Something happened to Ally - Hayley Krischer - E-Book

Something happened to Ally E-Book

Hayley Krischer

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Beschreibung

Schockierend, intensiv und ehrlich! Auf welcher Seite stehst du, wenn es nur eine richtige Seite geben kann? Ally ist bis über beide Ohren verliebt in Sean. Als er sie während einer Party anspricht und sie sich näherkommen, sieht sie sich am Ziel ihrer Träume. Doch dann geschieht das Undenkbare: Sean ignoriert ihr »Nein«. Während Ally danach völlig verstört ist, bittet Sean seine beste Freundin Blythe, die Sache wieder »in Ordnung zu bringen«. Tatsächlich ist Blythe bereit, ihm zu helfen. Also sucht sie Allys Nähe, um zu verhindern, dass die Sean anzeigt. Und es scheint, als würde ihre Strategie aufgehen: Ally beginnt ihr zu vertrauen. Doch dann kommen Blythe selbst Zweifel und sie ist immer stärker hin- und hergerissen zwischen ihrer Loyalität gegenüber Sean und ihrem Mitgefühl für Ally. - Ein bewegendes Buch über sexuelle Gewalt, falsche Loyalität und über den Mut, das Schweigen zu brechen  - »Voller Wahrheit, Hoffnung und Empowerment – eine Geschichte, die noch lange nachwirkt« Amber Smith

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 420

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Zwei Mädchen, zwei Perspektiven und eine Tat, die alles verändert

 

Ally ist total verliebt, und zwar in den umwerfend gut aussehenden Star-Fußballer ihrer Schule, Sean Nessel. Als Sean und sie sich während einer Party endlich näherkommen, sieht sie sich am Ziel ihrer Träume.

Doch dann geschieht das Undenkbare: Sean ignoriert ihr Nein.

Traumatisiert verlässt Ally die Party. Dabei wird sie von Blythe beobachtet, einem der beliebtesten Mädchen der Schule. Blythe ist mit Sean befreundet und wird von ihm angefleht, die Sache mit Ally wieder »in Ordnung zu bringen«. Tatsächlich ist sie bereit, ihm zu helfen. Also sucht sie Allys Nähe, manipuliert sie, will verhindern, dass sie Sean anzeigt. Und es scheint, als würde ihre Strategie aufgehen. Doch dann kommen Blythe Zweifel. Was ist in der Nacht wirklich passiert?

 

Schockierend, intensiv und ehrlich – ein Roman, der aufrüttelt und bewegt!

Hayley Krischer

Something Happened to Ally

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Michelle Landau

Für Jake und Elke

Wenn da jemand gewesen wäre, der gesagt hätte: »Hör zu, ich weiß nicht, was hier los ist, aber mir ist etwas passiert. Und wenn es dir ähnlich geht, dann bist du nicht allein. Du bist nicht verdorben. Du bist nicht schlecht und es ist nicht deine Schuld.« Wenn da jemand gewesen wäre, der das einfach mal eingeworfen hätte – ich glaube, das hätte den Verlauf meines Lebens vollkommen verändert.

 

Tarana Burke, Gründerin der #MeToo-Bewegung

Anmerkung

Dieser Roman behandelt potenziell triggernde und verstörende Themen wie Alkohol- und Drogenmissbrauch, drastische Darstellungen von sexueller Nötigung und Vergewaltigung, Mental-Health-Probleme sowie Cybermobbing.

Mehr Informationen und eine Liste ausgewählter Hilfe- und Anlaufstellen finden sich am Ende des eBooks.

1

Blythe

Es gibt Nächte, da scheint einem die ganze Welt offenzustehen und die Zukunft vor lauter Möglichkeiten nur so überzusprudeln. Das weiße Licht der Laternen strahlt wie Discokugeln in deinen Augen, während du die Straße hinabrast. Sterne funkeln am schwarzen Himmel. Dein Lieblingssong dröhnt aus den Lautsprechern und der Bass lässt das Auto vibrieren, während du und deine Freunde laut mitsingen.

Heute ist nicht so eine Nacht.

Kaum sind wir bei Sophie Miller angekommen, lassen mich Devon, mein Freund, und sein bester Freund Sean einfach stehen, um mit dem Rest des Fußballteams im Garten Zigarren zu rauchen.

»Zigarren sind doch nur was für alte Männer«, sage ich zu Dev, als der sich mit einem Kuss von mir verabschiedet.

»Ich nehm Kaugummi, bevor wir rumknutschen, versprochen«, antwortet er. Noch ein Kuss und weg ist er.

Sean, der himmlische Sean Nessel, ist der Grund, wieso wir hier sind. Sean steht auf ein Mädchen aus der Elften – Ally Greenleaf. Um sie geht es heute Abend. »Sie starrt mich die ganze Zeit an«, hat er vorhin gesagt, als wir noch bei Dev waren. »Tun wir das nicht alle?«, hätte ich am liebsten erwidert, aber das hätte seltsam geklungen.

Sean und Dev müssen noch irgendwo in der Nähe sein – ich höre sie und die anderen Jungs lautstark ihren gestrigen Sieg feiern. State Champions, natürlich nur dank Seans entscheidendem Tor. Die Mannschaft ist ständig in der Schülerzeitung. Quasi täglich auf der Titelseite. Als ob sie nicht schon genug Aufmerksamkeit bekommt, seit das Footballteam letztes Jahr aufgelöst wurde. Jetzt richten all die Football-Moms und der Rest der Stadt ihre gesamte Aufmerksamkeit eben auf die Jungs des Fußballteams. Ihre ach so unterwürfige Aufmerksamkeit. Draußen im Garten grölen die Jungs jetzt ihren Urzeitschrei: »SIE-GER, SIE-GER!« Ich finde dieses männlich animalische Verbundenheitsgehabe mit dem ganzen Rumgestampfe und Geklatsche unangenehm. Aber alle anderen auf der Party scheinen voll drauf abzufahren, so wie die sich alle die Hälse in Richtung des Fensters verrenken, durch das die Rufe hereindringen. Die Jungs müssen nicht mal im Zimmer sein, um wie immer im Mittelpunkt zu stehen.

Meine Mädels – alle nennen uns nur Die Vier: ich, Donnie Alperstein, Suki Fields und Cate Sandoval – sollten schon längst hier sein, sind sie aber nicht. Die Leute sind es nicht gewohnt, mich allein zu sehen. Ich verschanze mich hinter meinem Handy und tippe eine Nachricht an Cate.

Wo seid ihr?

 

Sind in 2 Minuten da.

»Oh mein Gott, Blythe Jensen!« Ein Mädchen, das ich nicht kenne, hopst vor mir auf und ab. Das passiert ständig. Wenn sie betrunken sind, kommen sie alle zu mir und stellen sich vor. Ich nicke höflich.

»Wir haben zusammen Chemie«, erklärt sie.

»Wo ist das Bierfass?«

Sie gerät ins Stottern. Und dann beschreibt siemir tatsächlich den Weg zum Fass. Ich stoppe sie, bevor sie mir zu sehr auf die Nerven gehen kann.

»Es wäre so hilfreich, wenn du mir einfach ein Bier bringen würdest«, sage ich.

»Oh! Na klar!«

Ally Greenleaf, das Mädchen, das Sean heute abschleppen will, kommt etwa eine Minute später durch die Tür, zusammen mit Cherie Mizner, Raj Patel und noch einem Mädchen, ich glaube Cheries Schwester. Ally ist eine Bohnenstange. Langer Hals. Blasses Mondgesicht. Volle Lippen. Wie ein Baby. Ihre Haare sind leicht gewellt. Sie trägt einen Pony, das steht nicht vielen. Sie hat schöne Haare. Ein paar süße Sommersprossen. An einem Arm trägt sie mehrere Armreife. Die sind nett, das muss ich ihr lassen.

