Sommergeheimnisse - Martin Semesch - E-Book

Sommergeheimnisse E-Book

Martin Semesch

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sam, Madison, Jake, Isaac und Joshua sind Freunde fürs Leben. Freunde bis in den Tod. Als Bestseller-Autor Sam die Einladung zum Klassentreffen erhält, zieht es ihn sofort zurück nach Flagstaff. Endlich hat er die Gelegenheit seine Jugendfreunde Jake, Isaac, Joshua und Madison wiederzusehen, zu denen er seit seiner Schulzeit keinen Kontakt mehr hatte. Je näher er seiner Heimatstadt kommt, desto mehr spürt er die bedrohliche Energie, die von diesem Ort ausgeht, ohne sie einordnen zu können. Zu tief vergraben sind die Erinnerungen an Flagstaff und den Sommer 1987. Obwohl Jahrzehnte vergangen sind und jeder von ihnen eine andere Richtung eingeschlagen hat, ist plötzlich alles wieder wie früher. Doch die Freude über das gemeinsame Wiedersehen währt nicht lange. Als alle fünf von unheimlichen Begegnungen heimgesucht werden, ist klar: Ihre Vergangenheit hat sie eingeholt. Jemand weiß, was sie im Sommer 1987 getan haben, und will, dass sie dafür bezahlen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 661

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


IMPRESSUM

1. Auflage 2021

© Wortschatten Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Wortschatten Verlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

[email protected]

0049 (0)241 87343400

www.wortschatten.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druckerei und Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Lektorat:

Lena Christine Schulte

Umschlaggestaltung:

Nicole Ganser

Abbildungsnachweise:

https://pixabay.com/illustrations/forest-fog-wolf-meadow-away-4365198/

Print:

ISBN-10: 3-96964-006-7

ISBN-13: 978-3-96964-006-7

e-Book

ISBN-10: 3-96964-007-5

ISBN-13: 978-3-96964-007-4

Nur das Sommergras ist noch da

von den Träumen

früherer Helden.

Bashô

Kapitel 1

Das schwache Licht der Nachmittagssonne drang durch das Fenster von Samuel Colemans Büro und ließ die einzelnen grauen Strähnen auf seinem schwarzen Schopf wie Silberfäden erscheinen. Die letzten fünf Tage hatten dafür gesorgt, dass er aussah wie 47 und nicht wie 37.

Die dunklen Ringe unter seinen Augen trugen ihr Übriges zu seinem mitgenommenen Erscheinungsbild bei. Wie eine lebende Leiche – ja, genauso fühlte er sich.

Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis seine Frau mit den Kindern von München nach Hause kam. Die verbleibende Zeit nutzte Sam, um seine Erlebnisse zu notieren. Bei jedem kleinen Geräusch zuckte er zusammen und lauschte in die unheimliche Leere seines Hauses hinein. Obwohl es natürlich nur die Geräusche von knarrenden Holzdielen oder des Heißwasserspeichers waren, wirkten sie angsteinflößend. Es konnte auch etwas anderes gewesen sein.

Aber das war unmöglich, nach allem, was passiert war. Oder nicht?

Wenn Samuel Coleman eines in letzter Zeit gelernt hatte, dann, dass nichts auf dieser Welt unmöglich war – gar nichts.

Seine Einstellung zum Leben, vor allem aber zum Tod, musste er von nun an überdenken. Nichts ist wie es ist und schon gar nicht wie es scheint.

Als er sicher war, dass er alleine war, schrieb er weiter, konnte es sich aber nicht verkneifen, einen letzten prüfenden Blick über seine Schulter zu werfen. Nichts.

Sam nahm das Stück Papier zur Hand und las sich das Geschriebene noch einmal durch, während sich im Westen langsam aber sicher dunkle Gewitterwolken zusammenbrauten.

Es schien, als seien sie ihm gefolgt.

»Mein Name ist Samuel Coleman und ich bin glücklich, dass ich noch am Leben bin.

Heute Morgen erst bin ich von Nebraska zurückgekehrt und dank allen Heiligen nun wieder in Frankfurt am Main. Zuhause in meinen sicheren vier Wänden. Das hoffe ich zumindest. Und glauben Sie mir, das meine ich genauso. Ich sitze gerade hier und schreibe diese Zeilen von meinem geliebten rustikalen Schreibtisch aus, wo ich schon so viele Manuskripte verfasst habe. Der dunkelbraune Tisch aus Walnussholz stammt noch von meinem Vater und hat eine lange Reise hinter sich. Genau wie ich. Von Flagstaff, Nebraska, über Boston, Massachusetts, bis Frankfurt, Deutschland. Meine neue Heimat. Ich gehe hier nicht mehr weg, das ist so sicher wie das Amen unseres guten alten Isaacs. Da ich ein wenig abergläubisch bin, denke ich, dass es mir nur an diesem Tisch möglich ist zu schreiben. Er ist ein Teil meines Lebens, hat mich überallhin begleitet. Genauso wie manch andere Dinge. Nicht alle davon waren gut, und vieles wünschte ich, rückgängig zu machen. Doch dafür ist es zu spät. All diese Dinge sind tief in mir verwurzelt, in welcher Form auch immer. Sei es nun aus Liebe, Trauer, vor allem aber ist ein Gefühl vorherrschend – Angst.

Pure, nackte Angst in ihrer reinsten Form. Ich spreche nicht von einer flüchtigen ›Verflucht-ich-hab-Angst-vor-Leuten-zu-sprechen‹-Angst. Meine Angst sitzt tiefer, hat sich wie eine Infektion in meinem Körper ausgebreitet, zerstört mich von Innen heraus. Sie beherrscht mein Denken, schlimmer noch, mein Leben. Diese Angst ist urtümlich, dunkel und böse.

Doch genau dieses Gefühl der Angst und meine sie auslösenden Erlebnisse sollen mich zurück auf die Siegerstraße führen – moralisch vertretbar oder nicht.

Ich werde auferstehen wie ein Phönix aus der Asche.

Also sitze ich hier, sauge die vermeintliche Stille des Raumes in mich hinein und blicke aus dem Fenster. Da meine Frau Saskia mit den Kindern noch in München ist und erst in ein paar Stunden zurückkommen wird, nutze ich den Tag um das zu verarbeiten, was geschehen ist.

Die Sonne steht im Moment noch am Himmel, aber vermutlich wird sich das bald ändern. Die dunklen Regenwolken aus dem Westen ziehen auf und werden die Stadt vermutlich den ganzen Abend durchnässen. Für mich normalerweise eine schöne Atmosphäre, um mich regelrecht in Trance zu schreiben. Normalerweise muss ich in meinem Beruf meine Fantasie anregen, um mir Geschichten auszudenken, doch für das Folgende braucht es keine Fantasie. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Manuskript verfasse, dessen Inhalt nichts Erfundenes darstellt, sondern nackte, grausame Realität. Ich wünschte, dass dies alles meiner Fantasie entsprungen wäre. Aber Wünsche gehen nun mal selten in Erfüllung.

Da ich schon aus beruflichen Gründen einen erhöhten Mitteilungsbedarf habe, ist es mir ein Bedürfnis, meine Geschichte niederzuschreiben. Sie handelt von tiefer Freundschaft, ewiger Verbundenheit, verlorener Liebe und Geheimnissen. Dunklen Geheimnissen.

Doch werde ich nicht jedes Detail einbinden. Es steht zu viel auf dem Spiel und zu vieles ist schon verloren gegangen.

Vor allem meine Unschuld – unsere Unschuld.

Ich habe festgestellt, dass es manchmal besser ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Wenn ich eines in meinem Leben gelernt habe, dann, dass es kein größeres Geschenk als Freundschaft gibt, Liebe und Tod real sind und vor allem, dass man schlafende Hunde besser nicht wecken sollte. Ein Geheimnis, das man vor langer Zeit vergraben hat, sollte man auch unter der Erde lassen. Wir haben es nicht getan, wir haben es wieder zurückgeholt. Es wäre besser gewesen, wir hätten es nicht getan.«

Die Schrift auf dem Blatt Papier war nichts weiter als schwer lesbares Gekritzel; bedingt durch die Zittrigkeit, die Sam immer noch seit seinem Abflug in den Staaten fest im Griff hatte. Sam wusste ganz genau, was er mit dem Schreiben erreichen wollte. Doch wusste er auch, dass dieses Manuskript für die Ewigkeit war. Nichts und niemand könnte es aus seinem Gedächtnis brennen. Es wäre für immer da, aber das war es ohnehin schon. Sein Agent würde jubeln. Das wäre seine Rückkehr in den Literatur-Olymp. Niemand würde je ahnen, dass es die Wahrheit – Nichts als die pure Wahrheit – war. Sein Geheimnis.

Schluss mit den Geheimnissen.

Sam nahm das Stück Papier, donnerte es auf den Schreibtisch, vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte. Es war das erste Mal, seitdem er ein kleiner Junge gewesen war.

