Sommer auf den Hummerklippen - James Krüss - E-Book

Sommer auf den Hummerklippen E-Book

James Krüss

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Beschreibung

Der achtjährige Boy ist ganz aus dem Häuschen. Denn er darf eine Woche seiner Sommerferien bei Johann, dem Leuchtturmwärter auf den Hummerklippen, verbringen. Und weil Boy weiß, dass dort jeden Tag erzählt, vorgelesen und gereimt wird, nimmt er den alten Seemannskalender seines Urgroßvaters mit. Das wird sicher der tollste Sommer seines Lebens!

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James Krüss

Sommer auf den Hummerklippen

Geschichten vom Wünschen, Träumen und Reisen, vom ersten bis zum vierten Tag

Illustriert von Maja Bohn

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2023

(Imprint Atrium Kinderbuch)

Erstveröffentlichung: 1977

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Brauer

Alle Rechte vorbehalten

Coverbild und Illustration von Maja Bohn

Die Illustrationen zu diesem Werk wurden vermittelt durch Paula Peretti Literarische Agentur, Köln

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-201-9

 

www.atrium-verlag.com

www.instagram.com/atrium_kinderbuch_verlag

 

 

 

Meinem Vater, Ludwig Krüss, der beim Erscheinen

dieses Buches 75 Jahre alt geworden wäre, in memoriam.

Das Buch beginnt mit einem Wunsch

Haltet die Uhren an. Vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen. Wir wollen in der Zeit zurück- und vorwärtswandern, Vergangenheit und Gegenwart durchstreifen und manchmal Blicke in die Zukunft tun. Die 101 Geschichtentage meines Lebens, an denen ich Geschichten hörte oder auch erzählte, sie werden euch hier nacherzählt, vom ersten bis zum hundertersten Tag.

Der Ort, an dem ich die Geschichten in die richtige Reihenfolge bringe, ist eine Insel vor der Küste Afrikas. Hier waren einmal, so sagt man, die Glücklichen Inseln. Hier, heißt es, lagen die Gärten der Hesperiden, aus denen Herkules die goldenen Äpfel stahl. Hier war die Zeit stets anders als woanders. Hier lief man noch in Ziegenfellen oder Lendenschurzen, als Herr Kolumbus, reich gekleidet, von diesen Inseln aus Amerika entdeckte. Hier zählt die Zeit nach schönen Augenblicken. Drum haltet eure Uhren an. Vergesst die Zeit. Ich will euch Geschichten erzählen.

Ich sehe euch, wie ihr euch unter mir, im Tal der Palmen, von allen Seiten her versammelt. Ich sehe euch, wie ihr euch auf die Felsen setzt, erwartungsvoll. Ich sehe euch sitzen mit baumelnden Beinen auf der anderen Seite der Schlucht, in mein Gehäuse auf dem Dache niederblickend mit gespannten Mienen. Auch auf den Mauern und Terrassen meines Hauses sehe ich euch sitzen, und alle Fenster meiner Bücherbude sind für euch geöffnet. Der Tag ist schön. Die Kaktusfeigen blühen. Und wenn ein Dröhnen euch erschreckt, dann ist es nur der Fischmann: Er bläst auf seiner Muschel und zieht weiter.

Wenn aber über dem Tal der Mond aufgeht, schlaft ein: Ihr werdet euch in euren eigenen Betten wiederfinden. Doch wollt ihr wiederkommen, dann schlagt die Bücher der 101 Geschichten auf. Dann sitzt ihr wieder unter oder über mir im Tal und auf den Felsen, und heute ist gestern und gestern ist heute.

Vergesst die Zeit, die man Geschichte nennt. Taucht ein in die Zeit der Geschichten. Auch ich vergesse die Zeit. Ich sitze unter euch, acht Jahre alt, ein Kind unter Kindern. Kommt mit zu einer kleinen Insel in der Nordsee und lasst euch die Geschichten des ersten bis vierten Tages erzählen.

