SOKO Ente - Helge Weichmann - E-Book

SOKO Ente E-Book

Helge Weichmann

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Beschreibung

Mit der Ruhe am Ententeich ist es vorbei: Ein Baulöwe plant, Luxusappartements am Ufer hochzuziehen, ein Umweltschützer kämpft für den Erhalt der Natur, ein Toter liegt im Auto, der Bürgermeister kollabiert und ein nächtlicher Anschlag färbt den See giftgrün. Die Enten ertragen alles mit stoischer Ruhe und beschäftigen sich lieber mit Futtersuche und Federpflege. Nur Charlie, eine ausnehmend gewitzte Jungente, wittert eine Verschwörung und beginnt, in der Menschenwelt zu ermitteln. Doch damit nimmt das Chaos seinen Lauf.

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Helge Weichmann

SOKO Ente

Ein tierischer Kriminalroman

Zum Buch

Ente gut, alles gut! Jungente Charlie und ihre Schar könnten das Dasein am Stadtsee genießen – wenn da nicht diese lästigen Menschen wären! Verschwundene Kinder, geheimnisvolle Taucher und sogar ein Mord sorgen dafür, dass es schnell vorbei ist mit der Beschaulichkeit. Um die Ruhe an ihrem Heimatgewässer wiederherzustellen, fangen die Enten an zu ermitteln. Ihre Detektivarbeit verursacht zunächst heilloses Chaos in der Menschenwelt, sogar der Katastrophenschutz muss anrücken. Doch Charlie und ihre Freunde geben nicht auf. Mit Schnabelspitzengefühl und kuriosen Ideen tasten sie sich voran, bis schließlich alle Fäden in einer einzigen Nacht zusammenlaufen. Dabei gerät die komplette Schar in Lebensgefahr. Kann Charlie für ein Happy Ent(e) sorgen?

Ein tierisches Krimivergnügen, gespickt mit viel Witz und Illustrationen des Autors.

 

Helge Weichmann wurde 1972 in der Pfalz geboren und ist seit 25 Jahren in Rheinhessen zu Hause. Während seines Studiums jobbte er als Musiker sowie Kameramann und bereiste zahlreiche Länder, bevor er sich als Filmemacher selbstständig machte. Seine Kreativität lebt er in vielen Bereichen aus: Er betreibt eine Medienagentur, arbeitet als Moderator, fotografiert, filmt, zeichnet und schreibt. Weichmann ist Sammler von Vintage-Gitarren, Weinliebhaber und begeisterter Hobbykoch (allerdings keine Entengerichte).

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Schandfieber (2018)

Schandglocke (2017)

Schwarze Sonne Roter Hahn (2017)

Schandkreuz (2016)

Schandgold (2014)

Schandgrab (2013)

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Eric Isselee / shutterstock.com

und © easyasaofficiala / fotolia.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6016-6

Haftungsausschluss

Enten und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Wasservögeln

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Woche am Neukirchener See

Am Montag zwitschert ein seltsamer Vogel dreimal, nacktes Fleisch leuchtet durch die Büsche, der Duke schießt den Pfeil aller Pfeile, ein Leviathan verschwindet im Dunst.

Der Dienstag dreht sich um Kekse, ein Auto lärmt, Hechte rücken zusammen, eine Kreissäge dringt in die Tiefe, Günter Rocker hat einen schlimmen Verdacht, ein Hai taucht fast auf, am Ende wird einem unerschrockenen Wassermann eingeheizt.

Am Mittwoch fliegt Laugengebäck, zwei grundverschiedene Drahtgitter werden wichtig, ebenso ein Sommerkrokodil und ein teuflisches Weißbrot, wo­rauf ein merkwürdiges Floß den See überquert.

Donnerstags hallen zwei Schreie, ein Astronaut schwitzt, der Bürgermeister zerstört die Stadt, darüber hinaus sorgen ein sehr kleiner Teich, ein toter Papierkorb und eine Stimme aus dem Jenseits für Unruhe.

Am Freitag zieht schlechter Odem über den See, eine Erinnerung kommt zurück, Magnus lässt Federn, ein Fisch wird angezogen, eine bekannte Stimme versetzt die Enten in Erstaunen.

Der Samstag offenbart eine Bazille, worauf eine Ente sinkt und eine lebende Boje vom Himmel fällt, böse Augen blinzeln über das Wasser, es zischen Federn, schließlich steht eine trauernde Unke im Mittelpunkt.