Das Chemie-Mädchen steht wieder vor mir und zuckt nervös. Es bedankt sich, als es mir das Bier gibt.

Aber ich will Ally beobachten. Ich will verstehen, was Sean in ihr sieht. Sie wendet sich ihrer Freundin zu, ihr Gesicht strahlt unschuldig, wie Gesichter das eben manchmal tun. Sie ist eins von diesen Mädchen, die nicht wissen, wie hübsch sie eigentlich sind. Ich kann es in ihren Augen sehen. Dieser nervöse Blick. Noch ein naives Mädchen, das keine Ahnung hat, was auf es zukommt. Denn ich habe das mit Sean schon so oft durchgemacht. Ally wird heulend zu mir gerannt kommen und wissen wollen, was zwischen ihnen passiert ist. Ich weiß, du dachtest, dass er dich wirklich mag. Und er mag dich ja auch, Süße, aber Sean ist einfach nicht der Beziehungstyp. Genau das wird in ein paar Tagen passieren. Vielleicht erst in einer Woche. Das ist typisch Sean. Und immer wieder diese bescheuerten Mädchen, die glauben, dass Sean sich für sie ändern wird, dass sie die eine sind.

Ich schreibe Dev eine Nachricht:

Nessels Mädel ist hier. Ihr solltet besser reinkommen.

Cate kommt hereinmarschiert, Suki und Donni im Schlepptau. Sie drängt sich durch die Menge zu mir durch, die anderen beiden folgen. Niemand beschwert sich darüber, von ihnen aus dem Weg geschoben zu werden. Alle machen freiwillig Platz.

»Tut mir so, so, so leid, dass wir so lange gebraucht haben. Meine Mutter hat rumgezickt«, erklärt Cate.

»Oh, Mütter«, sage ich. Meine Stimme trieft vor Ironie.

Cates Mutter kommt aus Puerto Rico. Sie macht Cate immer noch jeden Morgen ein Pausenbrot. Bekocht uns, wenn wir bei ihnen zu Hause sind. Gibt uns Wein. Will uns mästen.

Meine Mutter ist nicht so. Ich wünschte, ich müsste meiner Mutter nicht dabei helfen, ihre Tabletten zu sortieren oder die Anrufe meines Vaters zu beantworten, weil der sich immer solche Sorgen um sie macht. Aber so ist das nun mal.

»Außerdem hat Donnie ewig gebraucht«, sagt Suki und wirft Donni einen Blick zu, die ein wenig hin und her schwankt. In letzter Zeit klaut sie öfter das übrig gebliebene Vicodin ihrer Schwester, das die nach einer Laufverletzung nehmen musste. Vielleicht hat sie zu viel davon geschluckt. Sie trägt eine übergroße Armyjacke, ein kurzes weißes T-Shirt, das ihren braunen Bauch zur Schau stellt, und schwarze Skinny-Jeans. Ihre schwarzen Locken sind heute Abend besonders wild – die untere Hälfte ist hellblau gefärbt.

Donnie dreht sich um und stolpert über ihre eigenen Füße. Ich halte sie am Ellbogen fest.

»Alles okay, Don?«

»B, mir geht’s super.« Sie leckt sich über die Lippen und wischt sich die Haare aus den Augen. Dann zieht sie eine blaue Strähne aus ihrem Mund.

Ally

Sammi, Raj und ich sitzen in einer kleinen Runde zusammen, trinken Bier und rauchen Rajs Lucky Strikes, die meine Kehle völlig ruinieren. Die Lucky Strikes gehören Rajs Großvater. Der hat ein Lungenemphysem und Lucky Strikes sind nicht leicht zu finden, deswegen muss Raj für ihn online nach Tabakläden suchen, die diese Sorte noch verkaufen. Einmal im Monat machen sie dann zusammen eine Art Pilgerfahrt, Rajs Großvater immer mit seinem Sauerstofftank im Gepäck. Er hortet die Zigaretten. Solange Raj ihn nicht verrät, gibt er ihm jedes Mal ein, zwei Packungen ab.

Raj spielt seit der zehnten Klasse in der Fußballmannschaft unserer Schule. Was bedeutet, dass er mit Sean Nessel befreundet ist, was bedeutet, dass er oft ganz nah an Sean Nessel dran ist.

Wir spielen »Wer hatte schon mal Sex?« und wenden uns dabei Blythe Jensen zu. Manchmal frage ich mich, wie es wohl ist, sie zu sein. Wenn ich ihr in der Schule auf dem Gang begegne, schaut sie immer stur geradeaus, als ob da ein Licht am Ende des Flurs wäre oder eine Kamera oder so, irgendetwas, ganz weit weg und erhaben. Es ist fast so, als würde sie einfach irgendwo in die Ferne schauen, wäre gar nicht mehr im Hier und Jetzt.

»Ich glaube, die Frage ist nicht, ob Blythe Jensen schon Sex hatte«, sage ich. »Sie ist schon seit Ewigkeiten mit Devon Strong zusammen. Die Frage ist also, wie viel Sex.«

»Eigentlich ist die Frage, ob sie eine Peitsche und Handschellen hat«, sagt Sammi. »Sie sieht aus wie eine Domina.«

»Okay, Raj, du bist dran. Was ist mit dem da?« Ich zeige auf einen ultradünnen Hockeyspieler mit unnatürlich breiten Schultern.

»Ich weiß nicht mal, wieso wir dieses Spiel überhaupt spielen«, sagt Raj. »Die Hälfte der Leute hier hatte schon Sex.«

Raj hat welliges braunes Haar, es ist weich und fluffig und fällt irgendwie immer über sein eines Auge. All diese Weichheit, diese leuchtend grünen Augen und seine Haut – ein sanftes Braun, geerbt von seinem indischstämmigen Vater – stehen in absolutem Kontrast zu seinem durchdringenden Blick. Selbst hinter der schwarz gerahmten Brille sind seine Augen zu Schlitzen verengt, als ob er wütend wäre oder zu viel nachdenkt. »Ich bin nur konstant skeptisch«, hat er mir mal erklärt, als ich ihn darauf angesprochen habe.

Sean Nessel gleitet an einem Fenster vorbei. Sean Nessel und sein seidiges blondes Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt. Ich sage es jetzt einfach, wie es ist: Alles in meinem Leben dreht sich um Sean Nessel. Das ist kein Geheimnis. Raj und Sammi verstehen das volle Ausmaß meiner Sean-Nessel-Obsession.

Sogar dieses bescheuerte Spiel ist nur eine Ablenkung. Wir sind aus einem bestimmten Grund auf dieser Party. Wir drei warten darauf, dass hier etwas passiert. Weil Sean Nessel am Freitagmorgen in der Schule zu mir und Raj gekommen ist.

An

Meinen

Spind.

Deswegen hat Sammis ältere Schwester Cherie, die übers Wochenende vom College nach Hause gekommen ist, uns dabei geholfen, uns rauszuschleichen. Deswegen haben wir ihre Eltern angelogen. Und Sammi belügt ihre Eltern nie. Deswegen habe ich meinem Vater erzählt, dass ich bei Sammi übernachte und wir nicht vorhaben wegzugehen. Deswegen sind wir auf dieser Party. Weil Sean Nessel gesagt hat, dass wir kommen sollen. Dass ich kommen soll. Na ja, genau genommen hat er erst Raj eingeladen. Und dann hat er sich mir zugewandt, seine Stimme hat in meinem Kopf widergehallt. Sein Finger ist zu mir gewandert und hat auf mich gezeigt.

Du solltest auch kommen.

Das hat Sean Nessel zu mir gesagt. Direkt in mein Gesicht. Du solltest auch kommen.

In den Collagen, die ich mache, ist Sean Nessel meine kleine Puppe. Ich verwandle seine Pupillen in winzige Herzchen. Ich tauche ihn in einen rosa Schimmer. Ich verziere ihn mit Regenbogen und Herzen.