Und fragt ihr mich nun doch nach Ort und Zeit, dann ist es Sommer und ihr lest:

 

In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, war ich noch nicht geboren. Als ich zur Welt kam, half das Wünschen schon nichts mehr. Nur einmal hat es mir, glaube ich, doch geholfen. Das war an einem kalten Wintermorgen, als aus dem grauen Meer der Rand der Sonne sichtbar wurde. Da sagte Gintje, unsere alte Nachbarin: »Mach schnell die Augen zu und wünsch dir was, mein Junge. Halt das Gesicht in Richtung Sonne, und wenn du meinst, sie ist erschienen, dann mach die Augen wieder auf.«

Alles, was Gintje sagte, tat ich auch, und als ich hinterher die Augen wieder aufschlug, war schon der ganze Sonnenball zu sehen.

»Dein Wunsch wird in Erfüllung gehen«, sagte Gintje. »Hast du dir etwas Schönes gewünscht?«

»Ich glaube schon«, sagte ich.

Wir standen an jenem kalten Wintermorgen am Klippenrand der kleinen Insel Helgoland, die wie ein dreieckiges Tortenstück mit roten und weißen Schichten in der grünen Nordsee liegt, wenn man vom Flugzeug auf sie niedersieht. Am Rande dieses Tortenstücks aus rot und weiß gestreiften Felsen standen wir also, gelehnt auf eine kleine Mauer, sahen das grüne Meer, das vor dem Sonnenaufgang grau gewesen war, sahen die kleine Sanddüne neben der Insel, die damals gerade die Form eines Schuhlöffels hatte, und sahen nieder auf die roten Dächer unter uns, die Dächer des kleinen Unterlandes am Fuße des Felsens.

Wir standen aber nicht allein am Felsrand. Links und rechts von uns lehnten sich viele Insulaner auf die kleine Mauer, alte und junge, Frauen und Männer, weil ein nachgebautes Wikingerschiff mit rot und weiß gestreiften Segeln, also gestreift wie unser Felsen, von Dänemark nach Amerika unterwegs war. An diesem Wintermorgen, kurz nach Sonnenaufgang, sollte das Schiff in Sichtnähe unserer kleinen Insel vorbeisegeln. Deshalb standen all die Menschen am Felsrand, darunter ich, ein achtjähriger Junge, der kurz zuvor den Wunsch getan hatte … Aber das darf ich jetzt noch nicht verraten. Der Wunsch muss ja erst in Erfüllung gegangen sein.

Das Wikingerschiff kam übrigens viel später in Sicht, als wir erwartet hatten. Die Sonne stand schon fast eine Handbreit über dem Horizont, als Unruhe in die lange Reihe der Insulaner an der Mauer kam. Irgendjemand meinte, mit dem Fernglas einen Punkt am Horizont entdeckt zu haben, und nun blickte alles in diese Himmelsrichtung.

Aber es dauerte noch eine kleine Weile, ehe Jan Janssen, der Wetterprophet der Insel, verkündete: »Es kommt in Sicht.«

Ich selbst sah nichts, weil ich kein Fernglas hatte, aber vielleicht eine halbe Stunde später erkannte auch ich den Mast und das Segel über dem Rand des Meeres. Abermals eine halbe Stunde später erkannte ich das ganze Schiff und glaubte sogar, die roten Streifen zu erkennen. Nach einer dritten halben Stunde aber rauschte mit geblähten rot-weiß gestreiften Segeln das hochgeschnäbelte Schiff an der Insel vorüber. Da böllerte eine kleine Kanone in unserem Rücken dreimal, und vom Schiff antwortete man mit drei Pistolenschüssen, deren Knall die klare Winterluft zum Inselchen herübertrug.

Natürlich wich und wankte keiner von seinem Platz an der Mauer, solange das Schiff noch zu sehen war. Erst als es als ein kleiner ferner Punkt im Grau des Meeres unterging, löste die Reihe an der Mauer sich gemächlich auf, und man ging heim in die geheizten Häuser zum Frühstück mit heißem Kaffee.

Das war der Tag, an dem ich meinen Wunsch tat.

Ungefähr ein halbes Jahr später – es war Juli, und die Sommerferien hatten gerade begonnen –, ein halbes Jahr später kam eines Morgens eine unserer Nachbarinnen in mein Elternhaus.

Sie wurde von aller Welt Tante Julie genannt; warum, wusste niemand genau. Diese Tante Julie kam in mein Elternhaus und sagte zu meiner Mutter, die gerade Fisch abschuppte: »Margareta, stell dir vor: Johann hat mir geschrieben. Er lädt euren Boy zu sich ein. Auf den Leuchtturm.«

Der Junge, den man Boy nannte, war ich. Der Mann, den Tante Julie Johann nannte, war Wärter weit, weit draußen im Meer auf einem Leuchtturm, der des Nachts den Schiffen leuchtete.