Sonntags erscheint eine grüne Kiste, Schmetterlinge reiben ihre Flügel, eine Prozession fällt auf die Knie, ein Ball landet und eine Ankündigung macht die Enten sehr glücklich.

 

Zeitung

 

Polizei stellt jugendliche

Vandalen am See –Beamter verletzt

Ein verletzter Beamter bei dramatischem Einsatz der Schutzpolizei Neukirchen in der Nacht von Donnerstag auf Freitag.

Von unserer Lokalreporterin Vanessa Kreuzke

Gegen 23 Uhr wurden die Beamten von Anwohnern gerufen, die einen Feuerschein und Stimmen im Naturschutzgebiet am östlichen Seeufer wahrgenommen hatten. Um 23.12 Uhr trafen Polizeiobermeister Wolfgang Ebinger und Polizeimeister Erwin Göbel am bezeichneten Ort ein und stellten eine Gruppe von vier jugendlichen Vandalen. Diese hatten im Buschwerk des Uferbereichs verbotswidrig ein Feuer entzündet, konsumierten Alkohol und spielten über ein Mobiltelefon laute Musik ab. Nach Aussagen der Beamten waren die Halbwüchsigen uneinsichtig und gaben trotzig Widerworte. Die Polizisten wurden der Situation jedoch Herr. Sie behandelten die Täter erkennungsdienstlich und erteilten einen Platzverweis, nachdem sie das Feuer löschen und den Abfall beseitigen ließen.

Beim Wiedereinstieg in sein Dienstfahrzeug quetschte sich Polizeimeister Göbel den rechten Mittelfinger in der Beifahrertür. Die Wunde wurde noch in der Nacht von seiner Ehefrau Irma versorgt. Auf Anfrage dieser Zeitung bestätigte sie, dass es ihrem Mann den Umständen entsprechend gut gehe. Sollte sich jedoch in den nächsten Tagen eine Infektion oder der Wundbrand einstellen, so könne ein Verlust des Fingers nicht ausgeschlossen werden. Im Fall der rücksichtslosen Vandalen am See ist also das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Würde der Regisseur einer Vorabendserie nach einer hübschen, aber nichtssagenden Kleinstadt suchen, die ein paar nette Häuser, Straßen, Grünflächen und sogar einen See bietet, in ihrer ereignislos-idyllischen Schläfrigkeit jedoch mühelos hinter den Intrigen, Liebeleien und Streitigkeiten der Serienprotagonisten zurückstehen und nichts weiter als eine bloße Kulisse darstellen würde, dann, tja, dann würde dieser Regisseur mit Sicherheit in Neukirchen fündig werden.

Neukirchen ist eine mittelgroße Stadt in einem mittelgroßen Landkreis irgendwo in Deutschland. Ihre Bedeutungslosigkeit lässt sich am besten daran ersehen, dass die in freundlichen Farben gestaltete Homepage www.willkommen-in-neukirchen.de an ihrem unteren Rand den kleinen, in grauer Schrift gehaltenen Vermerk trägt:

Letzte Änderung am 12.4.2017

Doch das Schicksal, das ja bekanntermaßen nicht wählerisch ist, wenn es um Zeit, Ort und Stärke seiner Schläge geht, hat aus einer Laune heraus beschlossen, ausgerechnet in Neukirchen eine geradezu aberwitzige Ereigniskette loszutreten. Eine Woche Zeit hat es sich gegeben, von Montag bis Sonntag, um das beschauliche Leben in Neukirchen durcheinanderzuwirbeln. Später sollten die Leute sagen, sie hätten schon seit Tagen ein ungutes Gefühl gehabt, ja, wie eine elektrische Aufladung in der Luft, ein Ziehen im großen Zeh, nein, den Tieren wäre auch nicht wohl gewesen, doch, man hätte schon etwas ahnen können.

Aber natürlich ahnte man nichts, und deshalb nahmen die Ereignisse ihren Anfang an einem – wie könnte es in Neukirchen auch anders sein – idyllischen und ruhigen Spätnachmittag.