Sean Nessel. Mit diesen Wangenknochen und dem blonden Haar, das er locker auf eine Seite geworfen hat. Diese Schultern. Muskulöse Oberarme, die sich unter seinem T-Shirt abzeichnen. Und wie kann ein Typ eigentlich so perfekte Haut haben?

Ich schüttle den Kopf, um wieder von meiner Wolke runterzukommen, als Sean Nessel durch die Tür tritt wie ein verdammtes magisches Einhorn.

Blythe

Sean und Dev schlendern nach ihrer Zigarrenrunde lachend durch die Gartentür. Uhh. Uhh. Uhh. Das Gejohle im Raum wird noch zwei Dezibel lauter. Ich nippe an meinem Drink und werfe Suki aus den Augenwinkeln einen vielsagenden Blick zu.

Hinter dem ganzen Lärm höre ich Sophie Miller rufen: »Leute, Leeuutee!« Fast schon flennend.

»Was hast du denn erwartet, wenn du die ganze Schule zu dir nach Hause einlädst, Süße?«, fragt Donnie lallend.

»Hast du etwa gedacht, wir würden Rücksicht nehmen? Neeeee«, sage ich.

Niemand nimmt Rücksicht auf irgendwen.

Ally

Die Leute grölen. Alle wollen Sean Nessels Aufmerksamkeit erregen. Ich nehme einen großen Schluck von meinem Bier. Starre ihn an, bis meine Augen tränen.

Ich werde dich hypnotisieren, Sean Nessel. Ich starre ihn an. Starre ihn an, starre ihn an. Bis meine Kräfte ihn dazu bringen, mich anzusehen. Seine Hände. Seine Arme. Sein ausgewaschenes türkises T-Shirt, das sich über seiner Brust spannt. Seine geröteten Wangen, wie ein Sonnenuntergang. Er ist ein Sonnenuntergang. Und ich bin am Strand. Ich schaue weg, weil mir plötzlich so heiß ist und ich kaum noch atmen kann. Ich vergrabe mein Gesicht in Sammis Schulter.

»Du zitterst«, sagt sie.

Ich zittere. Ich muss meinen Kopf wieder heben. Nur noch einmal schauen. Wollte er nicht, dass ich komme? Er wollte, dass ich komme. Also bin ich hier. Ich habe so viel auf mich genommen, um hier zu sein! Schau mich an, Sean Nessel. Schau mich an.

Und dann passiert es. Sean Nessel erwidert meinen Blick. Einmal. Zweimal. Es entsteht eine Art Verbindung zwischen uns, ein enger, verschwitzter Tunnel der Liebe, in dem alle anderen einfach verschwinden.

Tief Luft holen. Wenn ich es denn schaffe. Das Atmen fällt mir schwer.

Mir wird schlecht.

Sammi kneift mich ins Bein und ich schlage ihre Hand weg.

Den Blick noch immer auf mich gerichtet nickt Sean nach links in Richtung einer Tür. Meine unzähligen Jedi-Psychotricks zeigen heute Abend endlich Wirkung. Ich bin das Mädchen, nach dem du gesucht hast.

Blythe

Ich beobachte, wie Sean sich mit Ally unterhält. Dummes Mädchen. Sie ist so berechenbar, genau wie all die anderen. Es fängt immer ganz unschuldig an. Er geht mit jemandem joggen. Oder er begleitet jemanden zur nächsten Stunde. Oder er macht bei einem Turnier mit einem Mädchen der anderen Mannschaft rum, wie am ersten Abend der State Championships vor ein paar Wochen. Ich erinnere mich an die Nationalen Ausscheidungsspiele in South Carolina letztes Jahr, als Sean Dev erzählt hat, dass er zwei Mädels mit auf sein Hotelzimmer genommen hat. Zwei? Klingt wie ein Porno, habe ich damals zu Dev gesagt. Aber dann ist es mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen und jedes Mal, wenn ich daran gedacht habe, war da plötzlich diese Hitze zwischen meinen Schenkeln.

Dev ist ganz anders als Sean. Dev ist betroffen, wenn ich von meiner Mutter erzähle. Dev hört tatsächlich zu. Er gibt mir immer das Gefühl, dass alles, was ich sage, wirklich wichtig ist.

Wenn Dev ein Golden Retriever ist, dann ist Sean ein Sibirischer Husky, unberechenbar und vielleicht ein bisschen zu wild.

Cate versucht mir ein Foto von sich in einem Kleid zu zeigen, das sie beim Schulball tragen will, der erst in zwei Monaten ist. Es ist ein helles, lavendelfarbenes Kleid. Ein Trägeroberteil mit Cut-outs in der Mitte und am Rücken und ein Bleistiftrock. Der untere Teil ist so eng, dass man sie herausschälen müsste. Ich muss an meine eigenen Oberschenkel denken, daran, dass ich ein bisschen Cellulite habe, und daran, wie meine Mutter mir das letzten Sommer am Pool vorgehalten hat. Meine Mutter wird mit mir Kleider für den Ball shoppen gehen wollen. Das ist unser Ding. Ding sage ich so leichthin.

»Also, wie findest du das Kleid, B?«

Donni mischt sich ein: »Ich finde, es hat viel zu viel Ausschnitt. Das sieht billig aus.«

Donnie ist die einzige Person, bei der es mir egal ist, dass ich nicht so hübsch bin wie sie.

Ich nehme Cate das Handy aus der Hand. Das Kleid ist total hässlich. Und ich hasse sie dafür, dass sie das Thema angesprochen und mich dazu gebracht hat, an meine Mutter zu denken, mit der ich irgendwann ein Kleid kaufen muss.

»Ich kann doch nichts dafür, dass ich so ’ne Oberweite hab«, sagt Cate mit einem Blick nach unten auf ihre Brust. Ihre Brüste sind schon so groß, seit sie zehn ist. Ihr wunder Punkt.

»Ich dachte, du wolltest mal diesen Body ausprobieren. Um dich flacher zu machen«, meint Suki und reibt mit den Händen über ihre Brust. Suki sieht in ihren schwarzen Leggins und dem weiten T-Shirt aus wie ein Bleistift. Sie bezeichnet sich selbst als stolze jüdisch-chinesische Amerikanerin. Sie feiert dreimal Neujahr: Rosch ha-Schana, das chinesische Neujahrsfest und mit den anderen Idioten am 31. Dezember.

»So ein Kleid sieht doch gar nichts aus mit wenig Oberweite.«

»Probier noch mal diese No-Carb-Diät. Als du die das letzte Mal gemacht hast, ist dein Busen richtig geschrumpft«, schlage ich vor.

»Vielleicht sollte sie einfach wieder Wattebäusche mit Orangensaft essen«, sagt Donnie. Ihre Sticheleien sind immer tödlich.

»Moment mal, du hast echt diese Wattedinger mit Orangensaft gegessen? Ich dachte, das war nur ein Witz. Ich dachte, du hast dir nur diese Videos auf YouTube angeschaut«, sage ich.

»Ihr macht euch gerade darüber lustig, dass ich mal eine Essstörung hatte, ist euch das klar? Das finde ich nicht cool«, erwidert Cate jetzt ernst.

»Moment, Moment. Als du mal eine Essstörung hattest?«, fragt Suki.

Donnie und ich sehen uns mit weit aufgerissenen Augen an. Oh, wenn Suki es auf Cate abgesehen hat, wird’s richtig heftig. Wir hüpfen auf und ab, strecken die Hände in die Luft.

