Sommergäste in Trouville - Undine Gruenter - E-Book

Sommergäste in Trouville E-Book

Undine Gruenter

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Beschreibung

Seltsame und faszinierende Menschen am Strand, in den Hotels und auf den Promenaden: die Achtzigjährige, die seit Jahr und Tag ans Meer fährt und bereits vom ewig gleichen Taxifahrer erwartet wird, Künstler, Geschäftsleute und Müßiggänger. Mit großer atmosphärischer Dichte und sprachlicher Finesse lässt Undine Gruenter eine Welt entstehen, die von großer Wirklichkeit ist und zugleich immer wirkt wie ein Traum aus einer anderen Zeit.

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Seitenzahl: 280

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Über das Buch

Plötzlich wurden die Abende lang, die Pausen dehnten sich, niemand sprach. Amélie betrachtete den Flug der Schwalben, die mit großem Lärm ihre stürzenden Kreise drehten, als gelte es dem Abendhimmel ein Geheimnis zu entreißen. Was siehst du dort, fragte René und steckte sein Gesicht gleich wieder in die Zeitung, eine neu Färbung des Zwielichts? Er war Kunsthistoriker und für Himmel (nach der Natur) interessierte er sich genauso wie für Deckengemälde. Nichts, murmelte Amélie, ich sehe nichts, ohne Brille bin ich blind wie ein Maulwurf.

Undine Gruenter

Sommergäste in Trouville

Erzählungen

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Übungsstunde

Hortensien und Stanniolpapier

Sommergäste im Weidenhaus

Englische Quarantäne

Impasse du Bon Secours

Aussicht mit Haarnadeln

Die Einfahrt von Bagatelle

Unter einem Dach

Alte Pralinen

Das Haus mit dem Korridor

Schneefall vor Silvester

Subtile Schuhe

Picknick in Favorite

Ein Schlüsselbrett

Paravents

Hanser E-Book

Übungsstunde

Noch vor einem Jahr machten wir Schattenspiele, wenn wir rund um den Tisch saßen und uns langweilten, weil draußen Regen war und die Ferien uns zwischen den Fingern zerrannen. Jean-Paul war schon vierzehn, und wir wußten, er ließ sich ein wenig herab zu uns Kleinen, aber weil wir Mädchen waren, ließ er es durchgehen, und so hüpften lauter Kaninchen als Schatten seiner Finger über die Wand, hüpften, hoppelten, sprangen, schlugen Haken oder starben im Straßengraben. Andrée war dreizehn, aber sie spielte die Altkluge, an Schulwissen dem älteren Bruder weit überlegen, und stellte ihm Fangfragen, wann die Pyramiden von Gi- zeh gebaut wurden oder in welcher Epoche Honfleur Exporthafen war. Sie trug jetzt eine runde Nickelbrille und steife Zöpfe und übte sich in der Rolle einer puritanischen Gouvernante, die sich, war der Zeitpunkt gekommen, als eine Julia Roberts entpuppen würde. Jedenfalls sprach sie viel über Charakter und Persönlichkeit einer Filmrolle und wußte noch nicht, daß sie im nächsten Jahr in Lisieux bei der Bank arbeiten würde, in den Ferien. Von Charakter oder den Pyramiden würde sie nichts mehr sagen, statt dessen redete sie von der hohen Schule der Praxis. Jean-Paul wäre in diesem Jahr der Sieger, auch mit Brille, aber ohne Verpflichtung zur Arbeit, mit einem Haufen Bücher in seinem Dachstübchen und freien Ferientagen, an denen er mit der Badehose zu seinen Freunden verschwände. Aber noch vor einem Jahr liefen wir, wenn der Regen vorbei war, in den Hof, Andrée sagte automatisch, paßt auf, daß ihr nicht in die Rosen von Mama rennt, und wir spielten mit den Kindern von nebenan eine Art Versteckspiel, dessen Auftakt wir abwechselnd ansagten:

War einmal ein kleiner Kreis

Standen Mädchen auf dem Eis

Kam ein Vogel ganz in Weiß

Streute aus den harten Reis

In dem Reis da stand geschrieben:

»Du bist da und du bist hier

Und am dritten Ort ist keiner

Ich bin fort und du bist weg

Wo wir sind das weiß nur einer«

Das alles war voriges Jahr, und dieses Jahr ist alles anders, und dieses Jahr hat man mich wieder ans Meer nach Trouville geschickt, das Haus der Tante Silvie ist groß genug, und ich könne dort so schön spielen, da wir alle im gleichen Alter sind. Aber wir sind nicht mehr im gleichen Alter, Jean-Paul lehnt es ab, mit kleinen Mädchen zu spielen, und verschwindet mit seinen Büchern und seiner Badehose, und Andrée ist unter der Woche in Lisieux, wo sie den Bankangestellten belegte Brote und Bier aus der Brasserie holt und Briefe sortiert. Natürlich läßt sie am Abend nur Namen wie IBM und Cannon fallen und Formeln von Computerprogrammen, die auf uns wie ägyptische Hieroglyphen wirken.