Die Kamera des imaginären Regisseurs schwebt also aus der Vogelperspektive auf das Städtchen zu, sie zeigt die kleine Einkaufspassage und die ebenso überschaubare Fußgängerzone, sie verweilt einen Augenblick beim Brunnen in der Stadtmitte, streift am Rand das gegenüberliegende Bürgermeisteramt und erreicht nach kurzem Flug die Uferpromenade des Neukirchener Sees. Dort herrscht, wie es sich für einen sonnigen Mainachmittag gehört, reges Treiben: Familien schlendern am Wasser entlang, Bootsbesitzer sind am Steg zugange, auf dem Spielplatz nebenan geht es drunter und drüber. Nun gleitet die Kamera über den See und passiert eine Schar müßig dümpelnder Enten, bevor sie den Wald erreicht, der das östliche Ufer begrenzt. Es wird ruhiger, die Stimmen verhallen. Hier erstreckt sich das Neukirchener Naturschutzgebiet, es ist dicht bewachsen und wird lediglich von einigen Forst- und Spazierwegen durchzogen. Die Sonne steht tief, zwischen den Stämmen hängen bereits die Schatten.

Näher und näher kommen die Büsche, die den grünen Uferstreifen bedecken. Die Kamera erwischt gerade noch zwei sommersprossige Jungen, die mit schnellen Schritten den Weg verlassen und ins Unterholz huschen, als sie auch schon mitten in den Sträuchern angekommen ist. Vorsichtig pirscht sie sich voran, als könnte sie jemanden stören. Da – sind da nicht Stimmen zu hören? Gemurmelte Worte, das perlende Lachen einer Frau?

Der Regisseur der Vorabendserie hätte seine helle Freude an dem, was seine Kamera an diesem Montag hier im Naturschutzgebiet filmen würde.

 

 

Montag

Am Montag zwitschert ein seltsamer Vogel dreimal, nacktes Fleisch leuchtet durch die Büsche, der Duke schießt den Pfeil aller Pfeile, ein Leviathan verschwindet im Dunst.

»Lass das! Nicht hier!« Die Frau schob den Arm des Mannes von sich. Doch ihre Stimme klang neckisch und strafte die abwehrenden Worte Lügen.

»Ach ja? Und warum nicht?« Der Mann legte erneut seinen Arm um sie, diesmal ließ sie es geschehen. »Hast du Angst, dass uns ein Eichhörnchen zuguckt?«

»Na ja, es kann doch immer mal jemand vorbeikommen.« Ihrem Einwand fehlte es hörbar an Substanz. Der Mann winkte ab und nutzte die Gelegenheit, um sich über die Knöpfe ihrer Bluse herzumachen. Gleichzeitig schaffte er das Kunststück, mit der anderen Hand sein Hemd auszuziehen.

Die Frau ließ nicht locker. »Schau mal, man sieht, dass wir hier reingelaufen sind. Wenn jetzt jemand vorbeikommt, wird er bestimmt neugierig.«

Der Mann blickte leicht genervt nach hinten. Der Schlamm des letzten Regengusses war unter den Bäumen noch nicht vollständig getrocknet. Die Spur ihrer Schuhe – seine groß und flach, ihre klein und mit Absatz – führte deutlich sichtbar zu der eingewachsenen Lichtung, auf der sie sich nun befanden. Erneut wischte er ihre Argumente mit einer Handbewegung beiseite. »Papperlapapp. Wer soll sich dabei schon etwas denken?«

Doch die Sorge der Frau war durchaus begründet. Zwar kannten sich die beiden schon seit vielen Jahren und waren verheiratet, aber nicht miteinander. Das machte die Sache kompliziert, sodass sich ihre amourösen Eskapaden meist auf kurze gegenseitige Besuche oder unbequeme Autogymnastik beschränkten. Heute hatte der Mann das abgelegene Naturschutzgebiet hinter dem See vorgeschlagen, um überraschend auftauchenden Ehepartnern und Bandscheibenschäden vorzubeugen.

Sie schmiegte sich an ihn und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. »Hast ja recht. Wir sollten die Gelegenheit …« Der Rest ihres Satzes wurde undeutlich, als sie die Bluse über den Kopf zog. Hastig streifte er seine Hose herunter, rückte seine Boxershorts zurecht und zog den Bauch ein. Plötzlich stockte die Frau mitten in der Bewegung.

»Aua!« Wie ein kopfloses Monster in einem Horrorfilm zuckte sie mit der halb ausgezogenen Bluse hin und her.

»Was ist los?«

»Ich … ich hänge mit den Haaren fest«, kam ihre Stimme undeutlich aus dem Textil.