»Wooaaa! Bitchfight!«

Aber Suki lässt sich nicht darauf ein. »Beruhigt euch mal wieder. Nix Bitchfight.« Sie sieht mich bittend an und beißt dann die Zähne zusammen. Sie wendet sich Cate zu. Die beiden sind echt dicke. So wie Donnie und ich. Essstörungen sind eine Grenze, die man nicht überschreitet – den Mist verschweigt man, vergräbt ihn irgendwo ganz tief –, aber Suki hat es getan. »Cate, du weißt, dass ich mich nicht streiten will.«

Donnie zieht Suki auf, verdreht ihre Worte, stichelt: »Suki will sich nicht streeeiiten.«

»Klar, weit und breit kein Bitchfight zu sehen. Absolut nicht«, sage ich.

Cates Augen werden groß und schimmern feucht. Sie zündet sich eine Zigarette an. Tiefer Atemzug. Cate mit ihrer breitbeinigen Körperhaltung, den goldenen Creolen, in die ihr Name eingestanzt ist – CATE –, das ist alles nur Show. Von uns allen ist sie diejenige, die man am einfachsten aufziehen kann.

»Ich lache nicht«, sagt Cate, obwohl sie lächelt. Sie weiß, dass unsere Sticheleien kein Ende nehmen, wenn sie nicht lacht. Lach es einfach weg, Cate. Einfach weglachen.

»Werd erwachsen. Bulimie ist so was von 1987«, sage ich und gebe ihr das Hör-auf-Zeichen – eine knappe Handbewegung vor meiner Kehle.

Cate schnippt ihre Asche nach mir und Donnie, was wir vermutlich verdient haben. Ich drehe den Kopf, um den glühenden Fitzelchen auszuweichen, und sehe deswegen, wie Sean Ally in ein anderes Zimmer führt.

Ally

»Heyyyyy, Greenleaf«, sagt Sean Nessel gedehnt. Vielleicht ist er betrunken. »Ich will dir was zeigen.« Er führt mich in die Küche. Seine Hand ist weicher, als ich erwartet hatte, und feucht.

»Was ist Greenleaf eigentlich für ein Name?«

Ich erzähle Sean Nessel die ganze Geschichte. Dass mein Großvater aus Deutschland nach Ellis Island gekommen ist und dass der Beamte der Einwanderungsbehörde den Namen Grünblatt nicht aussprechen konnte – das »ü« hat ihm Probleme bereitet. »Greenleaf« ist die englische Übersetzung von Grünblatt. Mein Großvater wollte auf keinen Fall Greenleaf heißen, weil ihm das nicht wie ein echt amerikanischer Name vorkam, aber am Ende musste er sich damit abfinden.

Ich rede viel zu viel. Ich kann nicht aufhören. Halt die Klappe, Ally. Halt die Klappe.

Sean Nessel sieht mich an, als wäre ich verrückt.

»Früher haben sich die Leute auch über meinen Nachnamen lustig gemacht. Du weißt schon, Nessel. Die haben mich Nestlé Kakao genannt. Nesquikhase. Schokogesicht.«

»Moment mal. Jemand hat sich über dich lustig gemacht?«

»Klar. Passiert das nicht jedem mal?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand sich über dich lustig macht«, sage ich. Meine Herzchenaugen sind kurz davor zu explodieren und mir fällt plötzlich ein, dass ich einen BH ohne Polster trage. Meine Brustwarzen werden Sean Nessel gleich wortwörtlich ins Auge springen. Ich verschränke die Arme vor der Brust.

Er reiht drei kleine Wodkaflaschen auf dem Küchentresen auf, diese Fläschchen, die man im Flugzeug bekommt. Ich brauche echt nichts mehr zu trinken. Ich hatte ein Bier und fühle mich jetzt schon dumm und gereizt. Aber er öffnet die erste Flasche, nimmt einen Schluck und reicht sie dann mir.

»Voll süß«, sage ich. »Miniflaschen. Eigentlich alle kleinen Sachen.«

»Trink.«

»Du bist wie der verrückte Hutmacher«, necke ich ihn. »Trink das. Diese Flasche wird dich groß machen.«

»Ist das nicht genau das, was du willst? Groß sein?«

»Ich will mich zudröhnen.«

STOPP.

Habe ich das echt gerade gesagt? Ich bin viel zu direkt. Zu übermütig. Außerdem bin ich schon betrunken. Was tue ich hier eigentlich?

»Äh, also, ich meine natürlich nicht zudröhnen«, sage ich. Aber solche Aussagen lassen sich nicht zurücknehmen.

»He, alles okay«, sagt er und lacht. »Du bist witzig.« Aber ich fühle mich nicht witzig. Ich fühle mich viel zu erwachsen. Meine Haare sind offen und lang, zerzaust vom Herbstwind. Ich schüttle den Kopf, lasse ein paar Strähnen über ein Auge fallen. Und dann tue ich, was jeder vernünftige Mensch in Anwesenheit eines Gottes wie Sean Nessel tun würde. Ich nehme einen großen Schluck.

Mein Mund brennt. Ich ersticke fast an einem unterdrückten Hustenanfall.

»Nimm noch einen. Das nimmt dem ersten die Schärfe«, sagt er.

»Das brennt.«

»Soll es ja auch.«

Ich setzte die Flasche wieder an die Lippen und der Wodka schwappt in meinen Mund. Ich erhasche einen Blick auf Sammi und Raj, die immer noch gemütlich auf der Couch sitzen, mit ihrem Bier und ein paar Freunden. Mein Traum wird endlich wahr, aber ich fühle mich total überfordert, alles geht viel zu schnell, wie in einer dieser komischen Autowerbungen, in der die Lichter über eine dunkle Wüstenstraße rasen.

Er reicht mir eine Flasche Hard Seltzer und sagt mir, dass ich damit nachspülen soll. Einen Schluck nach dem anderen. Ganz simpel, sagt er. Also gehorche ich, weil ich mit Sean Nessel Wodka trinke. Wenn mir dieses Jahr sonst nichts Spannendes mehr passiert, ist dieser Moment, in dem ich Wodka aus kleinen Flugzeugflaschen trinke, völlig ausreichend.

Jetzt legt er eine Hand an meinen Hinterkopf und wuschelt mir durch die Haare. »Du bist richtig süß, Ally«, sagt er. »Mir gefällt es, wie du mich in der Schule anschaust. Du hast schöne Haare. Ich bin echt froh, dass du heute gekommen bist. Ich bin nur deswegen hier, weißt du?«

Meine Augen werden groß und ich lächle. Meine Hände zittern. Ich bekomme keine Luft. Mein Mund ist taub, als er seine Zunge hineinschiebt. Ich will seinen Kuss erwidern, aber mein Kopf ist so heiß und seine Zunge fühlt sich so groß an in meinem Mund, dass ich nicht mehr tun kann, als meinen Hals zu bewegen. Es dauert nicht lange, bis sich mein Mund wund anfühlt und mein Gesicht schweißnass ist. Mir ist schwindelig. Ich sollte mich wohl besser setzen, aber als Sean Nessel mich fragt, ob ich mit nach oben komme, sage ich Ja.

Ich weiß, was »nach oben gehen« bedeutet. Es bedeutet Klamotten ausziehen.

Blythe

Cherie sitzt direkt hinter mir auf der Sofalehne. Sie bemerkt mich nicht, bis ich sie in die Seite pikse.

»Oh, Blythe. Heyyy«, sagt sie.

Cherie war früher das angesagteste Mädchen der ganzen Schule, bis sie in ihrem letzten Jahr an der Highschool zur radikalen Feministin mutiert ist. Hat einfach ihre ganzen Freundinnen und Freunde sitzen gelassen. Hat mit niemandem mehr gesprochen, außer mit zwei Mädels aus der Theatergruppe, die heute auch auf der Party sind.

»Deine Freundin ist in die düstere Höhle der Sünde verschwunden«, sage ich. Es macht so viel Spaß, Cherie zu quälen.

