Sommer, Glück und blaues Meer - Lilac Mills - E-Book

Sommer, Glück und blaues Meer E-Book

Lilac Mills

4,0

Beschreibung

Es ist nie zu spät, dein Leben zu leben.

Nina mag ihr Leben, wie es ist. Sie ist glücklicher Single, liebt den Job als Lehrerin und ein geordnetes Leben. Doch ihre achtzigjährige Großmutter Flossie hat vor, Nina endlich aus der Komfortzone zu reißen und schlägt einen gemeinsamen Urlaub vor.

Als die beiden in der Türkei ankommen, werden Ninas Pläne – es sollte ein ruhiger Urlaub werden - durch Flossies Aktivitäten komplett über den Haufen geworfen. Während einer Ausflugstour zu den antiken Ruinen von Ephesus lernt Nina den gutaussehenden Leo kennen. Obwohl ihre Großmutter wild entschlossen ist, die Heiratsvermittlerin zu spielen, weiß Nina, dass Urlaubsromanzen nicht für die Ewigkeit gemacht sind. Doch irgendetwas an der türkisfarbenen Küste, Leos schönen Augen und Flossies Überredungskünsten bringt Nina dazu, sich ungeahnt spontan ins Leben zu werfen …

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Cover for EPUB

Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Es ist nie zu spät, dein Leben zu leben.

Nina mag ihr Leben, wie es ist. Sie ist glücklicher Single, liebt den Job als Lehrerin und ein geordnetes Leben. Doch ihre achtzigjährige Großmutter Flossie hat vor, Nina endlich aus der Komfortzone zu reißen und schlägt einen gemeinsamen Urlaub vor.

Als die beiden in der Türkei ankommen, werden Ninas Pläne – es sollte ein ruhiger Urlaub werden - durch Flossies Aktivitäten komplett über den Haufen geworfen. Während einer Ausflugstour zu den antiken Ruinen von Ephesus lernt Nina den gutaussehenden Leo kennen. Obwohl ihre Großmutter wild entschlossen ist, die Heiratsvermittlerin zu spielen, weiß Nina, dass Urlaubsromanzen nicht für die Ewigkeit gemacht sind. Doch irgendetwas an der türkisfarbenen Küste, Leos schönen Augen und Flossies Überredungskünsten bringt Nina dazu, sich ungeahnt spontan ins Leben zu werfen …

Über Lilac Mills

Lilac Mills lebt mit ihrem sehr geduldigen Ehemann und ihrem unglaublich süßen Hund auf einem walisischen Berg, wo sie Gemüse anbaut (wenn die Schnecken sie nicht erwischen), backt (schlecht) und es liebt, Dinge aus Glitzer und Kleber zu basteln (meistens eine Sauerei). Sie ist eine begeisterte Leserin, seit sie mit fünf Jahren ein Exemplar von Noddy Goes to Toytown in die Hände bekam, und sie hat einmal versucht, alles in ihrer örtlichen Bibliothek zu lesen, angefangen bei A und sich durch das Alphabet gearbeitet. Sie liebt lange, heiße Sommer- und kalte Wintertage, an denen sie sich vor den Kamin kuschelt. Aber egal wie das Wetter ist, schreibt sie oder denkt über das Schreiben nach, wobei sie immer an herzerwärmende Romantik und Happy Ends denkt.

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Lilac Mills

Sommer, Glück und blaues Meer

Aus dem Englischen von Anne Morgenrau

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Grußwort

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Impressum

Lust auf more?

Für meinen Mann Rob, der mich so sehr unterstützt hat. Ohne seine albernen Namen für Ephesos und Pamukkale gäbe es dieses Buch nicht.

1

Aber Granny …« Hilflos schaute Nina ihre Mutter an, doch Alice erwiderte den Blick auf dieselbe Art. Aus dieser Richtung war offenbar keine Hilfe zu erwarten. »Du weißt schon, dass er nicht mehr da ist, Grandma, oder?«, fragte sie und hoffte, dass dies nicht der Anfang von etwas Schlimmerem war. Sie wusste, dass ihre Großmutter dazu neigte, Dinge zu vergessen, aber konnte ihr etwas derart Wichtiges wirklich entfallen sein?

»Wer ist nicht mehr da?«, fragte Flossie, die ihre Aufmerksamkeit bisher der halb leeren Kekspackung vor ihr auf dem Tisch gewidmet hatte.

»Großvater.« Allmählich war Nina beunruhigt, und sie erkannte, dass es ihrer Mutter genauso ging. Schmallippig und mit besorgtem Blick saß Alice da und hatte ihre Hände so fest gefaltet, dass die Fingerknöchel weiß hervorstanden.

»Aber wo ist er denn hin, Liebes?«, fragte Flossie, tauchte einen Schokoladenkeks in ihren Tee und begann, geräuschvoll darauf herumzukauen.

Nina und Alice tauschten vielsagende Blicke. Kein Wunder, dass Mum um Verstärkung gebeten hat, dachte Nina. Das sah nicht gut aus. Nina rutschte das Herz in die Hose, als sie daran dachte, wie ihre Großmutter wohl auf die »Neuigkeit« reagieren würde – obwohl es keine mehr war, denn Großvater war bereits vor vier Monaten gestorben.

»Grandpa ist nicht mehr bei uns. Er ist von uns gegangen, Granny«, sagte Nina so behutsam wie möglich, während sie sich gegen den zu erwartenden Gefühlsausbruch wappnete.

»Ich weiß«, antwortete ihre Großmutter ruhig und biss in einen weiteren Keks. Ihre dritten Zähne klickten leise, während sie genussvoll kaute.

»Du weißt es?«, fragte Nina und formte über Flossies Kopf hinweg in Richtung ihrer Mutter die Worte: Sie weiß es? Dabei zog sie die Augenbrauen hoch, als wollte sie fragen, was zum Teufel hier eigentlich los war.

»Natürlich weiß ich es.« Flossie ließ die letzten Krümel ihres aufgeweichten Kekses auf den Tisch fallen, und legte sich eine faltige Hand auf die Brust. »Ich war bis zum letzten Atemzug bei ihm.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Nina zu ihrer Mutter. »Hast du nicht gesagt, dass Gran nächste Woche in die Türkei fliegen will?«

Ehe Alice antworten konnte, sagte Flossie: »Das stimmt, Liebes, das habe ich tatsächlich vor.« Entschlossen nahm sie sich einen weiteren Keks. »Und ich will es nicht nur, ich werde es auch.«

»Siehst du?«, flüsterte Alice und ließ einen Finger neben ihrer Schläfe kreisen. »Vollkommen gaga.«

»Das habe ich genau gesehen! Aber ich bin nicht senil«, sagte Flossie. »Und für dich immer noch Lady Gaga«, fügte sie hinzu.

Was die Senilität anging, war sich Nina nicht so sicher. »Also, um die Sache klarzustellen: Du hast einen zweiwöchigen All-inclusive-Urlaub in der Türkei gebucht? Für dich und Grandpa?«

»Jep.« Flossie schlürfte ihren Tee und sah Tochter und Enkelin über den Tassenrand hinweg herausfordernd an.

»Und jetzt willst du allein hinfliegen?«, hakte Nina nach.

»Dein Großvater kann ja wohl kaum mitkommen, nicht wahr?«, versetzte die alte Dame.

»Äh … nein.« Erneut sah Nina hilfesuchend zu ihrer Mutter. Doch diese blickte demonstrativ und mit leidender Miene aus dem Fenster, um zu verdeutlichen, dass sie sich an dieser Unterhaltung nicht aktiv beteiligen würde.