Der Mann unterdrückte einen Fluch. Heute war aber auch der Wurm drin! Er begann, an der Bluse zu zupfen. Verärgert stellte er fest, dass sich die Knöpfe auf geradezu biestige Art und Weise in ihren Haaren verheddert hatten. Um besser sehen zu können, beugte er sich nach vorn – genau im selben Augenblick, in dem ihr Kopf herausschoss. Hörbar knallte der Schädelknochen gegen seine Nase.

»Uhhh!«, quetschte er hervor, da floss auch schon Blut zwischen seinen Fingern hindurch.

»O nein! Schatz, das war keine Absicht!« Aufgeregt packte sie ihn bei den Schultern, während weiter Blut aus seiner Nase auf den Boden tropfte und er nach einem Taschentuch kramte. Ermattet lehnte er sich an einen Baum und spuckte eine Mischung aus Speichel und Blut ins Gebüsch. Seine Libido war inzwischen am Nullpunkt angelangt, er ahnte, dass es ihr genauso ging. Die beiden schauten sich an – er hielt das blutige Tuch vors Gesicht, sie zupfte ein halbes Dutzend Haare aus den Blusenknöpfen und ließ sie davonfliegen – und mussten wider Willen lachen.

»So ein Schäferstündchen in Gottes freier Natur hätte ich mir, ehrlich gesagt, etwas romantischer vorgestellt«, nuschelte er nasal. Sie nickte und wollte etwas antworten, da hob er die Hand. Eine Sekunde später hörte sie es auch. Ein Auto!

Alarmiert fuhren die beiden hoch. Was um alles in der Welt hatte ein Auto mitten im Naturschutzgebiet verloren?

 

»Cool!« Lasse war beeindruckt von den Bastel­künsten seines Bruders Jakob. Dieser hatte es geschafft, innerhalb von fünf Minuten aus einem biegsamen Ast und einem Stück Schnur einen Bogen zu bauen.

Jakob zog probeweise an der improvisierten Sehne und schaute zufrieden zu, wie sich das Holz bog. Mit knapp zwölf war er eineinhalb Jahre älter als sein Bruder, deshalb war es wichtig, dass alle guten Ideen und deren Durchführung in seinen Händen lagen. Er spannte den Bogen und prüfte völlig ahnungslos, aber mit fachmännischem Blick die Knoten.

»Schau, wie beim Duke!«

»Boah. Voll wie beim Duke!«, wiederholte Lasse ehrfürchtig.

›Der Duke‹, das war der digitale Actionheld Duke Nukem, mit dem die beiden Brüder fast täglich wilde Abenteuer auf ihrer Spielkonsole erlebten. Wenn sie in die Rolle des Dukes schlüpften, waren sie nicht mehr rothaarig, dünnbeinig und mit Sommersprossen übersät, o nein, Duke Nukem war ein cooler Held mit Zigarre und mächtiger Bewaffnung, der gegen Aliens kämpfte und diese reihenweise niedermetzelte. Heute Nachmittag allerdings waren sie ohne den Duke unterwegs, denn ihre Mutter hatte sie mit einem Keine-Widerrede-Blick von der Playstation weggeholt und vor die Tür geschickt. Die Begründung lautete, dass bei so schönem Wetter draußen an der frischen Luft gespielt werden solle. Dummerweise kannten die beiden keine Spiele, die man »draußen an der frischen Luft« spielen konnte. Also entschlossen sie sich, die Abenteuer des Dukes in den Wald am See zu versetzen. Eine gute Basis dafür war Jakobs Duke-Nukem-Rucksack in grünbraunem Armee-Design, in dem sich zwar nur eine halb leere Chipstüte befand, der aber durch ein großes Warnzeichen für Radioaktivität zu beeindrucken wusste. Nach mehreren Kampfübungen, die stets zugunsten von Jakob ausgingen, wollten sie sich nun zusätzlich zum Rucksack ein standesgemäßes Waffenarsenal zulegen, bevor sie nach Hause mussten. Der Bogen entsprach zwar nicht ganz den üblichen Strahlen- und Phaserwaffen des Dukes, war aber ein guter Anfang. Lasse schaute seinen Bruder erwartungsvoll an, was nun zu tun sei.

»Los!«, kommandierte der Große wichtigtuerisch, »such einen dünnen, geraden Ast. Wir bauen einen Pfeil!«

 

Innerhalb von Sekunden waren der Mann und die Frau zwischen den Büschen verschwunden. Hinter ihnen lag der See, rechts und links versperrte Gehölz den Weg. Also blieb ihnen nur, sich so gut wie möglich zu verstecken. Der Mann hatte das Gefühl, sein blasser, von den Boxershorts mehr als dürftig bedeckter Körper würde wie eine helle Laterne durch das Unterholz leuchten, doch seine Kleider lagen in unerreichbarer Ferne. Das Auto kam näher, trockenes Holz knackte auf dem unbefestigten Boden.