Amüsier dich gut, sagt die Tante am Morgen, wenn sie in ihren Laden geht, sie hat einen kleinen Bric-à-Brac-Laden in der Rue des Bains mit alten Büchern und Gläsern, Besteck, Spiegeln, Schmuck und Spielzeug, und da Saison ist, sitzt sie dort, und das Haus ist leer. Es ist ein Eckhaus, mitten in der Stadt zwischen der Rue des Bains und der Rue Général-de-Gaulle. Das Haus ist weiß gestrichen, im ersten Stock ist seitlich eine Balustradenterrasse und vor der Tür der Hof mit den Ziegelpflastern und Kletterrosen, Korbweiden und Hortensien. Neben der Tür steht in schmiedeeiserner Schrift Ville Méridienne. Ein paar Häuser weiter ist die Post von Trouville, ein alter Schinken aus den dreißiger Jahren, die Schalterhalle so groß wie die Hauptpost in einem Pariser Arrondissement. Gegenüber die Lieferantenzufahrt auf der Rückseite von MONOPRIX und die Milchglasscheiben vor den Lagerräumen. Das ist alles, was über die Straße zu sagen ist, meist wirkt sie still, schattig und verlassen, denn die Leute, die einen Brief einwerfen, sind nie zu sehen. Ich bin also allein, mir selbst überlassen, wie man sagt, und aus Höflichkeit verabrede ich mich auch weiter mit den Kindern von nebenan, die noch auf den Ponys am Strand reiten und stundenlang im Meer planschen und Muscheln sammeln. Aber es gibt Tage, an denen sie etwas anderes vorhaben, und Tage, an denen ich sie nach ein paar Schwimmrunden im Meer unter einem Vorwand verlasse. Erst gegen Abend, wenn die Tante den Laden schließt, der letzte Kunde hat ihr gerade einen Satz Käsemesser mit Elfenbeingriffen abgekauft, findet sie uns wieder vereint auf der Straße vor, wo wir Federball spielen, bevor wir zum Essen gerufen werden.

An solchen Tagen bin ich Stunden um Stunden allein im Haus, und ich könnte nicht sagen, wie ich sie verbringe, obwohl ich wie nach einem verabredeten Plan vorgehe. Ich bleibe meist im Parterre in dem doppelten Salon mit dem Durchgang. Die Hälfte liegt zur Straße, mit gerafften Vorhängen, Kanapee, ein paar Sesselchen und einem kleinen Sekretär. Im anderen Teil stehen Tisch und Stühle und eine Kommode, da wird gegessen. Neben dem Durchgang hängt ein schmaler Spiegel, in dem das Kanapee und das Eckfenster zur Straße zu sehen sind. Diese wenigen, zierlichen Möbel und ein kleiner Gebetsteppich, den Tante aus Ägypten mitgebracht hat, verwandeln das Zimmer, wenn ich allein bin, in eine Puppenstube, eine kleine Theaterbühne, und ich spiele die Figuren, mit denen ich Andrée eines Tages am Ende der Ferien überraschen will. Agonie: ich lege mich auf das Sofa, die Beine hoch über die Seitenlehne drapiert, den Kopf ein wenig herabpendelnd, zwischen den Brüsten den Handspiegel, auf dem ein dumpfer Fleck den letzten Hauch symbolisiert, die Augen geschlossen. Es ist schwierig, Totenblässe zu bewahren, das Herabhängen des Kopfes treibt Blut ins Gesicht, und das Puterrot einer Sterbenden muß durch angehaltenen Atem in Schach gehalten werden. Atem: ich stelle mich auf das Sofa, immer in meinem kurzen Röckchen, im demi-plié, vierte Position, linker Fuß mit Spitze nach links außen parallel zu rechtem Fuß mit Spitze nach rechts außen, die Arme halbhoch erhoben, fast zum Bogen geschlossen. Bis dahin besteht die Übung aus Atemanhalten. Dann aus langsamem Ausatmen und gleichzeitigem In-die-Höhe-Wachsen des Körpers, die Rechte oder Linke hält abwechselnd einen Drahtring, in dem sich langsam eine Seifenblase so vergrößert, bis sie sich löst und als torkelnder kleiner Ballon durch das Zimmer schwebt. Geheimnis: ich sitze, ohne mich anzulehnen, ein wenig seitlich auf dem Sofa, um den Kopf das Tuch einer alten Frau, das Gesicht in uralte Falten gelegt, und spähe in den Handspiegel. Variation: ich sitze in ähnlicher Position auf dem Kanapee, ein wenig zurückgelehnt, die Arme über die Rücken- und Seitenlehne gelegt, auf den Augen eine kleine Höhensonnenbrille mit schwarzen Plastikkappen und Rändern aus weißem Schaumgummi. Gewalt: ich stehe auf dem Kanapee, halte den Handspiegel wie einen Schild vor die Brust, Spiegelseite nach außen. Die Beine, wie in Schienen, ein wenig gegrätscht und im Knie angewinkelt. Ausfallstellung. Auf die Spiegelfläche ist mit schwarzer Farbe eine Maske aufgemalt, Schreckensfratze einer Bestie, speiender Mund, rollende Augen, drohende Augenbrauen. Variation: auf dem Sofa stehend mit gesenktem Kopf und hocherhobenen, nach vorne gebogenen Armen. Angriffsstellung. Gespreizte Finger mit langen schwarzen Krallen. Rätsel: ein schwarz-weiß gewürfeltes Dominotuch stellt ein Schachbrett dar. In der Mitte des Zimmers, auf dem Parkett ausgebreitet. In schwarzem Trikot und Strümpfen, mit schwarzem Reifen um die Taille, an dem kurzer Tüll befestigt ist, stelle ich die schwarze Dame dar. Die Arme in zwei Stufen übereinander vor die Brust gehalten. In der linken Hand ein weißer Läufer, in der rechten Hand ein weißes Pferd. Schachmatt oder Remis ist die Position. Variation: Hände eng an den Körper gelegt. Um die Stirn eine weiße Binde. Stillstand: um den Kopf ein Reifen mit von der Stirn abstehendem Steg: am Ende des Stegs ist an langem Faden die kleine Taschenuhr befestigt, die immer auf dem Sekretär liegt. Die Uhr stammt aus dem 19. Jahrhundert und geht nicht. Ich, stehend vor dem Wandspiegel, geschlossene Augen. Erotik: Haltung ähnlich wie bei Agonie. Gespreizte Beine, über die Lehne des Kanapees gelegt, etwas herabhängender Kopf. Augen verdreht. Regloser Leib, wie im Krampf. Das Röckchen hochgeschlagen bis an die Ränder des Höschens. Variation: kein Höschen, Röckchen hochgeschlagen bis zur Taille. Licht: die Stühle des Eßzimmers sind im Durchgang so aufgestellt, daß sie eine perspektivisch sich verengende Allee darstellen. Ich stehe im ersten Drittel der Strecke, im langen weißen Nachthemd, vor der Brust eine Messinglampe mit Glaszylinder: die Petroleumflamme brennt. Variation: nackt.

