Sommerdunkle Tage - Alice Kuipers - E-Book

Sommerdunkle Tage E-Book

Alice Kuipers

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Beschreibung

Eine wiedererwachte Freundschaft, ein dunkles Geheimnis und eine verhängnisvolle Liebe Wie aus dem Nichts taucht Ivy nach drei Jahren wieder auf. Ivy, die so ist, wie Callie gerne sein möchte: selbstbewusst, unbekümmert, immer im Mittelpunkt. Plötzlich sind sie wieder beste Freundinnen, und mit Callies Kumpel Kurt verbringen sie zu dritt zwei Sommerwochen voller Bootstouren, Partys und Spaß. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Kann Callie Ivy wirklich vertrauen? Welches Geheimnis trägt sie mit sich herum? »Kuipers ist eine Meisterin der Manipulation, die ihre Leser kunstvoll täuscht. Sommerdunkle Tage ist ein brillanter Roman mit einem unvorhersehbaren Twist, der die Leser atemlos zurücklässt.« —National Reading Campaign

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Seitenzahl: 210

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Alice Kuipers

Sommerdunkle Tage

Aus dem Englischen von Angelika Eisold Viebig

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungEins31. JuliKurtVierzehn Tage zuvorIvyCallieZwei31. JuliKurtVierzehn Tage zuvorIvyCallieDrei31. JuliKurtZwölf Tage zuvorIvyCallieVier31. JuliKurtZwölf Tage zuvorIvyElf Tage zuvorCallieFünf31. JuliKurtZehn Tage zuvorIvyCallieSechs31. JuliKurtNeun Tage zuvorIvyCallieSieben31. JuliKurtAcht Tage zuvorIvyCallieAcht31. JuliKurtZwei Tage zuvorIvyCallieNeun31. JuliKurtZwei Tage zuvorIvyCallieIvyEin Tag zuvorCallieZehn31. JuliKurtEin Tag zuvorIvy31. JuliCallieElf31. JuliKurtIvyCallieKurtCallieIvyCallieZwölfDanachCallieDanksagungen

Für Shatille – klug, genial und schön

Eins

31. Juli

Kurt

Ich lehne mich im Garten an einen Baum, die Nacht um mich herum ist wie schwarzes Wasser. Suchend taste ich in meinen Taschen nach Zigaretten, aber offenbar habe ich keine mehr. Auf Xanders Party läuft das volle Programm – Bier, Hotdogs, sturmfreie Bude.

Xander kommt aus dem Haus. Dünn wie eine Bohnenstange, groß, aber echt fit. Er kümmert sich darum, dass alle etwas zu trinken haben, dann stellt er sich zu den Jungs in meiner Nähe. Ich schlendere hinüber. Höre zu. Sie reden über Mädchen. Über Ivy. Klar, alle wollen was von ihr. Blond, sexy. Wenn sie will, dass ich sie küsse, wirft sie ihre Haare mit einer schnellen Kopfbewegung über die Schulter. Aber irgendwie bleibt sie trotzdem unnahbar. Sie ist einfach das Mädchen, das immer im Mittelpunkt steht, immer angehimmelt wird. Geht gar nicht anders.

Einer der Jungs, Greg, fragt: »Also kommt Ivy?«

Xander sagt: »Sie bringt Callie mit.«

»Callie ist auch heiß. Nicht wie Ivy, aber auch nicht schlecht.« Anscheinend wartet er darauf, dass ich ihm weitere Einzelheiten liefere, denn er fügt hinzu: »Mann, ich wette, Ivy geht voll ab.«

Auf einmal ist ein Schrei aus dem Haus zu hören. Ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren – ich glaube, sie heißt Angel, auch wenn sie ganz und gar nicht engelsgleich ist, wie man so hört – stolpert heraus. Sie hält ihr Handy hoch und ruft meinen Namen. »Kurt!«

Xander hält sie fest, bevor sie mich erreichen kann.