Kapitel 2

Zehn Tage vorher

Es war der 2. Juni 2011, als das Kuvert mit dem Schreiben aufgegeben wurde. Noch ahnte die Person nicht, und schon gar nicht der Brief selbst, was sein Inhalt auslösen sollte. Hätte er eine Seele gehabt und sprechen können, so würde er seinen langen Weg als mühselig und mancherorts auch vielleicht als unliebevoll beschreiben. Wir wollen ihn nun ein Stück auf seinem Leidensweg begleiten. Seine Existenz begann in der neuen Welt, den fernen Vereinigten Staaten. Das angenehmste und weitaus erregendste Erlebnis für ihn war, als das Kuvert von der zarten feuchten Zunge einer hübschen Mittdreißigerin abgeleckt wurde. Das war das Highlight. Die nächste erwähnenswerte Station stellten die wulstigen Finger des Postbeamten von Flagstaff, Nebraska, dar. Dort, im Postamt, folgte die erste brutale Tat, als der Stempel ihn mit voller Wucht zum ersten Mal traf. Dann wurde es für lange Zeit dunkel. Stundenlanges Motorengeräusch begleitete den Brief ohne sein Wissen und seine Zustimmung über den großen Teich, wo er schließlich wieder Tageslicht erblickte. Und wieder wurde die Korrespondenz von einem zum anderen gereicht; unachtsam in eine Kiste, die randvoll mit Artgenossen war, geworfen. Scannen, stempeln, scannen, stempeln. Tagelang ging es so weiter, bis er schließlich nichts ahnend seinem eigentlichen Ziel nahe kam. Kaum in Frankfurt am Main eingetroffen, wurde er zum zuständigen Verteilerpostamt gekarrt und gelangte schließlich in die Hände eines Briefträgers.

Der dickliche Postbeamte war bereits seit den frühen Morgenstunden unterwegs. Wie jeden Tag glich sein Tun einem Schweizer Uhrwerk. Da er heute für einen Kollegen, der unerwartet krank geworden war, einsprang, nahm er das Navigationsgerät zur Hilfe. Er wies das Gerät an, ihn in die Münzstraße zu führen. Die letzte Station des Briefes. Der Bote dürfte recht zufrieden mit seinem Leben und seinem Job gewesen sein, denn er spazierte glückselig ein Lied trällernd über die Straße. Ob er sich bewusst war, was für schreckliche Geschehnisse er mit dem Überbringen des Schreibens auslösen würde? Wie sehr es das Leben von einigen, ihm unbekannten Menschen verändern würde? Vermutlich nicht.

Fragte sich der Postbote überhaupt manchmal, welch wertvolle, banale, Freude und Kummer bringende Geschenke er den Leuten überreichte? Zweifelhaft.

Würde sich etwas ändern, wenn er es wüsste? Ganz bestimmt nicht.

Er machte doch bloß den Job, den er liebte, und den machte er gut.

Der dicke Beamte stand nun mitten auf dem Fußabstreifer vor dem schmucken Haus mit den weißen Holzpaneelen und klingelte an der Tür. Er hoffte, dass der Adressat mit Namen Samuel Coleman auch zuhause war. Sonst müsste er wieder einen dieser Zettel mit dem Vermerk Adressat nicht angetroffen ausfüllen. Das Dumme war nur, er hatte die Zettel nicht dabei, er hatte sie im Wagen liegen gelassen. Und zurückzugehen und sie zu holen, verbot ihm seine gewaltige Körpermasse, die ihn ohnehin schon wie eine Dampflokomotive schnaufen ließ. Unser Bote verglich noch einmal die Adresse auf dem Brief mit der Aufschrift der Tür, denn es war ja sein erster Tag in diesem Gebiet und er wollte sichergehen. Die Adresse stimmte. Natürlich machte ihn der ausländisch klingende Name stutzig.

Samuel Coleman? Klingt irgendwie amerikanisch. Was macht ein Amerikaner in Frankfurt? War er berühmt? Sind Amerikaner nicht immer berühmt?

Coleman, Samuel Coleman.

Seine Gedanken kreisten. Irgendwo, irgendwann hatte unser Bote den Namen schon einmal gehört. Ganz sicher!

Er klingelte nochmals.

Am Tag, als Samuel Coleman den Brief erhielt, der sein Leben verändern und seinen Glauben in seinen Grundfesten erschüttern sollte, war er tief in seinen Gedanken versunken. Die grüne Schrift auf dem schwarzen Bildschirm ergab nach einigen Stunden unkonzentrierten Schreibens einfach keinen Sinn mehr. Heute war kein guter Tag zum Schreiben, so viel stand fest, aber was hatte er für eine Wahl? Zu lange hatte Sam die Beendigung seines neuen Manuskripts vor sich hergeschoben. Und in zwei Tagen war der Abgabetermin des Verlags. Wie sooft war er also wieder einmal viel zu spät dran. Das war das Verlockende an der Arbeit eines Autors. Man rechnete sich aus, wie viele Wörter man pro Tag schreiben müsste, um in etwa das vorgegebene Ziel zu erreichen. Leider schlich sich dabei oft der Schlendrian ein – zumindest bei Sam – besonders wenn man Frau und Kinder hat. Samuel las sich die letzten Zeilen des Manuskripts noch einmal durch und kam zu dem Entschluss, dass es nichts weiter als Bullshit war, das da geschrieben stand und dämlich grün leuchtete. Sein Werk schien ihn zu verspotten.

Die Geschichte war an und für sich nicht schlecht. Zumindest hatte er das gedacht, als er sie sich ausgedacht hatte. Aber letztendlich war der Plot einfach nur schlecht ausgearbeitet und der Showdown schließlich ein literarisches Desaster, wie Sam nun feststellen musste. Dabei brauchte er dringend wieder einen guten Roman auf dem Markt, um an seine alten Erfolge anknüpfen zu können. Sein letztes Werk wurde von den Kritikern regelrecht zerfleischt und fiel mit keiner einzigen guten Rezension auf. Sam befand sich, wenn man so wollte, in einer schöpferischen Krise. Das ist das Schlimmste, das einem Autor passieren konnte. Natürlich trifft das auch auf Musiker, Maler und wahrscheinlich auf jeden Menschen dieser Welt zu. Doch Sam machte das schwer zu schaffen, zumal er dieses Gefühl bisher nicht kannte. Selbstverständlich hatte er in seiner Laufbahn schon einige sogenannte Schreibblockaden gehabt – besonders als seine Eltern gestorben waren – oder in der Anfangszeit seiner Beziehung mit Saskia. Aber das hatte Sam alles nach kurzer Zeit wieder in den Griff bekommen.

Wobei ihm sein Agent einmal gesagt hatte, so etwas wie Schreibblockaden gäbe es nicht. Schreibblockaden seien nur ein Mythos. Sam war sich nicht sicher, ob sein Agent recht hatte, zweifelte sogar daran. Und ob das eine Schreibblockade war. Definitiv.

Seine engste Leserschaft, die sogar eine von ihm verfasste Waschmaschinenanleitung lesen würde, befand seinen letzten Roman Das Haus am Hügel für gut. Sam selbst und der Verlag ebenso.

Aber was half die beste Geschichte der Welt, wenn sie sonst niemanden interessierte?

Denn anscheinend wurden gute Geistergeschichten im Moment nicht gekauft. Was angesagt war, waren Kuschelvampire. Liebessüchtige, melancholische Nachtschwärmer, die nichts mehr mit der klassischen Vampirlegende zu tun hatten, die sie einst mächtig und berühmt gemacht hatte. Samuel selbst hatte vor einigen Jahren bereits eine Vampirstory auf den Markt gebracht. Mit Erfolg. Das war aber vor der Welle mit den romantischen Dingern. Der gute alte Bram Stoker hätte seine helle Freude über seine Darstellung dieser Geschöpfe gehabt. Sams Vampire waren böse, blutrünstig, aber vor allem waren sie seelenlos.

Jetzt schlug Mister Stoker angesichts der verdrehten Legenden vermutlich selbst Pirouetten in seinem Sarg. Sam ging wie sooft seine Fantasie mit ihm durch und er sah vor seinem geistigen Auge, wie Bram Stoker aus seinem Grab entsteigt und Rache nimmt an jenen Vampirromanzenschreiberlingen, nur um ihnen zu beweisen, dass Vampire alles andere als niedlich waren. Sam kicherte leise vor sich hin, während Bram Stoker einen Pfahl in der Hand schwingend seine hoffnungslos, kitschig romantischen Kollegen durch die Nacht jagte.

Aber Mister Stoker würde an seinen eigenen Misserfolgen schließlich und letztendlich auch nichts ändern können. Die Leserschaft bestimmte den Erfolg und Fakt war, dass sie ihn im Moment nicht lesen wollten. Besonders nicht, wenn er so einen Stuss schrieb wie eben. Und sie hatten recht damit.

Thomas, Sams Agent und Freund, sagte ihm vor einiger Zeit: »Du hast die Wahl, Sam. Entweder schwimmst du mit dem Strom, schreibst irgendetwas Romantisches mit Horrortouch, oder aber du nimmst in Kauf, dass sich deine Bücher im Moment nicht besonders gut verkaufen. Nur leider können wir uns keinen weiteren Ladenhüter leisten.«

Für Sam war die Antwort klar. Er sagte Thomas, dass er mit dem nächsten Roman wieder an der Spitze sein werde, wenn er ihm nur vertraute. Sein aktueller handelte von Untoten. Subtil und doch blutig. Um dennoch wenigstens ein wenig mit dem Strom zu schwimmen, hatte er auch einige romantische Elemente eingebaut (natürlich nicht unter den hirnlosen Zombies), die vor allem bei Saskia gut ankamen. Seine Frau war stets die erste Testleserin. Sie liebte ihn über alles, aber was die Kritik anging, war sie so gnadenlos wie Charles Bronson in seiner Rolle als Mundharmonika.