Manchmal überlege ich, ob ich die Kordeln an den Vorhängen lösen soll, um eine künstliche Nacht herzustellen. Auch die Vorhänge, die im Rahmen des Durchgangs zur Seite gerafft sind, möchte ich schließen und einen Stuhl zwischen sie stellen, den Stuhl eines imaginären Zuschauers. Aber am Ende entscheide ich mich dafür, das dämmrige Licht zu lassen, das im Parterre herrscht, da die Nachbarhäuser das Tageslicht filtern und den Sonneneinfall verstellen. Und am Ende höre ich manchmal nach einer einzigen Übung auf, stelle meine Figur ein wenig ab, in die Ecke, wo sie niemand stört, und verlasse allein das stille Haus, das zu klein ist, um unheimlich zu wirken, nur ein kleiner Schauplatz ist für melancholische Briefe, die auf dem Sekretär liegen, und für die beiden Drucke, die im Eßzimmer über der Kommode hängen. Der untere zeigt einen Zimmerdurchbruch, durch den ein Kanapee zu sehen ist, auf dem eine weiße, nackte Frau liegt, wie tot. Ein Mann in Mantel und Hut steht, mit dem Rücken zur Nackten, im Vordergrund neben dem Trichter eines alten Grammophons. Er lauscht der Musik, zum Aufbruch angezogen, aber selbstvergessen vor sich auf das Parkett blickend. Durch das Fenster blickt von der Straße ein Gendarm mit schwarzem Schnurrbart, und im Zimmer, vor dem Rahmen des Durchbruchs, steht eine kleine Gaslaterne. Keiner von uns Kindern weiß, ob der Mann der Mörder ist oder der unschuldig am Tatort Überraschte. Warum er nicht entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, statt dessen der Musik lauscht, vertieft, wie in einen Orchestersessel vergraben. Warum die Straßenlaterne im Zimmer steht? Die Figuren wirken wie die simplen Illustrationen aus einem Detektivroman. Ist das Ganze ein Traum? Bei Tag, bei Gaslicht? Und die Laterne im Zimmer das Zeichen, daß die Szene der Traum des Mörders oder des Unschuldigen ist? Auf dem anderen Druck sitzt ein Mädchen auf einem Kanapee, dessen Stoffverkleidung zum Teil hochgeschlagen ist, so daß man Stangen und Federn des Gestells sieht. Auf der Lehne sitzt eine Katze, die Schwanzspitze um die Pfoten gelegt. Das Mädchen, mit vorne geteiltem, zur Seite geschlagenem Rock, hält der Katze eine Zuckerzange mit einem mausähnlichen Stück Stoff hin. Man sieht Strümpfe, einen weißen, einen, da er im Schatten liegt, fast schwarzen, sie sind bis über die Knie hochgezogen. Alles liegt klar vor Augen, wie auf dem Silbertablett serviert, das neben dem Sofa steht, mit einer Zuckerzange und Teegeschirr. Jean-Paul hat vorgeschlagen, die Bilder Zwei Fallen zu nennen, obwohl sie von verschiedenen Malern stammen. Titel und Künstler stehen auf der Rückseite — ich glaube, sie heißen so ähnlich wie Magritte oder Balthus, und Tante hat sie in der Galerie gegenüber gekauft, sie ist mit dem Besitzer befreundet und hängt sich nicht, wie sie sagt, die Wände voll Landschaftsbilder oder Seestücke aus der Umgebung. Einmal, als ich, den Strohhut schon auf dem Kopf, ins Eßzimmer zurückkam, um mein Portemonnaie zu holen, das ich auf der Kommode vergessen hatte, sah ich, es war keine Laterne da und auch keine Zuckerzange mit Mausfell.

