

»Ich habe ihn aufgefangen, als er fiel. Und seine Augen geschlossen«, sagte er leise, während er in seine Kaffeetasse starrte.

»Die Polizei behauptet, er sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen«, erwiderte der Vater barsch. »Ich habe es ja immer gesagt: Er hätte verdammt noch mal nie Soldat werden sollen. Er hatte nicht das Zeug dazu. Wenn, dann hätte es Poul sein müssen …«

»Poul ist unser anderer Sohn«, flüsterte die Mutter beinahe. »Er führt ein großes Bauunternehmen. Ist nie Soldat gewesen.«

»Gert litt unter PTBS, richtig?«

Die Frau nickte.

»Ja. Er …«

»Weshalb waren Sie dort?«, unterbrach der Vater sie schroff.

»Ich war … ebenfalls in Behandlung. Wie Ihr Sohn.«

Die Frau sprach weiter:

»Afghanistan hat Gert zerstört. Bis dahin waren wir überrascht, wie gut er zurechtgekommen ist und wie glücklich er war. Er hat dort unten nur knapp eine tödliche Explosion überlebt, eine Sprengfalle. Seitdem ging es bergab. Er hatte eigentlich eine nette Freundin, sie sprachen schon von Kindern. Dann verließ sie ihn. Er kam immer seltener hier vorbei, irgendwann gar nicht mehr. Wir konnten ihn anrufen, aber meistens ging er gar nicht dran. Am Ende war Funkstille. Wir sind mehrmals zu ihm gefahren. Haben versucht, ihm zu helfen. Beim letzten Mal war auch Poul dabei. Ein Hausmeister hat uns die Tür zu seiner Wohnung geöffnet. Überall Chaos. Und es sah nicht so aus, als sei er kürzlich dort gewesen. Dann haben wir … Gert als vermisst gemeldet.«

»Und Sie sind unverletzt davongekommen?« Der Vater war immer noch auf der Hut.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, ich wurde angeschossen. Lag lange im Reichskrankenhaus.«

»Und … jetzt kommen Sie hierher. Warum eigentlich?«, fragte der Mann, der seine Skepsis nicht verbergen konnte.

Oxen stellte die Tasse ab und antwortete zögerlich:

»Weil es … sich richtig anfühlt. Weil ich dort war.«

»Vielen Dank, das schätzen wir sehr, denn …«

Wieder unterbrach der Mann seine Frau:

»Und Sie meinen, unser Sohn ist sofort gestorben?«

»Ja, ohne Zweifel.«

Der Mann nickte nachdenklich.

»Das ist gut zu wissen. Man macht sich ja seine Gedanken …«

»Ja, das macht man«, wiederholte die Frau langsam. Plötzlich konnte er sich nicht mehr an ihren Namen erinnern, obwohl er ihn auf dem Türschild gelesen hatte.

Der Ausdruck im Gesicht des Vaters entspannte sich, und er lächelte sogar ein wenig, als er sagte:

»Ich weiß sehr genau, wer Sie sind, Niels Oxen. Ich war jahrzehntelang Unteroffizier bei den Pionieren. Wenn es so kommen musste, ist es irgendwie gut zu wissen, dass Gert ausgerechnet bei Ihnen war, als er starb … Danke, dass Sie gekommen sind, Oxen …«

»Frieden werden Sie dadurch vielleicht auch nicht finden. Aber jetzt kennen Sie die Umstände«, antwortete er.

Das Lügengebäude türmte sich vor seinen Augen auf und verursachte ihm Schwindel, als er aufstand und sich für den Kaffee bedankte.

Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.

7.

Seltsam … An der Türklinke hing eine braungrüne Tweedmütze. Darin stand »Hackett, London«, darunter ein Logo aus zwei wie Schwerter gekreuzten Regenschirmen.

Ein Einbrecher hätte wohl kaum seine Mütze als weithin sichtbare Warnung an die Türklinke gehängt. Und es war unwahrscheinlich, dass Einbrecher eine Tweedmütze aus London trugen.

Ein Verdacht stieg in ihr auf.

Vorsichtige Schritte in den Flur, vorsichtiges Schließen der Wohnungstür, vorsichtiges Schleichen zum Wohnzimmer.