Zufällig hatte ich Tante Julie reden gehört, als ich gerade vom ersten Stock meines Elternhauses das Treppengeländer hinunterrutschen wollte. Nun rutschte ich, so schnell es ging, hinunter, sprang unten mit geübtem Schwung auf meine Beine, stolperte aufgeregt in die Küche und fragte: »Wann soll ich denn zum Leuchtturm fahren, Tante Julie?«

»Zuerst einmal sag Guten Morgen«, sagte meine Mutter. Und ich – was blieb mir übrig? – sagte artig Guten Morgen.

»Und nun hol rasch das Brot von Bäcker Jacob. Es ist schon bezahlt. Danach darfst du noch einmal fragen. Husch!«

Ich armes Würstchen lief also zum Bäcker Jacob, um das Brot zu holen, das schon bezahlt war. Unterwegs wirbelten mir die Gedanken wild im Kopf herum. Würde mein Vater mich zum Leuchtturm fahren lassen? Und wie fährt man zu einem Leuchtturm mitten im Meer? Etwa mit einem Dampfer? Wer aber würde mich dort hinbringen? Und vor allem: Wann sollte diese Reise vor sich gehen?

Ich hatte hundert Fragen an die Tante Julie, aber als ich ins Haus zurückkam, war sie leider nicht mehr da. Und als ich meine Mutter nach der Fahrt zum Leuchtturm fragte, sagte sie: »Warte mit deinen Fragen bis zum Mittagessen, wenn dein Vater da ist.«

Nun waren es aber bis zum Mittagessen noch zwei Stunden Zeit, und ich war ungeduldig. So beschloss ich zu meinem Vater in das Unterland zu laufen, der im Hotel Empress of India Lichtleitungen verlegte. Doch unterwegs überlegte ich es mir anders. Der Klügste in der Familie, überlegte ich mir, ist der alte Boy, mein Urgroßvater. Zu dem werde ich gehen.

Und das tat ich. Mein Urgroßvater, der ein Hummerfischer war, flickte gerade, wie ich wusste, Hummerkörbe, die Körbe, mit denen man die gepanzerten Wassertiere fängt. Und er flickte sie natürlich in seiner Hummerbude auf dem Oberland, in der Trafalgarstraße. Und dorthin ging ich.

»Tag, Urgroßvater«, sagte ich dort. »Ich habe ein Problem.«

»Ich habe meist mehrere gleichzeitig, Boy«, sagte mein Urgroßvater, der vor sich auf einer Drehbank einen Hummerkorb mit zerrissenem Netzwerk stehen hatte. »Welches Problem hast du denn?«

»Ich bin zum Leuchtturm auf den Hummerklippen eingeladen; aber ich weiß nicht, ob mein Vater mich auch fahren lässt.«

»Mit wem sollst du denn fahren?«

»Das weiß ich nicht. Der Wärter Johann – du kennst ihn ja – hat Tante Julie geschrieben, dass ich eingeladen bin. Aber wie ich hinkomme, weiß ich noch nicht.«

»Hm«, machte mein Urgroßvater. Und noch einmal »hm«. Dann legte er die hölzerne Netznadel auf die Drehbank und sagte: »Dappi Lorenzen soll irgendetwas auf dem Leuchtturm reparieren. Er wird mit seinem Motorboot hinfahren. Und Dappi fährt nicht gern allein. Merkst du was?«

»Ich soll dann wohl mit Dappi fahren, Urgroßvater?«

»Das nehme ich an, mein Junge. Ein Risiko ist ja bei diesem Wetter nicht dabei. Es ist einer der schönsten Sommer seit Langem, nicht zu heiß, nicht zu kühl, das Meer immer glatt wie ein Spiegel und hübsch verteilte Wolken überall. Ich habe sogar ein Sommer-Abc gedichtet. Willst du es hören?«

Mein Urgroßvater hatte neben seiner Hummerfischerei zwei Lieblingsbeschäftigungen: Er drechselte Holzkreisel für Kinder und Gedichte für Kinder. Und nun hatte er also ein sogenanntes Abc-Gedicht über den Sommer gemacht, das er mir vorlesen wollte, während ich lieber über meine Einladung zum Leuchtturm reden wollte. Aber Abc-Gedichte sind ja nicht lang. Wenn man mit jedem Buchstaben des Alphabetes eine Zeile beginnt, sind es nur sechsundzwanzig Zeilen. So sagte ich zum Urgroßvater, er möge mir das Gedicht vorlesen.