»Was soll das denn bedeuten?«, fragt sie. »Welche Freundin?«

»Ally Greenleaf. Die gehört doch zu dir, oder?«

»Eher zu meiner Schwester.«

Ich zucke mit den Schultern. Inzwischen trinke ich Whiskey mit Cola, hat Donnie besorgt. Das Zeug brennt, als es meine Kehle runterfließt. Donnie hakt sich bei mir ein.

»Diese Jungs nehmen sich, was sie wollen, das weißt du doch«, meint Donnie zu Cherie.

Cherie wendet sich ab, ihre Stirn in besorgte Falten gelegt.

~

Ich habe das Zeitgefühl total verloren. Mein Whiskey-Cola ist leer. Zeit zu gehen. Ich küsse Dev und streichle seinen Nacken. Ich will zu ihm nach Hause. Seine Mutter macht uns bestimmt gegrillte Käsesandwiches. Denn Devs Mutter ist die Art Mutter, die einem um zwölf Uhr nachts noch ein Sandwich macht, weil Dev für sie das Allerwichtigste ist. Meine Mutter ist unfähig, was das angeht. So ist das eben, wenn man eine bipolare Mutter hat. Man kriegt um Mitternacht kein gegrilltes Sandwich mehr. Stattdessen jede Menge Sorgen.

Ich schüttle den Gedanken ab und denke stattdessen an Devs Mom. Daran, wie sie nachher bei uns in der Küche rumstehen wird. Wie ich auf Devs Schoß sitzen und ein Glas Vollmilch trinken werde, während sie uns über die Party ausfragt. Wie sie mich Liebes nennt. Dieser Blick, mit dem Dev mich ansieht. Diese Augen, die mich festhalten. Mich packen. Wir werden auf sein Zimmer gehen und uns nackt in sein Bett legen.

»Lass uns gehen«, flüstere ich und knabbere an seinem Ohrläppchen.

»Nessel«, sagt er. »Wir müssen auf Nessel warten.«

2

Ally

Sean Nessel drückt eine Schlafzimmertür auf. Er legt seine Hände an meine Hüften und schiebt uns beide hindurch. Es ist so leicht, fast wie Schlittschuhlaufen. Wir setzen uns auf den Boden und küssen uns wieder, aber diesmal sanft, ohne die ganze Spucke überall. Er legt mich auf den Boden, schlüpft aus seiner Jacke, reibt durch das T-Shirt meine Brüste, dann unter dem Shirt, über meinem BH, und dann unter meinem BH.

Ich will etwas flüstern, aber wenn ich den Mund aufmache, kommt bestimmt nur etwas Blödes raus, so was wie »Ich habe das noch nie gemacht«. Und ich will, dass er mich berührt. Ich will genau hier sein, betrunken, und wild mit Sean Nessel rummachen, auch wenn ich nicht die beste Küsserin bin und auch wenn meine Brüste nicht riesig sind und auch wenn mich noch nie wirklich jemand unter meinem BH berührt hat.

Dann sind seine Hände in meiner Jeans und ich lasse auch das zu, weil mir so schön warm ist und weil seine Hände sich so gut auf meinen Oberschenkeln anfühlen. Wir küssen uns eine ganze Weile so. Mein ganzer Körper vibriert. Ich bin so was von betrunken.

Du willst aber etwas anderes hören, nicht wahr? Dass ich Angst habe. Oder dass es sich nicht gut anfühlt. Aber das tut es. Es ist gleichzeitig erschreckend und großartig.

Die Musik von unten dröhnt durch den Boden zu uns hoch – gerade läuft dieser eine Song, nicht wirklich ein langsamer Song, aber gefühlvoll und schwermütig. Mein Körper bewegt sich im Rhythmus mit Sean Nessel und ich spüre ihn. Du weißt, was ich meine. Spüre ihn. In Gedanken bin ich an diesem völlig verrückten Ort voller Rosen und Blumen und all den Regenbogen und Federn, mit denen ich sein Gesicht in meinen Collagen schmücke. Ich bin erregt. Ich habe schon andere Jungs geküsst, aber es hat sich noch nie so angefühlt wie jetzt.

Er zieht langsam meine Unterhose runter und ich atme so heftig und dann steht er auf und ich liege auf dem Boden, die Knie zusammen und meine Unterhose hängt an einem Knöchel, und er versucht, seine Schuhe von den Füßen zu kicken, und lacht, weil er es nicht schafft. Er tanzt lustig herum oder vielleicht stolpert er nur. Wie auch immer, ich lache.

Er macht den Reißverschluss an seiner Hose auf. Wieso macht er den Reißverschluss an seiner Hose auf?

Unter uns ist die Party in vollem Gang, noch immer dröhnt dieser Song durch den Fußboden.

»Warte«, sage ich.

Aber er stöhnt nur, irgendwie so: mh-hm.

»Warte.«

Und innerhalb von drei Sekunden liegt er auf mir. Sein Körper ist schwer. Der raue Teppich und seine wollene Fußballjacke kratzen über meinen Rücken und meine Schenkel. Mit einer Hand drücke ich heftig gegen seine Schulter, schiebe ihn weg, aber er achtet gar nicht darauf. Mein T-Shirt ist nach oben gerutscht, aber untenrum bin ich vollkommen nackt und sein Penis stößt gegen die Innenseite meiner Schenkel und dann näher an meiner Scheide.

»Sean, ich will nicht …«

»Schhh, entspann dich«, brummt er.

»Du musst aufhören.«

Er zwingt seinen Penis in mich hinein und es fühlt sich an, als würde ich reißen, sprichwörtlich entzweireißen. Es tut so weh und er stöhnt, schiebt sich tiefer. Dann ist da plötzlich etwas Nasses zwischen meinen Beinen. Er presst seine Hüfte gegen mein knochiges Schambein und ich schiebe sein Gesicht mit einer Hand weg.

»Du tust mir weh«, sage ich. Ich kann einfach nicht glauben, dass das passiert. Hört er mich denn nicht?

Mein Körper ist müde vom Alkohol, trotzdem wehre ich mich, drücke gegen seine Brust. Aber der Schmerz ist wie ein krasser Blitz, also schreie ich auf und er legt eine Hand über meinen Mund. Mit der anderen drückt er meine Schulter auf den Boden und rammt sich noch tiefer in mich hinein. Ich schlage mit meiner Faust auf seinen Rücken.

Ich kann mich nicht bewegen.

Ich kann mich nicht bewegen.

Wieder schreie ich, doch es ist kaum mehr als ein schwaches Rufen; meine Stimme scheint es nicht über meine Lippen zu schaffen.

Als sein Körper gegen meinen knallt, beginnt es in meinem Kopf leise zu klingeln. Das Klingeln dringt durch meine Ohren in meine Nase und meine Kehle hinab.

Er steht auf und greift nach dem Lichtschalter und ich weine und meine Knie zittern und das Licht geht an. Die Innenseiten meiner Oberschenkel sind voller Blut und seine Jacke auch.

Ich bin hysterisch, kann kaum Luft holen, und Sean Nessel ist außer sich. »Heilige Scheiße, was zur Hölle ist das? Deine Periode?«

»Nein«, schluchze ich, schockiert von meinem eigenen Blut. Meine Worte holpern. »Ich weiß nicht.« Ich wische mir den Rotz aus dem Gesicht.

Er flucht und läuft im Zimmer auf und ab, sagt mir, dass er sich den Schwanz aufgerissen hat und deswegen jetzt seine Fußballjacke voller Blut ist. »Wie sollen wir diesen ganzen Scheiß denn wieder wegbekommen?«, fragt er. Er läuft weiter auf und ab, noch immer ohne Hose, während ich weine. An seinem Penis ist Blut, bis er endlich ein Taschentuch findet und es abwischt.

Er schmeißt das blutige Taschentuch in den Müll und wirft mir dann die Packung zu, befiehlt mir, mich sauber zu machen. Also tue ich es. Ich tue alles, was er sagt. Ich kann nicht mehr selbst denken. Ich war noch nie in meinem Leben so gelähmt.