»Er wollte mitkommen«, sagte Flossie. »Aber dann ist er gestorben, und das war’s.«

»Wann hast du die Reise denn gebucht?«, fragte Nina und glaubte, bereits das Licht am Ende des sprichwörtlichen Tunnels zu sehen.

»Ein paar Wochen vor seinem Tod.« Flossie aß einen weiteren Keks. Innerhalb von fünf Minuten hatte sie mehr als die Hälfte der Schachtel verdrückt.

Alice unterdrückte ein Schluchzen und tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen. Sie hatte den Tod ihres Vaters noch nicht verkraftet.

Verwirrt schüttelte Nina den Kopf. »Da war er aber schon sehr krank«, sagte sie.

»Das wusste ich, und er wusste es auch, aber mit der Reise hatte er etwas, worauf er sich freuen konnte. Ich musste ihm versprechen, ohne ihn zu fahren, falls er …« Sie verstummte und schürzte die Lippen, die nun aussahen wie der Kordelzug eines Beutels.

»Granny, ich glaube, allein zu fahren, ist keine gute Idee.« Nina versuchte diplomatisch zu sein, vermutete aber, dass sie spektakulär scheitern würde, denn ihre Großmutter nahm es niemals gut auf, wenn jemand sie als zu alt betrachtete.

»Warum denn nicht?«

Nina zögerte, weil ihr ein Gedanke gekommen war. »Ach so, es ist eine von diesen Saga-Pauschalreisen mit Begleitung, richtig?« Das wäre gar nicht so übel. Saga kannte sich mit alten Leuten aus und war auf die tausend Kleinigkeiten vorbereitet, die schiefgehen konnten. Viele Witwen buchten bei diesem Reiseveranstalter, also würde Flossie in guter Gesellschaft sein.

»Igitt! Natürlich nicht. Das ist etwas für alte Leute«, verkündete ihre Großmutter.

Nina verdrehte die Augen. Flossie war vierundachtzig, wie viel älter wollte sie noch werden, um als alt zu gelten? »Was genau hast du denn gebucht und bei wem?« Nina dachte an eine Kreuzfahrt oder an ein beschauliches Hotel, das auf Senioren ausgerichtet war.

»Hier.« Ihre Großmutter wühlte in ihrer übergroßen Einkaufstasche, zog einen Gegenstand heraus, beäugte ihn kritisch, murmelte etwas vor sich hin und stopfte das Ding zurück in die Tasche, ehe sie weitersuchte. Sie holte einen Apfel, einen Hammer, eine Ausgabe der Penthouse (im Ernst???), eine klebrige Keksschachtel und ein Maßband hervor und betrachtete jeden Gegenstand eingehend, bevor sie ihn wieder in den Tiefen ihrer Tasche verschwinden ließ.

»Gefunden!«, verkündete Flossie triumphierend und legte einen zerfledderten Reiseprospekt auf den Tisch. »Der Makler in der High Street hat für mich gebucht.«

»Du meinst der Reiseberater«, sagte Nina und versuchte, den Namen auf dem Prospekt zu entziffern, der auf dem Kopf stand. Urlaub mit Athene – für anspruchsvolle Reisende, das klang gar nicht schlecht. Es klang sogar recht exklusiv. Bilder von silberblau getöntem Haar, Sherry vor dem Abendessen und mehr beigefarbener Kleidung, als man sich vorstellen konnte, tauchten vor Ninas innerem Auge auf.

»Soll ich für dich da anrufen?«, fragte sie.

»Wozu denn?«

»Um zu stornieren. Trauerfälle müssten von der Reiseversicherung abgedeckt sein. Vermutlich wirst du nicht alles zurückbekommen, weil sie die Anzahlung behalten werden, aber das meiste sollten sie erstatten.«

»Ich will aber nicht stornieren, ich will verreisen«, sagte Flossie, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihre Tochter und ihre Enkelin herausfordernd an.

Alice stieß einen tiefen Seufzer aus. Dieser Streit hatte offenbar schon lange vor Ninas Ankunft getobt. Kein Wunder, dass sie Nina angerufen hatte, damit sie ihrer Großmutter »den Kopf waschen« solle.

»Außerdem«, fügte Flossie hinzu, »gibt es gar keine Versicherung.«

»Es gibt keine Versicherung?«, fragte Nina entgeistert. Die schicksalsergebene Miene ihrer Mutter ließ Nina vermuten, dass Alice das bereits gewusst hatte. »Ich dachte immer, bei Pauschalreisen muss man eine Versicherung abschließen.«

»Nicht, wenn du ihnen erzählst, dass du schon eine hast«, erklärte Flossie.

»Aber du hast doch gerade gesagt, dass du keine hast!« Nina seufzte entnervt. Die alte Dame wurde wirklich allmählich wirr im Kopf. »Hast du nun eine Reiseversicherung oder nicht?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Das … das ist einfach …« Für einen Moment fehlten Nina die Worte. »Aber warum denn?«, fragte sie schließlich mit kläglicher Stimme.

»Weil dein Großvater keine mehr abschließen konnte, weil er Sauerstoff brauchte und als unheilbar krank galt.«

»Aber den Urlaub habt ihr trotzdem gebucht?!« Erneut verdrehte Nina die Augen. Wenn sie so weitermachte, würden ihre Augen irgendwann in dieser Position verharren, aber sie konnte es nicht lassen.

Flossie nickte begeistert. »Verstehst du jetzt, warum ich wegfahren muss? Ich bekomme mein Geld nicht zurück.«

»Granny, du kannst aber nicht allein wegfahren«, argumentierte Nina zum x-ten Mal. Vielleicht konnte sie das Problem lösen, indem sie bei Flossie einbrach und ihren Reisepass stahl – sollte sie doch versuchen, das Land ohne Ausweis zu verlassen …

»Stell dich nicht so an, Liebes, ich bin doch schon oft im Ausland gewesen. In Sachen Reisen bin ich weiß Gott keine Anfängerin!«

Nina konnte sich nur mit Mühe beherrschen. Dass die Worte ihrer Großmutter sie beinahe zum Lachen brachten, half dabei auch nicht. Eine Anfängerin war ihre Großmutter bestimmt nicht!

»Du warst aber noch nie allein weg«, sagte sie. »Grandpa war immer dabei.«

»Du hast deinen Großvater wirklich nicht gut gekannt«, murmelte Flossie. »Ich hätte ebenso gut alleine sein können. Er war keine große Hilfe.«

Nina schloss die Augen und hoffte, dass sie wieder zu Hause sitzen, ein paar Klausuren korrigieren, ihren Backofen putzen oder sich die Fingernägel schneiden würde, wenn sie sie wieder öffnete. Jede dieser Tätigkeiten war dieser surrealen Unterhaltung vorzuziehen. Waren eigentlich alle alten Menschen so störrisch?

»Ist doch egal, ob er dir eine Hilfe war oder nicht«, brachte Nina mühsam heraus. »Er war auf jeden Fall bei dir. Du. Warst. Nicht. Allein. Warum um alles in der Welt habt ihr eine Reise gebucht, obwohl ihr wusstet, dass er sie niemals antreten würde?«

»Versuch bloß nicht, mich zu belehren, junge Dame! Was ich mache, geht dich gar nichts an.«

»Es geht mich sehr wohl etwas an, nämlich dann, wenn ich in ein fremdes Land fliegen muss, um dich im Krankenhaus zu besuchen, weil du dir die Hüfte gebrochen hast!«, erwiderte Nina.

»Die Hüfte kann ich mir auch brechen, wenn jemand dabei ist«, schnaubte Flossie. »Und ich werde dich bestimmt nicht bitten, irgendwohin zu fliegen.«

»Aber ich«, meldete sich Alice zu Wort.