Lediglich beim Titel war sich Sam noch nicht sicher, wobei das letztendlich ohnehin die Entscheidung des Verlages war. Vielleicht Die Auferstehung, ja das klang gut.

Kurz, aber gut, wie Sam befand.

Er notierte sich den Titel auf seinem Notizblock, hegte jedoch die Befürchtung, dass er ihn bei diesem Gekritzel nicht mehr finden würde. Sam speicherte ihn sich zur Sicherheit noch geistig ab, obwohl er wusste, dass das noch unsicherer war.

Als Sam vor einigen Jahren nach Deutschland ausgewandert war, hatte er sich in den Staaten bereits einen Namen als Horror-Autor gemacht. Natürlich war er Realist genug und wusste, dass er nie den Status eines King, Simmons oder Laymon erreichen würde. Aber die Schreiberei brachte ihm immerhin nach einigen Büchern mehr Geld ein, als er mit seiner Anstellung als Sachbearbeiter verdiente. Eine Zeit lang arbeitete Sam noch zwanzig Wochenstunden, bis sich schließlich so viele Auftragsarbeiten und Verträge auf seinem Schreibtisch getürmt hatten, dass er es sich nicht mehr leisten konnte arbeiten zu gehen.

Welche Ironie, hatte Sam damals gedacht.

Aber wenn er nun keinen anständigen Roman mehr zu Papier brachte, dann würde der Name Samuel Coleman auch in den hintersten Regalen der amerikanischen Buchhandlungen verstauben. Das hieß, wenn er überhaupt noch drüben erscheinen sollte.

Er wusste, dass sich das Genre Horror in Europa schlecht verkaufen ließ, aber das konnte ja nicht ewig andauern. Bald würde der Buchmarkt mit zahnlosen Vampiren überschwemmt sein und eine neue alte Ära wieder zum Leben erweckt werden. Sein geliebter, klassischer Horror. Selbst das Wort allein reichte inzwischen schon aus, um die Verleger die Nase rümpfen zu lassen.

›Dunkle Spannung‹ nannte man es nun. Oder eben ›Dark Romance‹. Das wiederum ließ Sam die Nase rümpfen.

Er musste einfach wieder zu alter Stärke finden. Wie zu seinen Anfangszeiten. Schreiben konnte er, das war ihm klar.

Denn vor dreizehn Jahren bekam Sam neben einigen amerikanischen Preisen, auch einen deutschen Horror-Preis überreicht und ließ es sich natürlich nicht nehmen, ihn persönlich entgegen zu nehmen. Rückblickend war er mehr als froh, dass er zu der Verleihung gekommen war.

Sein größter Fan bei der anschließenden Signierstunde sollte sich später als seine Frau entpuppen.

Wenn Sam und Saskia ihr Kennenlernen schilderten, dann lauschten ihre Zuhörer gespannt. Sam selbst erinnerte sich gerne daran zurück. Ein Mädchen Anfang zwanzig. Klein, zierlich, ihr rötliches Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie hatte die schönsten Augen der Welt. Wie zwei Smaragde funkelten sie und Sam hätte schwören können, dass er durch sie hindurch sogar einen Blick in ihre Seele geworfen hatte.

Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, dessen waren sich beide sicher. Damals konnte er noch kein Wort Deutsch sprechen, aber Saskia dafür verdammt gut Englisch. Die Kommunikation, die Chemie; es stimmte einfach alles zwischen ihnen. Nach der Signierstunde gingen die beiden erst einmal etwas essen und schließlich war sie der Grund gewesen, warum Sam seinen Aufenthalt verlängerte. Und als er den ersten Kuss von ihr bekam fühlte er sich wie ein Schuljunge. Schmetterlinge flatterten in seinen Eingeweiden umher, sein Körper wurde von Kälteschocks und Hitzewellen zugleich heimgesucht. Eben das volle Programm, wenn man verliebt war. Sam hatte nicht mehr damit gerechnet, dass ihm das noch jemals passieren würde. Es lag nicht daran, dass er alt gewesen wäre oder nicht sonderlich attraktiv. Seine Eltern waren vor kurzem gestorben und die Leere, die ihr Verlust mit sich brachte, ließ keinen Platz für positive Gefühle wie Liebe. Er hatte sich getäuscht.

Natürlich war er schon zuvor verliebt gewesen, aber das war lange her. Damals war er tatsächlich noch ein Schuljunge gewesen.

Der Ruhm kam viel zu schnell und Sam hatte schlichtweg keine Zeit, sich über die Liebe überhaupt Gedanken zu machen. Er wollte sein Leben genießen, weg von Boston, sich austoben. Doch wenn er eines im Leben gelernt hatte, dann, dass man es nicht planen konnte. Es kommt wie es kommen muss, oder eben kommen will. Sei es nun positiv oder negativ. Saskia gehörte eindeutig auf die Positiv-Seite seiner imaginären Das-ist-mein-Leben-Liste. Unangefochten Platz eins.

Für ihn war klar, dass Saskia seine Frau und die Mutter seiner Kinder werden sollte. Sie waren Seelenverwandte. So etwas gibt es tatsächlich, dachte Sam. Das meinte er nicht nur, weil er als Autor von Horror-Romanen zumindest teilweise an höhere Kräfte glaubte. Irgendwie fühlte Sam, dass es Saskia genauso erging, denn sie konnten die Hände nicht voneinander lassen und verbrachten jede freie Minute zusammen. Am Anfang befürchtete er, dass sie bald genug voneinander bekommen würden, doch das genaue Gegenteil war eingetreten. Sah er Saskia mal längere Zeit nicht, weil er zurück in die Staaten musste, dann fühlte er sich hundeelend. Er war nichts weiter als ein liebeskranker Zombie, wie er es selbst ausdrückte. Selbst seine Horror-Kurzgeschichten handelten dank seiner Gefühle von Romantik und er hatte Angst bekommen, diesen verhassten Pfad der Dark Romance einzuschlagen. Rückblickend wäre das vielleicht gar nicht mal so schlecht gewesen. Doch wenn Saskia in seiner Nähe war, wirkte sie geradezu musisch auf ihn.

Die nächsten Monate jettete Sam wie ein Ping-Pong-Ball über den Atlantik. Von Boston nach Frankfurt und wieder zurück. Schrieb tolle Geschichten, schrieb schlechte Geschichten. In Deutschland blieb er stets ein, oder zwei Wochen. Sie wussten beide, dass das nicht ewig so weiter gehen konnte. Da sie der Ansicht waren, eine Fernbeziehung könne nur über einen gewissen Zeitraum funktionieren, bis sie letztendlich in einer Sackgasse endete und am Ende nur der Beziehungstod lauerte, mussten sie schließlich eine Lösung für ihre gemeinsame Zukunft finden.

Irgendwann kamen sie an den Punkt, an dem sie darüber sprachen, wie es nun weitergehen sollte.

Saskia wollte in Deutschland bleiben – da hätte Sam sagen können was er wollte – und ihm war es gleich. Hauptsache Saskia war bei ihm. Seine Eltern waren beide gestorben, und enge soziale Kontakte pflegte er als Erwachsener nicht. Daher hielten ihn keine menschlichen Bande in den Vereinigten Staaten. Schreiben konnte er schließlich hier wie dort, solange es nur an seinem heißgeliebten Schreibtisch passierte. Also kam Sam zu einem Entschluss, den er bis heute nicht bereute.

Er verließ seine Heimat und verliebte sich, außer in seine Frau, auch noch in Deutschland. Früher dachte Sam, die Deutschen liefen ständig in Lederhosen herum und feierten jeden Tag Oktoberfest. Es erstaunte ihn, dass nichts von alledem stimmte. Er gewöhnte sich schnell an das Leben in Deutschland und vergaß darüber fast völlig sein altes.

Nachdem er einige Jahre in Deutschland gelebt und sich die Sprache angeeignet hatte, begann er seine Bücher auf Deutsch zu verfassen. Es kam ihm einfach albern vor, englische Bücher zu schreiben, die in den USA erschienen, nur um dann einige Monate später übersetzt zu werden und im deutschsprachigen Raum zu erscheinen. Nun funktionierte es eben in die andere Richtung.

Damals war er noch eine große Nummer und fand schnell und ohne Probleme einen Publikumsverlag, mit einem zum Glück sehr geduldigen Lektor. Denn sein Deutsch hakte noch an der einen oder anderen Stelle. Obwohl Saskia es stets pflegte, sofern es ihr zeitlich möglich war, seine ersten Fassungen zu überarbeiten. Dafür war er ihr immer dankbar gewesen.

Seine Frau war stets sein Anker in seinem Leben gewesen. Auch wenn es gereicht hätte, seine Familie mit dem Verkauf seiner Bücher zu ernähren, so gab Saskia ihren Job bei einer Krankenversicherungsanstalt nie auf. Sei es intuitiv oder anderweitig begründet, vielleicht liebte sie ihren Job auch einfach zu sehr. Und nun war Sam froh, dass sie ihn nie aufgegeben hatte und damit die richtige Entscheidung getroffen hatte. Von seinen Büchern der Backlist konnten sie nicht ewig leben, das war sonnenklar.

Sam schweifte wieder einmal zu sehr mit seinen Gedanken ab. Vielleicht lag es ja auch an der Hitze. Die Sonne brannte immer noch direkt durch das Fenster in seinem Zimmer, auch wenn sich die Gewitterwolken immer mehr aufbäumten. Er zog sich das Hemd über Schultern und Kopf, ging in die Küche und holte sich ein Glas Eistee und trabte daraufhin wieder ins Wohnzimmer, fest entschlossen, sich noch einmal über das Manuskript herzumachen.