»Okay, okay«, murmelt er immer wieder, läuft auf und ab und zieht seine Hose wieder an. »Ich hole deine Freundin, bleib einfach hier und hör auf zu weinen oder so. Es ist alles in Ordnung.«

Ich war noch nie so betrunken. Aber bin ich das überhaupt? Bin ich wirklich so betrunken? Weiß ich nicht ganz genau, was gerade passiert ist? War ich nicht dabei? Er sieht mich noch einmal an, als wäre ich nicht dasselbe Mädchen, mit dem er nach oben gegangen ist. Mein Mund ist taub. Mir ist schwindelig und ich bin zumindest angetrunken und so verwirrt. Ich kann nur noch daran denken, dass mein Vater es herausfinden wird. Die ganze Schule wird es erfahren.

Ich renne hinüber zum Mülleimer, in dem die ganzen blutigen Taschentücher liegen, und übergebe mich. Kotze schießt aus meinem Mund und verbrennt alles.

Mit meinem Sweatshirt wische ich mir die Kotze und den Rotz aus dem Gesicht und drehe mich zu ihm um.

»Ich habe dir gesagt, dass du aufhören sollst.« Wieder breche ich in Tränen aus. Literweise Tränen.

Sein Gesicht ist ausdruckslos, verwirrt. Er fährt sich mit der Hand durch die Haare und beginnt wieder, auf und ab zu laufen. Diese Haare. In meinem ersten Sean-Nessel-Traum habe ich ihn geküsst und ihm über seine Haare gestreichelt wie einem süßen Welpen.

Ich wedle mit den Armen, weil ich aussehe wie eine Ente, wenn ich weine. Im Dunkeln hat sich der Raum groß angefühlt, aber bei Licht betrachtet ist er winzig. Auf dem Boden liegen schmutzige Socken und ich kippe den Rest meines Hard Seltzers auf einen davon und wische damit das letzte Blut von meinen Schenkeln und meinem Knöchel.

Er steht einfach nur da, kopfschüttelnd.

~

Unten. Gesichter flackern im seltsamen Discolicht und ich habe keine Ahnung, wo Sammi ist. Ich schubse mich zur Haustür durch. Gefühlt dauert es Stunden, bis ich dort ankomme, und es drängen immer mehr Leute in den Flur.

Meine Schulter brennt. Ich kann die Tür nicht sehen. Ich will doch nur dir Tür sehen, bevor ich wieder weine. Bevor ich es hier nicht rausschaffe, ohne zu kotzen oder zu schreien oder auf die Knie zu fallen.

Hoffentlich verschwindet jede Spur meines Blutes von Sean Nessels Jacke, wenn er sie wäscht. Hoffentlich schaut mich Sean Nessel am Montag in der Schule nicht einmal an. Ich hoffe, er kann einfach lächeln und weitergehen.

3

Blythe

Ich hake meinen kleinen Finger um Sukis und ziehe sie zum Bad in der Nähe der Treppe. Ich kann echt nicht fassen, dass wir auf Nessel warten müssen. Auf Sean. Mr Perfect, der gerade irgendwo eine Elftklässlerin verführt, mit der er danach nie wieder reden wird. Ich brauche etwas, das mich wach hält, und Suki hat ein frisch angefangenes Döschen Ritalin dabei. Wir zermahlen eine Tablette auf dem Rand des Waschbeckens und schnupfen das Pulver. Es wirkt schnell und ein Ruck durchfährt mich. Genau die richtige Menge Energie, damit ich die Jungs noch nach Hause fahren kann. Nur ein kleiner Aufputscher. Aber ich bin zittrig. Suki auch. Wir sehen es uns gegenseitig an. Noch ein paar Schlucke Bier, um den Rausch etwas zu dämpfen. Das ist alles.

»Wo ist Sean?«, fragt Suki.

»Oben, mit irgendeiner Elftklässlerin.«

»Ah, das«, sagt sie. Ihre Augen werden glasig, sie presst die Zähne zusammen.

»Ja, das.«

Suki hat Seans Masche selbst schon mitgemacht. Jedes Mal, wenn ich ihr erzähle, dass Sean gerade was mit irgendeinem Mädchen hat, sieht sie ganz klein aus – und das kommt ziemlich oft vor. Vielleicht lüge ich sie das nächste Mal einfach an, denn das hier kommt mir echt grausam vor.

Es ist mindestens sechs Monate her, dass die beiden zusammen waren. Sie hat sich damals schon seine Babys kriegen sehen – so was macht ein Typ wie Sean Nessel eben mit dir. Und es hat eine Woche lang gehalten, das mit den beiden. Dann habe ich rausgefunden, dass er Sex mit Jen Tucker hatte, in ihrem Auto, und mit Blake Sawyer hinter der Sporthalle. Ich habe nie behauptet, dass sie meine Freundin ist, hat Sean gemeint, als ich ihn darauf angesprochen habe.

Ihre Hände auf dem Waschbeckenrand zittern. »Sukes, deine Hände. Die zittern voll«, sage ich.

Sie zeigt auf meine Hände. Die zittern auch.

Irgendetwas ist heute Abend anders. Irgendetwas stimmt nicht.

~

Als ich aus dem Bad komme, rennt mich Ally fast über den Haufen. Ihr Gesicht ist panisch und verheult. Ihre Augen so groß, dass sie ihr gleich aus dem Kopf fallen. Sie rennt ohne Ziel. Ihr Kopf schnellt hin und her, sucht nach einem Ausweg. Ich stehe direkt vor ihr und sie nimmt mich gar nicht wahr.

Also sage ich irgendwas, einfach, weil ich es wissen will. Ich will ihre Augen sehen.

»Gehst du etwa schon?«, frage ich.

Sie blickt mich an und ihre Augen werden noch größer, sind voller Verzweiflung. Sie wirkt irgendwie gebrochen, leer.

Alter, was hat er mit ihr gemacht?

Am anderen Ende des Raumes sehe ich Sean auf Dev einreden. Er schüttelt den Kopf, erzählt ihm irgendwas. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist passiert.

Allys Gesicht scheint beinahe zu zerfließen.

Und dann stößt sie diesen grauenhaften Schrei aus. Als wäre jemand gestorben.

»Was ist denn los mit dir?«, sage ich. »Komm mal wieder runter.«

Aber irgendwas ist passiert. Sie murmelt vor sich hin, brabbelt wirres Zeug.

Und irgendwie erinnert sie mich an mich selbst.

Dummes Mädchen. Dummes, dummes Mädchen! Willst mit den großen Jungs spielen. Das kommt dabei raus. Wenn du ganz klein und unwichtig bist. Ich kenne dieses Gefühl. Ich kenne es gut.

Ich dränge mich zu Dev durch, schiebe die Leute zur Seite.

»Nessel hat mir gerade irgendwas von Blut auf seiner Jacke erzählt«, flüstert Dev. »Ich nur so: ›Alter, was redest du da?‹ Er blutet nirgendwo.«

»Er war mit dieser Ally oben«, sage ich.

Dev schaut mich fragend an. Er sieht den Zusammenhang nicht.

»Muss ich es dir erklären, Dev? Echt jetzt?«, fahre ich ihn an. So viel Nessel-Liebe. So viel Mitgefühl für alle. Dafür liebe ich Dev, aber es treibt mich auch in den Wahnsinn. »Er ist mit ihr nach oben gegangen. Suki und ich haben es gesehen.«

»Du und Suki spioniert also hinter Nessel her? Bisschen krass, oder?«

»So hab ich das doch nicht gemeint, Dev …« Ich werfe einen Blick zur Tür, um zu sehen, wo Ally ist, aber sie ist verschwunden.

»Wir müssen ihn hier rausschaffen«, sagt Dev.

~

Sean, Dev und ich gehen raus; Sean hält den Kopf gesenkt und schweigt, bis wir im Auto sitzen.