»Wie schön, dass du auch mal was sagst, Mum! Vielen Dank für den Beitrag, und … äh, Moment mal. Was meinst du mit ›aber ich‹?« Nina atmete hörbar aus. »Ah, verstehe … jetzt bin ich beruhigt! Warum der ganze Aufstand, wenn du mit ihr in den Urlaub fährst?«

»Werde ich nicht. Ich kann nämlich nicht fliegen«, sagte ihre Mutter. »Wegen meinen Ohren.«

»Was ist denn mit deinen Ohren?«, wollte Nina wissen.

»Sie sind empfindlich. Man hat mir gesagt, dass ich deswegen nicht fliegen kann.«

»Seit wann hast du denn Probleme mit den Ohren?«, hakte Nina nach und kratzte sich am Kopf. Das war ihr völlig neu, dabei liebte ihre Mutter es, jedem, der es hören wollte, von ihren gesundheitlichen Problemen zu erzählen.

Alice winkte ab. »Ach, schon länger.«

»Hast du dich mal untersuchen lassen? Und was genau meinst du mit empfindlich?«

»Tinnitus, Schwindel und … äh …«

»Die Menière-Krankheit, ihr wird schnell schwindelig«, ließ Flossie vernehmen. Ihr Hinterteil ragte in die Luft, während sie im Schrank nach einer weiteren Packung Kekse suchte. Sie fand welche, die mit Schokoladencreme gefüllt waren. »Du hast ja gar keine Vanillecreme-Cookies mehr. Diese hier mag ich nicht so sehr.«

»Die anderen hast du aufgegessen, als du das letzte Mal hier warst, Mum«, sagte Alice.

»Dann solltest du neue kaufen«, erwiderte Flossie, riss die Packung auf und fiel über die Kekse her, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen.

An ihre Mutter gewandt, fragte Nina: »Du hast also Probleme mit deinen Ohren?«

»Ja. Nein. Sie wissen es noch nicht. Ich muss zu ein paar weiteren Untersuchungen, aber sie haben darauf bestanden, dass ich nicht fliege.«

»Der Doktor piesackt sie«, erklärte Flossie.

Nina schnaubte. Der Satz klang, als würde ihre Mutter von dem Arzt nicht behandelt, sondern malträtiert. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den alten Dr. Edwards rittlings auf ihrer Mutter sitzen. Sie schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden.

»Jedenfalls bittet dich nicht deine Großmutter, mit ihr zu fliegen, sondern ich«, sagte Alice zu Nina. »Ich möchte, dass du sie begleitest.«

Nina starrte ihre Mutter verwirrt an. »Ich? Warum denn ich?«

»Irgendjemand muss sie begleiten«, sagte Alice. »Ich kann es nicht, also musst du es tun.«

»Und was ist mit Tante Mabel?« Warum war ihr Grandmas Schwester nicht schon früher eingefallen? Die beiden alten Schachteln zusammen war eindeutig die bessere Lösung.

»Mabel geht es auch nicht gut«, sagte Flossie. »Würde mich überraschen, wenn sie diesen Monat überlebt. Sie ist so gut wie tot. Nein danke, ich fahre allein.«

»Sag ihr, dass das nicht geht!«, protestierte Nina.

»Das habe ich doch schon versucht, und du auch. Es hat nichts gebracht, wir können sie nicht überzeugen«, erklärte Alice. Dann sah sie Nina vielsagend an und fügte hinzu: »Jedenfalls nicht, solange sie noch bei Verstand ist.«

»Was ausgesprochen fraglich ist«, murmelte Nina. »Vielleicht sollten wir ihren Reisepass verstecken.«

»Hör zu. Sie will unbedingt fahren«, sagte Alice, und Flossie nickte heftig zur Bestätigung. »Und wir sind uns doch einig, dass sie das nicht allein hinbekommt.«

»Nein, sind wir nicht. Ich bin ganz anderer Meinung«, widersprach Flossie, fand aber kein Gehör.

»Darum schlage ich vor, dass du sie begleitest, Nina«, beendete Alice ihre kleine Rede und machte eine Handbewegung wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus dem Zylinder zog. »Tadaa!«

»Oh nein, nicht ich!« Ninas Stimme überschlug sich beinahe.

»Doch, du«, sagte Alice.

»Aber …«

»Aber was? Hast du etwa bei der Arbeit zu viel zu tun?«

Über diesen Witz konnte sie nur den Kopf schütteln. Nina war Geschichtslehrerin an einer Mittelschule, und am Freitag zuvor hatten die Sommerferien angefangen, darum musste sie natürlich nicht arbeiten.

»Oder hat dein Freund vor, dich für ein paar Wochen in ein romantisches Abenteuer zu entführen?«, fuhr Alice gnadenlos fort. Ninas Augen wurden schmal. Ihre letzte richtige Beziehung war inzwischen zwei Jahre her, und das wusste ihre nervtötende Mutter verdammt gut.

»Ich habe keinen Freund«, stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich konzentriere mich auf meine Karriere.«

Bei diesem Gespräch verdrehte Nina so häufig die Augen oder biss die Zähne zusammen, dass sie sich allmählich fragte, ob ihr Gesicht jemals wieder so aussehen würde wie vor dem Zeitpunkt als sie dieses Irrenhaus betreten hatte, das ihre Mutter Zuhause nannte.

»Allmählich wird es Zeit, dass eins meiner Enkelkinder heiratet und Kinder bekommt«, sagte Flossie beiläufig. »Dann hätte deine Mutter etwas Besseres zu tun, als sich in meine Angelegenheiten einzumischen.«

»Granny, Ben ist gerade mal achtzehn!«, rief Nina. Bei der Vorstellung, wie ihr jüngerer Bruder ein Baby auf dem Arm hielt, schauderte sie. Ben war so ziemlich der tollpatschigste Mensch, dem sie je begegnet war. Und sie selbst war auch noch nicht bereit für Kinder – von denen hatte sie in ihrem Job mehr als genug. Abgesehen davon gab es keinen Mann in ihrem Leben, und wenn sie sich schon fortpflanzen sollte, würde sie das gern auf die altmodische Art tun und vorher heiraten.

»Bist du sicher? Ich hätte schwören können, dass Ben schon älter ist. Tja, dann ist er wohl raus«, sagte ihre Großmutter. »Er soll sich lieber noch ein bisschen austoben, bevor er sich festlegt. Aber was ist mit dir? Du bist doch alt genug. Zu meiner Zeit wärst du sogar schon ein bisschen zu alt für dein erstes Kind gewesen. Wie lautet deine Ausrede?«

»Ich höre?« Alice verschänkte die Arme vor der Brust und blickte Nina über ihre Brillengläser hinweg durchdringend an.

»Diese Frage werde ich nicht beantworten. Ich muss mich vor euch nicht für mein Liebesleben rechtfertigen«, erklärte Nina.

»Oh doch«, widersprach Flossie. »Denn so, wie du dich anstellst, werde ich tot sein, ehe du einen Mann zum Heiraten findest. Dabei habe ich einen wundervollen Hut, den ich auf deiner Hochzeit tragen will.«

»Ich habe nicht von Hochzeiten und Enkelkindern gesprochen«, sagte Alice. »Ich will wissen, ob du bereit bist, mit deiner Großmutter in den Urlaub zu fliegen.«

Nina blinzelte, während sie die verschiedenen Gesprächsfäden auseinanderzuhalten versuchte. Sie kam zu dem Schluss, dass die Frage ihrer Mutter das geringere Übel darstellte. »Muss ich das wirklich?« Ihr war klar, dass sie in diesem Augenblick klang wie die Kinder, die sie unterrichtete, aber dagegen war sie machtlos. Ihre Mutter behandelte sie ohnehin, als wäre sie immer noch vierzehn.