Jetzt, wo Sam einige Minuten Pause gemacht hatte und wieder zurück im Büro war und sein Manuskript weiter durchackerte, bemerkte er, dass die Wörter auf dem Bildschirm nun eine wilde Mischung aus Kauderwelsch und Suaheli darstellten. Es war wahrhaftig Zeit für heute Schluss zu machen.

»Das ist doch der reinste Mist«, murmelte Sam, als er sich die letzten Seiten nochmals durchlas. Mittlerweile fluchte er sogar auf Deutsch. Das war eines der letzten Dinge, die Sam in seiner neuen Sprache ausführte und auch das hatte ihm Saskia beigebracht. Lange waren ihm gewohnheitsmäßig Schimpfworte wie »shit« oder »fuck« über die Lippen gekommen aber mit der Zeit eignete er sich auch die heimischen an.

Das mehrmalige Bimmeln der Türklingel riss ihn völlig aus seinen Gedanken.

»Schon gut, Mann. Schon gut. Ich komme. Machen Sie doch nicht die Klingel kaputt«, rief Sam, wandte seinen Blick vom Bildschirm ab, zog sich sein Hemd wieder über und ging leise fluchend durch den Flur zur Haustür.

Er öffnete die Tür und vor ihm stand ein dicklicher, sichtlich zufriedener Postbote und überreichte Sam einen Pack Briefe sowie ein Paket.

»Sind Sie nicht ... dieser Schauspieler?«, fragte der Beamte mit dem käsigen Teint.

Das ist einer der Vorzüge als Schriftsteller, dachte Sam. Der Name steht im Vordergrund, nicht das Gesicht.

»Schon möglich«, antwortete er trocken.

»Wahnsinn. Sie waren toll in ...«

Noch während der Postbote überlegte, in welchem Film Sam vielleicht mitgespielt hatte, und Sam darüber nachdachte, ob es vielleicht doch besser gewesen wäre, Schauspieler zu werden, überreichte ihm der Briefträger das Klemmbrett.

Sam unterschrieb an der gestrichelten Linie, auf die der Bote mit einem Schweinchenfinger zeigte und schloss rasch wieder die Tür, ehe der gelb gekleidete Beamte weitere Fragen stellen konnte.

Während Sam durch den Flur trabte, unterzog er der Post wie immer einer Vorselektion. Die Prospekte vermerkte sein Gehirn gleich mit dem Attribut ›Wegwerfen‹. Mit den Briefumschlägen, die vermutlich Rechnungen enthielten, hätte er nur allzu gerne dasselbe getan. Das Paket war für Saskia bestimmt. Ein Brief erregte besonders seine Aufmerksamkeit, weil er den Stempel des United States Postal Service trug.

Er legte den restlichen Packen zwischenzeitlich auf die Frühstückstheke seiner Küche, holte ein Messer aus der Bestecklade und öffnete den Brief. Er trug einen Absender, dessen Name Sam zwar bekannt vorkam, den sein Verstand aber im Moment nicht greifen konnte. Corey Loviz.

Wer zum Henker ist Cory Loviz?

Jedenfalls wurde der Brief, wie Sam bemerkte, in Flagstaff, Nebraska aufgegeben. Er runzelte die Stirn. Flagstaff lag weit hinter ihm. Nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich und gedanklich.

Eine Todesnachricht oder ein Erbschaftsbescheid konnten dem Schreiben nicht zugrunde liegen. Verwandte hatte er in Flagstaff keine mehr. Seit er mit 17 mit seinen Eltern nach Boston gezogen war, hatte er dort überhaupt niemanden mehr, der ihm nahe stand. Zumindest niemanden, dessentwegen man ihm einen Brief schreiben würde. Sein letzter Angehöriger in Flagstaff war gestorben als Sam noch ein kleiner Junge gewesen war und er auf die Elementary School ging. Arme Tante Maud, dachte er, erstickt an einem Stück Brot. Gott sei ihr gnädig.

Über die verschiedenen Ursachen des Schreibens nachdenkend, zog Sam das Blatt, das sich verstärkt und nicht wie bloßes Schreibpapier anfühlte, aus dem Kuvert und las den Inhalt.

Es handelte sich um eine Einladung zu einem Klassentreffen. Er lächelte. An alles hatte er gedacht, nur nicht an so etwas.

»Hier kommt deine Einladung zum Klassentreffen, denn wir wollen unsere alten Freunde wieder treffen. Drum sehen wir uns am 16. Juni wieder und singen auch ein paar alte Lieder. Lang ist die Schulzeit schon vorbei, die vielen Partys und auch so manche Keilerei. Vergessen sind die Zeiten nicht, ihr habt nur heut‘ alle ein anderes Gesicht. Wir machen am 16. Juni um 19:00 Uhr ein Klassentreffen, das dürft ihr auf keinen Fall vergessen.«

Ein Klassentreffen für die Junior High und Highschool von Flagstaff. Abschlussklassen von 1987. Tausend Erinnerungen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche seines Bewusstseins. An diese Zeiten hatte Sam schon ewig nicht mehr zurück gedacht, wie ihm in diesem Moment bewusst wurde. Wunderbare Erinnerungen an seine Kindheit und die Schulzeit kamen ihm in den Sinn. Doch es befand sich auch ein Gedanke darunter, der es nicht an die Oberfläche geschafft hatte. Tief vergraben war er nichts weiter als ein Schemen seiner Selbst. Zumindest noch zu diesem Zeitpunkt. Doch das sollte sich bald ändern. So wie alles andere auch. Doch das konnte Sam nicht ahnen – noch nicht.

Der Termin des Treffens war der 16. Juni. Für seinen Geschmack etwas knapp bemessen. Er ärgerte sich, weil es erstens so kurzfristig war, zweitens der Postweg so lange gedauert hatte und drittens: Willkommen im 21. Jahrhundert. Warum hatte man ihm keine Email geschickt?

Hatten sie ihn vergessen, weil er nicht mehr in den Staaten lebte? Wie lange stand der Termin tatsächlich schon fest?, überlegte Sam. Aber sein Groll währte nur für kurze Zeit. Die Freude, seine alten Klassenkameraden wieder zu sehen, überwog letztendlich. Er wollte dort hin. Nichts konnte ihn abhalten. Vielleicht würde mir der Tapetenwechsel sogar gut tun, dachte Sam und war schließlich fest davon überzeugt. Das war genau das, was er brauchte. Eine Reise würde ihn von seinem Karrieretief ablenken, ihn vielleicht sogar zu neuen Ideen inspirieren. Man wusste schließlich nie, was man auf so einem Trip alles erleben konnte.

Es gab nur eine Sache, die ihm Kopfzerbrechen bereitete: Wie sollte er es Saskia verständlich machen, dass er in seine alte Heimat fliegen wollte? War das überhaupt ein Problem? Schließlich würde seine Abwesenheit ja nicht länger als drei, höchstens vier Tage dauern. Wenn er eine Lesung in München oder Wien hielt, war er auch zwei Tage weg. In London meist drei.

Sie wird es verstehen, dachte er und blickte auf die Uhr. Es war 12:05 Uhr. Sam hatte die Zeit völlig vergessen. In einer halben Stunde war die Schule für seine beiden Töchter aus. Hastig legte er den Brief zu der anderen Post auf die Theke, nahm die Wagenschlüssel von der Kommode und raste los.

Wie er es immer zu machen pflegte, stieg Sam aus dem Wagen, um seine Töchter direkt vor dem Eingang des Schulgebäudes zu empfangen. Er war vielleicht etwas paranoid, womöglich trug auch sein Beruf sein Übriges dazu bei, aber er wollte einfach nicht, dass ihnen etwas zustößt. Selbst bei einem Weg von 50 Metern könnte ein Irrer mit einem weißen Lieferwagen vor ihnen halten, sie in den Wagen zerren und entführen. Von solchen Vorfällen hörte man schließlich immer wieder. Oder eine geflügelte mit Zähnen und Klauen bewehrte Bestie könnte sie verschleppen. Oder der Fahrer des weißen Lieferwagens war eine geflügelte Bestie. Sam merkte, dass seine Fantasie wieder einmal mit ihm durchging. Aber die Idee mit der geflügelten Kreatur, die kleine Kinder verschleppt, hatte etwas und er machte sich einen geistigen Aktenvermerk davon. Womöglich konnte er es irgendwann verwenden.

Unmengen von Kindern quetschten und drängten sich einer Stampede gleich aus der Schule. Seine zwei Engel waren auch darunter. Sam winkte ihnen zu, um sie auf sich aufmerksam zu machen, doch sie hatten ihn längst entdeckt und steuerten auf ihren Vater zu.

Sarah und Angela, die die erste Klasse besuchten, gaben ihm einen Kuss. Als Zwillinge waren sie dazu prädestiniert Verwirrung unter der Lehrerschaft zu verbreiten. Der Gedanke an all die Streiche, die sie in Zukunft spielen konnten, zauberte ein vergnügtes Lächeln auf Sams Gesicht. Sam seinerseits hätte todsicher keinen Streich ausgelassen, wenn er einen Zwilling gehabt hätte. Aber dieses Vergnügen war ihm als Einzelkind leider verwehrt geblieben.