»Forstwirtschaft vielleicht?«, wisperte die Frau.

Ihr Begleiter schüttelte den Kopf. »Viel zu weit entfernt von den Wegen.« Sein Flüstern war kaum zu verstehen, weil er noch immer das blutige Taschentuch auf die Nase presste. »Muss ein ganzes Stück quer durch den Wald gefahren sein.«

Ein massiger Schatten schob sich durch die Büsche und erreichte die Lichtung, auf der sich die beiden vor weniger als einer Minute getummelt hatten. Es war ein grüner Geländewagen, ein edler britischer Range Rover, der nicht nach Forstverwaltung aussah, sondern eher nach Golfplatz, Herrenhaus und Fuchsjagd. Zwei Silhouetten waren darin zu erkennen. Das Nummernschild gehörte zu einer größeren Stadt im Umland.

Der Motor verstummte. Eine Sekunde lang war nichts zu hören außer dem Ticken, mit dem das erhitzte Metall abkühlte.

Die beiden heimlichen Beobachter schauten sich an. Hatte ein anderes Pärchen dieselbe Idee gehabt wie sie, sich aber schlauerweise für eine Unterlage aus Leder statt aus Baumwurzeln entschieden?

Die Fahrertür öffnete sich. Ein Mann stieg aus, nicht allzu groß, aber schlank und von katzenhafter Geschmeidigkeit. Er trug einen schwarzen Anzug, sein Gesicht kannten die beiden heimlichen Beobachter nicht. Der heimliche Lover?

Die amouröse Theorie fiel in sich zusammen, als die Scheibe auf der Beifahrerseite nach unten fuhr und einen zweiten Mann offenbarte, der sich sichtlich unwohl fühlte. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.

»Hör zu, wir … wir können darüber reden, okay?«

Der andere trat an die offene Scheibe heran. Seine Stimme klang heiser, hatte einen harten, fremdländischen Akzent mit rollendem R und leierte ein wenig. »Vitali hat dir vertraut. Er hat geglaubt, du wärst sein Freund. Und nun?«

Der Mann hinter den Büschen hätte trotz der ernsten Situation fast laut losgelacht. Was war denn hier los? Hatten die beiden ein bisschen zu oft den Paten geschaut und machten einen auf Don Vito Corleone?

»Sag … sag Vitali, dass ich ihn …«

Der Heisere unterbrach das Gestotter. »Was würdest du an Vitalis Stelle tun? Sag schon! Was würdest du tun, eh?«

Die Frau warf ihrem Begleiter einen Blick zu, und er sah, dass sie dasselbe dachte. Das Ganze erinnerte an die Generalprobe einer Laienspielgruppe, die einen Schwank über das organisierte Verbrechen aufzuführen gedachte. Fehlte nur noch die versteckte Kamera.

Plötzlich ging alles rasend schnell. Mit einer kaum sichtbaren Bewegung zog der stehende Mann etwas Schwarzes hervor und hielt es in das offene Wagenfenster, drei gedämpfte, pfeifende Zischlaute ertönten. Man hätte sie – gerade hier im Naturschutzgebiet – leicht für den Ruf eines seltsamen Vogels halten können. Doch welcher seltsame Vogel würde den Mann im Range Rover in spastische Zuckungen versetzen und laut aufstöhnen lassen?

 

»Psssst!« Beschwörend legte Jakob den Finger an den Mund. »Wir müssen total leise sein, hier sind überall Aliens!«

Lasse nickte eifrig und hätte sich vor Aufregung fast verschluckt. Die beiden Jungen waren in ihrem Duke-Nukem-Universum versunken, allenthalben lauerten grässliche Außerirdische, die nur durch den starken Bogen des Dukes besiegt werden konnten. Der dazugehörige Pfeil war aus einem kerzengeraden Ast geschnitzt worden, den Lasse voller Stolz herangebracht hatte. Nun schlichen die beiden geduckt durch das Unterholz und spähten nach imaginären Feinden.