»Ja, das musst du.« Alice nickte energisch. »Denk daran, was Gran alles für dich getan hat. Da ist eine gemeinsame Reise wohl nicht zu viel verlangt.«

Nina rümpfte die Nase. Was genau hatte ihre Großmutter denn für sie getan? Als sie fünfzehn gewesen war, hatte Granny sie gezwungen, den ganzen Sommer über Brombeeren zu pflücken, damit sie das Obst pfundweise an Passanten verkaufen konnten. »Das formt den Charakter!«, hatte Flossie gesagt, als Nina sich über ihre zerkratzten Arme und Beine beschwert hatte. Und dafür sollte sie ihr dankbar sein? Oder dafür, dass Flossie sie einmal gezwungen hatte, auf einer Weihnachtsfeier für Senioren ein Solo zu singen, obwohl sie genau gewusst hatte, dass Nina absolut unmusikalisch war? Nie würde sie vergessen, wie sich ein älterer Herr die Finger in die Ohren gesteckt hatte, um ihrem Gekrächze zu entgehen. Sollte sie dankbar dafür sein, dass ihre Großmutter sie überredet hatte, Grandpas Rücken mit Wachs zu enthaaren, weil er an einem Schönheitswettbewerb für Senioren hatte teilnehmen wollen? Nein! Er hatte so laut geschrien, dass ihr noch Tage später die Ohren geklingelt hatten.

»Außerdem hast du Granny doch gehört, sie ist nicht mehr die Jüngste, und deshalb …« Alice senkte den Blick und biss sich auf die Lippen.

Nina hob eine Hand. »Hör endlich mit dieser emotionalen Erpressung auf.«

Lernen Mütter die Nummer mit dem schlechten Gewissen eigentlich während der Schwangerschaft oder gibt es dafür spezielle Kurse, fragte sich Nina nicht zum ersten Mal.

»Falls ich mitkomme – was nicht heißt, dass ich es tun werde –, aber nur für den Fall: Ich werde mir kein Zimmer mit ihr teilen.« Nina schauderte. Sie liebte ihre Großmutter, aber auch diese Liebe hatte Grenzen. Sie brauchte ihre Privatsphäre und einen Rückzugsort, wenn es ihr zu viel wurde.

An Alice gewandt, sagte Flossie: »Siehst du? Es ist unmöglich. Sie kann nicht mitkommen.«

Alice nahm die Broschüre vom Tisch, schlug die entsprechende Seite auf und las vor: »Alle Zimmer haben zwei Einzelbetten, ein eigenes Badezimmer, einen Balkon oder eine Terrasse … blablabla. Bei Einzelbelegung fallen zusätzliche Gebühren an. Einzelbelegung! Na, wie lautet deine nächste Ausrede?«

Nina überlegte. »Ha! Ich habe keinen Reisepass.«

»Doch, hast du.«

»Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.«

»Weil er bei mir in der Schublade liegt«, sagte Alice.

»Und was hat er da zu suchen?«

»Du hast ihn hier vergessen, nachdem du das letzte Mal verreist warst.«

»Vor sechs Jahren? Dann ist er doch bestimmt abgelaufen.«

Alice lächelte wie eine Grinsekatze auf Drogen, und Nina wurde klar, dass ihre Mutter sie in eine Falle gelockt hatte. »Ist er nicht, ich habe nachgeschaut.«

»Na schön, dann fahre ich eben mit.« Nina ergab sich in ihr Schicksal, aber ihre Stimme klang, als sollte sie zwei Wochen im Gefängnis verbringen und nicht in einem Hotel für anspruchsvolle Reisende.

»Kommt Nina nun mit?«, fragte Flossie Alice und hielt sich dabei eine Hand ans Ohr.

»Ja, Granny, ich begleite dich!«, rief Nina, zwang sich zu lächeln und nahm sich vor, das Beste daraus zu machen. Was war schließlich auszusetzen an zwei Wochen Sonne, Sand, Meer und Entspannung? Sie musste nur ihr iPad und ihre Ohrstöpsel mitnehmen, falls Bingo oder Karaoke auf dem Plan standen.

Und obwohl ihre Mutter sie praktisch dazu gezwungen hatte – wofür sie sich früher oder später revanchieren würde –, musste Nina zugeben, dass sie sich auf die Reise zu freuen begann. Doch dann wurde ihr klar, dass das Highlight ihres Sommers daraus bestehen würde, zwei Wochen lang auf ihre Großmutter aufzupassen. Na super …

2

Kann ich mal sehen?« Nina streckte eine Hand aus, und Flossie reichte ihr die Broschüre, die bereits an der richtigen Stelle aufgeschlagen war. Nina lächelte – ihre Großmutter freute sich tatsächlich auf ihren gemeinsamen Urlaub. Sie fragte sich, wie viele Leute schon das zweifelhafte Vergnügen gehabt haben mochten, von der alten Dame diese Broschüre unter die Nase gehalten zu bekommen. Wahrscheinlich die gesamte Heilsarmee, dachte sie. Ihre Großmutter war zwar kein Mitglied, ging aber trotzdem zu den Treffen am Mittwochnachmittag, weil es dort »wundervolle Scones mit Erdbeermarmelade und Sahne« gab, obwohl ihr das Singen »ein bisschen lästig« war. Vermutlich hatte sie den Prospekt auch im Rentnerclub herumgezeigt (»Da gehe ich nur hin, damit die alten Schachteln nicht so alleine sind«, behauptete Flossie immer) sowie jedem Dorfbewohner, der unvorsichtig genug gewesen war, sich ihr bis auf drei Meter zu nähern.

Nina las die Broschüre durch und versuchte dabei nicht mit anderen Passanten zusammenzustoßen. Nur knapp wich sie einer Straßenlaterne aus; Flossie hatte sie gerade noch rechtzeitig am Arm gezogen und sie dabei beinahe umgerissen. Für eine so kleine Frau konnte ihre Großmutter ordentlich zupacken.

Wenn man den Fotos glauben konnte, war das Hotel wunderschön. Es lag direkt am Strand und war nur einen Katzensprung von der belebten Hauptstraße entfernt. Es war geschmackvoll eingerichtet, hatte einen kleinen Innenhof mit Springbrunnen und verwies stolz auf sein türkisches Badehaus, auch wenn Nina keine Ahnung hatte, was sie sich darunter vorstellen sollte. Außerdem gab es einen unglaublich blauen Pool, und die Zimmer schienen groß zu sein. Allerdings würden die Einzelzimmer vermutlich weniger hermachen.

»Soll ich mit reinkommen?«, bot Nina an, als sie vor dem Reisebüro stehen blieben.

»Das schaffe ich schon allein, Liebes. Geh du dir lieber einen schönen Bikini kaufen, und wenn ich hier fertig bin, treffen wir uns bei Marks & Spencer. Ich brauche dringend neue Schlüpfer.«

Die kannst du dir gern selbst aussuchen, dachte Nina. Sie gab ihrer Großmutter einen Kuss auf die runzelige Wange und erinnerte sie erneut daran, möglichst von einem Doppelzimmer auf zwei Einzelzimmer umzubuchen. »Ist egal, wenn es teurer wird. Ich gebe dir das Geld zurück«, hatte Nina mehrfach betont. Dann begab sie sich auf die Suche nach geeigneter Badekleidung, wobei ihr die Vorfreude wie ein Schmetterling im Magen herumflatterte. Sie hatte schon lange keine Strandklamotten mehr gekauft und auch keine Ahnung, was ihr stand oder was sie sonst noch an Urlaubskleidung einkaufen sollte.