Angels Wangen glänzen vor Schweiß. Sie wedelt mit ihrem Handy. »Es gab einen Unfall. Seht euch das mal an. Dustin hat es mir geschickt. Er wusste gar nicht … aber schaut doch mal!«

Ich bin jetzt näher dran. Zu nah. Auf ihrem Handy sieht man ein Foto der großen Brücke, doch irgendwas stimmt nicht. Ein ganzer Teil der Leitplanke fehlt. Ich stoße einen leisen Pfiff aus. »Mann, da ist aber jemand schwer dagegen gedonnert.«

Sie wischt zum nächsten Foto. »Ich hab doch recht, oder nicht?«

Da sehe ich, warum sie so ausgeflippt ist. Polizei und Feuerwehr ziehen ein Auto aus dem Fluss. Das Auto ist ziemlich verbeult, aber nicht so stark, dass man es nicht mehr erkennen könnte.

Es ist Ivys Auto.

Mir wird schlecht.

Es ist Ivys Auto.

Angel dreht völlig durch.

Oh, verdammt, denke ich. Callie!

Vierzehn Tage zuvor

Ivy

Wir passieren endlich den Ortseingang von Edenville. Kevin lässt Alte-Leute-Musik von seinem Handy über die Stereoanlage des Autos laufen, eine Hand liegt auf Moms Bein, und die beiden singen. Ich starre aus dem Fenster und summe mit. Die Sonne scheint, und die breite Straße wirkt wie eine Einladung. Die Häuser in dieser Gegend sind aus Holz, ein wenig altmodisch, aber eigentlich echt nett.

Es dauert nicht mehr lange, und Kevin biegt in die Einfahrt seines Hauses ein. Das gleiche Haus, die gleiche matschige Einfahrt, alles gleich. Auf einen Schlag kommen die Erinnerungen zurück. Drei Jahre sind vergangen, seit wir hier gewohnt haben, und alles ist noch genau gleich.

Außer mir. Ich bin anders.

Mom dreht sich mit einem fröhlichen Lächeln zu mir. »Alles okay mit dir?«

»Klar, warum denn nicht?«

Sie kuschelt sich an Kevin. Es ist echt peinlich. Er ist eklig. Beginnende Glatze, übereifrig, zu fett im Gesicht, am Bauch, am Hintern.

»Auf geht’s«, sagt er. Er sagt immer Dinge, die keinen Sinn ergeben. Auf, wohin? Mom meint, es sei wichtig, Männern zuzuhören. Vielleicht sagt ja eines Tages einer ihrer Freunde tatsächlich etwas, wofür sich das Zuhören lohnt. Ich lächle über meinen eigenen Witz und öffne die Autotür, blicke zu Callies Haus, das zwei Häuser weiter liegt. Ich erinnere mich, wie es war, als ich das erste Mal hier ankam und sie mit baumelnden Beinen oben im Baum sitzen sah. Ihr rotes Haar war mit einem Stift hochgesteckt. Sie sah mich aus zusammengekniffenen Augen an, wie eine angriffslustige Katze.

»Was hast du denn vor?«, fragte ich sie.

»Nichts.« Sie knabberte an ihrem Daumennagel.

Ich sagte: »Komm runter und zeig mir die Gegend. Ich bin neu hier.«

Sie kniff die Augen noch mehr zusammen, musterte mich auf ihre ganz eigene Art und kletterte vom Baum herunter. Es kommt mir vor, als wären nur drei Minuten vergangen und nicht drei Jahre.

Kevin und Mom kichern beim Aussteigen aus dem Auto. Er hebt sie mit Schwung hoch, und sie tun so, als wären sie frisch verheiratet – er trägt seinen Schatz über die Türschwelle –, sie lacht heiser.

Mein Herz bringt mich zurück nach Kansas – wie bei Dorothy im Zauberer von Oz. Ich umarme Diego, und ich bin es, die heiser an seiner Brust lacht, er küsst mich, küsst mich immer leidenschaftlicher.