Es klang, als würde dort drinnen ein Güterzug fahren. Im Sessel am Fenster saß ein Mann, die Füße auf dem Hocker und eine aufgeschlagene Zeitung auf den Knien.

Axel Mossman schnarchte laut, mit hängendem Kopf, das Kinn an der Schulter. Es würde mehr als ein lautes Räuspern brauchen, um ihn aufzuwecken. Erst auf das zweite »Hallo« reagierte der ehemalige Chef des polizeilichen Nachrichtendienstes und erwachte mit einem Ruck.

»Und was genau soll das hier?«

»Franck! Oh, entschuldige. Ich muss kurz eingeschlafen sein. Ich habe Zeitung gelesen.«

»Und bist in meine Wohnung eingebrochen!«

»Well, Franck, das ist unter Freunden wohl ein belangloses Detail. Ich kann …«

»Nein! Du hast verdammt noch mal kein Recht …«

»Ach, papperlapapp! Das hab ich auch schon bei unserem gemeinsamen Freund, dem Soldaten, gemacht. Und er hatte kein Problem damit, also kann ich wohl …«

»Das interessiert mich nicht! Ich schleiche ja auch nicht in deinem Haus in Kokkedal herum. Oder schnarche in deinem Sessel!«

»Meine liebe Franck. Es ist einfach ein bisschen praktischer, sich Einlass zu verschaffen, als anzurufen und ein Treffen zu vereinbaren. Außerdem konnte ich mir auf diese Weise selbst beweisen, dass ich noch meine alten Fertigkeiten besitze. Skills, wie die Jugend heute sagt, nicht wahr?«

»Dietrich?«

»Elektrischer Dietrich.«

»Kaffee?«

»Tee.«

»Etwas zu essen?«

»Danke, gern.«

»Salami? Oder lieber Käsebrot?«

»Nur ein Narr würde ein Käsebrot ablehnen. Mit Kümmel?«

»Ohne.«

»Auch gut.«

Gegen ihren Willen musste sie lächeln, als sie in die Küche ging wie ein Kellner, der gerade eine Bestellung aufgenommen hatte.

Wenn irgendjemand in ihre Wohnung einbrechen und mit heiler Haut davonkommen konnte, dann war es ihr ehemaliger Chef.

Als sie kurz darauf mit einem Tablett zurück ins Wohnzimmer kam, bat sie ihn, sich an den Couchtisch zu setzen.

»Ein unangemeldeter Besuch – von meinem ehemaligen Chef … Sollte ich mir Sorgen machen?«, fragte sie und stellte eine Tasse und den Teller mit zwei Käsebroten vor ihm ab.

Bei deren Anblick lächelte Mossman.

»Wie läuft es mit dieser verfluchten Sache in der alten Ziegelei, Franck? Es ist inzwischen ein Jahr her.«

»Scheiße …«

»Inwiefern?«

»Mir wurde heute Vormittag mitgeteilt, dass ich die Sache fallen lassen soll.«

Mossman zog eine Augenbraue hoch.

»Von wem?«

»Worre.«

»Worre kann nicht aus seiner Haut.«

»Es kommt aber auch von Salomonsen. Worre meinte, sie hätten eine Besprechung gehabt und wären sich einig. Eine Frage von Ressourcen – und Priorisierung.«

Mossman nickte bedächtig.

»Also kein Durchbruch?«

»Nein, das muss ich zugeben.«

»Ärgerlich.«

»Und die Russen … Ich hatte gehofft, dass sie helfen würden, als Dank dafür, dass sie bei der Aktion in der Ziegelei dabei sein durften. Aber nichts da. Sie haben unsere Anfragen nicht einmal beantwortet.«

Mossman verspeiste das erste Käsebrot mit ebenso viel Freude wie Appetit.

»Ich bin dort gewesen«, sagte er, nachdem er alles heruntergeschluckt hatte.

»Wo bist du gewesen?«

»Bei den Russen …«

»Bist du?«

Wieder nickte Mossman.