Der Anblick der beiden und die Art, wie sie ihm um den Hals fielen, machten es ihm noch schwerer für ein paar Tage zu verschwinden. Aber dafür würde die Freude umso größer sein, wenn Sam wieder nach Hause käme und sie endlich wieder in die Arme schließen könnte.

»Was haltet ihr davon, wenn wir heute Hühnchen machen?«, fragte er die beiden, während er sie auf dem Rücksitz angurtete.

»Das leckere Hühnchen, das du immer machst, Papa?«

»Genau das. Hühnchen à la Papa«, antwortete Sam mit einem grässlich gescheiterten französischen Akzent.

»Au ja. Das wäre toll.«

»Gut, dann müssen wir aber noch beim Supermarkt halten.«

Ein wahrer Begeisterungssturm der beiden brach los. Seine Töchter und Sam selbst wussten ganz genau, was ein Besuch des Supermarkts bedeutete.

Mit Saskia gingen die beiden nicht gerne einkaufen, da sie keine Hello-Kitty-Sticker bekamen. Von ihrem Papa aber schon.

Was soll‘s, ich werde Saskia ein paar Blumen mitnehmen. Das überschattet meine kleinen Geschenke für die Kinder und bereitet ihr obendrein eine Freude, dachte Sam.

Sam pflegte es schon seit Jahren um diese Uhrzeit einkaufen zu gehen. Wenige Leute, keine Hektik. Er hatte alle Zutaten für ein Festessen besorgt, Blumen für Saskia und die Zwillinge hatten ihre Hello-Kitty-Sticker bekommen, die sie noch im Auto öffneten und verglichen, tauschten und darum stritten.

Den Nachmittag verbrachten Sam und die Kinder wie immer. Es gab da ein gewisses Ritual im Hause Coleman. Die Kinder saßen am Küchentisch, machten ihre Hausaufgaben, während der Familienvater daneben saß und einen Roman las, bis die beiden fertig waren. Auch wenn er ihnen manchmal Kleinigkeiten ohne bestimmten Anlass kaufte, wie eben die Hello-Kitty-Sticker, so sorgte Sam doch dafür, dass sie zuerst ihren schulischen Pflichten nachkamen, ihren Mittagssnack zu sich nahmen und erst danach spielen gingen. Genauso wie es sein Vater bei ihm gemacht hatte. Nur war sein alter Herr um einiges strenger gewesen als Sam es je hätte sein können und mit dem Unterschied, dass er keine Spielsachen von ihm bekommen hatte, außer an Weihnachten und Geburtstagen.

Die Kinder spielten im Garten, wo Sam sie durch die Terrassentür sehen konnte – so konnte er Ausschau nach geflügelten Wesen halten. Er selbst warf all seine Kreativität und Energie in die Zubereitung des Hühnchens à la Sam Coleman. Das Geheimnis seiner selbstgemachten Marinade kannte nicht einmal seine Frau. Abgesehen davon hatte sie ihn auch noch nie danach gefragt. Fest stand, dass es ihr Lieblingsessen war.

Gepaart mit den Blumen und meinem Hundeblick wird es ihr schwer fallen, meinen bereits bestehenden Entschluss umzukehren, dachte er.

Sam konnte sich seine Bedenken nicht erklären, warum die USA-Reise für Saskia ein Problem darstellen könnte, aber er wurde das Gefühl einfach nicht los, dass ein für sie beide wichtiger Termin in den Zeitraum seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten fallen könnte. Er fand nichts dergleichen in seinem Kalender und den von Saskia rührte er nicht an. Auch wenn sie seine Frau war, kramte er nicht gerne in ihren Sachen herum. Auch eine Ehe verlangte ihre Privatsphäre.

Es war Punkt sechs Uhr. Das Essen war fertig, der Tisch gedeckt und mit den Blumen geschmückt. Die Kinder waren nicht entführt worden. Alles war in bester Ordnung und lief nach Plan. Pünktlich wie die Feuerwehr schneite Saskia zur Tür herein.

Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie einen anstrengenden Tag hinter sich hatte. Doch als Sam ihr die Blumen überreichte noch ehe sie ein Wort der Begrüßung aussprechen konnte, glitzerten ihre müden Augen und ein freudiges Lächeln zeigte sich auf ihrem erschöpften Gesicht.

Der erste Teil seines Planes war aufgegangen. Er hatte sie am Haken. Sie lächelte noch breiter, gab ihrem Mann und den Kindern einen Kuss und zog Jacke und Schuhe aus.

Misstrauisch beäugte sie das Essen.

»Ich hab uns die Hühnchenfilets mit deiner Lieblingsmarinade gemacht«, erklärte Sam stolz. Seit er keinen festen Job mehr hatte, kümmerte ausschließlich er sich um den Haushalt, das Essen und den Einkauf. Es machte ihm Spaß, denn es war eine willkommene Abwechslung und obendrein eine Ablenkung, wenn er einmal einen unkreativen Tag hatte und kein vernünftiges Wort zu Papier brachte. So wie an diesem Nachmittag. Saskias geliebte Hühnerfilets gab es jedoch meist nur zu einem besonderen Anlass, und das wusste sie. Saskias Blick wurde angesichts der Blumen gepaart mit dem Festessen noch misstrauischer. Sie hob die Augenbrauen wie sie es immer tat, wenn sie unsicher war und fragte: »Hab ich etwas nicht mitbekommen?«

»Wieso?«

»Es ist mitten unter der Woche.«

»Und?« Sam öffnete den Ofen und neigte den Kopf zur Seite, als heißer Dampf aufstieg. Er nahm die überbackenen Süßkartoffeln aus dem Backrohr und stellte sie auf die Herdplatte. Ein leiser Fluch kam ihm über die Lippen, bedacht darauf, dass die Kinder es nicht hören konnten, als er sich die Finger am Rost verbrannte.

»Du machst dieses Gericht doch sonst nur zu speziellen Anlässen.«

»Wenn du nach Hause kommst, ist es immer ein spezieller Anlass«, antwortete Sam und kühlte seinen Finger unter laufendem Wasser. Die kleinen Härchen auf dem Rücken seines Mittelfingers waren verkokelt und sein Finger verbreitete diesen penetranten Gestank nach verbrannter Haut. Am liebsten hätte er weitere Schimpftiraden losgelassen. Stattdessen biss er sich auf die Zunge und hielt sich zurück, da Kinder in diesem Alter bekanntlich alles aufschnappten. Besonders Schimpfwörter.

Saskia erwiderte nichts auf seinen Einschmeichelungsversuch, aber ihr Blick sagte, dass er sich etwas Besseres einfallen lassen sollte.

»Also gut«, stöhnte Sam, »ich muss in ein paar Tagen weg.«

»Die Buchmesse war doch schon und die nächste ist erst im Herbst«, sagte Saskia und nahm am Tisch Platz.

»Es geht diesmal nicht um Bücher«, antwortete er und portionierte das Essen auf den Tellern. Die Kinder stürzten sich regelrecht darauf, wie hungrige Wölfe.

»Um was geht es dann? Wann musst du weg?«

»Sagte ich doch, in ein paar Tagen. Ich muss in die Staaten. Hab einen Brief bekommen für eine Einladung zu einem Klassentreffen.« Sam nahm den Brief vom Stapel auf der Theke und überreichte ihn ihr.

Saskia las ihn, blickte auf als sie fertig war.

»Nebraska? Jetzt am 16.?«

»Ist das ein Problem?«

»Sam, du weißt doch, dass meine Cousine am 17. Juni heiratet.«

Das ist also der Termin, der mir entfallen ist, dachte Sam zerknirscht.

Irgendeine Cousine, die er nicht einmal wirklich kannte. Er hatte sie einmal vor zwei Jahren zu Weihnachten gesehen. Aber zu mehr als »Hallo, wie geht‘s?« hatte es nicht gereicht. Noch dazu war ihr zukünftiger Ehemann Fred ein richtiger Schnarchsack. Mit einer monotonen Stimmlage, wie Sam sie noch nie zuvor erlebt hatte, hatte er allen Anwesenden der Weihnachtsfeier die halbe Nacht hindurch klarzumachen versucht, wie sie ihr Geld gewinnbringend anlegen könnten. Zum Glück hatte es reichlich Eierpunsch gegeben, sodass Sam angeheitert nur noch über Freds Worte lachen konnte und dafür merkwürdige Blicke von ihm erntete.

Kein Wunder, dass er es sich nicht notiert hatte.

»Es tut mir leid. Ich habe die Hochzeit total vergessen. Aber ich muss nicht in die Staaten fahren«, sagte Sam etwas enttäuscht und war im Augenblick wirklich bereit, die Reise ad acta zu legen. Das war es dann wohl mit dem Klassentreffen. Bye-bye Flagstaff, hallo Schnarchsack, ich komme.

Saskia sah ihren Mann in die enttäuschten Augen und merkte, dass ihm das Klassentreffen viel bedeutete.