Ich bleibe noch kurz bei dem Bild von Diego, wie er von der Bühne springt und leicht mit den Spitzen seiner Drumsticks auf meine Brust trommelt. Verdammt, ja, Ivy. Aber wir sind nicht mehr in Kansas. Ich streiche über mein Haar und bürste eingebildeten Staub von meinem weißen Jerseykleid. Mal sehen, ob Callie immer noch hier wohnt – Callie, der blitzblank glänzende Penny im Bankkonto meines Lebens.

Callie

Ich verstehe das, wirklich. Sie haben jetzt ein Baby und ansonsten ihren Teil schon geleistet: Was haben sie doch für eine erfolgreiche, ausgeglichene Tochter erschaffen.

Ich nehme keine Drogen. Check.

Ich trinke nicht. Check.

Ich gehe nicht zu wilden Partys. Check.

Okay, ich habe ein paar Piercings in meinem rechten Ohr, die Mom hasst. Und ich habe mein Haar schwarz gefärbt, worüber Dad den Kopf schüttelt. Und natürlich kann er nicht verstehen, was der dunkelblaue Nagellack soll, mit einem grün lackierten Nagel am Ringfinger jeder Hand. Ich habe ihm gesagt, dass es da nichts zu verstehen gibt.

Dennoch ist mein Zimmer immer aufgeräumt. Check.

Ich mache meine Hausaufgaben rechtzeitig. Check.

Ich werde an jeder Uni angenommen, an die ich gehen will – wahrscheinlich jedenfalls. Check.

Ich bin so normal, wie man nur sein kann. Check. Check. Check.

Wenn ich mich nur momentan meinen Eltern gegenüber nicht so komisch fühlen würde, wie ich mich eben fühle, dann könnten wir alle weiter so gut miteinander auskommen wie früher.

Ich sacke am Küchentisch in mich zusammen. Mom trägt Cosmo im Tragetuch und wechselt von einem Fuß auf den anderen, wie Mütter es immer so tun. Rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß, Cosmo schaukelt hin und her. Er schaut zu ihr hoch, sie schaut auf ihn hinab. Mutter und Kind, Mutter und Kind, und es sollte mir eigentlich egal sein, aber da ist dieses komische Gefühl in meiner Brust, gegen das ich einfach nichts machen kann. Im Grunde sollte ich mich über ein Baby im Haus freuen, und ich dachte auch wirklich, dass es so sein würde. Babys sind süß. Und Cosmo ist ja auch süß. Ich weiß, ich sollte darüberstehen. Ich bin sechzehn und müsste damit klarkommen, dass meine Mutter noch ein Kind bekommen hat.

Ich kratze an meinem Nagellack, scrolle durch mein Handy. Rebecca hat ein echt witziges Video gepostet, auf dem sie eine Puppe hält. »BABY!«, hört man sie rufen. Ich schnaube.

Mom sieht zu mir rüber. »Was war das?«

»Nicht so wichtig.«

»Kannst du es bitte leiser machen? Cosmo ist kurz vorm Einschlafen. Ich könnte heute vielleicht sogar noch ein wenig zum Arbeiten kommen.«

Das Video läuft in Dauerschleife, und Rebeccas Stimme ist wirklich laut, laut, laut, laut. »BABY! BABY! BABY!«

»Callie, mach das leiser. Außerdem gilt am Tisch sowieso: kein Handy!«

Es sitzt niemand mit mir am Tisch. Die Handy-Regel gilt ja wohl nicht, wenn ich die Einzige bin, die hier sitzt. Aber Mom sieht zu erschöpft aus, als dass ich mit ihr streiten will. Gehorsam stecke ich das Handy weg. Mir kommt es so vor, als ob Mom nur noch mit mir spricht, wenn es um Cosmo geht oder wenn ich irgendetwas anders machen soll.

Seidiges Licht fällt ins Wohnzimmer und auf alle möglichen Dinge, die dort verstreut sind, fällt auf den bunten Baby-Sitz, auf Windelpakete, Spielzeug und Musikinstrumente. Moms letztes Bilderbuch-Manuskript liegt ausgebreitet auf der Bank vor dem Fenster. Ihre strahlenden Illustrationen sehen aus, als würden sie in der Sonne lebendig.