Da holte er aus der Brusttasche seiner Joppe, die er über einen Hocker geworfen hatte, eine auseinandergenommene Pfeifentabakspackung heraus und las mir von deren Innenseite vor:

Das Sommer-Abc

A  lle Amseln singen Lieder,

B  lau und rot verblüht der Flieder,

C  horgesang übt Spatz mit Spatz.

D  reiste Drosseln jagt die Katz.

E  ntchen wedeln durch die Teiche,

F  arne rascheln, eine Schleiche

G  leitet glänzend glatt durchs Kraut,

H  asen schreckt ein Hundelaut.

I  gel kriegen Ungeziefer,

J  agdgehilfe Hubert Kiefer

K  ommt mit seinem Jagdgewehr

L  eise durch den Wald daher.

M  arder schleichen, Meisen picken

N  ach den dünnen oder dicken

O  hrenkäfern, die es gibt.

P  fauen spreizen sich verliebt.

Q  uellen sprudeln quicklebendig,

R  ehe rasen, rasch und wendig,

S  elig durch das Haferfeld,

T  auben fliegen in die Welt.

U  nke platscht mit ungeheuer

V  iel Vergnügen in den Weiher.

W  icke läutet fein wie ein

X  ylofon den Sommer ein.

Y  achten gleiten, fern und weit.

Z  eit der Sonne: Sommerzeit!

Ich klatschte nach dem Vortrag in die Hände und sagte: »Ein feines Gedicht, Urgroßvater, so richtig sommerlich; aber es kommen schrecklich viele Sachen darin vor, die es nur auf dem Festland gibt, Schleichen und Igel und Hasen und Rehe.«

»Na ja, Boy, der Sommer ist ja nicht nur für kleine Inseln da. Es sommert auch an den Küsten und drinnen im Lande.«

»Und auch um Leuchttürme herum, Urgroßvater«, sagte ich schnell, um das Gespräch wieder auf meine Einladung zu bringen.

Mein Urgroßvater lachte und sagte: »Klar, Sommer ist auch auf den Hummerklippen, Boy. Und wenn du mit Dappi dorthin fährst, dann rate ich dir, nimm was zum Lesen mit. Hier …« Der Alte holte unter der Drehbank ein Buch hervor. »Hier, Boy, ist ein älterer Seemannskalender. Den geb ich dir mit. Es steht die Geschichte vom ersten Geschichtenerzähler drin.«

»Die kenn ich schon, Urgroßvater. Das ist doch die Geschichte von dem Blinden, der die Sprache der Tiere verstehen konnte.«

»Das habe ich auch gedacht, als ich die Überschrift sah. Aber es ist eine andere, noch ältere Geschichte, die ein Seemann von einer Insel im Pazifischen Ozean mitgebracht hat. Leider ist sie in sehr kleinen Buchstaben gedruckt. Lass sie dir auf der Fahrt von Dappi Lorenzen vorlesen. Ihr seid ja viele Stunden unterwegs und habt Zeit. Das Steuerruder kann Dappi dann schließlich zwischen die Beine nehmen.«

Ich nahm den Seemannskalender und sagte: »Schönen Dank, Urgroßvater. Aber bis jetzt weiß ich ja noch gar nicht, ob ich überhaupt fahren darf. Mein Vater hat es mir noch nicht erlaubt.«

»Dein Vater, Boy, kommt vor dem Mittagessen hier bei mir vorbei. Ich habe für euch ein paar Taschenkrebsscheren. Den werde ich schon präparieren. Und übrigens …« Mein Urgroßvater griff wieder zur Netznadel, um weiter das Netzwerk des Hummerkorbes zu flicken. »Und übrigens … Diese Idee, dich zum Leuchtturm zu schicken, ist von mir. Du willst doch auch mal Gedichte machen und Geschichten erzählen, wie du mir gesagt hast. Und dafür muss man vorher ein bisschen von der Welt gesehen haben. Wer hat schon das Glück, eine ganze Woche auf einem Leuchtturm mitten im Meer verbringen zu dürfen?«