Häufig also, wenn Tante glaubt, ich spiele mit den Kindern der Nachbarn am Strand, verlasse ich allein das Haus, mit Sonnenbrille, Strohhut und Basttäschchen, und gehe zu MONOPRIX. Ob es so viel amüsanter ist, durch die leeren und kühlen Verkaufshallen zu gehen als im gleißenden Licht, geblendet von Sonne und Wasser, am Strand zu toben, weiß ich nicht genau. Es ist eher ein wenig öde und einsam und trotzdem seltsam und aufregend, als könne man diesen tausend verschiedenen Sächelchen auf die Spur kommen. Im Erdgeschoß kann man Cremetuben, mit dem Namen Miel doré zum Beispiel, aufschrauben und mit einem Spachtel auf die Hand auftragen, um die Farbe zu prüfen. Neulich habe ich ein wenig in Andrées Zimmer spioniert, hinter dem Spiegel auf ihrem Toilettentisch steht ein Fläschchen Sable fin von Vichy, sie würde nie zugeben, daß sie sich schminkt, da sie von Natur aus die schönste, feinporigste Haut hat und Schönheiten sich nicht schminken. Man kann Lippenstifte aufdrehen, die wie Puppen aufgereiht zur Probe in ihren Haltern stehen — himbeer- und pflaumenfarbene, blaßrosa und grelles Pink, Kupfer und Schokolade. Auch pfauenfarbene Augenschatten lassen sich als glitzernde Puder in der Höhlung zwischen Daumen und Zeigefinger auf dem Handrücken verreiben wie auf einer Palette. Da blickt mich von unten ein verriebenes Auge an, blaues oder Pfauenauge. Ein Sortiment von Pinseln für Puder und Rouge steht in Bechern, steckt in durchsichtigen Plastikhüllen. Oh, der Verpackungsterror, höre ich Tante, wenn sie die Hüllen nicht aufkriegt. Eine kleine Malerausrüstung, Besteck für ein Badezimmer, das wie eine Sammlung aussieht, wie die Sammlung von Staubwedeln, die wie ein Chrysanthemenstrauß in Tante Silvies Küche steht. Man kann, wenn der Hausdetektiv nicht argwöhnisch um einen Käufer streicht, eine dieser harmlosen Figuren mit kleinen Schnurrbärten und schäbigen Windjacken, Probeflakons mit Toilettenwasser aufschrauben und verwerfen. Lavendel von Mont-Saint-Michel — ja, Loulou von Cacharel — vielleicht, Anaïs — nein. Zahnbürsten, Haarbürsten, Nagelbürsten betrachten oder prüfen, Wattebäusche auf ihre Farben hin begutachten und — da steht der Hausdetektiv in der Nähe und starrt, Hände auf dem Rücken, eine Flasche mit blauem Haarwasser an. Man könnte — stehlen, doch ich weiß nicht einmal, was ich kaufen möchte, möchte nur alles sehen, probieren und keinen Verkäufer im Nacken. Oder doch: diese kleine Haarspange, eine weiße Plastikschleife in Schmetterlingsform, die nehm ich, sie paßt zu meiner Sonnenbrille. Vielleicht würde ich doch eine Bürste stehlen oder ein wenig Sonnencreme, weil es ein Abenteuer ist und der Schnurrbart des Hausdetektivs bei all seiner Witterung zuviel mit sich selbst beschäftigt ist. Aber ich weiß ein großes Geheimnis: einmal haben sie Andrée geschnappt und in die Mangel genommen wegen einem Päckchen Kaugummi. Um ein Haar hätten sie eine Anzeige losgelassen, wegen 7 Francs und 60 Centimes. Andrée malte mir aus, daß ihr Leben zerstört war, um ein Haar, nahe am Abgrund, so nah — sie zeigte zwei Fingerbreit — sei sie gewesen, wegen eines Päckchens Kaugummi. Denn als Vorbestrafte könne man nie mehr einen ordentlichen Beruf ergreifen, und welcher Mann nähme schon eine in jungen Jahren Verurteilte? Ich bin mir nicht sicher, ob nicht ab und zu doch noch ein Päckchen Strümpfe in ihre Tasche gewandert ist, sie trägt immer passende zu ihren T-Shirts und hat sogar rosa Netzsöckchen. Die steifen Zöpfe sind jetzt durchflochten mit passendem Band — ich glaube, sie hält sich für Brigitte Bardot, wenn die wie vierzehn aussieht —, und sie malt sich einen kleinen Leberfleck über die Oberlippe. Ich streife die Dessous und die Nachthemden, niedliche, aber meist praktische Sachen, nichts Aufregendes, und nehme die Rolltreppe in den ersten Stock. Wie ich unten die Lebensmittelabteilung links liegenlasse, weil ich kein Kind mehr bin und aus dem Interesse für Bonbons und Schokolade, Cremespeisen und Kuchen herausgewachsen, meide ich hier die Abteilung mit Schreibwaren. Das Entzücken über Stifte, Hefte mit bunten Hüllen, Spitzer und Tintenkiller hat mich schon länger verlassen, und die Spielzeugtiere betrachte ich nur, um den Grad an Häßlichkeit zu konstatieren, mit denen die Kleinen heute ruhiggestellt werden. Ich gehe schnurstracks in die Abteilung für Haushaltswaren, um meine Sammlungen zu vervollständigen. Ich sehe mir die Pichets an, Achtel-, Viertel-, Halbliterkaraffen aus Glas, und stelle sie auf, meist zu dritt, mit einer Pfingstrose, einem Strauß Pinsel, einem Haufen von Centimes, die kein Mensch ausgibt und die ich in allen Ecken und Taschen zu Hause sammle. Sets — sehr verlockend die Dessins, aber ein blau-weißes Muster mit Rankenlinien paßt nicht in Tantes Eßzimmer, nicht mal gerahmt neben die Drucke. Geflochtene Papierkörbe, Dosen aus Plexiglas, in denen man getrocknete Sträuße einsargen kann, Wassergläser, die auch im Badezimmer anstelle der monotonen Zahnputzbecher verwendet werden können — was machst du hier, fragt die Stimme der Nachbarin neulich, und ich weiß keine Ausrede, bis mir einfällt, ich suche ein Abschiedsgeschenk für Tante Silvie. Aber sie hat solche Sachen in ihrem Laden, sagt sie, und viel hübschere. Ich werfe einen resignierten Blick auf meine Reiche und Sammlungen und sage, dann kaufe ich Tante vielleicht ein Seidentuch. Und gehe, im Rücken ihren mißtrauischen Blick, gehe schnell in Richtung Treppe, das türkisfarbene Licht hinten in der Pulloverabteilung für Herren aus dem Augenwinkel streifend, Licht wie in einer Tiefkühltruhe, in das ich am Schluß meiner Expedition hätte eintauchen mögen wie in eine untermeerische Landschaft. Dazu der Geruch nach Kartons und Styropor und billigem Putzmittel, die Tür zum Notausgang steht auf, und man sieht die durcheinandergeworfenen Warenpakete, die niemand auspackt. Die Kassiererin sitzt an der Kasse neben der Treppe und liest in einem Werbeprospekt, und die Stimme im Lautsprecher kündigt Ananas an für 99 Centimes. An der Wache vorbei, durch die Tür und die Rampe hinunter, und draußen die Hitze, das Licht und die Autoschlange an der Ampel.