Sie sieht, wie ich hinüberblicke. »Beinahe fertig. Ich muss nur noch einmal über diese Seiten gehen, sobald er schläft.« Sie streicht zärtlich über den Kopf des Babys. »Um drei gehe ich mit ihm zu den Zwillingen zum Kaffee trinken. Willst du mitkommen?«

»Und mit einer Horde Babys abhängen? Nein, danke.«

»Okay, Callie. Aber verbummele nicht den ganzen Tag. Du hast schon seit Wochen Ferien und immer noch keinen Job.«

»Ich hab es versucht!«

»Du warst in keinem der Hotels, so wie ich vorgeschlagen hatte.«

»War ich wohl. Ich hab dir doch gesagt, dass ich gestern dort war. Es ist nicht so einfach, wie du denkst, Mom. Ich habe meine Bewerbungen bei keine Ahnung wie vielen Stellen gelassen. Bis jetzt hat niemand angerufen.«

»Komm schon, Callie. Eigentlich sollte ich dir das nicht sagen müssen … du musst selbst aktiv werden. Geh noch einmal hin. Biete an, jederzeit zur Verfügung zu stehen, wenn sie dich brauchen. Zeig, dass du flexibel bist. Du brauchst einen Job …«

»Das hört sich so an, als wolltest du mich aus dem Haus haben.«

»Liebes, so ist das ganz und gar nicht.«

Dad kommt herein und geht geradewegs auf sie zu. Er trägt einen Bart, eine Brille und besitzt eine ganze Auswahl sich ähnelnder karierter Hemden und Jeans, und er hat eine tiefe, dröhnende Stimme. Er liebt schöne Dinge, Theater, griechische Heldendichtung und meine Mutter. Jetzt gibt er ihr einen dicken Kuss auf den Mund und nimmt sie ganz fest in die Arme. Sie lacht und gibt ihm einen Klaps.

»Schatz, du zerquetschst das Baby.«

Cosmo gluckst. Mom tut so, als sei sie sauer auf Dad, weil er ihn geweckt hat. Sie verdreht die Augen und seufzt, aber sie ist nicht wirklich sauer. Ich weiß, ich sollte froh sein – oder was auch immer –, dass meine Eltern sich so gernhaben. Ich greife nach meinem Handy und lese ein paar alberne Posts. Mom fängt an, Cosmo etwas vorzusingen. Ich stelle mir vor, dass sie mir früher die gleichen Lieder vorgesungen hat.

Dad unterbricht mich in meinem Selbstmitleid. »Viel zu tun, Calliope?«

Ich schüttle den Kopf und lehne mich zurück, wische mir die Toastkrümel vom Mund. »Nur noch die letzten Verbesserungen an meinem Artikel. Dann … weiß ich auch nicht.«

»Was macht denn Rebecca?«

»Hab ich dir doch schon gesagt. Sie ist mit ihrem Dad unterwegs, campen.«

»Also könnt ihr euch gar nicht eine Million Nachrichten am Tag schicken?« Er reißt die Augen auf und tut entsetzt.

»Sie hat Internet.«

»Im Busch? Gütiger Himmel, wie weit ist es mit der Welt gekommen?«

»Es funktioniert aber nicht immer.«

»Was ist mit deinen anderen Freundinnen? Wie heißt die eine gleich noch?« Er schnippt mit den Fingern. »Das Blumenmädchen.«

»Meinst du Dahlia?«

»Genau.«

»In Europa mit Liona, bis die Schule wieder anfängt. Tilly ist auch mit ihrer Familie weg.«

»Ich weiß. Sie sind auf ihrer Hütte. Siehst du? Ich höre dir sehr wohl zu.« Er schiebt einen Daumen in seine Gürtelschlaufe. »Hast du auch Bonjour Tristesse schon wieder gelesen?«