»Kannst du fahren, B? Kannst du fahren? Du bist die Einzige, die fahren kann, B. Du bist alles, was wir noch haben«, sagt Sean.

»Mir geht’s gut«, erwidere ich. Aber das stimmt nicht. Wir sollten uns ein Uber rufen, aber es ist zu viel passiert. Ich will einfach nur noch weg von hier.

»Die hat meine Jacke ruiniert«, murmelt Sean. Als ich an einem Stoppschild halte, werfe ich einen Blick in den Rückspiegel und sehe, dass er seine Teamjacke zu einem großen Ball zusammengeknäult hat.

»Wieso wiederholst du das so oft?«, fragt Dev. »Das hast du vorhin schon gesagt.«

»Sie hatte ihre Tage, Alter. Sie hat voll geblutet, überall drauf.«

Aber ich frage mich, ob es wirklich ihre Periode war. Ich frage mich, ob es nicht viel eher ihr erstes Mal war.

Sean ist abartig betrunken. Redet teilweise sinnloses Zeug. Er sagt, dass sie geweint hat und dass er das erst danach bemerkt hat.

»Woher soll ich so was denn wissen? Habt ihr eine Ahnung, wie viele Mädels mich angraben? Was hat sie denn erwartet, was da oben passiert? Und sie hat mich die ganze Zeit so sexy angeschaut. Was hat sie denn erwartet?«

»Ohhh, alle Mädchen lieben Nessel und sie heulen dir halt nach, Alter. Die lieben dich.« Dev lächelt, aber ich kann sehen, dass sein Lächeln nicht echt ist. Er verzieht den Mund, als er spricht. »Sie ist jung. Wahrscheinlich ist sie einfach nur ein bisschen durch den Wind. Die kommt schon klar.«

Ich starre auf die schwarze Straße vor mir und denke darüber nach, wieso ein Mädchen weinen könnte, nachdem sie Sex hatte. Ich glaube nicht, dass es viel mit Liebe zu tun hat. Ich glaube, es hat einiges mit Reue zu tun.

Als ich zehn Minuten später vor Seans Haus halte, spuckt er auf den Bürgersteig und sagt, dass er gleich kotzen muss. Dev ist schon eingeschlafen, seine Haare wirr an die Fensterscheibe gedrückt.

Sean streckt seinen Kopf durch mein Fenster.

»Du musst mir helfen, B.«

»Ich soll dir ins Haus helfen?«

»Nein. Komm schon, B. Denk nach. Denk nach!« Seine Stimme wird lauter. Er bekommt die Worte kaum raus. Ein gefallener Gott. Hast du schon mal einen gefallenen Gott gesehen? Ich will es nicht sehen. Ich kann nicht hinschauen. Ich nicke; das hier ist kaum zu ertragen.

»Wir sind schon so lange befreundet, B. Du weißt, dass ich nie jemandem wehtun würde. Aber ich habe ihr wehgetan. Und vielleicht … Ich weiß nicht. Vielleicht war ich zu heftig. Du weißt, dass ich nie jemandem etwas antun würde.« Sean weint jetzt. Er ist ein Wirbelsturm aus Emotionen. Er zittert. Er murmelt irgendwas von der Schule vor sich hin und dass er rausgeschmissen und dann niemals von einem College angenommen wird.

»Sean. Sean. Du musst dich mal wieder beruhigen.« Ich streichle ihm übers Haar. Es ist reinste Seide. Wie sonst sollte es sich auch anfühlen? Seidig.

»Natürlich hast du niemandem wehgetan.« Die Worte kommen einfach so aus meinem Mund. Irgendwie ist plötzlich alles so klar und ich weiß genau, was ich sagen muss. Vielleicht zeigt das Ritalin doch endlich Wirkung. »Mach dir keine Sorgen. Ich rede mit ihr. Ich sage ihr, dass es okay ist. Sie versteht das schon. Ich bringe das wieder in Ordnung für dich.«

Er kauert in meinem Fenster, den Kopf jetzt auf die Innenseite der Tür gelegt. Ich streichle seine Wange, runter bis zu seinem Kinn. Ich verspreche ihm, dass alles gut wird.

4

Ally

Ich gehe auf unser Haus zu und seltsamerweise sind alle Lichter aus, bis auf ein Leuchten in der Nähe der Küche. Ich bin nervös, schwitze. Ich frage mich, ob das hier wirklich mein Leben ist. Ob mir das wirklich passiert.

Vielleicht nicht. Vielleicht bin ich tot.

Das plötzliche Vibrieren in meiner Hosentasche lässt mich zusammenzucken. Es ist Sammi, die nach mir sucht. Ich weiß, es ist echt scheiße von mir, aber ich schalte mein Handy aus, schließe sie aus – ich will einfach nur nach Hause. Ich weiß, dass ich irgendwann mit ihr reden muss.

Und dann bin ich drinnen und höre ein leises Summen, eine Frauenstimme. Läuft da Musik? Billie Holiday? Irgendeine Art Jazz. Dann ein Lachen, ein Kichern. Ich gehe weiter und mein Magen zieht sich zusammen, als ich nackte Haut sehe.

Da ist eine Frau in meinem Wohnzimmer. Sie trägt ein T-Shirt und liegt auf dem Rücken. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen. Nicht, dass ich sie kennen würde. Unterwäsche. Weiße Omaunterhose.

Das Gesicht des Mannes, der neben ihr liegt, ist wohl … ist mit absoluter Sicherheit … mein Vater. Oben ohne. Die beiden liegen da zusammen, flüstern, küssen sich.

Dann macht die Frau die Augen auf und schreit – und ihre Stimme schlägt über mir zusammen wie eine Welle und ich zucke zurück, weil ich für eine Sekunde denke: Was jetzt? Ist noch was Schreckliches passiert? Aber dann begreife ich, nein, sie schreit wegen mir. Weil ich reingekommen bin. Und ich wende den Blick ab, weil, Gott, das ist mein Vater da in dieser merkwürdigen postkoitalen Position.

Mit einer so schnellen Bewegung, wie ich sie noch nie gesehen habe, reißt mein Vater den Kopf herum und sieht in meine Richtung, schiebt die Frau dann von sich und aus meinem Blickfeld.

»Ach, du Scheiße …«, sagt mein Vater und sucht hastig nach seinem T-Shirt. »Du solltest doch heute Nacht gar nicht hier sein!«

Die Frau verschwindet eilig ins Badezimmer, zieht im Gehen ihre Jeans an.

»Wer ist sie?«, frage ich mit gepresster Stimme. Ich habe sie noch nie gesehen. Nicht, dass mein Vater mir schon viele Frauen vorgestellt hätte. Aber es gab da mal eine Ex-Freundin, die mich, sagen wir mal, aufgeklärt hat – und das ist nett ausgedrückt. Zumindest wenn man es als Aufklärung bezeichnen will, den Gebrauch von Tampons beigebracht zu bekommen. Meine Mutter war nicht sehr glücklich darüber. »Du hättest doch warten können, bis du mal wieder bei mir bist, dann hätte ich dir das zeigen können«, hat sie tief verletzt zu mir gesagt. »Tja, wenn du nicht abgehauen wärst, um in irgendeinem Hippiedorf zu leben, wärst du vielleicht da gewesen, als irgend so ein Idiot aus der Schule entschieden hat, genau dann eine Poolparty zu schmeißen, wenn ich meine Tage habe. Dann hättest du mir zeigen können, wie man einen Tampon benutzt«, habe ich erwidert und einfach aufgelegt.

Die Frau kommt aus dem Bad, die Jeans jetzt wieder ganz angezogen. Sie wirft ihr langes lockiges, blondes Haar aus dem Gesicht. Ihre Lippen sind pink und sehen wund aus.