Zu Hause setze ich meinen Hut ab, lege Sonnenbrille und Basttasche auf die Garderobe im Flur, und als ich mich im Spiegel sehe, möchte ich am liebsten gleich losheulen, so verzogen sind schon Mundwinkel und Brauen, und dabei habe ich keine neue Figur im Kopf. Das Haus ist still und dämmrig wie immer, ich gehe in den Salon und setze mich auf das Sofa, ein vages Gefühl von Öde und Langeweile und Einsamkeit, dabei sind dies die letzten Tage der Ferien, und vielleicht wünsche ich mir die Schule zurück, den ewigen Trott, die Ballettstunde und den Geschichtsunterricht mit ägyptischen Hieroglyphen. Ich werde müde und strecke mich aus auf dem Sofa, vor dem Fenster streicht die Katze der Nachbarin mit steif in die Höhe gerecktem Schwanz über das Sims. Ich nehme die kleine Nackenrolle und schiebe sie mir unter den Kopf, und dann schließe ich die Augen. Sehe mich hier liegen vor einem Jahr, Andrée und Jean-Paul waren im Haus, ich war müde vom Üben, die Szene, die ich Andrée später bieten wollte, Andrée mit den steifen Zöpfen und der Nickelbrille, hieß Paradies. Ich lag nackt auf dem Sofa, die Fußnägel blutrotlackiert und einen grünen Apfel um den Hals gehängt. Der Trick bestand aus einem Stück Stoff, das man blitzschnell um die Taille wickeln konnte, den Zipfel über die Schulter werfen. Ohne Stoff hieß die Figur Paradies, mit Das verlorene Paradies. Adam mußte man sich denken. Ich lag nackt auf dem Sofa, den Apfel wie einen Mühlstein um den Hals gehängt. Lautlos trat Andrée ins Zimmer, nahm das Fußbänkchen, setzte sich mir zu Füßen, schnitt den Apfel ab von der Schnur. Der Apfel rollte in einen Winkel des Sofas, und als Andrée sich über meinen Bauch beugte, um ihn zu suchen, ihre Hand lag leicht auf meinem Schenkel, sah ich ihn hinter dem Vorhang. Nur der Kopf guckte um die Ecke, ich sah Jean-Paul hinter dem Vorhang im Durchgang stehen, und als Andrée mich in die Schulter biß, den geteilten Apfel in der Hand, legte er das Ohr an die Falten des Vorhangs.

Hortensien und Stanniolpapier

Im Lauf des Sommers wechselten die Hortensien mehrmals die Farbe. Von blassem Rosa über grelles Pink zum langanhaltenden Himbeerton, der dem Garten mehr Schatten und Brüchigkeit gab, und schließlich zum bräunlichen Bordeaux der welkenden Blüten. Der Garten, in dem die Hortensien standen, gehörte einem alten Fräulein, das solch weitschweifende Beobachtungen nicht anstellte. Er lag hoch über dem Meer von Trouville in den Hügeln und umgab ein kleines Haus, das das Fräulein seit Jahrzehnten allein bewohnte. Vielleicht hatte sie sich hier oben angesiedelt, weil die Villen unten am Meer unerschwinglich waren und keine Gärten hatten. Und hätte sie ihn geerbt, wie hätte sie den Palast allein bewohnen, ausfüllen und heizen sollen? Die Immobilienhändler bezeichneten die Ansammlung von Häusern in den Hügeln als Quartier Résidentiel, obwohl die meisten, wie unten am Meer, nur in den Sommermonaten geöffnet wurden. Das Fräulein lebte also allein in den Hügeln, allein zwischen geschlossenen Häusern, geschlossenen Fensterläden und Gartenpforten, in einer Straße, die weder gepflastert noch geteert war, obwohl auf beiden Seiten kein Platz mehr für neue Ferienhäuser geblieben war. Zu Anfang hatten nur wenige Villen, um die Jahrhundertwende hier oben gebaut, mit dem weiten Blick übers Meer, verstreut in den Hügeln gelegen. Aber obwohl das abschüssige Gelände für Architekten ungünstig war, obwohl es Erdrutsche und Einstürze gab, hatten sich nach dem Krieg mehr und mehr Neubauten dort angehäuft.