Dieses Buch lese ich jeden Sommer aufs Neue. Wenn die Sonne so durchs Fenster scheint wie gerade eben und der Duft nach Sonnencreme und geschnittenem Gras durch die offenen Türen hereinweht, dann merke ich jedes Mal, wie ich die Geschichte von Cécile, die gerade erwachsen wird, erneut durchleben will. Als ich sie zum ersten Mal gelesen habe, war ich dreizehn. Wie Cécile die Freundinnen ihres Vaters manipuliert, das ganze Durcheinander, der Selbstmord – durch all das habe ich mich selbst lebendiger gefühlt. Françoise Sagan hat diesen Roman geschrieben, als sie achtzehn war – gerade mal zwei Jahre älter, als ich jetzt bin. Jedes Jahr lese ich dieses Buch und hoffe, dass ich es vielleicht in diesem Jahr endlich schaffe, mit dem Schreiben von Prosa anzufangen. Das Handy in meiner Hand summt.

Die Nachricht ist von Kurt Harnett: Fertig mit dem Teil?

Er ist so was wie der Chefredakteur von Flat Earth Theory, unserer Schülerzeitung. Momentan koordiniert er die Artikel für den Schuljahresanfang, und er will einen Beitrag über den Namen unseres Football-Teams: Redmen. Ist dieser Name nun abscheulich und rassistisch oder eine Tradition? Ich finde es interessant, mir zu überlegen, wie man darüber ausgewogen, neutral und sachlich schreiben kann. Die drei Leute, die ich interviewt habe, kamen richtig in Fahrt, sobald sie erst mal angefangen haben, darüber zu reden.

Der Artikel liegt nun ausgedruckt vor mir, damit ich die letzten Verbesserungen durchführen kann. Ich mache ein Foto davon und schicke es ihm zusammen mit den Worten Fast fertig. Dabei lehne ich mich noch ein wenig weiter zurück, bis ich kippele und die vorderen Stuhlbeine vom Holzboden abheben.

»Pass auf, dass du nicht fällst, Callie«, sagt Mom.

Sie schaut mich kaum an. Wie konnte sie das mitbekommen?

Kurt schreibt: Jetzt, jetzt, jetzt!

Ich richte den Stuhl wieder gerade aus, so dass er mit allen vier Beinen auf dem Boden steht, und antworte: Immer mit der Ruhe!

Treffen wir uns morgen und reden darüber?

Vielleicht. Aber warte mal noch, ob ich nicht vorher fertig bin. Weißt ja, dass ich alles perfekt haben will.

Ungefähr vier Stunden später liegt mein Exemplar von Bonjour Tristesse aufgeschlagen auf der Couch. Ich habe über die Küchenspüle gebeugt einen Pfirsich gegessen, meine Finger sind klebrig, der Pfirsich war wunderbar süß und schmeckte hervorragend. Während ich meine Hände wasche, denke ich über den vor mir liegenden Tag nach. Vielleicht laufe ich rüber zur Galerie und gehe mit Kurt, der dort arbeitet, den Artikel noch einmal durch. Ich könnte auch versuchen, Tilly online zu erwischen, oder sogar Dahlia, in welcher Zeitzone sie jetzt auch gerade sein mag, selbst wenn Mom es sicher gar nicht gut findet, wenn ich mit meinen Freundinnen chatte, weil ich heute noch nirgendwo meine Bewerbung abgegeben habe. Statt all dem bin ich dann aber letztlich bei dem Artikel hängengeblieben – eine Zeile davon zu ändern, hat dazu geführt, dass ich eine weitere ändern musste, und dann wieder eine andere. Eigentlich könnte ich jetzt auch genauso gut losgehen und mich doch noch um die Bewerbungen kümmern.

Mom ist oben und versucht, Cosmo zu beruhigen. Dad ist vor einer Weile weggegangen – er hat ein Büro in der Uni. Ich erwähne Dad, weil ich annehme, dass er es ist, als die Haustür geöffnet wird. Ich blicke nicht einmal auf.

»Callie, du wohnst tatsächlich immer noch hier!«

Ich hätte mich fast verschluckt.