»Ally, das ist Sheila.«

»Ich gehe in mein Zimmer. Ich tue einfach so, als wäre das hier nie passiert.«

Ich stürme in Richtung der Treppe, aber meine Oberschenkel tun weh und in meinem Kopf dreht sich alles. Ich bin immer noch betrunken.

»Alistair! Keinen Schritt weiter.« Mein Vater schreit fast nie. Aber jetzt brüllt er regelrecht. »Erklär mir, was hier los ist. Du wolltest doch heute bei Sammi übernachten.«

»Ich wollte einfach heimkommen«, sage ich. »Ist das so schlimm?« Meine Stimme zittert jetzt. Ich fange jeden Moment an zu weinen, alles wird aus mir rausbrechen. Langsam nehme ich wieder mehr wahr. Spüre den Wodka. Meinen dröhnenden Kopf. Das wunde Gefühl zwischen meinen Beinen.

»Wo sind deine Schuhe?«

»Wen interessieren denn meine Schuhe, Dad? Schuhe sind gerade so was von unwichtig. Glaub mir. Schuhe sind echt das Letzte, an das irgendjemand jetzt denken sollte.«

»Hast du dich mit Sammi gestritten oder so?«

»Ich will jetzt nicht mit dir reden. Über gar nichts«, fauche ich und sehe die Wand an, weil es so leicht wäre, in Tränen auszubrechen. Ich könnte sofort darin versinken. Das hier ist die Nacht, in der ich meinen Vater am meisten brauche. Manchmal muss ein Mädchen einfach mit ihrem Vater auf der Couch sitzen und weinen. Aber heute steht das außer Frage, weil Sheila, die Sexbombe, hier ist. Ich ziehe die feuchte Luft des Treppenhauses durch meine Nase ein und schließe die Augen.

»Ally, bist du betrunken?«

»John, ich kann auch gehen, das ist okay«, höre ich Sheila, die Sexbombe, sagen. Sie hat eine supertiefe Stimme, wie eine alte Kuh.

»Nein, nein. Warte einfach kurz.«

Ich würde mich so gerne umdrehen, um noch einen Blick auf sie zu werfen, aber ich will nicht, dass mein Vater mein Gesicht sieht. Ich bin mir sicher, dass da immer noch Reste von meinem verschmierten Eyeliner sind. Und andere Dinge, die ihm auffallen könnten. Dass ich geweint habe. Dass ich geküsst wurde – heftig geküsst. Dass ein Junge mir den Mund zugehalten hat. Mein Dad ist sehr aufmerksam, was so was angeht. Er kennt mich und meine Gefühle zu gut.

Ich will ihm alles erzählen, aber was soll ich denn sagen?

Hey Dad, ich habe mich betrunken. Oh, und Sean Nessel hat mich entjungfert. Wir haben puren Wodka aus Flugzeugfläschchen getrunken, weil ich absolut bescheuert bin. Wir haben Sammis Eltern angelogen. Und Sammi – die weiß nicht mal, wo ich bin! Ob wir verhütet haben? Ha! Guter Witz!

All die grauenhaften Monologe meines Vaters in den letzten Jahren, darüber, wie wichtig es ist, sich vor HIV, Herpes und einer ungewollten Schwangerschaft zu schützen … alles vergessen, in einer traumatischen Nacht mit Sean Nessel.

Oh, ich fahre so was von direkt zur Hölle, auf einer Achterbahn. Ich sitze sozusagen im Space Mountain Express Richtung Flammen der Unterwelt.

»Kann ich bitte, bitte, einfach hoch und ins Bett gehen, wenn ich verspreche, dass wir morgen früh darüber reden?«, frage ich. »Ich hatte einen echt grauenhaften Abend und ich glaube, ich muss mich gleich übergeben.«

Na gut, sagt er. Aber er wird mich nicht so einfach davonkommen lassen, sagt er. Er will wissen, wieso ich rieche wie eine Brauerei. Oh, und er verlangt, dass ich mich bei Sheila, der Sexbombe, entschuldige. Ich gehorche.

~

In meinem Zimmer verkrieche ich mich gleich in meinem Bett. Meine Beine fühlen sich an, als hätte ich Muskelkater, und die Innenseiten meiner Schenkel tun weh, wenn ich die Knie an die Brust ziehe. Sosehr ich mich auch nach einer Dusche sehne, ich bringe es jetzt nicht über mich. Ganz abgesehen davon, dass mein Vater fragen würde, wieso ich um elf Uhr nachts dusche, sind die Hinterlassenschaften an meinem Körper der einzige Beweis dafür, dass dieser Abend tatsächlich passiert ist. Ich will, dass mein Körper diese Erfahrung spürt. Das getrocknete Blut um meine Scheide, meinen wund gescheuerten Rücken, den Abdruck von Sean Nessels Hand auf meiner Schulter. Darum geht es doch, wenn man erwachsen wird, oder? So wird man reifer. Man leidet und macht trotzdem weiter.

Morgen früh werde ich mich bemühen, mir nichts anmerken zu lassen und nicht komisch zu laufen oder so. Denn ich habe vor, das alles nach heute Nacht zu vergessen.

Ich versuche mir meine Mutter vorzustellen, wie sie mit meinen Haaren spielt oder mich am Rücken kitzelt. Aber heute Nacht ist meine Mutter weit weg in New Mexico, unter dem Sternenhimmel, denn dort hat sie entschieden hinzuziehen, als ich zwölf Jahre alt war, um ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. Um trocken zu werden. Um in einer kleinen Kommune ohne sozialen Druck zu leben. Um das Leben einen Tag nach dem anderen anzugehen, ihr Lieblingsmotto der Anonymen Alkoholiker, wie sie mich jedes Mal erinnert, bevor sie nach unseren Telefonaten auflegt. Sie hat keine Ahnung, was ihrem kleinen Mädchen heute Nacht passiert ist.

Ich wünschte, sie wäre hier, um den angespannten Knoten aus meinen Schultern zu reiben. Mir etwas auf den Rücken zu malen. Was würde sie wohl sagen?

Nichts. Nichts, was mein Vater nicht auch sagen kann.

Wenn ich ihm überhaupt davon erzähle.

Und ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll.

Also rolle ich mich im Bett zusammen, halte meine Beine fest an die Brust gedrückt, das kühle Lacken zwischen meinen Schenkeln. Allein. Ich weiß, dass ich aufhören werde zu weinen, wenn diese Nacht vorbei ist. Ich weiß, dass ich stärker sein werde, wenn ich mich nur etwas zusammenreiße. Aber jetzt, in diesem Moment, will ich einfach nur meine Mutter.

5

Blythe

Nachdem wir Sean abgesetzt haben, nach all den Tränen, die er vergossen hat, während wir ihn quasi bis zu seiner Haustür getragen haben, fahren Dev und ich schweigend nach Hause.

»Glaubst du ihm? Ich denke, er ist einfach nur komplett besoffen«, sage ich, als ich parke.

Und eigentlich will ich es gar nicht wissen.

Dev und Sean sind schon seit dem Kindergarten beste Freunde. Dev war schon immer Seans größter Fan, sein Cheerleader. Der Typ, der Sean besser dastehen lässt, als er ist. Weil Dev in Sean wirklich diesen lieben, verletzlichen Typen sieht, dem trotz seiner ständig wechselnden Mädels das Herz gebrochen werden kann. Ein Typ, der immer noch fragen muss, wie er sich verhalten soll. Manchmal spricht er Dev auch auf das Thema Sex an. Wie es zwischen uns ist.

»Sollen ihre Beine danach so zittern?«, hat Sean ihn erst vor zwei Wochen gefragt.

»Oh mein Gott, was hast du ihm gesagt?«, wollte ich wissen.

»Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, weil er zu uns aufsieht, B«, hat Dev erklärt. »Klar, Alter, die sollen zittern.«

Ich fand das süß. Als ob er sich wirklich um ihn sorgen würde.