Auch das Fräulein, das um die Jahrtausendwende an die fünfundachtzig Jahre war, besaß ein neues Haus. Sie hatte das Kapital in jungen Jahren in Paris verdient, hatte Trouville mit siebzehn verlassen, um, wie man in Frankreich sagt, monter à Paris, und dort als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei am Boulevard Malesherbes gearbeitet. Eine romantische Liebesgeschichte, die die Ursache für den Aufbruch nach Paris gewesen wäre, gab es nicht. Kein Seemann, der ertrunken wäre, kein normannischer Bauernsohn, der eine andere (katholische?) hätte heiraten müssen. Sie hatte zwei Geschwister, und da sie sich in den kleinen Besitz des Vaters hätten teilen müssen, war sie in den Moloch gezogen, hatte achtzehn Jahre in einer Dachkammer überwintert und nur die kurzen Ferien und Feiertage am Meer verbracht. Dann war sie zurückgekehrt und hatte das Haus bauen lassen. Ein quadratisches Einfamilienhaus, ein Bungalow mit Hochparterre, mit Betontreppe vor dem Eingang und braungestrichenen Fensterläden. Inzwischen schmücken Glyzinien, Hibiskus und in die Höhe rankende Kapuzinerkresse die hellverputzten Wände. Wer vorbeiging, mochte den Widerspruch zwischen dem einfachen Haus, der privilegierten Lage und dem weitläufigen Garten bedauern. Zur Straße durch eine niedrige Hecke aus Stechpalmen abgegrenzt, zog er sich mit einer ein wenig öden Rasenfläche den Hügel hinab, vor dem Haus gab es ein buntes Beet mit alten Rosen und, den Weitblick verstellend, eine ins Riesige gewachsene Gruppe mit finsteren Lebensbäumen. Kein heiterer normannischer Apfelbaum, keine Korbweide, kein rauschendes Laub — nur dieses starre ewige Lebensbaumgrün und die üppigen Hortensien, vor denen niemand das Fräulein je stehen sah, wenn sie sich, alt, ledig und müßig, der Bewunderung der Farben hingab. Man sah sie morgens in dicken Filzpantoffeln, Wollstrümpfen, die Kittelschürze über der hellblauen Wolljacke verknotet, die Treppe herunter zum Briefkasten ans Gartentor gehen. Man sah sie, ein Körbchen am Arm, die Hecke schneiden und die Blutstropfen aufsaugen, wenn sie sich in den Finger gestochen hatte. Man sah sie, über den Zaun hinweg, mit Vorbeikommenden reden, dem Briefträger, dem Taxifahrer, den wenigen Nachbarn, die das ganze Jahr über dort wohnten. Man sah ihre beiden Hände, die sich an einem Geländer festhielten, man sah die Katze mit hocherhobenem Schwanz seitlich an ihr vorbei die Treppe hinunterschleichen, und man hörte sie gegen Abend im Garten umherirren und rufen Miou-Miou-Miou. Die Katze verbrachte Stunden auf dem warmen Blech eines vor dem Nachbarhaus geparkten Autos oder strich durch die umliegenden Gärten. Die älteren Bewohner wußten zu erzählen, daß einer der Brüder in der Jugend nach Australien ausgewandert war, der andere in Deutschland Arbeit gefunden hatte, in einer Fabrik für Schrauben und Nägel im Schwarzwald. Beide hatten, typisch für Kinder von Seestädten, den Drang aufzubrechen, und hatten das Zuhause verlassen. Doch beide waren seßhaft und keine Meerfahrer. Die Älteren wußten auch, daß Mademoiselle Heuline neben dem kleinen Häuschen wohnte, das ihr Vater besessen hatte und das seit langem verkauft war. Ein kleines graues Haus mit großem Kiesplatz vor der Tür, klein und ärmlich wie die Fischerhäuser unten in der Stadt. Und die Schüssel fürs Satellitenfernsehen ragte neben der Dachluke in die Luft wie ein absurder Scherz. Der Vater hatte vor dem Ersten Weltkrieg das Gelände verwaltet, Wald, Wiesen, Weiden und Gärten, die damals zu dem Herrensitz La Bagatelle gehörten und fast den ganzen Hügel einnahmen. Der Besitz gehörte noch immer derselben jüdischen Familie, doch war er bis auf Haus und Garten zusammengeschrumpft, das Gelände verkauft und bebaut. In nächster Nachbarschaft stand eine Résidence mit meist geschlossenen Appartements, Zweitwohnungen für Pariser, und freitags erfüllte der ohrenbetäubende Lärm einer riesigen Mähmaschine das Gelände.