»Es ist ja ewig her«, ruft sie aus, als ich mich zu ihr umdrehe.

Ich bin unfähig, ein einziges Wort herauszubringen, weil Ivy Foulds durch meinen Flur tänzelt, an der Küchentheke vorbei, die in den offenen Wohnbereich hineinragt, und mich inmitten einer riesigen Parfümwolke sofort umarmt. Sie riecht genau wie immer, Vanille, mit einer etwas schwereren Note, wie ein dunkler Wald. Ihr Haar kitzelt an meinem Gesicht, und im ersten langen Moment muss ich schwer gegen den Kloß in meinem Hals anschlucken. Ich erwidere ihre Umarmung ganz fest. Ivy ist zierlich, fast zerbrechlich, wie ein Vogel, aber dennoch kräftig.

Sie löst sich aus der Umarmung und mustert mich. »Schwarzes Haar? Wie süß. Also? Hast du mich vielleicht ein bisschen vermisst? Was sagst du, dass ich zurück bin? Ähm, hast du inzwischen ein Baby oder so? Was sollen die ganzen Spielsachen?«

»M… mein kleiner Bruder … Cosmo«, schaffe ich es zu stammeln.

Sie steht weniger als einen Schritt entfernt. Als wir dreizehn waren, war sie schon hübsch. Jetzt ist sie umwerfend! Ihr platinblondes Haar ist glatt, ihre grauen Augen haben noch immer das gleiche silberne Schlangenhautmuster, um das ich sie stets beneidet habe. Ihre Haut ist gebräunt und makellos. Lange Arme und Beine werden durch ein weißes Jerseykleid unterstrichen, das aussieht, als sei es teuer gewesen. Ich bin immer noch kleiner und etwas pummeliger als sie, und ich trage meine bequemste, allerunmodernste schwarze Leggings und ein übergroßes T-Shirt.

»Wir sind praktisch gerade erst zurückgekommen. Ich bin sofort rüber, und die Tür war offen. Ach, ich habe ja so gehofft, dass du da bist! Callie, wir werden solchen Spaß haben. Wir werden die elfte Klasse rocken, genau wie wir es vorhatten, weißt du noch?«

Ich weiß es noch, möchte ich sagen. Ich weiß noch, wie sehr es weh getan hat, als du fortgegangen bist und dich nicht einmal verabschiedet hast. Ich lehne mich gegen die Küchentheke.

Sie sagt: »Du willst bestimmt wissen, was passiert ist, oder? Bestimmt wolltest du es schon die ganze Zeit wissen. Hast du mich vielleicht online gesucht, oder so?«

»Ähm …«

»Ich bin nicht so leicht zu finden. Ich weiß. Total retro, es ist echt cool.« Sie senkt konspirativ die Stimme. »Weißt du, ich bin nicht unter meinem echten Namen zu finden, sondern unter Kansas Pearl.«

»Natürlich habe ich nach dir gesucht.«

»Es gibt so viel, was ich dir erzählen muss. Aber zuerst: Du! Wie geht es dir? Wie läuft alles? Ein kleiner Bruder? Wo ist er?«

»Oben. Willst du ihn kennenlernen?«

»Oder du kommst rüber zu mir, in Kevins Haus und hilfst mir beim Auspacken. Weißt du noch? Das haben wir das letzte Mal auch gemacht.«

»Deine Mutter ist wieder mit Kevin zusammen?«

»Ja, er leitet jetzt das Kali-Bergwerk. Das ist ’ne große Sache. Er hat mir dieses Kleid gekauft.« Sie breitet die Arme aus und dreht sich vor mir.

»Ich hab ihn manchmal gesehen. Er hat nie etwas gesagt … Nicht, dass er wohl überhaupt auf die Idee gekommen wäre, es mir zu erzählen, wenn ich’s mir recht überlege.«

»Also, kommst du?«

»Auspacken? Klar. Ich sag nur noch schnell meiner Mutter Bescheid.«

»Ich kann gar nicht glauben, dass du immer noch da bist«, sagt sie. »Du siehst toll aus. Wunderschön, wie immer.«

Ich lache ihr Kompliment weg. »Ja, ja.«

»Ich hab dich wirklich vermisst.« Sie greift nach meiner Hand und drückt sie.