Die Verkäuferin im Debenhams war wunderbar.

»Wo fahren Sie denn hin?«, fragte sie.

»In die Türkei. Wie der Ort heißt, habe ich vergessen, aber laut meiner Gro… äh … Freundin liegt er an einer schönen blauen Lagune.«

»Oh, ich weiß, was Sie meinen. Ich war vor ein paar Jahren mal mit meinem Freund in der Türkei. Es war wundervoll. Das Wasser war so warm wie Badewasser.«

»Ist es sehr heiß dort?«, fragte Nina besorgt. Sie mochte Hitze nicht besonders, ebenso wenig wie Kälte. Regen gefiel ihr auch nicht, wenn sie genauer darüber nachdachte. Bei Regen klebten einem die Haare am Kopf wie aufgemalt, und bisher war ihr noch jeder Schirm nach wenigen Tagen kaputtgegangen. Nein, Regen mochte sie wirklich nicht.

Die Verkäuferin nickte energisch. »Oh ja, sehr heiß.«

»Ob ich eine Strickjacke mitnehmen soll?«

»Nein. Ich hatte nur ein paar Bikinis und eine Menge kurze Kleider dabei. Oh, und ein weites T-Shirt zum Überziehen am Strand, um nicht zu viel Sonne abzubekommen. Sagen Sie mir Ihre Größe, und ich bringe Ihnen ein paar Sachen.«

Sie führte Nina zu einer Umkleidekabine und kam fünf Minuten später mit einem Arm voller Kleidungsstücke zurück.

Bestürzt musterte Nina die winzigen Fetzen. Liefen Frauen im Urlaub heutzutage in solchen Klamotten herum? Als sie das letzte Mal im Ausland gewesen war, hatte sie hübsche lange Flatterkleider getragen, und sie erinnerte sich deutlich, dass ihr Bikini aus mehr als genug Stoff bestanden hatte, um alles zu bedecken. Die winzigen Dreiecke, die die Verkäuferin ihr hinhielt, würden kaum ihre Brustwarzen verbergen, ganz zu schweigen vom Rest ihrer Brüste.

Nina verschränkte die Arme, als sie sich vorstellte, wie nackt sie sich mit derart wenig Stoff auf der Haut fühlen würde. Es war beinahe pornographisch. Die anderen winzigen Bikinis, die die Verkäuferin ihr zeigte, waren sogar noch schlimmer. Einer sah aus, als bestünde er aus grobmaschig gestrickter Wolle, und ihr schauderte bei der Vorstellung, was im Wasser aus diesem Teil werden würde.

»Ähm … Haben Sie vielleicht etwas weniger Freizügiges?« Schließlich sollte die alten Leute im Hotel bei ihrem Anblick nicht der Schlag treffen. Hübsch und sittsam verpackt war eher angesagt. Auffallen würde sie bereits dadurch, dass sie die Jüngste in dem Hotel war, was unangenehm genug sein würde. Da musste sie nicht noch anderweitig auf sich aufmerksam machen.

»Wie wäre es mit einem Badeanzug? Für die großzügiger geschnittenen Bikinis haben Sie obenherum nicht genug. Die sind eher für üppigere Damen gedacht.«

Nina nickte schwach. »Okay, dann nehme ich einen Badeanzug.« Na super, sie war also nicht nur prüde, sondern hatte soeben auch noch erfahren, dass ihre Brüste so klein waren, dass sie keinen Grund zur Prüderie hätte.

Während sie auf die Rückkehr ihrer Peinigerin wartete, sah Nina die anderen Kleidungsstücke durch. Spaghettiträger und tiefe Ausschnitte wurden noch dadurch verschärft (falls das überhaupt möglich war), dass die Röcke eher wie breite Gürtel aussahen. Nein danke. Aber immerhin wusste sie nun, was sie wollte – etwas Weites, Flatteriges, vorzugsweise aus Baumwolle oder Leinen, auch wenn Leinen die unangenehme Eigenschaft hatte, schnell knittrig zu werden.

Am Ende verließ sie Debenhams mit mehreren überquellenden Einkaufstüten und einem deutlich niedrigeren Kontostand. Wer hätte gedacht, dass so wenig Stoff so teuer sein konnte.

Flossie saß bereits auf einer Eckbank im Café bei Marks & Spencer. Vor ihr stand eine Kanne Tee. Kaum hatte sie Nina gesehen, rief sie einer Kellnerin: »Käffchen, bitte!« zu. Diese lächelte und brachte dem neuen Gast eine Tasse Kaffee. Nina ließ ihre Taschen auf den Boden und sich selbst mit einem tiefen Seufzer in den Sessel fallen.

»Jetzt ist es offiziell«, verkündete sie. »Ich hasse Shopping!«

»Zeig mal, was du gekauft hast«, sagte Flossie, und Nina beugte sich vor und zog das erstbeste Kleidungsstück aus der Tasche – einen Badeanzug.

Als sie wieder unter dem Tisch hervorkam, sah sie, wie Flossie eine kleine Wodkaflasche herausholte und etwas in ihren Tee goss. »Granny!«, zischte sie. »Was tust du da?«

»Ich trinke meinen Tee«, sagte die alte Dame mit Unschuldsmiene.

»Steck das Ding wieder ein, sonst werfen sie uns noch raus!«

»Ach, sei kein Feigling«, antwortete Flossie und schlürfte genüsslich ihren Tee.

Nina konnte kaum glauben, dass ihre vierundachtzig Jahre alte, gebrechliche Großmutter sie gerade feige genannt und noch dazu die Unverfrorenheit besessen hatte, den Wodka, den sie offensichtlich in ihrer Handtasche mit sich führte, ohne mit der Wimper zu zucken mitten in einem Café herauszuholen, um ihren Tee aufzupeppen.

Gran war eine heimliche Trinkerin.

»Möchtest du auch einen Tee mit Schuss?«, fragte Flossie und schwenkte die halb leere Flasche.

»Pack das wieder ein«, wiederholte Nina und sah sich in dem Café um wie eine Spionin, die mit einem Überfall rechnete. »Wenn sie hier Alkohol ausschenken wollten, bräuchten sie garantiert eine Lizenz dafür.«

»Sie schenken ja auch keinen Alkohol aus«, gab Flossie zu bedenken. »Das mache ich schon selbst.«

Nina seufzte und wandte sich ab, als ihr ein Pärchen am Nachbartisch finstere Blicke zuwarf. Diese Leute schienen zu glauben, dass sie das Verhalten ihrer Großmutter beeinflussen konnte. Schön wär’s, dachte sie und schnaubte.

Sie hatte bereits vergessen, dass sie den Badeanzug noch in den Händen hielt, da zeigte Flossie mit dem Finger darauf und fragte: »Was soll das denn sein?«

»Ein Badeanzug, Gran.«

»Der sieht ja aus, als ob da ein ganzes Pferd reinpasst. Ist das wirklich deine Größe?«

»Ja, vielen Dank auch.« Allmählich wurde Nina ungehalten. Der Badeanzug war doch vollkommen in Ordnung.

»Ein bisschen altbacken, findest du nicht?« Flossie ließ die nun leere Wodkaflasche wieder in ihre riesige Tasche gleiten.

»Überhaupt nicht. Mir gefällt er«, sagte Nina und wechselte das Thema. »Konntest du den Namen auf den Tickets ändern lassen oder muss ich noch mal hingehen?« Jetzt, wo der Wodka verschwunden war, entspannte sich Nina wieder.