Das also wußte man, das also sah man: für Mademoiselle Heuline war diese Anrede keine Kränkung. (In Deutschland bestand jede Fünfzehnjährige in der Schule darauf, als Frau angeredet zu werden.) Trotz Kittelschürze und trüber Augen zeigte sie, noch nicht steinalt, die Koketterie älterer Französinnen, die lächelnd nicken, wenn Bäcker und Fleischer ihnen ewige Jugend bescheinigen. Das also sah man: das Fräulein hinter dem Küchenfenster sitzend, die Gardinen waren stets zur Seite geschoben an jenen Tagen, wenn Madame Heubert, ihre femme de ménage, kam, sie diskutierte am Küchentisch — Speisen? Gartenarbeit? Silber polieren? —, putzte Gemüse oder löste ein Kreuzworträtsel. Später waren die Gardinen wieder vorgezogen, und das Haus lag wie zuvor viele Stunden rätselhaft, verschlossen und wie verlassen da. Samstags sah man dieselbe Person, die ohne Kittelschürze an Volumen zu verlieren schien, überraschend zierlich und klein das Haus verlassen und zu Fuß zu einem Besuch in der nahen Résidence du Calme aufbrechen. Sie trug abwechselnd ein blaßblaues oder blaßrosa Kostüm, weiße Schuhe und einen weißen Hut, und niemand, der sie unverhofft von hinten sah, erkannte sie, wenn sie allein auf der breiten, wenig befahrenen Landstraße zu Fuß ging. Manchmal stieg sie auch in die Stadt hinunter und kehrte mit einer kleinen Plastiktüte mit Tomaten oder Karotten zurück. Und auch dies war ein Ausgang, denn der Hut saß auf ihrem Kopf, gleich, ob der Weg einer der wenigen überlebenden alten Freundinnen galt oder einem Bund Radieschen. Nur den, der glaubt, in Provinzstädten sei niemand anonym und allein, um so weniger, wenn es sich um eine der ältesten Bewohner handelt, mag es erstaunen, wie unbekannt und unerkannt das bekannte Fräulein war. Das Alter? Es ist nicht schön, pflegen die Alten im Café du Port zu sagen und sich zu erzählen, wer zuletzt gestorben ist. Es ist nicht schön, sagen sie, das Alter, und nicken über ihrem Gläschen Calvados. Alle sind tot, man ist allein und übriggeblieben, ein Rest, Überbleibsel, von — und blicken durchs Fenster aufs Meer, als erwarteten sie von dort ein wenig Stolz auf die Anstrengungen ihres Überlebens. Aus Calvados machte das Fräulein sich nichts, nicht das geringste aus einem heimlichen oder erlaubten Gläschen eau-de-vie oder einem Grog gegen den Wind. Tafelfreuden langweilten sie, ein Glas Tee, eine trockene Galette genügten — sie war ein anspruchsloser oder ein undankbarer Gast. Doch plötzlich bestellte sie Milch und Kuchen und Kekse und Nudeln, Vanille für crème brûlée und Orangenaroma für mousse au chocolat. Mademoiselle Heuline füllt ihre Vorratskammern, sagten die Leute in der Épicerie, vielleicht fürchtet sie eine Epidemie. Vielleicht hat sie plötzlich den Tic vieler Alter wie einen Virus gefangen, den Tic, verhungern zu müssen, je mehr sie auf Hilfe von anderen angewiesen sind. Doch es war weder das Alter noch hatte sie einen Tic, und bevor es sich herumgesprochen hatte, war das Bett im Gästezimmer bezogen, und auf dem Nachttisch stand eine gefüllte Wasserkaraffe. Die Märchen von Perrault und die Fabeln von La Fontaine lagen in einer Ausgabe für Kinder auf dem Tisch, auch wenn sie wußte, daß ein Video- oder Computerspiel vielleicht mehr gefallen hätte. Immerhin hatte sie einen großen Tanker mit Fernsteuerung gekauft. Einige Grenzgängereien an der Côte Fleurie während der Okkupation hatten ihren patriotischen Sinn bewiesen, der den Antimilitarismus der Gegenwart verachtete.

Ein paar Tage später stand ein kleiner Junge am Ufer des Meeres und beobachtete einen graugrünen Tanker, der durch die algentrüben Wellen zog. Es war noch früh im Sommer, die Ferien hatten noch nicht begonnen, und nur wenige Gruppen von Kindern waren über den Strand verteilt, die in der Nähe in einem Camp wohnten, ferienverschickt. Das Fräulein saß windgeschützt hinter der Glasscheibe des Café Galatée, und während sie die Zeitung las, wartete sie vielleicht darauf, daß der Junge zu den anderen hinübergehen würde, um mit ihnen zu spielen. Nach ihrer Rückkehr aus Paris hatte sie lange Zeit in der Mairie gearbeitet, und als sie an jenem Morgen — Hand in Hand, obwohl der Junge schon über zehn schien — am Strand angekommen war, hatte sie ein Schild mit der Signatur des Bürgermeisters gesehen, das sie empörte und ihr zugleich ins Gedächtnis rief, wie weit die Zeit in der Mairie zurücklag. Das Schild verbot, Waffeln, Pommes frites und Eis am Strand zu verzehren. Es verbot, Hunde mitzubringen und auf den Planken Fahrrad zu fahren. In gemessenem Abstand säumten neue Mülltonnen aus Plastik den Strand, und die Waffel- und Eisverkäufer machten verdrießliche Gesichter, weil die Sommergäste im Stehen auf den Planken essen und das Papier gleich wegwerfen mußten. Wer denkt, die Alten empörten sich stets gegen den Vandalismus der Jugend, verdreckte Strände, Coladosen und Papier, gegen Radrennen und Rempeleien auf den Planken, hätte sein Wunder erleben können. Aber die Empörung kochte im Innern des Fräuleins, die zu den Strandgängen bequeme Sportschuhe und eine doppelt gestrickte Jacke aus Shetlandwolle trug, sie kochte hinter der Glasscheibe und vor fast leerem Strand. Hatte sie nicht auf Sandwiches und traditionelles Picknick mit Melone und hartem Ei verzichtet, um dem Großneffen keinen der Genüsse vorzuenthalten, die Pommes-frites-, Waffel- und Crêpes-Buden ihm böten? Enkel ihres Bruders, Sohn ihres Neffen, die sich in einer Kleinstadt im deutschen Schwarzwald niedergelassen hatten und dort ihr Leben mit Nägeln, Zangen und anderen kleineren Eisenwaren verbrachten. In einer plötzlichen Eingebung würde sie ihren Neffen bitten, Papiere und leere Dosen in eine von ihr bereitgehaltene Plastiktüte zu werfen. Sie würde Tag für Tag, Woche für Woche, diese kleinen Abfalltüten vom Strand mit nach oben schleppen, gleich welchen Weg sie nähmen, den gewundenen von den Roches Noires, den steilen von der Rue des Bains, die sanfteren Biegungen über die Rue Petit und Rue Mannheim. Sie würde die Tüten in die Garage neben dem Haus stellen, gleich neben dem Stapel trocknenden Holzes für den Kamin. Denn das Fräulein in seinem unpassenden Haus — unpassend zum Wort Mademoiselle, das nach einer kleinen Chaumière verlangte, nicht nach einem öden Bungalow — hatte zwar kein Auto, aber vorsichtshalber eine Garage anbauen lassen. Platz für Gerümpel, Holz, Gartengerät und — diese Abfallbeutel. Platz, genügend Raum für Tics? Die Katze, dreifarbig im Fell und kräftig von Statur, würde die Mäuse aufstöbern, die durch Dosen und Aluminiumpapier wenig angezogen würden.