»Du hast das mit der Einladung also eingefädelt, Urgroßvater?«

»Jawohl, Boy«, sagte der Alte und fädelte in die hölzerne Netznadel den festen Netzzwirn ein. »Ich habe das auch deshalb eingefädelt, weil der Leuchtturmwärter Johann in den Augen der Leute genauso ein Spinner ist, wie wir zwei welche sind. Er mag Geschichten und Gedichte. Aber ich höre deinen Vater kommen. Steig schnell zur Ledernen Lisbeth hinauf, damit ich allein mit ihm reden kann.«

Die Lederne Lisbeth war eine mit Leder bezogene Puppe. Sie stand meist oben im ersten Stock der Hummerbude, den man nur über eine Leiter erreichen konnte. Zum Glück wurde die Puppe, vor der ich etwas Angst hatte, damals gerade von einem Kutter als Maskottchen mitgeführt. So kletterte ich ohne Bange die Leiter hinauf, setzte mich dort auf einen Stapel Korkplatten und hörte gleich darauf, wie mein Vater in die Hummerbude hereinkam.

»Tag, Großvater«, hörte ich ihn sagen. »Schönes Wetter heute.«

»Der schönste Sommer, an den ich mich erinnern kann«, sagte mein Urgroßvater. »Und das Meer ist so glatt wie ein Kinderpopo.« Dann fügte er listig hinzu: »Boy wird eine gute Überfahrt haben.«

»Boy? Eine Überfahrt? Wohin denn?«, fragte mein Vater.

»Zum Leuchtturm auf den Hummerklippen. Johann hat ihn doch eingeladen. Er fährt mit Dappi Lorenzen. Weißt du das nicht?«

»Nein«, sagte mein Vater. »Ich bin ja immer der Letzte, der etwas erfährt.«

»Das wundert mich aber sehr«, sagte scheinheilig mein Urgroßvater. »Sämtliche Klatschweiber der Insel reden sich ja schon den Mund fusselig über diese Bootsfahrt.«

»Was die Klatschweiber reden«, sagte mein Vater verärgert, »ist mir schnurzegal. Das weißt du ja.«

»Eben, eben. Das weiß ich. Und deshalb hätte es mich gewundert, wenn du auf sie gehört hättest.«

»Ich auf sie gehört? Wieso?«

»Na ja«, erklärte listig und trickreich mein Urgroßvater. »Sie sagen, du wärst ein Rabenvater. Und es wäre kriminell, dass du den Kleinen mitfahren lässt. Stundenlang über das Meer und nur in einem Motorboot. Das gehörte angezeigt.«

»Na, denen werde ich’s zeigen«, rief zornig mein Vater. »Die sollen mich anzeigen, bei wem sie mögen: Der Junge fährt mit! Und wenn Windstärke vier sein sollte! Dappis Boot ist seefest, und Dappi ist ein guter Seemann.«

»Außerdem ist Sommer und glatte See«, fügte mein Urgroßvater schnell hinzu. »Sie fahren übermorgen.«

»Schon übermorgen? Und ich erfahr das erst heute?« Mein Vater war sehr aufgeregt. Er sagte rasch Auf Wiedersehen und ging hinaus, wobei er sogar vergaß die Taschenkrebsscheren mitzunehmen. Ich hörte, wie er die Tür heftig hinter sich zuknallte.

Als ich gleich danach über die Leiter wieder nach unten kletterte, fragte mein Urgroßvater: »Na, wie hab ich das gemacht?«

»Großartig, Urgroßvater«, sagte ich. »Ich glaube, jetzt darf ich mitfahren.«

»Ich bin ganz sicher, dass du mitfahren darfst, Boy. Geh jetzt nach Haus und nimm die Taschenkrebsscheren mit. Das macht gute Laune.«

Da verließ ich meinen Urgroßvater, den Seemannskalender unter den rechten Arm geklemmt, den kleinen Eimer voller Taschenkrebsscheren in der Linken, und wanderte damit meinem Elternhause zu.