Flossie blinzelte mehrmals hintereinander. »Welchen Namen meinst du?«

»Meinen Namen, schon vergessen? Du wolltest Grandpas Ticket auf meinen Namen umschreiben lassen.« Bitte, lieber Gott, mach, dass sie nicht wirklich den Verstand verliert, dachte sie im Stillen.

Ihre Großmutter wirkte erleichtert, so, als wäre ihre Erinnerung auf einmal zurückgekehrt. »Ach, das.« Sie wedelte mit der Hand. »Alles erledigt. Nichts, worüber du dir den Kopf zerbrechen musst.«

»Was ist mit den Zimmern?«

»Sind gebucht. Wie gesagt, es ist alles erledigt.«

»Soll ich mir die Unterlagen noch mal anschauen, nur um sicherzugehen?«

»Das kann ich noch sehr gut allein, vielen Dank«, sagte Flossie und straffte den Rücken, als wollte sie Königin Victoria imitieren. Nina erkannte, dass sie definitiv not amused war.

»Okay, wenn du dir sicher bist …«

»Ja, das bin ich. Und jetzt hör auf damit. Zeig mir lieber, was du sonst noch gekauft hast«, befahl Flossie, »dann zeige ich dir auch, was ich habe.«

Nina sah sich um. Eigentlich hatte sie keine Lust mehr, ihre Einkäufe vorzuführen, vor allem nachdem Flossie ihren Badeanzug so kritisiert hatte. Ihre Großmutter hatte in dieser Hinsicht keinerlei Hemmungen. Und da zog sie auch schon einen riesigen Schlüpfer aus der Tasche, so dass alle Welt ihn sehen konnte.

»Sieh mal, mit Schleifchen!«, verkündete Flossie.

Das Kichern an den umliegenden Tischen führte dazu, dass Nina vor Scham am liebsten unter den Tisch gekrochen wäre.

»Wunderbar, Gran. Und jetzt pack ihn wieder ein.« Was war nur in sie gefahren? Flossie war immer schon ein bisschen seltsam gewesen – flatterhaft, wie manche es nannten –, aber so schlimm wie jetzt war es noch nie gewesen. Vielleicht lag es an der Trauer. Nina hatte gelesen, dass manche Leute dann komisch wurden. Sie konnte nur hoffen, dass es nichts Ernsteres war – eine beginnende Demenz zum Beispiel.

Nachdem sie ihre Großmutter nach Hause gebracht hatte, rief sie sofort bei dem Reisebüro an. Nur um sicherzugehen.

»Ich rufe an wegen einer Reise, die meine Großmutter Florence Gibbins gebucht hat. Sie war heute Morgen bei Ihnen und hat einen der Namen ändern lassen. Wissen Sie, mein Großvater, ihr Ehemann, ist gestorben, und …«

»Florence Gibbins sagten Sie? Ja, sie war heute Morgen hier und hat eine All-inclusive-Reise für zwei Personen in die Türkei gebucht. Zwei Wochen, Abflug von Birmingham.«

»Ja, genau, aber ich mache mir Sorgen wegen der Namen. Hat sie die ändern lassen?«

»Die Reise ist auf Mrs Florence Gibbins und Miss Nina Clarke gebucht. Ist das etwa falsch?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang leicht ungehalten, was Nina dem Mann nicht verübeln konnte – nicht, nachdem er sich am Morgen eine Stunde lang mit ihrer Großmutter und ihrer ganz speziellen Logik hatte herumschlagen müssen.

»Oh nein, es ist alles in Ordnung. So ist es korrekt. Vielen Dank, dass Sie ihr dabei geholfen haben. Sie hat nicht zugelassen, dass ich mich darum kümmere, sie wollte es unbedingt selbst …«

»Kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«, fiel ihr der Reiseberater ins Wort. Offenbar witterte er eine Gelegenheit, noch ein paar Extras zu verkaufen, denn sein Ton war plötzlich viel freundlicher, als er Nina vorschlug: »Eine Mahlzeit an Bord, die Möglichkeit, mehr Gepäck mitzunehmen, mehr Beinfreiheit?« Die letzten beiden Worte klangen beinahe andächtig.

»Äh … nein danke. Was ist mit den Tickets?«, fragte Nina.

»Tickets gehören der Vergangenheit an«, sagte der Mann am anderen Ende großspurig. Wobei Mann womöglich ein wenig übertrieben war – der Typ klang, als wäre er ungefähr zwölf Jahre alt. »Heutzutage läuft alles per E-Mail.«

»Aber meine Großmutter hat gar keine E-Mail-Adresse. Sie hat nicht einmal einen Computer. Es würde mich wundern, wenn sie wüsste, was eine E-Mail ist.«

»Ist alles schon erledigt. Ich habe Ihrer Großmutter die Unterlagen ausgedruckt und Sie beide bereits für den Hin- und Rückflug eingecheckt.«

Ungläubig schüttelte Nina den Kopf. »Aber wie sollen wir ohne Tickets einchecken?«

»Mrs Gibbins weiß, was zu tun ist. Sie kommen einfach mit Ihren Reisepässen und den Buchungsinformationen, die ich Ihrer Großmutter ausgedruckt habe, zum Flughafen, und um alles andere kümmert sich unser exzellentes Flughafenpersonal.«

»Oh. Sehr gut. Dann ist ja alles erledigt.«

»Genau.

Erleichtert beendete Nina das Gespräch. Ihre Großmutter schien alles unter Kontrolle zu haben, auch wenn deren geistige Gesundheit ihr nach wie vor Sorgen bereitete. Sie rief ihre Mutter an, nur zur Sicherheit.

»Ich mache mir Gedanken wegen Gran«, sagte Nina, sobald ihre Mutter den Hörer abgenommen hatte. »Ach, und da wir gerade dabei sind: Vielen Dank, dass ich mich jetzt mit ihr herumschlagen darf.«

»Du wirst einen großartigen Urlaub verbringen«, sagte Alice. »Sonne, Strand, Meer, Sangria und sexy Kellner.«

»Ist Sangria nicht spanisch? Und einen Kellner will ich nicht, egal, wie sexy.«

»Sangria gibt es bestimmt auch in der Türkei, trink nur nicht zu viel davon.«

»Das solltest du lieber deiner Mutter sagen«, antwortete Nina trocken. »Im Café bei Marks & Spencer hat sie eine ganze Flasche Wodka getrunken.«

»Eine ganze Flasche? Geht es ihr gut? Du hast sie doch nicht etwa allein gelassen, oder? Was, wenn sie sich übergibt – sie könnte daran ersticken!«

»Es war eine sehr kleine Flasche«, stellte Nina richtig. »Und du klingst, als würdest du von einem Teenager reden und nicht von einer vierundachtzig Jahre alten Frau.«

»Eine ganze Flasche klingt schon nach ziemlich viel«, sagte ihre Mutter. »Aber in diesen Miniflaschen ist nur wenig drin, oder?«

Nina verdrehte die Augen. Das tat sie in letzter Zeit verdammt häufig. »Wie auch immer, ich wollte eigentlich nur fragen, ob es Gran gut geht.«

»Es ist alles in Ordnung mit ihr. Natürlich vermisst sie deinen Großvater, aber dieser Urlaub ist die perfekte Ablenkung. Die beiden sind früher so gern zusammen weggefahren, sie waren immer auf Achse. Im Women’s Institute haben sie deine Großmutter immer Judith Chalmers genannt.«

»Wer ist Judith Chalmers?«

»Die hat früher für die BBC eine Reisesendung gemacht. Immer unterwegs, genau wie deine Großeltern. Sie hat mehr Urlaubsreisen als warme Mahlzeiten genossen.«

»Du glaubst also, dass mit Gran alles in Ordnung ist? Sie ist nicht vergesslich oder so?«, hakte Nina nach.