»Da!«, wisperte Lasse und zeigte ins Nichts. »Im Busch!«

Jakob nickte mit heldenmäßig zusammengekniffenen Augen, legte den Bogen an und schoss. Der Pfeil trudelte zwar mehr oder weniger gemächlich ins Unterholz, doch vor dem geistigen Auge der Jungs riss er eine Schneise der Verwüstung in die waffenstarrenden Reihen der Aliens. Kaum hatte Lasse den Pfeil geholt, als er auch schon auf ein weiteres Gebüsch deutete.

»Komm!«, zischte er und zog seinen großen Bruder hinter sich her. »Dahinter ist Dr. Proton. Den kriegen wir!«

Bedächtig hob Jakob den Bogen. Dr. Proton war der gefährlichste Gegenspieler des Dukes. Er musste viel Kraft in diesen Schuss legen.

 

Ohne es zu merken, hatten der Mann und die Frau ihre Hände ineinander gekrallt. Starr vor Entsetzen beobachteten sie, wie der Killer ohne jede Hast die Waffe verstaute und einen dunklen Aktenkoffer vom Rücksitz nahm. Der andere schnappte derweilen nach Luft und ließ gurgelnde Geräusche hören, während er seine Hände vors Gesicht hob. Sie glänzten vor Blut und machten ihm unmissverständlich klar, dass sein Kompagnon ihm gerade dreimal in den Bauch geschossen hatte.

Der Mann beugte sich zum Wagenfenster herein. »Bestell deinem Bruder Grüße von Vitali, wenn du ihn gleich wiedersiehst.«

Mit einer heiseren Mischung aus Lachen und Husten wandte er sich ab und ging davon. Seine raschelnden Schritte verklangen, nun war der schnappende Atem des Sterbenden überdeutlich zu hören.

»Was … was …« Die Stimme der Frau brach weg, doch ihr Begleiter konnte den Satz in Gedanken mühelos vollenden: Was tun? Warten? Die Deckung verlassen? Dem Mann helfen und sich möglicherweise in Gefahr begeben? In seiner Nacktheit kam er sich mehr als verletzlich vor.

Mitten in seinen Überlegungen sah er etwas dermaßen Skurriles, dass sein Mund weit offen stand. Ein dünner Ast kam durch die Luft geflogen, trudelte um seine eigene Achse und landete mit einem metallischen Pling im offenen Beifahrerfenster des Range Rovers. Der sterbende Mann nahm das Holzstück gar nicht wahr, sein Röcheln wurde schwächer.

Eine Sekunde später raschelte es in den Büschen, zwei Jungen mit roten Haaren und Sommersprossen, eindeutig Brüder, erschienen. Einer hielt etwas in der Hand, das wie ein selbstgebauter Bogen aussah. Beim Anblick des Geländewagens blieben sie wie vom Donner gerührt stehen.

 

»O Kacke!«

Innerhalb eines Augenblicks schrumpfte Jakob von den Ausmaßen des Dukes auf seine normale Größe zurück. Gerade war sein Pfeil mit einem hellen Geräusch gegen irgendetwas geprallt, das sich jenseits des Gebüschs befand. Die Jungs hatten beunruhigt den Rucksack auf den Boden gestellt und waren dem Pfeil nachgegangen.

Nun schluckte Jakob angesichts des Geländewagens. Wenn er einen Kratzer in das Auto gemacht hatte, würde sein Vater ihm das Fell über die Ohren ziehen, das war mehr als gewiss! Immerhin – der Mann, dessen Schemen er auf der Beifahrerseite erkennen konnte, war bis jetzt noch nicht schimpfend ausgestiegen.

Er nahm all seinen Mut zusammen und ging auf das offene Fenster zu. Lasse wollte nicht allein zurückbleiben und folgte ihm.

»Eh, Ent… Entschuldigung.« Jakobs Stimme klang geradezu jämmerlich und un-Duke-mäßig, er räusperte sich und versuchte, etwas erwachsener zu klingen. »Wir, also, wir haben unseren Pfeil hier irgendwohin geschossen und …« Der Satz versickerte, seine Augen wurden groß. Mit dem Mann vor ihm war etwas nicht in Ordnung, er glänzte vor Schweiß und keuchte in kurzen merkwürdigen Stößen. Jakob blickte nach unten und riss seine Augen noch weiter auf, seine Nackenhaare sträubten sich. Alles war rot, der Mann saß in seinem eigenen Blut, der Bauch, der Sitz, seine Hände, die gesamte Beifahrerseite waren wie in rote Farbe getaucht. Das war aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war der Pfeil – sein Pfeil! –, der aus dem grauenvollen Rot herausragte, als wäre er ein gefährlicher Stachel. Jakob merkte, wie Lasse neben ihm ebenfalls erstarrte. Mit schrecklicher Endgültigkeit drehte der Mann seinen Kopf in Richtung der Jungen. Sein Keuchen verwandelte sich in ein krampfartiges Luftschnappen, er hob seine blutige Hand, als wolle er nach ihnen greifen, dann sackte sie nach unten. Pfeifend entwich der letzte Atem, die Augen des Mannes verdrehten sich.