»Diesen Gefallen musste ich dir tun, anstandshalber.«

»Danke.«

»Gern geschehen.«

»Aber es hat nichts gebracht?«

»Nein. Sie haben ihre Undercoveragentin aus dem Keller geholt und konnten die Person mitnehmen, um die es ihnen die ganze Zeit ging. Weiter reichte ihr Interesse nicht. Diese Tür ist zu. Verschlossen. Hermetisch abgeriegelt. Außerdem haben sich die Russen seit ihrem Angriff auf die Ukraine völlig isoliert. Leider, Franck.«

»Das wussten wir ja vorher schon. Ich hatte nur gehofft … Dieser Fall ist unmöglich zu lösen. Wir lassen nun schon ewig von Interpol nach dem Heckenschützen Palle Jensen fahnden und haben die indische Polizei gebeten, besonders aufmerksam zu sein – und trotzdem habe ich keine Rückmeldungen bekommen. Keine einzige.«

Sie seufzte schwer und ließ sich in die Sofakissen zurückfallen.

»Du bist also gekommen, um mir zu sagen, dass du es bei den Russen versucht hast?«

Mossman spülte den letzten Bissen Käsebrot mit Tee hinunter und sagte dann achselzuckend:

»Sowohl als auch … Vor allem bin ich gekommen, weil ich einen interessanten kleinen Auftrag für dich habe.«

Mossman saß behaglich mit übereinandergeschlagenen Beinen im Sessel, die Teetasse in den Händen und lächelte milde. Vielleicht, weil sie ihre Überraschung nicht verbergen konnte.

»Einen Auftrag?«

Mossman nickte.

»Hast du nicht sonst immer Niels Oxen für deine kleinen Spielchen eingespannt?« Fragend sah sie ihren ehemaligen Chef an.

»Das kam schon vor.«

»Du hast ihn in das Wolfsgebiet nach Jütland geschickt.«

»Stimmt.«

»Und du hast ihn überredet, sich um die getöteten Veteranen auf dem Shelterplatz im Vejle Ådal zu kümmern.«

»Das stimmt auch, Franck. Das bestreite ich nicht … Und genau deshalb statte ich nun dir einen Besuch ab, abgesehen davon, dass ich deine Gesellschaft immer schätze. Aber … Es kommt mir vor, als würde sich jedes Mal, wenn ich bei Niels Oxen auftauche, durch meine bloße Anwesenheit die Büchse der Pandora öffnen und das Unglück über unseren geschätzten Soldaten hereinbrechen. Daher dachte ich, das erspare ich ihm dieses Mal. Ich lasse ihn in Ruhe …«

»Du würdest ihn sowieso nicht finden.«

»Warum nicht?«

»Er ist – soweit ich weiß – unterwegs. Zu Fuß.«

»Zu Fuß?«

»Na ja, er wandert.«

»Wohin wandert er?«

»Ohne konkretes Ziel. Keine Ahnung …«

»Aber hast du nicht mit ihm gesprochen? Am Handy?«

»Niels Oxen hat sein Handy nicht dabei. Hatte er noch nie. Wie er selbst gesagt hat, als ich ihn zum letzten Mal sah: Er braucht es nicht. Vielleicht können wir von ihm noch etwas lernen.«

»Vermutlich.«

»Seit Oxen im Krankenhaus lag, hat er wie ein Besessener trainiert, um körperlich wieder fit zu werden. Ich glaube, er kann den Gedanken nicht ertragen, dass sogar er Grenzen hat.«

»Er ist ja auch ein ehemaliger Jäger. Denen liegt wohl im Blut, dass sie den physischen Verfall nicht einfach hinnehmen können. Nicht so wie wir anderen gebrechlichen Gestalten. Wir haben uns mit der Situation abzufinden, bis der Sensenmann uns holt. Und wusch …«

Mossman machte eine ausladende Geste wie mit einer Sense. Sie lächelte über sein theatralisches Verhalten und sagte:

»Und anschließend, nachdem das alles überstanden und er entlassen worden war, fing er an zu wandern, durch ganz Dänemark und in Teilen von Schweden. Aber es waren nicht einfach irgendwelche Wanderungen. Er ist wochen-, ja sogar monatelang gewandert … Ich glaube, er sucht Einsamkeit und innere Einkehr. Es scheint ein langer Prozess zu sein. Und ich glaube, das liegt an den Erlebnissen im Keller. Ich habe ihn mehrmals ganz konkret gebeten, sich Hilfe bei einem Experten zu suchen. Angeblich geht er immer noch zu dieser Militärpsychologin in der Svanemøllens Kaserne. Aber hat er ihr überhaupt alles erzählt? Bei Oxen weiß man nie.«