Die regnerischen Tage waren zu Ende, der Tanker lag auf dem Sand neben der Fernbedienung, und der deutsche Junge spielte mit den anderen Fährtensuche um die Badekabinen herum, oder sie tauchten unter Aufsicht nach Seesternen und Krebsen. Manchmal machten die anderen Gruppenausflüge über Land, um einen Ponyhof oder eine Molkerei zu besichtigen, dann lag er auf dem Bauch und las in den Comicheften, die sie zuvor in der Papeterie am Casino gekauft hatten. Das Fräulein empörte sich nicht über den Mangel an Kultur, Perrault und La Fontaine lagen ungelesen im Haus, denn der Junge hatte in der Schule gerade erst mit Englisch angefangen. Sein Großvater hatte ihm wohl einige Phrasen beigebracht, deren Komik er nur halb verstand: Grâce à Dieu, mes parents sont encore en vie. Er hatte auch einen Namen, etwas wie Paul oder Robert, aber Mademoiselle Heuline nannte ihn, das Hätschelkind einer betagten Ferienlaune, partout und überall: mon Chou, mon Chou-Chou. Elende Gleichmacherei aller Objekte der Liebe? Miou-Miou, Chou-Chou, Chou-Chou, lautete das Echo ihrer konzentrierten Aufmerksamkeit. Sie hatte die Seite der Glasscheibe gewechselt, saß in der Sonne auf der Terrasse neben den Planken und blickte, einen weißen Leinenhut auf dem Kopf, versonnen auf die Tanker am Horizont vor Le Havre. Der versonnene Blick, bei dem sich die Pupillen manchmal zu winzigen Stecknadelköpfen zusammenzogen, hätte auf einen zufälligen Beobachter unheimlich wirken können. So viel Chou-Chou und Karamelbonbons und Hand-in-Hand und ein konzentrierter Blick wie bei der generalstabsmäßigen Planung einer Attacke. Die Karamelbonbons, die der comic-lesende kleine Kohlkopf nicht verschmähte, kauften sie bei Corday an der Place Maréchal Foch. Dort saßen, wie in einer kleinen Crémerie aus einer anderen Epoche, an winzigen Tischen ältere Tanten herum, deren Rougeflecken auf den Wangen Chou-Chou den Kopf verdrehen ließen. Auf dem Rückweg erzählte Mademoiselle die Geschichte von Charlotte Corday und Marat in der Badewanne. Blutrünstig genug war sie, nur schien es den Jungen zu stören, daß es eine Frau war, die das Messer erhoben hatte. Sie blieben stehen und nahmen jeder ein Bonbon aus der runden Spandose, umständlich, denn jedes war eingewickelt in doppeltes Papier, dann knackte Chou das Bonbon und zermahlte es in wenigen Sekunden zwischen seinen Backenzähnen, anstatt es geduldig zu lutschen. Wenn du so weitermachst, werden wir zum Dentisten gehen müssen, noch in den Ferien. Das kam, so nebenher, von Mademoiselle. Sekundenlange Stille zwischen den Zähnen, und dann erzählte sie weiter blutrünstige Geschichten aus der französischen Geschichte. Manchmal machten sie eine Pause nach dem Aufstieg und setzten sich auf die Bank auf der Anhöhe neben der Route Nationale nach Honfleur. Von dort führte eine Steiltreppe direkt hinunter zur Rue d’Orléans und zum Meer. Und von der Bank aus sah man über die Dächer und Türme von Trouville auf das abendliche Wasser, das bei Ebbe in weiter Ferne glitzerte, und auf einen endlosen Strand ohne Papier, ohne Dosen, endlos und sauber bis zum Wahn.