»Es geht ihr gut. Ihr fehlt nichts.« Darauf beharrte Alice, und Nina musste ihr Urteil hinnehmen. Schließlich verbrachte ihre Mutter mehr Zeit mit Flossie als sie. Wenn sie sagte, dass es Granny gut ging, dann würde das schon stimmen.

3

Nina war zwar bereits öfter ins Ausland gereist, aber in der Türkei war es ganz anders als auf Mallorca, in Paris oder Prag. Es war heiß, sogar um halb vier Uhr nachts, und die Luft außerhalb des Flughafens roch … exotisch, seltsam, aufregend und definitiv nicht englisch.

Sie staunte über die vielen Menschen, die zu dieser frühen Stunde unterwegs waren: Touristen, Handelsvertreter, die Mitarbeiter des Flughafens, Fahrer und Männer, von deren Geschäften sie nicht die leiseste Ahnung hatte, tummelten sich an den Ausgängen und strömten aus dem Terminal hinaus.

Ihre Großmutter wirkte völlig unbeeindruckt. Als wäre sie allein auf dem Flughafengelände, marschierte sie auf die Parkbucht zu, in der laut einem der Reiseleiter ihr Bus stand. Die Leute mussten ihr aus dem Weg gehen, wenn sie nicht überrannt werden wollten. Nina blieb es überlassen, die beiden Koffer hinter sich herzuziehen. Ihre Großmutter war zwar klein und beinahe mager, aber wehe dem, der ihr im Weg stand oder sie davon abhielt, das zu tun, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Die Tatsache, dass sie im Flugzeug mehrere Gläser Wodka getrunken hatte, hatte die Entschlossenheit der alten Dame noch verstärkt. Nina fragte sich, ob ihre Großmutter so beschwipst war, wie Nina selbst es unter denselben Umständen gewesen wäre, vermutete aber, dass dem nicht so war.

Beinahe zwei Stunden später, als Gran mit zurückgelegtem Kopf und offenem Mund auf dem Sitz neben ihr schlief, stürzte der Reisebus über den Rand der Welt.

Nina schnappte nach Luft.

Unter ihnen breitete sich ein glitzernder, hell erleuchteter Ferienort aus. Das matte, silberne Licht der Morgendämmerung ließ die steilen Hänge der umliegenden Berge erkennen, während sich vor ihnen das Meer erstreckte. Sie befanden sich so hoch darüber, dass sie sich fühlte, als säße sie wieder im Flugzeug.

Mit kreischenden Bremsen und dem beunruhigenden Geruch von glühend heißem Gummi fuhr der Bus die steile, kurvenreiche Straße hinunter. Auf der rechten Seite ragte eine Felswand über ihnen auf und auf der linken lag der sichere Tod. Sie war auf zynische Art froh, dass die Türken im Gegensatz zu den Briten auf der rechten Straßenseite fuhren, denn das bedeutete, dass zwischen ihr und der Unendlichkeit wenigstens noch ein Band aus Asphalt lag. Dann kam ihr die schreckliche Erkenntnis, dass sie auf dem Rückweg zum Flughafen wahrscheinlich erneut diese Straße nehmen mussten. Sie schloss die Augen, öffnete sie aber rasch wieder, weil ein Bild von einem Moped, das von einer Ziege gefahren wurde, vor ihr aufblitzte.

Sie drehte sich rasch auf dem Sitz um, um besser hinaussehen zu können, da überholte der Reisebus das kleine Fahrzeug bereits, gerade rechtzeitig, damit sie einen flüchtigen Blick auf einen Mann, eine Frau, drei Kinder und eine Ziege erhaschen konnte, die allesamt wackelig auf dem viel zu kleinen Sitz des Mopeds saßen.

Der Junge, der die resigniert wirkende Ziege festhielt, schenkte Nina ein strahlendes Lächeln. Nina erwiderte es, auch wenn es eher eine schwache Grimasse als ein Lächeln war. Grundgütiger, wo blieb nur die Verkehrspolizei? Hatte der Fahrer des Mopeds irgendeine Vorstellung von Gesundheit und Sicherheit? Was, wenn sie einen Unfall bauten?

Sie schüttelte noch immer den Kopf, als der Bus die Talsohle erreichte und das Tal der Länge nach auf einer schmalen Straße durchquerte, an deren beiden Seiten willkürlich Autos parkten. Schließlich hielt er vor einem prachtvollen Gebäude an, über dessen Eingang in riesigen Leuchtbuchstaben der Name Aphrodite Hotel prangte. Sie waren angekommen, Gott sei Dank.

Nina weckte ihre leise schnarchende Großmutter, die sich prompt eine Zigarette anzündete. Sie hatte nicht gewusst, dass Gran rauchte, bis diese sich am Flughafen ein paar Schachteln gekauft hatte. In der Zwischenzeit überwachte Nina das Entladen der Koffer und prüfte, ob sie auch die richtigen bekamen. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, in ihr Zimmer zu kommen und festzustellen, dass sie die Kleidung einer der Frauen mittleren Alters dabei hatte, die die begehrten vorderen Sitze in Beschlag genommen hatten. Nina hasste es, mit dem Bus zu fahren, und der Transfer zum Hotel wäre sehr viel erträglicher gewesen, hätte sie vorn sitzen und sehen können, wohin sie fuhren … Oder vielleicht auch nicht. Felswände, steile Abhänge und überladene Mopeds – Nina schauderte.

Die Hotelrezeption war eine angenehme Überraschung: Fußböden und Wände aus Marmor und ein Empfangstresen aus poliertem Holz. Und es war kühl. Die Klimaanlage im Bus war nicht sonderlich effektiv gewesen, und der nach Blumen duftende, leicht klimatisierte Empfangsbereich beruhigte Ninas überstrapazierte Nerven und kühlte ihre furchtbar klebrige Haut.

Gran schien die Anreise unbeschadet überstanden zu haben. Sie füllte gerade freudestrahlend das Check-in-Formular aus und ließ ihre Unterschrift in einem Schnörkel auslaufen. Das Personal, fiel Nina auf, lächelte strahlend, und alle, einschließlich der Putzfrauen, die mit kurzstieligen Besen den Fußboden fegten, hielten inne, um ihre Großmutter zu begrüßen. Nina hingegen ignorierten sie. Es machte ihr nichts aus. Sie fand es erfrischend, eine Kultur zu erleben, die sich alten Menschen gegenüber respektvoll verhielt. Großbritannien konnte sich an den türkischen Sitten durchaus ein Beispiel nehmen.

Ein Empfangsmitarbeiter überreichte Flossie einen Schlüssel. »Zimmer 216«, sagte er.

Nina wartete darauf, dass sie ihren Schlüssel bekam.

Und wartete.

»Kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragte der Mann.

»Äh … mein Schlüssel?« Nina betrachtete die Reihe der Postfächer und fragte sich, in welchem sich der Schlüssel zu ihrem Zimmer befand. Hoffentlich war sie in der Nähe ihrer Großmutter untergebracht.

»Den habe ich der alten Dame gegeben«, sagte er.

»Meine Großmutter hat ihren eigenen Schlüssel und meinen auch?«

»Ihre Großmutter hat den Schlüssel, ja.«

»Oh, das ist ja … Moment mal, sagten Sie den Schlüssel? Gibt es nur einen?« Nina war müde, aber sie war sicher, dass sie sich nicht verhört hatte.