»Well, unser Freund ist ein ziemlich feiner Mensch, ausgestattet mit einem ausgeprägten Drang nach Selbstständigkeit.«

»So kann man das auch ausdrücken. Und jetzt bietest du mir einen Job an, damit du auf Pandoras Büchse sitzen und dafür sorgen kannst, dass sie fest verschlossen bleibt?«

Sie schmunzelte bei dem Gedanken. Zu Mossmans Glanzzeit als Chef des polizeilichen Nachrichtendienstes hatte er so viel gewogen, dass kein Deckel von irgendeiner Büchse hätte fallen können, wenn er darauf gesessen hätte.

Jetzt war er kantiger, und nur die herabhängenden Falten im Gesicht wie bei einem Bluthund erinnerten an den massigen Körper der Vergangenheit.

Mossman nickte und grinste breit.

Sie fragte:

»Du bist Rentner und Hundegassigeher in Vollzeit. Was für einen Auftrag könntest du für mich haben?«

Sie spürte bis ins Rückenmark, wie sehr sie die Gespräche in Mossmans Büro im Hauptquartier in Søborg vermisste.

»Es gibt eine kurze und eine lange Version, Franck. Weil wir es gerade so gemütlich haben, bekommst du die lange. Sieh mal, im letzten Jahr habe ich ein brutales Trauma erlitten, als ich …«

»Trauma? Du? Das wusste ich nicht.«

»Doch, doch … Das war, als meine Frau mich zu einem Malkurs in Skagen geschickt hat. Eine Woche im Vorhof der Hölle gemeinsam mit suchenden Frauen aus gehobenen Kreisen, die ihre kreative Ader ausgelebt haben. Und das entweder in Öl oder in Acryl … Es war schrecklich, sage ich dir. Traumatisch …«

Sie musste lauthals lachen, obwohl Mossman ihr einen Teil dieser Geschichte schon erzählt hatte, woran er sich aber offenbar nicht mehr erinnerte.

»Ich wurde aus Skagen evakuiert, als Salomonsen mich einberief, um Oxen zu überreden, nach Vejle zu fahren und sich die Heckenschützenmorde an den Veteranen anzusehen. Nun habe ich mir geschworen, dass es nie wieder dazu kommen darf, dass meine Frau sich derart einmischt und meine Bedürfnisse missachtet. Wie schon Churchill sagte: ›Never, never, never give up.‹ Denn was käme dann als Nächstes? Gips, Ton, Glas – oder Korbflechterei? Deshalb habe ich mir überlegt, dass ich mich von der Geißel des Rentnerdaseins – dem Müßiggang – befreien und mich wieder auf dem Arbeitsmarkt zeigen muss, damit ich ihre ewigen Kommentare und verrückten Ideen abwürgen kann, einfach indem ich sage: Ich habe keine Zeit, meine Liebe. Ich habe Arbeit zu erledigen.«

Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Mossman war der geborene Dramatiker. Sie liebte das.

»Die Malerdamen haben dich wirklich zu Tode erschreckt, stimmt’s? Ich dachte, sie würden vor Bewunderung in Ohnmacht fallen, weil sie mit dem ehemaligen Chef des dänischen Nachrichtendienstes einen Kurs belegen.«

»Hmm. Hier ist ein winziges Detail nicht zu vernachlässigen. Sie haben mich … einfach nicht erkannt.«

Mossmans betrübtes Bluthundgesicht verwandelte sich zu einem selbstironischen Lächeln.

»Ach, deshalb …«

»Nicht nur deshalb, Franck. Um ehrlich zu sein, geht es auch um etwas ernsthaftere Gedanken über den Sinn des Lebens. Darum, den Tag zu nutzen, carpe diem. Um den Versuch, jeden Tag einen Teil meines Intellekts zu mobilisieren und einen Grund dafür zu finden, aus dem Bett zu steigen. Aber jetzt hör zu … Das bringt mich zu Folgendem …«

Mossman zog seinen Geldbeutel aus der Innentasche und schob ihr eine kleine weiße Karte über den Tisch zu.