Ich drücke zurück. »Ich bin am nächsten Tag mit Blumen gekommen. Kevin hat mir aufgemacht und gesagt, dass du fort bist.«

»Und jetzt bin ich wieder hier.«

»Genau.« Ich merke, wie ich lächle.

Sie lässt meine Hand los. »Es war nicht meine Entscheidung, weißt du.«

»Klar.« Oben fängt Cosmo an zu weinen. Ich sage: »Ich schick meiner Mutter später eine Nachricht. Sie merkt wahrscheinlich nicht einmal, dass ich weg bin. Komm schon, hast du nicht gesagt, dass du auspacken willst?«

Zwei

31. Juli

Kurt

Xander steigt in sein Auto, und ich lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. Er murrt: »Los, los.«

Leute strömen heraus wie Ratten aus einem sinkenden Schiff. Eine der Cheerleaderinnen macht Fotos von Xanders Auto. Eine grausige Online-Montage wird folgen. Wie krank! Eine Gruppe Mädchen drängt sich weinend um Angel. Aufhören, möchte ich losschreien, doch stattdessen schreie ich Xander an.

»Fahr doch endlich!«

Xander sagt gar nichts. Er dreht den Zündschlüssel und drückt aufs Gaspedal.

Draußen treibt der Quarterback die Leute zusammen. Genau! Bring sie weg! Gut. Dann berechne ich die Entfernung von der Brücke zum Fluss, den Aufprall, die Geschwindigkeit des Autos. Die Party ist vergessen.

Xander sagt nichts. Er gehört zu der Art von Leuten, die du neben dir haben möchtest, wenn du in einem Rettungsboot sitzt. Der Typ, den du bei dir haben möchtest, wenn dein Flugzeug im Amazonas abstürzt und alle anderen tot sind.

Dieses Wort. Unveränderlich. Endgültig. Ein flaches, eigentlich langweiliges Wort, das an jedem Ende der Silbe durch einen Schlag mit der Zunge betont wird. Ich habe es laut ausgesprochen. Tot.

Xander sagt: »Komm schon, Mann. Gib mir irgendwas.« Sein Handy summt. »Yep«, sagt er und liest die Nachricht. Er steckt das Handy zwischen uns. St. Mary’s Krankenhaus lese ich. Die Nachricht ist von einem Freund von ihm, der in der Notrufzentrale arbeitet.

Angespannt nimmt Xander die nächste Linkskurve verdammt knapp. Er überfährt eine rote Ampel und überquert die andere Brücke, die schmalere der beiden. Ich will nicht zu der großen Brücke schauen, zu der, deren Seitenbegrenzung das Auto durchbrochen hat, aber ich recke dennoch den Hals. Das Aufblitzen von Blaulicht. Boote darunter. Vier im Ganzen. Ich stelle mir die beiden unter Wasser vor, wie sie um Atemluft kämpfen, gefangen in der metallenen Umarmung des Autos.

Callie würde diese Beschreibung gefallen. Ganz bestimmt.

Xander rast mit siebzig durch eine Wohnsiedlung. Viel zu schnell. Aber er muss noch schneller sein. Beeil dich! Er biegt rechts ab auf die Hauptstraße, an Callies Haus vorbei. Durch das Fenster sehe ich ihren kleinen Bruder, Cosmo, auch wenn ich wünschte, ich hätte ihn nicht gesehen. Jemand hält ihn im Arm. Und er schreit.

Vierzehn Tage zuvor

Ivy

»Immer noch so unordentlich?«, fragt Callie.