Langsam, als wäre Nina ebenso schwerhörig wie ihre Großmutter – obwohl Grans Schwerhörigkeit offenbar kam und ging, wie es ihr gerade in den Kram passte –, antwortete der junge Mann mit der makellosen Uniform und dem professionellen Lächeln: »Es gibt nur einen Schlüssel für jedes Zimmer, Ma’am.«

Ma’am, er hat mich Ma’am genannt, war alles, was Nina denken konnte. Wann war aus der »Miss« eine »Ma’am« geworden? So alt war sie nun wirklich nicht! Allerdings, dachte sie, ist dieser Typ kaum älter als die Jungs in meiner Abiturklasse, so dass er vermutlich jeden über zwanzig für alt hielt.

»Nina! Was ist los?« Flossie klang ungeduldig. Neben ihr wartete ein weiterer, ebenso junger Mann, ihr Gepäck zu seinen Füßen.

»Ich brauche meinen Schlüssel.«

»Den habe ich«, sagte Flossie, und Nina schnalzte mit der Zunge. Offensichtlich hatte sie da etwas falsch verstanden.

»Du hast ihn?«

»Habe ich doch gerade gesagt. Nun komm, ich will mich vor dem Frühstück noch ein paar Stunden aufs Ohr legen.«

Nina ließ den Hotelpagen vorangehen. Sie hätte ihren Koffer lieber selbst gezogen, war aber zu müde, um sich deswegen mit ihm zu streiten. Der junge Mann führte sie über gepflegte, gewundene Pfade. Nina verlor rasch die Orientierung und war dankbar, dass er die Führung übernommen hatte.

Soweit sie erkennen konnte, bestand das Hotel aus einem Hauptgebäude, in dem sich die Rezeption befand, einem Innenhof dahinter, in dem zahlreiche plätschernde Springbrunnen standen, und einer Reihe von zweigeschossigen Gebäuden mit Zimmern. Durch die Büsche und Bäume auf dem Hotelgelände erspähte sie weitere Gebäude, hatte aber keine Ahnung, wozu sie genutzt wurden, und sie freute sich darauf, es am Morgen herauszufinden. Zwar war es streng genommen bereits Morgen, aber da sie noch nicht im Bett gewesen waren, zählte das nicht.

Flossies Zimmer lag im Obergeschoss, und Nina hoffte, dass sie in der Nähe untergebracht war, damit sie die alte Dame im Auge behalten konnte.

»Zweihundertundsechzehn«, sagte der junge Mann auf Englisch mit schwerem Akzent und öffnete schwungvoll die Tür.

»Es ist hübsch, Gran«, stellte Nina fest, die dem Pagen und ihrer Großmutter ins Zimmer gefolgt war.

Zwei Einzelbetten (auf jedem lag ein Handtuch, das sorgfältig zu einem Vogel gefaltet war), ein Fernseher, zwei bequeme Sessel, ein Badezimmer mit ebenerdiger Dusche, Blick auf den Pool jenseits der Balkontüren. Hoffentlich war ihr eigenes Zimmer genauso schön.

Der Page stellte die Koffer ab und zeigte ihnen, wie die Klimaanlage funktionierte. Nina wies Flossie an, sie eingeschaltet zu lassen, weil es in dem Zimmer bereits ziemlich warm war – sie fragte sich, wie es wohl werden würde, wenn die Sonne erst richtig herauskam. Der junge Mann wartete, während ihre Großmutter in ihrem Portemonnaie nach türkischem Geld suchte.

»Angenehmen Aufenthalt«, sagte er und steckte die Banknote rasch ein, ehe er mit einem breiten Lächeln im Gesicht zur Tür hinausging und verschwand. Nina fragte sich, wie viel Trinkgeld Granny ihm wohl gegeben hatte.

»Warten Sie, was ist mit meinem Zimmer?«, rief Nina ihm hinterher, so leise wie möglich, weil sie sich der schlafenden Gäste in den benachbarten Zimmern bewusst war. Zu spät. Der Page war schon weg.

»Wovon sprichst du, Liebes?«, fragte Flossie, die inzwischen die Balkontüren geöffnet und sich eine weitere Zigarette angesteckt hatte. Nina wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum und hustete theatralisch. »Nun bleib mal locker«, knurrte Flossie und trat hinaus auf den Balkon. »Hier rauchen alle.«

Nina war egal, was alle anderen taten, sie wollte einfach nur ihren Zimmerschlüssel. Eine Tasse Tee (sie hatte ein paar Tetley-Teebeutel mitgenommen), eine schnelle Dusche und eine Mütze Schlaf, das war es, was sie brauchte.

»Mein Schlüssel«, sagte sie kurz angebunden.

Flossie musterte sie verärgert. »Da ist er doch.« Sie deutete auf den Schlüssel, der auf einer Kommode lag.

»Na endlich!« Nina nahm ihn und schaute nach der Nummer. »Zweihundertundsechzehn«, sagte sie. »Das ist dein Schlüssel.«

»Und deiner.«

»Ich will einen eigenen.«

Flossie drückte ihre Zigarette in dem Aschenbecher aus, der auf dem kleinen Tisch auf dem Balkon stand, und drehte sich zu ihr um. »Du kannst aber keinen bekommen«, sagte sie. »Du hast doch gehört, was der Mann an der Rezeption gesagt hat: ein Zimmer, ein Schlüssel.«

Es dauerte eine Weile, bis der Groschen fiel. Nina wusste, dass sie dazu neigte, das Offensichtliche nicht zu sehen, obwohl sie eine intelligente Frau war.

»Willst du damit sagen, wir teilen uns ein Zimmer?« Sie schloss die Augen, als ihr klar wurde, was passiert war. Mum, dachte sie, wenn ich wieder zu Hause bin, bringe ich dich um. »Hattest du nicht gesagt, du hättest getrennte Zimmer gebucht?«

»Nein. Das habe ich vergessen.« Flossie musterte sie aus großen, unschuldigen Augen. »Aber sieh doch mal das Positive daran. Einzelzimmer wären längst nicht so schön, und du glaubst doch nicht, dass du ein solches Zimmer ganz für dich allein haben kannst, oder? Nicht bei diesen Preisen.«

Doch, genau das hatte Nina geglaubt. Hätte sie ihre Großmutter nur beim Gang in das Reisebüro begleitet und die Buchung korrigiert!

Wenigstens gab es Einzelbetten. Bei dem Gedanken, mit ihrer angetrunkenen Granny in Löffelchenstellung schlafen zu müssen, zuckte Nina unwillkürlich zusammen.

»Komm her und sieh dir diese Aussicht an!«, rief Flossie, und Nina ließ zu, dass sie das Thema wechselte. Ändern ließ sich an der Situation ohnehin nichts mehr, also würde sie einfach das Beste daraus machen. Außerdem wollte sie Gran nicht daran erinnern, dass das Bett, in dem Nina schlafen würde, ursprünglich für ihren Mann vorgesehen war, und sie fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie so viel Aufhebens darum gemacht hatte.

Vom Balkon aus blickten sie auf den Pool, und auf was für einen! In dem Prospekt wurde er als Freiformpool beschrieben, erinnerte sich Nina, als sie auf die geschwungene Form und das türkisfarbene Wasser starrte.

Soweit sie es von hier aus sehen konnte, waren auch die Außenanlagen sehr schön. Es gab jede Menge Platz zwischen den Sonnenliegen und auch viele Schirme. Blühende Bäume und Büsche säumten die gepflasterten Gehwege und wuchsen an den weißen Mauern des unteren Stockwerks empor. Der Rasen war gepflegt, und Nina bemerkte, dass die Sprinkler eingeschaltet waren.

Es schien hier sehr hübsch zu sein, und sie war froh, dass ihre Mutter sie zum Mitfahren überredet hatte. Na ja, mehr oder weniger.