»What? Eine Visitenkarte?«

Mossman nickte langsam.

Sie las laut vor:

»›AM Consult, CEO Axel Mossman.‹ Hör auf, du hast deine eigene Firma? Und bist auch noch CEO? Das ist natürlich noch schicker als Geschäftsführer … Wie viele Angestellte gibt es? Einen, vermute ich?«

»Zwei, du darfst meinen Hund nicht vergessen. Bonnie ist als Spürhund angestellt.«

Sie lachte laut und sagte prustend:

»Na dann … viel Erfolg!«

»Nicht schlecht, als Gründer in meinem Alter, oder?«

Sie lächelte ihn an. Das ehemalige hohe Tier des Nachrichtendienstes wirkte gut gelaunt.

»Und worin berätst du, wenn ich fragen darf? Geheime Absprachen? Koffer mit doppelten Böden?«

»Touché! Jede Amöbe der westlichen Welt nennt sich ›Berater‹. Warum sollte man sich da nicht einreihen? Ich berate den Herrgott … und den Teufel.«

»Breiter Kundenstamm.«

»Und ich bin in der Lage, ein großes Netzwerk aus Freelancern mit viel Expertise hinzuzuziehen. Wie zum Beispiel einen außerordentlich kompetenten Menschen wie dich, Franck.«

»Schmeicheleien und billiger Portwein.«

»Keineswegs, keineswegs. Der Auftrag, den ich dir anbiete, wird deine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen – und du wirst ein paar Urlaubstage oder Freizeitausgleich dafür opfern müssen. Er ist sehr gut bezahlt.«

»Weiter.«

»Vier bis fünf Tage als Personenschützerin.«

»Personenschützerin? Für wen?«

»Eine Bereichsleiterin der Steuerbehörde.«

»Steuern? Okay, raus mit der Sprache.«

»Also, diese Bereichsleiterin gehört einer speziellen Arbeitsgruppe an, die eventuelle Aktivitäten dänischer Unternehmen und Steuerzahler im Ausland überwacht. Genauer gesagt: verstecktes Vermögen und Steuerhinterziehung. Sie wird an einem Treffen teilnehmen, bei dem sie einige Unterlagen zur Durchsicht erhält. Das Material steht zum Verkauf, und sie soll prüfen, ob der dänische Staat es kaufen sollte.«

»Ein Leak wie bei den anderen großen internationalen Fällen?«

»Davon gehe ich aus, auch wenn ich von meinem potenziellen Auftraggeber noch keine Bestätigung erhalten habe. Aber es ist kein Geheimnis, dass die Steuerbehörden schon 2016 eine große Datenmenge aus den sogenannten Panama Papers für einen Millionenbetrag erworben haben, auf der Jagd nach dänischen Steuergeldern, die in irgendwelchen Steueroasen versteckt sind. Und soweit ich weiß, war das ein ziemlich gutes Geschäft für den Staat. Ich schätze, dass es hier um etwas Ähnliches geht. Mein kleines Unternehmen soll für die Sicherheit der Dame auf ihrer Reise und während der Inspektion der ›Ware‹ sorgen. Und das läuft, wie immer in unserer Branche, nach dem need to know-Prinzip.«

»Noch mehr Tee?«

»Ja, danke.«

Sie ging in die Küche, um die Teekanne zu holen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Eine Frage erschien ihr logisch:

»Und warum wird nicht die Polizei um Unterstützung gebeten?«

Sie goss ihnen beiden ein und setzte sich wieder.

»Well … In der obersten Etage des Amtes kam man zu dem Schluss, dass es sinnvoller wäre, jemand von außen einzusetzen. Angeblich möchte man geheim halten, dass es überhaupt einen Kontakt gibt. Eine Enthüllung könnte die zukünftige Arbeit gefährden, wenn beschlossen würde, das Material zu kaufen. Nur wenige eingeweihte Personen verfügen über das Wissen, das ich gerade mit dir teile.«

Sie lehnte sich zurück und versuchte, den Vorschlag zu durchdenken.