Zwei Tage später in der Morgenfrühe – es war noch kühl, aber die Sonne war schon da – brachte mein Vater mich ins Unterland und an die Brücke. An der vordersten Treppe lag das Motorboot Tetjus Timm mit tuckerndem Motor. Dank der listigen Mithilfe meines Urgroßvaters durfte ich an diesem Tag meine erste Reise machen – über das Meer zum Leuchtturm auf den Hummerklippen.

Der erste Tag,

an dem wir mit dem Motorboot Tetjus Timm zum Leuchtturm auf den Hummerklippen fahren und dem Dampfer Roland sowie großen springenden Fischen begegnen. Enthält Vorlesungen der Geschichte vom ersten Geschichtenerzähler und der Bilderbuchgeschichte vom König Klaus und endet damit, dass ich auf einem Sessel einschlafe.

Dappi Lorenzen, der Bootsmechaniker, hatte krause Haare, eine Stupsnase und die geschicktesten Hände der Welt für alle Arten von Motoren. Außerdem war er ein guter Seemann.

Mit Dappi Lorenzen fuhr ich in dem offenen Motorboot Tetjus Timm über die Nordsee. Das Motorboot war außen und innen weiß gestrichen. Nur der hölzerne Kasten für den Motor in der Mitte des Bootes war grün. Das Boot hatte eine umlaufende Bank und vier Querbänke. Ich saß hinten im Boot. Rechts neben mir stand Dappi und hielt mit seiner linken Hand das waagerechte hölzerne Steuerruder. Hinter uns in der Ferne war im grünen Meer die Insel Helgoland nur noch als dunkler Punkt zu sehen. Die Möwen, die uns von der Insel her begleitet hatten, waren zurückgeblieben. Rings um uns her gab es nun nur noch Wasser und über uns den riesengroßen Himmel voller Wolken. Außer dem Tuckern des Motors und dem Rauschen des Wassers außen an der Bootswand hörten wir nichts.

Als auch der Punkt der Insel Helgoland am Horizont verschwunden war, sagte Dappi: »Jetzt werden wir neun Stunden lang nur Meer und Himmel sehen, Boy. Hoffen wir, dass Tetjus Timm ein braves Boot bleibt.« (Genau wie mein Urgroßvater wurde auch ich von allen Leuten Boy genannt. Wenn man uns unterscheiden wollte, dann sagte man: Der große und der kleine Boy.)

Als Dappi den Namen unseres Bootes nannte, fragte ich: »Hat es den Tetjus Timm, nach dem dein Boot benannt ist, eigentlich wirklich gegeben, Dappi?«

»Kapitän Rickmers, der dieses ellenlange Gedicht über ihn gereimt hat, behauptet, es hätte ihn wirklich gegeben«, antwortete Dappi. »Aber ob er all das, was in dem Gedicht erzählt wird, wirklich erlebt hat, weiß ich nicht. Ich find’s ein bisschen unwahrscheinlich.«

»Ich auch«, sagte ich; denn ich kannte das ganze Gedicht auswendig. »Aber es ist wenigstens eine spannende Abenteuergeschichte. Findest du nicht?«

»Doch, doch«, sagte Dappi. »Nur mag ich Abenteuergeschichten nicht so gern. Da regt man sich meist schrecklich auf und ist am Ende aus der Puste, und alles nur wegen ein bisschen ausgedachtem Kram. Ich lese lieber Geschichten von ganz früher, wie da die Menschen lebten oder starben.«

Dappis Vorliebe für Geschichten aus alter Zeit erinnerte mich an den Seemannskalender, den mein Urgroßvater mir mitgegeben hatte. Er stak, zusammen mit zwei Bilderbüchern, in meiner braunen ledernen Reisetasche.