Jakob konnte seinen Blick nicht von dem Pfeil lösen, der schräg auf dem rot getränkten Bauch des Mannes lag. Eineinhalb Jahre intensives Duke Nukem-Training, unzählige Kämpfe, glorreiche Siege, Massen erschlagener Aliens – all diese heroischen Abenteuer konnten nicht verhindern, dass ihm nun Tränen in die Augen stiegen.

»Wir haben ihn umgebracht«, flüsterte er und merkte, wie der Boden unter ihm zu wanken anfing.

 

Die beiden Erwachsenen hinter dem Busch waren hin und her gerissen. Einerseits wollten sie aufspringen und die Buben in den Arm nehmen, die gerade zugesehen hatten, wie ein Mensch gestorben war. Andererseits war ihnen klar, dass ihr amouröses Geheimnis dann nicht länger ein Geheimnis bleiben würde. Was tun? Während Gefühl und Rationalität gegeneinander kämpften, kam Bewegung in die Jungs. Wie auf ein geheimes Signal hin fuhren sie herum und rannten in den Wald, als wären tausend Teufel hinter ihnen her. Automatisch hob der Mann seinen Kopf, um besser sehen zu können. Als sich der Größere am Rand der Lichtung nochmals umwandte, duckte er sich wieder. Er hielt den Atem an. Ihm war, als würde der Blick des Jungen genau die Stelle fixieren, an der er kauerte. Hatte er ihn gesehen? Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, fingen die Kinderfüße wieder an zu rascheln und sich zu entfernen.

Nach einem Augenblick der Stille fing die Frau hemmungslos an zu weinen und stürzte sich in seine Arme. Er wiegte sie tröstend und versuchte, das wirbelnde Karussell in seinem Kopf anzuhalten.

»Wir … wir müssen weg hier!« Zwischen Keuchen und krampfartigem Heulen waren ihre Worte kaum zu verstehen. Er nickte langsam, obwohl sie es, an ihn gepresst, nicht sehen konnte.

»Ja. Der Typ ist tot, dem können wir nicht mehr helfen. Die Kinder sind auf und davon, keine Ahnung, wo die hingehören. Wenn wir jetzt großen Alarm schlagen, bringt uns das nur unnütze Scherereien.«

»Wir müssen weg!«, wiederholte sie, als habe er nichts gesagt. »Das Auto soll finden, wer will, ist mir egal. Lass uns unsere Kleider nehmen und abhauen.«

Wieder nickte er. Die Frau trocknete ihre Tränen, schluckte und holte tief Luft. Es tat gut, eine Entscheidung getroffen zu haben. Die beiden standen vorsichtig auf, um einen Blick auf die Lichtung zu werfen. Es folgte tiefste Ernüchterung. Was sie sahen, brachte sie dazu, die letzten zwanzig Minuten nochmals Revue passieren zu lassen: Die Abdrücke ihrer Schuhe führten deutlich sichtbar durch den Schlamm hierher, er hatte den Boden vollgeblutet, ins Gebüsch gespuckt, und ihre von der Bluse abgerissenen Haare waren vom Wind in den umliegenden Sträuchern verteilt worden. Die beiden mussten sich eingestehen, dass sie es selbst mit voller Absicht kaum geschafft hätten, noch mehr kriminaltechnisch verwertbare Spuren zu hinterlassen – und das an einem Ort, an dem gerade ein Mord geschehen war.

Sie saßen ganz schön in der Tinte.

 

Sechs Stunden später war der Frühsommerabend von der Dunkelheit abgelöst worden, die Betriebsamkeit der Seepromenade hatte sich in nächtliche Stille verwandelt. Nach der Wärme des Tages war es überraschend kühl, Dunst lag auf dem See, milchige Schwaden glitten wie ruhelose Totengeister über das Wasser. Im Naturschutzgebiet ließ allerlei Nachtgetier seine unheimlichen Rufe erschallen, hier knackte es, dort raschelte ein Halm, über all dem stand der Mond als fahle Sichel.