»Danke für das Vertrauen. Aber warum setzt du nicht eine … agilere … Personenschützerin ein statt einer, die nur anderthalb Beine hat und nicht mal einen lahmen Ladendieb einholen kann?«

»Für mich zählt seit jeher die geistige Kapazität mehr als die physische.«

»Du sagtest ›Reise‹. Wo findet das Treffen statt?«

»In Charlotte Amalie, der Hauptstadt unserer ehemaligen dänischen Kolonie. Unser verlorenes Paradies. Ich selbst bin vor langer Zeit einmal dort gewesen.«

»Dänisch-Westindien?«

»Die US Virgin Islands oder Amerikanischen Jungferninseln, ja. Hätten wir sie nicht 1917 für einen Pappenstiel verkauft – ich glaube, es waren erbärmliche 25 Millionen Dollar –, könnten wir jetzt unter dänischen Palmen im Schatten sitzen und dänischen dunklen Rum trinken.«

»Warum so dermaßen exotisch? Warum nicht Hundige?«

Mossman zuckte mit den Schultern.

»Forderung des Verkäufers.«

»Aber du kennst doch die Regeln für Polizeibeamte und außerdienstliche Tätigkeiten, also warum fragst du mich überhaupt?«

»Regeln, ach, damit habe ich mich nie beschäftigt, Franck. Nicht im Detail.«

»Man muss für außerdienstliche Tätigkeiten eine Genehmigung beantragen, und es gibt Jobs, für die man von vornherein keine bekommt, zum Beispiel Personenschutz und alles, was mit Sicherheit zu tun hat. Dinge, die unvereinbar sind mit …«

»Ach, das sind Ammenmärchen, Franck. Nenn mir einen Beamten, der in seiner Freizeit noch keinen Nebenjob hatte – und nenn mir einen, der vorher eine Genehmigung beantragt hat. Regeln sind dafür da, gebrochen zu werden. Das solltest du doch am besten wissen.«

Eine Weile saß sie schweigend da und versuchte, die Situation zu überblicken. Dann fragte sie:

»Und das Honorar?«

»50 000 Kronen.«

»Hm, tut mir leid … Ich glaube nicht, dass …«

»Pro Tag, meine Liebe, pro angefangenen Tag.«

8.

Nach einer Nacht mit Tiefsttemperaturen um die vier Grad hatte die Sonne bereits in den frühen Morgenstunden genug Kraft, um den feuchtkalten Nebel zu vertreiben.

Wie eine Blüte, die sich langsam öffnete, offenbarte sich die Landschaft nun in ihrer ganzen üppigen Pracht. Es war grün in der Talsenke, grün entlang des rauschenden Flusses, grün an den abfallenden oder senkrecht aufragenden Felswänden, grün überall – und darüber blau wie das Meer.

Im Mai war es bereits Sommer in diesen Breitengraden, ganz im Norden Indiens, an der Schwelle zum Himalaya.

Im Laufe des Tages würde die Temperatur hier oben, gut tausend Meter über dem Meeresspiegel, wahrscheinlich auf siebzehn bis achtzehn Grad steigen.

Eine große, hagere Gestalt erschien auf dem Pfad, der einem Klippenvorsprung folgte und dann immer steiler durch die Bergvegetation hinaufführte. Es war ein Mann mittleren Alters, nur mit leichter Ausrüstung in Form eines Tourenrucksacks ausgestattet. Mit seinem Stock, einem stabilen Ast ohne Rinde mit handgefertigten Schnitzereien, arbeitete er sich mit sicheren, routinierten Schritten stetig den Berg hinauf.

Er stand häufig früh am Morgen auf und wanderte los, um in die grüne Welt einzutauchen.

In einem bis anderthalb Monaten wäre es dafür zu spät. Denn dann würde der Monsun mit seinen starken Regenfällen das Ganze zu einem fragwürdigen, manchmal riskanten Vergnügen machen.

Ein regelmäßiger Beobachter wüsste, dass der Mann immer dasselbe Ziel hatte: einen flachen Felsvorsprung hoch oben mit einer überwältigenden Aussicht über das Tal. Hier saß er mindestens eine Stunde lang nahezu regungslos, bevor er sich wieder an den Abstieg machte.