»Ach was, schon gut, Schatz. Ich fahre mit den Kindern alleine zur Hochzeit. Du hättest dich dort ohnehin gelangweilt.«

»Bist du sicher?«

»Aber ja«, versicherte sie ihm aufmunternd. »Komm lass uns essen.«

Augenblicklich strahlten seine Augen. Manchmal vergaßen Sam und auch Saskia, dass er Amerikaner war und daher noch an seiner Heimat hing. Vielleicht verstand es Saskia, weil sie selbst niemals länger als zwei Wochen von Frankfurt weg war und das reichte schon aus, um ihr Heimweh zu bescheren. Sam liebte Deutschland. Aber manchmal überkam ihn die Sehnsucht nach seinem Geburtsland, insbesondere, wenn im Fernsehen ein guter altmodischer amerikanischer Film lief. Auch wenn er sich diese Sehnsucht nie hätte anmerken lassen, so hatte er Saskia noch nie etwas vormachen können. Sie wusste es und sie verstand es. Und dafür liebte er sie.

»Es sind ohnehin nur ein paar Tage«, sagte Sam entschuldigend zu ihr während dem Essen.

Saskia schenkte ihm ein Lächeln.

»Den einen Tag soll sich meine Mutter um die Kinder kümmern, und zur Hochzeitsfeier nehme ich sie sowieso mit. Genieße du deinen Aufenthalt.«

»Fährst du fort, Papa?«, fragten die Zwillinge mit einer Stimme. Es erstaunte die Eltern immer wieder, wie identisch sich die Zwillinge manchmal verhielten. Als wären sie telepathisch miteinander verbunden.

»Ja, meine Engel. Aber in ein paar Tagen bin ich ja wieder hier. Ich bringe euch auch was Schönes mit.« Auf dieses Versprechen hin jubelten die beiden. Nun hatte Sam auch ihre Zustimmung.

Nach dem Essen machte er den Abwasch. Er wollte nicht, dass sich seine Frau um so etwas kümmern musste, wenn sie schon den ganzen Tag schwer arbeitend im Büro verbrachte.

Sam sagte ihr, dass sie sich ausruhen solle und machte ihr den Vorschlag, dass sie zusammen ein heißes Bad nehmen könnten, nachdem er die Kinder zu Bett gebracht habe.

»Ja, ich finde das ist eine gute Idee«, sagte sie mit verführerischem Vibrieren in der Stimme, gab ihrem Mann einen innigen Kuss und presste sich eng an ihn, sodass er ihre festen Brüste an seinem Bauch spüren konnte.

Sam erledigte den Abwasch in freudiger Erwartung so schnell er nur konnte, während Saskia die Zwillinge badete und fürs Bett bereit machte.

Auch das war ein wichtiges Ritual bei den Colemans. Zuerst brachte Saskia die Kinder stets zu Bett und dann kam Sams Part. Er nahm den Ordner, der die Kurzgeschichten für Kinder enthielt und den er extra für die Zwillinge angefertigt hatte, und las ihnen jeden Abend eine Geschichte daraus vor.

Er hatte festgestellt, dass ihm Geschichten für Kinder zu schreiben, richtigen Spaß machte. »Sollte es mit dem Horror in Zukunft nichts mehr werden, dann könnte ich mich ja als Kinderbuchautor versuchen«, hatte er einmal zu Thomas gesagt. Das wäre doch mal ein Genrewechsel.

»Hast du unter dem Bett nachgesehen? Du weißt schon, warum«, fragte Sarah immer im Zuge des Zu-Bett-gehen-Rituals.

»Natürlich. Da ist nichts. Papa verscheucht jedes Monster auf der Welt, das wisst ihr doch, oder?«

Die Kinder nickten und gaben sich damit zufrieden. Sie hielten sich an der Hand – ihr Bett war nur durch zwanzig Zentimeter Freiraum getrennt – und lauschten seinen Geschichten.

Den beiden fielen bei den Geschichten über freundliche Zwerge und hilfsbereite Wichtel die Augen zu und entschlummerten bald. Insgeheim hoffte Sam, dass nicht seine schreiberische Qualität der Grund war, dass sie stets so schnell einschliefen.

Er schaltete das Nachtlicht ein, das aussah wie Benjamin Blümchen, und gab ihnen noch einen Kuss auf die Stirn. Das Nachtlicht musste stets brennen, seitdem sie ihren Vater und Thomas bei einer Besprechung belauscht hatten. Es war eine Geschichte über ein Wesen, das unter dem Bett von kleinen Kindern hauste. So etwas Ähnliches wie der in den Staaten populäre Boogeyman. Für die Kinder war das Gespräch so traumatisierend gewesen, dass stets geprüft werden musste, ob sich auch wirklich niemand unter dem Bett verbarg. Seit diesem Tag gab Sam acht, dass seine Bürotür stets geschlossen war.

Er hörte das Wasser im Badezimmer fließen und betrat den Raum. Saskia hatte nur einen Bademantel an und steckte gerade ihr Haar hoch. Der Bademantel war nicht zugebunden und als sie die Hände hinter den Kopf streckte, öffnete er sich und gab alles von ihr preis. Ihre Brüste waren immer noch erstaunlich fest, der Bauch flach und stramm, trotz der Geburt der Zwillinge.

»Na, Tiger. Bereit für ein heißes Bad?«

Und wie er bereit war. Sam entledigte sich ebenfalls seiner Kleidung und sagte: »Mit dir wäre sogar eine Wanne voll Eis ein heißes Bad, Baby.«

Saskia lachte und legte auch noch ihren Bademantel ab.

Sie stiegen zusammen in die Wanne und genossen die wohlige Wärme, die ihre Körper umschmeichelte. Noch mehr als die wohlige Wärme genoss Sam jedoch, wie sich kleine Schaumwölkchen auf den perfekt geformten Brüsten von Saskia legten und der Dampf von ihrer Haut aufstieg.

Sam konnte und wollte ob dieses Anblickes seine Erektion nicht länger verbergen. Saskia quittierte den reizvollen Anblick mit einem koketten Grinsen.

Sie drehte sich um und legte sich mit dem Rücken auf seinen Bauch.

»Warum bist du einverstanden, dass ich in die Staaten fahre?«, frage er sie, um ein wenig die Beherrschung über sich wieder zu erlangen.

»Weil ich etwas bemerkt habe, als du mir den Brief gezeigt hast, das ich schon lange nicht mehr an dir gesehen habe. Dein Lächeln war wieder da. Und ich möchte, dass du glücklich bist. Dann bin ich es nämlich auch.«

»Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«

»Weiß ich«, lachte sie.

»Ich vermisse euch jetzt schon.«

»Wir werden dich auch vermissen. Aber es sind ja schließlich nur ein paar Tage, richtig?«

Er streichelte ihre Schultern und küsste ihren Hals.

»Ja, und dann bleibe ich bei euch. Weißt du, es kommt mir fast so vor, dass ich mit Nebraska noch nicht ganz fertig bin. Es ist nicht nur die Freude meine alten Freunde wiederzusehen, sondern da ist noch mehr. Etwas Unerledigtes.« Sams Gesichtsausdruck ließ erahnen, dass er krampfhaft nachdachte.

»Du hast mir nie etwas über Flagstaff erzählt, Liebling. Ich weiß nur, dass du dort aufgewachsen bist, aber sonst hast du immer nur von Boston gesprochen.«

»Ich habe es nicht als wichtig empfunden.«

»Hattest du eine schöne Kindheit?«

Plötzlich grub sich mit dieser Frage der eine Gedanke, dieses Unerledigte, an die Oberfläche seines Bewusstseins. Flagstaff verband er nicht nur mit schönen Erinnerungen. Dieser Gedanke, obwohl nicht richtig klar, fühlte sich übel an. Es war, als würde jemand seinen Namen rufen – oder etwas – ohne dabei diesen jemand sehen zu können. Zwar war die Stimme noch sehr weit weg, aber doch hörbar.

Lass den Gedanken ruhen, Sam. Fahr nicht zurück.

Sam schüttelte den Kopf, geradeso als wolle er damit den Gedanken aus seinem Kopf vertreiben. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf die nackte Haut Saskias. Das lenkte ihn soweit ab, dass das Unbehagen wieder in den Tiefen seiner Erinnerung verschwand.

»Lass uns den Abend nicht mit Quatschen verbringen, okay? Ich habe da etwas viel Besseres im Sinne.«

Noch ehe sie etwas erwidern konnte, begann Sam ihre Brüste zu streicheln. Saskia stöhnte auf und wand sich in seinen Armen wie eine Schlange. Sie drehte sich um, küsste ihn zärtlich mit ihren vor Erregung vibrierenden Lippen, setzte sich auf ihn und empfing Sam in ihrer feuchten Hitze. Die beiden stöhnten, ihre Körper bebten. Als sie einen gemeinsamen Höhepunkt erlebten, spritzte das Wasser aus der Wanne und platschte auf den Fliesenboden.

Zitternd und außer Atem hielten sie sich fest. In diesem Moment wünschte sich Sam, sie niemals mehr loszulassen.

Kapitel 3

Der Wecker riss Samuel aus einem traumlosen Schlaf. Es war vier Uhr morgens und er fühlte sich hundeelend. Dabei sollte es nicht so sein, schließlich war heute der Tag seiner Rückkehr in die USA. Eigentlich sollte er sich kaum einkriegen vor Freude. Sein Koffer war gepackt, dreimal kontrolliert und stand zusammen mit dem Handgepäck bereit zur Abreise auf dem Flur. Sams Aufenthalt in Flagstaff – er hatte vor, zwei Tage vor dem Treffen anzukommen und zwei Tage danach wieder abzureisen – hatte sich zum Glück problemlos buchen lassen.

Schlaftrunken erledigte er seine Morgenrituale und hörte, während er unter der Dusche stand, wie jemand ins Bad kam. Es war Saskia.