Die Frau spürte, wie Angstschweiß ihren Rücken benetzte. Sie war froh über die beruhigende Gegenwart des Mannes, wenngleich die Aufgabe, die nun auf sie wartete, als Albdruck auf ihr lastete. Die beiden hatten sich Ausreden einfallen lassen, um ihren späten Ausflug den jeweiligen Ehepartnern erklären zu können. Nun schlichen sie in schwarzer Kleidung auf die Lichtung zu. Das Aufatmen des Mannes war deutlich zu hören, als Lack im Mondlicht glänzte. Der Range Rover, er stand noch da. Ihre größte Sorge war unbegründet gewesen.

Die Dunkelheit entfärbte den grünen Wagen und ließ ihn wie einen schwarzen Klumpen aussehen. Sie traten heran und zogen Handschuhe an. Auf dem Weg durch den Wald hatten sie bereits alles besprochen, also gab es nicht mehr viel zu sagen. Die Frau nahm eine Gartenschere aus ihrer Hosentasche und fing an, die Zweige und Büsche zwischen Auto und Seeufer zu kappen. Dabei versuchte sie, mit dem Rücken zur Windschutzscheibe zu stehen, um nicht auf den Toten schauen zu müssen. Hinter ihr knackte Metall, während der Mann die Handbremse löste und die Schaltung in den Leerlauf brachte. Nach einer Minute hatte sie die größten Zweige abgeschnitten, die dunstige Wasseroberfläche lugte hindurch.

»Los geht’s«, wisperte der Mann und trat ans Heck des Wagens, sie folgte ihm. Gemeinsam stemmten sie sich gegen das kalte Blech, doch das schwere Auto ließ sich kaum voranschieben. Erst als sie es in rhythmischen Schüben vor und zurück bewegten, kamen die Räder zögerlich ins Rollen. Der Range Rover fuhr nach links.

»Die Lenkung! Schnell!«, keuchte der Mann, der den einmal gewonnenen Schwung nicht aufgeben wollte. Die Frau eilte zur Fahrertür, riss sie auf und griff nach dem Lenkrad. Sie bildete sich ein, Verwesungsgestank riechen zu können. Einen Augenblick lang befiel sie die irrationale Furcht, der Tote könne auffahren und seine Leichenhände nach ihr ausstrecken. Sie kämpfte die Panik nieder und schaffte es, den Geländewagen in eine Rechtskurve zu zwingen. Das Auto wurde schneller, sie hieb eilig die Tür zu. Der Mann stolperte und wäre fast der Länge nach hingeschlagen, weil seine Kraft plötzlich ins Leere lief. Polternd rollte der Range Rover die abschüssige Böschung zum See hinunter, bevor er mit Urgewalt ins Wasser rauschte und eine mächtige Welle erzeugte. Der Mann und die Frau hielten erschrocken den Atem an – das Geräusch hallte weit über das stille Wasser. Doch nichts passierte, kein Licht ging an, niemand brüllte. Mit pochenden Herzen schauten die beiden zu, wie der dunkle Wagen seinem eigenen Schwung Tribut zollte und allmählich vom Ufer wegtrieb. Luftblasen blubberten und ließen ihn Zentimeter für Zentimeter tiefer sinken, doch noch lag das offene Seitenfenster der kastenförmigen Karosserie oberhalb der Wasseroberfläche.

Die Frau starrte der dunklen Silhouette nach. Der geisterhafte Dunst verwischte die Konturen und ließ das Auto in ihrer Fantasie zu einem Leviathan werden, der sein Opfer fest in den stählernen Klauen hielt und sich bereit machte, es in die Tiefe zu reißen.

Kaum wurde der davontreibende Wagen eins mit den Nebelfetzen, da stülpte ihr eine Mischung aus Entsetzen und Erleichterung den Magen um. Sie beugte sich nach vorn und kotzte ihr gesamtes Abendessen auf die Schuhe des Mannes. Zwischen Schüben von Cannelloni (heruntergewürgt, um zu Hause keine Fragen wegen Appetitlosigkeit hervorzurufen) und drei Gläsern Wein (getrunken, um das flatternde Nervenkostüm zu beruhigen) hoffte sie mit jeder Faser ihres Verstandes, dass kein Mensch den nächtlichen See beobachtet haben mochte und niemand unentdeckt in der Nähe lauerte.