»Wer, ich?« Wir sind in meinem Zimmer, packen meine Klamotten aus und versuchen, alles in einem Zimmer unterzubringen, das immer noch vollgepflastert ist mit Postern der Boygroups, die wir früher toll fanden. Überall liegt Zeug herum, Klamotten stapeln sich, Zeitschriften, mein brandneuer Laptop – danke, Kevin – ein eReader, alte Fotos. Da ist eines von mir und Callie. Ich halte es hoch.

Es zeigt uns beide, wie wir uns ganz fest umarmen und in die Kamera lachen. Einen Augenblick lang ist es, als sei ich wieder dort, Callies Haar kitzelt in meinem Gesicht, ich rieche ihr Shampoo und ihren Erdbeer-Lippenbalsam. Callies Vater hat die Aufnahme gemacht, kurz bevor wir zu diesem Spaziergang aufgebrochen sind.

Ich sage: »Meine Güte, sehen wir klasse aus.«

»Wenn du meinst.« Aber sie lächelt.

Ich zeige ihr ein anderes Foto von uns beiden, wie wir bei ihr im Garten in der Sonne liegen, und sage: »Deine echte Haarfarbe steht dir auch gut, finde ich.«

»Du klingst wie mein Dad. Ich mag es so, wie es jetzt ist.«

»Dann lass mich wenigstens deine Nägel frisch lackieren.«

»Was, gefällt dir das Dunkelblau nicht?«

»Ich mag die Farbe, aber sie blättert ab.«

»Jetzt hörst du dich wirklich ganz wie mein Dad an.« Callie schaut aus dem Fenster. »Von hier aus kann man unsere Haustür sehen. Schau mal, dort sind Mom und Cosmo. Sie besuchen die Zwillinge, die ungefähr so alt sind wie Cosmo. Mom fährt im Moment wirklich auf diesen ganzen Baby-Kram ab.«

»Echt?« Ich blicke aus dem Fenster. Ihre Mutter schiebt einen Buggy die Straße entlang. Sie geht genau wie Callie – ein wenig steif, die Schultern hochgezogen. Mich hat sie nie gemocht. Sie schreibt in ihren Bilderbüchern über Liebe und Mitgefühl, aber ich habe nie viel davon bei ihr entdecken können. Vielleicht kann ich sie diesmal davon überzeugen, dass ich ein guter Mensch bin. Ich frage: »Wie ist Cosmo denn? Ich würde ihn wirklich gerne kennenlernen.«

»Keine Ahnung. Er weint ziemlich viel.«

»Wenn du mich schon nicht deine Nägel machen lässt, dann hör wenigstens auf, aus dem Fenster zu starren und hilf mir mit dem ganzen Zeug, ja?«

Callie hilft mir dann auch, und wir quetschen eine zusätzliche Kleiderstange in den Schrank. Sobald die sitzt, hängen wir meine Kleider auf. Sie beugt sich vor, um den letzten meiner riesigen Koffer auszupacken, und zieht ein silbernes Kleid mit Spaghettiträgern heraus. »Wow«, sagt sie. »Ist das Seide?«

»Das alte Ding? Das kannst du haben. Ich trage es sowieso nie mehr. Ich trage inzwischen Weiß. Aber das hast du sicher schon gemerkt, oder?« Ich blicke auf die Reihe von Kleidern, die wir gerade aufgehängt haben. Alle sind weiß oder cremefarben.

»Echt, ich kann es wirklich haben? Es ist wunderschön.«

»Zu viele Sachen belasten nur, oder? Zeit, von vorn anzufangen.«

Callie sagt: »Du klingst ein wenig traurig.«

Meine linke Schulter hebt und senkt sich wieder. »Vielleicht ein bisschen.«

»Komm schon, du kannst mir vertrauen«, sagt sie. »Das weißt du.«

»Ich war in Kansas City in so einen Typen verliebt.«

In mir öffnet sich plötzlich ein klaffendes Loch, so ähnlich wie eine riesige Zahnlücke. Ich ertaste es und spüre fast körperlichen Schmerz, spüre, dass etwas fehlt.

Sie sagt: »Kansas Pearl? Dann hast du also in Kansas City gewohnt?«