Sam stieg aus der Dusche und wickelte sich ein Badetuch um die Hüfte. Ohne ein Wort zu sagen, oder darauf zu achten, dass er pitschnass war, nahm sie ihn in den Arm und drückte Sam fest an sich. In ihren Augen funkelten Tränen. Sam wusste nicht, was er in dem Moment hätte sagen sollen. Worte waren an dieser Stelle überflüssig.

Sie wussten nicht, wieso die Situation für sie beide so aufwühlend war, schließlich wäre er nur, wie sooft schon, ein paar Tage fort.

Nachdem sich Sam angekleidet und das Handgepäck erneut kontrolliert hatte – besonders wichtig waren ihm Reisepass und Leselektüre – trank er seinen Kaffee und blickte aus dem Fenster. Der Sonnenaufgang würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Bald würden die letzten Reste Dunkelheit vom Licht der Morgensonne verschluckt werden. Im Moment war die Morgendämmerung jedoch nichts weiter als ein orangefarbener Lichtstreifen am Horizont. Noch jung und so unschuldig.

Es war ein seltsamer Morgen, überlegte Sam. Es war diese eine Geschichte. Damals 1987, als er und …

»Wir müssen langsam los«, riss ihn Saskia aus seinen Überlegungen. Sie war bereits startklar. Saskia war nicht die Art Frau, die Stunden vor dem Spiegel verbrachte. Und dennoch war sie perfekt.

»Ich hätte mir auch ein Taxi nehmen können. So wie ich es immer mache.« Saskia hatte gestern Abend innig darauf beharrt, ihn zum Flughafen zu bringen.

»Nein, Sam. Ich will es so. Außerdem fahre ich anschließend gleich ins Büro weiter. Ist nicht mal ein besonders großer Umweg.«

Sam betrat das Zimmer seiner beiden schlafenden Töchter, gab ihnen einen Kuss auf die Stirn und ließ seinen Blick für einen Moment auf den beiden verharren – mit den blonden Locken sahen sie aus wie kleine Engel. Ein seltsames Gefühl der Wehmut überkam ihn plötzlich.

»Kommt deine Mutter wegen der Kinder?«, fragte er, als er wieder in der Küche war und sich seine Jacke anzog.

Saskia blickte auf die Uhr.

»Sie muss jeden Moment hier sein.«

»Wieso hat sie denn nicht gleich bei uns übernachtet?«

»Du kennst sie doch. Vierzig Jahre Ehe und sie hat noch nie ohne meinen Vater geschlafen.«

Sam lächelte, denn Saskias Eltern waren die besten Schwiegereltern, die er sich vorstellen konnte. Er konnte nur hoffen, dass seine eigene Ehe genauso lange halten und ebenso glücklich verlaufen würde wie die der beiden.

Vor dem Haus hielt ein Wagen an.

»Wenn man von der Sonne spricht«, sagte Saskia nach einem prüfenden Blick aus dem Fenster.

»Dann wollen wir mal.«

Sam nahm sein Gepäck und öffnete die Tür. Saskias Mutter begrüßte und verabschiedete ihn auf ihre typisch herzliche Art und Weise. Sie umarmte ihn und gab ihm einen dicken Kuss auf die Lippen. Anfangs empfand Sam die Fürsorge, die sie ihm angedeihen ließ, als seltsam, da er sich an seine leibliche Mutter und den Verlust erinnert fühlte, aber inzwischen gefiel ihm ihre fürsorgliche Art. Seine Schwiegermutter füllte einen Teil von ihm aus, den er für immer verloren geglaubt hatte, auch wenn sie seine Mutter nicht ersetzen konnte.

»Pass auf dich auf, Samuel. Und komm gesund wieder zurück, hörst du?«, flüsterte sie Sam ins Ohr.

»Versprochen, Lena. Wir sehen uns in ein paar Tagen ja wieder«, antwortete er und umarmte sie ebenfalls.

Nachdem Saskia dieselbe Begrüßung über sich hatte ergehen lassen, fuhren die beiden los.

Die Straßen zum Flughafen waren leer – abgesehen von den wenigen Frühpendlern und Fernfahrern, sowie den Lieferanten, die den frisch angebrochenen Tag mit röhrenden Motoren begrüßten. In einer Stadt wie Frankfurt regte sich immer etwas, egal, ob Tag oder Nacht.

Trotzdem wirkte das Szenario gespenstisch. Die Straßen nichts als graue leblose Bänder in der Landschaft, bevölkert von wenigen, dafür kreischenden Metallwesen, umspült von den letzten düsteren Wogen einer zu Ende gehenden Nacht. Dieses Bild ließe sich gut in eine Geschichte einbauen, dachte Sam.

John Denvers Leaving on a Jetplane trällerte leise aus dem Radio und Sam schmunzelte darüber, wie passend der Song doch war. Ihm kam in den Sinn, dass John Denver bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Beunruhigung keimte in ihm auf und drückte schwer gegen seine Eingeweide.

Saskias Gedanken kreisten wohl in ähnlich unheilvollen Sphären, denn im fahlen Licht der nun aufgehenden Sonne sah sie zu ihm hinüber und trug den besorgten Ausdruck in ihrem Gesicht, den Sam nur allzu gut kannte. Sie drückte sanft seine Hand.

Die restliche Fahrt zum Flughafen bedurfte es keiner Worte.

Saskia begleitete ihren Ehemann in die Eingangshalle. Sam wünschte, er hätte ein Taxi genommen, dann hätte er den Abschied schon längst hinter sich gebracht. Aber nun stand er noch unmittelbar bevor. Sam kam sich vor wie ein Gefangener, der aus seiner Zelle in den Hinrichtungsraum gebracht wurde.

Dead Man Walking.

Im Gegensatz zu den menschenleeren Straßen herrschte auf dem Flughafen geschäftiges Treiben. Es schien, als ob all die Leute, die auf den Straßen fehlten, sich hier im Flughafengebäude versammelt hätten, nur um zu einem gewissen Zeitpunkt Frankfurt zu überfluten und mit Leben zu füllen.

Inmitten all dieser Menschen standen Saskia und Sam, umarmten und küssten sich.

Der Abschied fiel ihm tatsächlich schwerer als sonst. Eine dunkle Vorahnung bemächtigte sich seiner und hätte ihn beinahe dazu gebracht wieder mit ihr zurückzufahren. Dieses Gefühl von Angst konnte sich Sam rational nicht erklären, und dennoch verspürte er es.

1987, Sammy. Du weißt was damals geschehen ist. 1987. 1987. 1987.

Dein Flugzeug wird abstürzen. Das ist immer so. Wenn Menschen sterben, spüren sie es.

Was sollte denn das? Sam hatte noch nie Flugangst verspürt. Warum also jetzt?

Er vertrieb die absurde, fremde Stimme aus seinem Kopf und konzentrierte sich wieder auf seine Frau.

»Ich liebe dich«, hauchte er ihr ins Ohr.

»Ich liebe dich auch. Vergiss nicht, gib gut auf dich acht.« Ihre Stimme klang plötzlich so verändert. Sie schien so fremd, tief und irgendwie verzerrt. Als wäre dieses ... Wesen, dass sich in seinen Armen befand, nicht Saskia. Sam schnupperte an ihrem Haar und roch Erde. Faulige Erde.

Er trat einen Schritt zurück und starrte in die Augen ... seiner Frau. Beinahe hätte Sam sie weggeschubst, weil er erwartet hatte etwas anderes zu sehen. Doch was, das wusste er nicht.

Ich werde verrückt.

Sam führte seine merkwürdige Gefühlswelt und die Einbildung auf den Stress zurück: die Probleme beim Schreiben, das Zurücklassen seiner Familie, die Flugangst. Stress konnte in der Psyche eines Menschen die seltsamsten Dinge auslösen.

»Alles in Ordnung mit dir?« Saskias Stimme klang wieder normal.

»Ja, ich denke schon.«

»Geht es dir nicht gut?«

»Doch, alles bestens. Mir geht es prima«, antwortete er, war sich aber nicht sicher, ob das auch der Wahrheit entsprach. »Wir sehen uns in ein paar Tagen wieder. Du musst jetzt los.«

Samuel drückte Saskia ein letztes Mal und spürte, wie seine Augen feucht wurden.

Dein Flugzeug wird im Atlantik landen.

»Bis bald«, sagte er leise. Ihm fiel auf, dass das nicht die Worte waren, die er hatte sagen wollen.

Als Sam die Rolltreppe hinauffuhr, warf er einen letzten Blick auf Saskia. Unter all den anderen Menschen erschien sie einsam und verlassen. Doch Sekunden später war sie verschwunden. Verschluckt von der Menschenmasse.

Nach dem Zeichen für das Boarding betrat Sam das Flugzeug, setzte sich auf seinen Fensterplatz – an der Gangseite fühlte er sich paradoxerweise noch beengter als ohnehin schon – und hoffte, dass sein Sitznachbar für die nächsten neun Stunden wenigstens ein angenehmer Zeitgenosse war. Auf so einem langen Flug gab es schließlich nichts Schlimmeres als einen miefigen Nachbarn oder eine Quasselstrippe. Sam hatte bereits mit beidem Bekanntschaft gemacht.

Das Flugzeug füllte sich langsam und bald würde die Maschine starten.

Was ist, wenn sie wirklich abstürzt? Leichte Panik überkam ihn.