Als ich Dappi sagte, mein Urgroßvater habe vorgeschlagen, dass er mir eine Geschichte aus dem Seemannskalender vorlese, sagte Dappi: »Mach ich, Boy. Aber erst, wenn wir linker Hand die Ostfriesischen Inseln als dunkle Streifen erkennen können. Dann haben wir eine Orientierungslinie. Außerdem müssen wir ja noch frühstücken. Ich habe Hunger.«

Hunger hatte ich auch. Seeluft, behaupten die Leute, macht hungrig. Also packte ich meine Butterbrote mit Wurst und Käse aus. Aber Dappi hatte etwas mitgenommen, was ich noch nie zum Frühstück gegessen hatte und was ich daher viel leckerer fand, nämlich gekochte Taschenkrebse in einem Korb und sauer eingelegte Bratheringe in einer Blechbüchse. Mir lief, als ich das sah, das Wasser im Munde zusammen, und Dappi merkte es wohl, denn er sagte: »Nimm, was dir schmeckt, Boy. Du kannst mir dafür nachher ein Käsebrot geben.«

So frühstückte ich mitten auf dem Meer zum ersten Mal in meinem Leben Taschenkrebse und saure Bratheringe und kam mir dabei vor, als wäre ich ein alter Fahrensmann.

Als ich mich danach über den Bootsrand beugte und meine Hände im Meer wusch, kam es mir so vor, als wäre am Horizont Land zu erkennen. Und tatsächlich bestätigte Dappi mir, dass es eine der Ostfriesischen Inseln sein müsse. »Jetzt haben wir unsere Orientierungslinie«, sagte er. »Und satt sind wir auch. Gib mir den Seemannskalender, und du kriegst deine Geschichte zu hören. Wovon handelt sie denn?«

»Es ist die Geschichte vom ersten Geschichtenerzähler«, sagte ich, während ich aus der Reisetasche den Seemannskalender herauszog.

»Die kenne ich zufällig«, sagte Dappi. »Sie handelt von einem Blinden …«

»Irrtum, Dappi«, unterbrach ich ihn. »Es ist eine noch ältere Geschichte. Sie stammt von einer Insel im Pazifischen Ozean.«

»Dann ist es vielleicht eine Dschungelgeschichte«, murmelte Dappi. »Gib her.« Dappi nahm den Seemannskalender und stellte sich nun so hin, dass er das Steuerruder zwischen seinen Schenkeln hatte und es mit den Beinen regieren konnte. Dann blätterte er in dem Kalender, fand die Geschichte und sagte: »Achte darauf, dass wir linker Hand die Inseln im Auge behalten, wenn ich vorlese. Sonst verlieren wir die Orientierung.«

Ich versprach es, und nun las Dappi mir beim Tuckern des Motors und beim Rauschen des Wassers an der Bootswand mit seiner kratzigen Stimme vor:

Die Geschichte vom ersten Geschichtenerzähler oder Die Höhle der schwarzen Taube

In einem dicht verflochtenen, dämmrig grünen Dschungel, in dem die Ranken des wilden Weines so dick wie Männerarme sind, gab es einst eine Höhle. Sie wurde die Höhle der schwarzen Taube genannt; denn immer, wenn die Tauben brüteten, kam eine Taube mit fast schwarzem Gefieder in die Höhle und brütete hier ihre Eier aus.

In dieser Höhle lebten neunundvierzig Menschen, alte und junge, Kinder, Frauen, Männer, und alle diese Menschen gingen nackt. Nur einen Lendenschurz aus weich geklopfter Baumrinde legten sie an, wenn sie zehn Jahre alt geworden waren. Diese Menschen aßen keine Tiere. In ihrer Höhle liefen Affen ein und aus; das Wildschwein lief vor ihnen nicht davon; und über ihren Köpfen brütete in einer Nische die schwarze Taube ihre Eier sorglos aus. Die Menschen lebten nur von Pflanzenwurzeln, von Früchten, Beeren oder Palmenmehl. Und diese Menschen sprachen mit dem Körper, vor allem mit den Fingern und den Händen.

Sagten sie Ja, dann neigten sie den Kopf. Sie nickten also, aber langsam. Weil sie dabei jedoch demjenigen, mit dem sie redeten, die Haare zeigten, die Locken oben auf dem Kopf, so wurde Nicken auch das Zeichen für das Haar.

Kopfnicken konnte also Ja und Haar bedeuten.

Sagten sie Nein, bewegten sie das Gesicht hin und her. Sie schüttelten also den Kopf, aber langsam. Weil sie dabei jedoch demjenigen, mit dem sie redeten, das haarlose, nackte Gesicht hinhielten (die Männer schabten es sich mit zerspaltenen Flusskieseln glatt), so wurde das Kopfschütteln auch das Zeichen für nackt.

Kopfschütteln konnte also Nein und nackt bedeuten.