Sam nahm seine Lektüre zur Hand, um sich ein wenig abzulenken und begann es sich so bequem wie nur möglich zu machen. Obwohl er erste Klasse flog, war das Flugzeug doch nichts anderes als ein Gefängnis. Und ausbrechen konnte er erst, wenn es sicher in den USA gelandet war.

Einen Augenblick später blieb eine junge Frau am Gang stehen und glich die Nummer ihres Tickets mit der der Sitze ab.

Sie setzte sich neben Sam. Sam war freudig überrascht. Nicht weil sie attraktiv war (und das war sie tatsächlich), sondern vielmehr, weil sie, nachdem sie lächelnd den Platz eingenommen hatte, ein Buch zur Hand nahm, freundlich nickte und augenblicklich zu lesen begann. Sie quasselte nicht, sie miefte nicht. Eine vollkommen neue Spezies von Sitznachbar, freute sich Sam.

Neugierig erhaschte Sam einen Blick auf den Einband und seine Freude wurde augenblicklich noch größer. Bei dem Buch der jungen Frau handelte es sich um eines seiner frühen Werke: Mondphasen – eine brutale Werwolfgeschichte. Er betrachtete die Frau verstohlen und stellte fest, dass er überrascht war. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, hätte er sie nicht zu seiner Leserschaft gezählt, sondern sie eher den Romanen von Simon Beckett oder eines anderen guten Krimiautors zugeordnet. Anfangs dachte Sam immer, dass diese Art von Geschichten nur Männer lesen würden, aber durch seine vielen Lesungen wurde er eines Besseren belehrt. Wie sich herausstellte, war auch das weibliche Geschlecht einer guten Horrorgeschichte nicht abgeneigt. Zumindest war das sein Eindruck.

Die junge Frau bemerkte seinen Blick und lächelte höflich zurück. Sie erkannte ihn offenbar nicht. Sam hoffte nur, dass sie später keine schlechte Kritik über das Buch aussprechen – oder noch schlimmer – es nach der Hälfte fluchend quer durch das Flugzeug schleudern würde. Nichts von alledem geschah.

Die Turbinen der Boeing röhrten auf und leichtes Unbehagen machte sich in Sam breit. Das war keine sonderliche Überraschung. Obwohl er normalerweise nicht an Flugangst litt, war der Start der bei weitem unangenehmste Teil des Fluges. Dann verspürte er immerzu das Bedürfnis panisch schreiend aus dem Flugzeug zu rennen oder seine Hand in die seines Sitznachbarn zu krallen. Da er seine Fingernägel nicht in das Fleisch der jungen Frau krallen wollte, bediente er sich stattdessen der Armlehne. Er atmete schnell, hyperventilierte beinahe, Schweiß rann über seine Stirn und sammelte sich zu einem gigantischen Tropfen auf seiner Nasenspitze, während die Boeing unaufhaltsam beschleunigte und schließlich in den Steilflug überging.

Jetzt wieder ruhiger, konzentrierte sich Sam auf seine Lektüre. Seine Atmung beruhigte sich. Der Schweiß, der sich auf seiner Nasenspitze zu einem einzigen dicken Stalaktit geformt hatte, fiel mit einem leisen Platsch auf die aufgeschlagen Seite seines Buches und hinterließ einen dunklen Fleck.

Die halbe Strecke – gnädigerweise ohne erwähnenswerte Turbulenzen – und dreihundert Seiten später war Sams Sitznachbarin eingeschlafen. Sam hoffte, dass es nicht an seinem Buch, sondern an dem monotonen, einlullenden Vibrieren der Boeing lang. Er selbst verspürte ebenfalls Müdigkeit, die in seine Adern strömte wie Gift. Sorgfältig steckte er das Lesezeichen in seinen neuesten Laymon und stierte hinaus zum Fenster.

Es war ein strahlend, sonniger Tag. Oberhalb des Flugzeugs erstreckte sich nur das helle Blau des Himmels und zehn Kilometer darunter das schier endlos große dunkel glitzernde Blau des Atlantiks. Der unter ihm wie eine Decke dahinziehende Ozean verstärkte das Gefühl der Müdigkeit, seine Lider wurden schwer und schlossen sich schließlich. Von einer Sekunde auf die andere eingeschlafen, neigte sich sein Kopf auf die Stütze. Mit dem Beginn seines Traums befand er sich plötzlich wieder im Sommer 1987.

Kapitel 4

Der junge Samuel Coleman starrte auf die Oberfläche des unter ihm liegenden Sees. Eine glitzernde Decke vollgespickt mit Diamanten breitete sich zu Füßen der Bäume aus. Die Sonne wärmte seinen Körper, während er versuchte, vom Schwindel übermannt, nicht zu fallen. Ein sanfter Wind fuhr hörbar durch die Blätter des Waldes und strich über seine nackte Haut. Obwohl die Brise wunderbar warm war, fröstelte er. Das Blätterrasseln der Bäume ertönte als mehrstimmiger Choral. Sie feuerten ihn an, flüsterten sanft er solle endlich springen.

Das Summen der Bienen über seinem Kopf machte Sam noch nervöser, als er ohnehin bereits war. Aus schwindelerregender Höhe von einem Baum ins Wasser zu springen war schon schlimm genug, aber von einer Biene gestochen zu werden und daraufhin zu fallen war noch weitaus schlimmer.

Wessen Schnapsidee war das hier überhaupt gewesen?

Noch während die Frage durch seinen Kopf schoss, kam die Antwort. Natürlich war es die verfluchte Idee von diesem verfluchten Jake Anderson gewesen. Wer sonst aus ihrer Clique würde einen derart waghalsigen Vorschlag äußern. Die Höhe, in der sich Sam nun befand, betrug bestimmt gut und gerne sieben Meter. Was Sam vorhatte, war weder Mutprobe noch Spaß, sondern ein gefährliches Spiel mit dem Leben. Mit seinem Leben.

Sams Höhenangst übermannte ihn. Seine Muskeln waren ein einziges verkrampftes Etwas. Seinen Kumpels hatte er nichts von seiner Phobie erzählt, da sie ihn nur aufgezogen hätten. Jetzt bereute er es, es verschwiegen zu haben. Wem musste er etwas beweisen? Ich kann einfach hinunterklettern und sagen, dass ich Schiss habe, dachte Sam.

Na klar, genauso gut hätte er auch seine kleinen Eier in einen Schraubstock zwängen und zudrehen können, bis sie platzen. Das wäre sogar vermutlich weniger schmerzhaft gewesen, als zuzugeben, ein Hasenfuß zu sein.

»Was ist nun? Springst du, oder willst du da oben übernachten, großer Anführer?«

Ohne hinunterblicken zu müssen, wusste Sam, dass das die Spottstimme von Jake Anderson kam.

Er atmete tief durch und blickte nach unten. Sam hatte keine Ahnung, wie lange er schon da oben verharrte. Jedenfalls viel zu lange um über sein Leben nachzudenken. Wenn du 14 werden willst, dann klettere runter, verdammt.

Am Ufer des Sees standen seine Freunde in ihren Badehosen, hielten vor der Sonne schützend die Hand über ihre Augen, als sie zu ihm hochblickten, und murmelten etwas, dass seine Ohren nicht wahrnehmen konnten. Es musste lustig gewesen sein, denn alle lachten. Wahrscheinlich ein Witz auf seine Kosten.

Sie lachen dich aus, du Memme, dachte Sam. Natürlich taten sie es, und sie hatten allen Grund dazu.

Alle waren sie bereits gesprungen. Jake als Erster. Aber das war keine sonderliche Überraschung gewesen. Er würde auch vom Kirchturm in ein ein Quadratmeter großes Becken springen, wenn man ihn nur aufforderte. Isaac »Newton« Bennett, der sonst so besonnene Klugscheißer war gesprungen. Ja, selbst der gegen alles allergisch reagierende Joshua – den sie alle wegen seiner Größe nur Little Joe nannten – hatte sich getraut zu springen. Gegen Höhe war er anscheinend nicht allergisch. Seine Arschbombe ließ das Wasser in sämtliche Himmelsrichtungen spritzen. Wenn das seine Mutter gesehen hätte, dann hätte er vermutlich den Rest des Sommers nicht mehr aus dem Haus gehen dürfen.

Und Sam sollte jetzt kneifen? Dann wäre er der Einzige gewesen, der sich nicht getraut hätte. Aber das stimmte so nicht ganz.

Madison war schließlich auch nicht gesprungen. Das Problem war nur, Madison war ein Mädchen und hatte daher eine Ausrede für dieses waghalsige Vorhaben. Mädchen durften feige sein, aber er nicht.

In ein paar Jahren würden sie sich daran erinnern, wie sie alle von der hohen Pappel in den See gesprungen waren. Und sie würden sagen: »He Leute, wisst ihr noch damals, als wir mit ‘ner Arschbombe ins Wasser gesprungen sind? Alle, außer Madison und das andere Mädchen. Wie hieß sie doch gleich? Ach ja, Samuel Coleman.«

Na und, dann würden sie halt reden. Scheißegal.

Leider waren seine Freunde nicht die einzigen, die seinen Rückzieher mitbekommen würden. Mit deren Kritik und Frotzeleien könnte er ja noch leben. Mehr oder weniger wenigstens.

Es waren die anderen Kinder am gegenüberliegenden Ufer des Lake Flagstaff, die Sam Sorgen bereiteten. Und das waren eine Menge Kinder. Die ganz Kleinen könnte er ja einschüchtern, falls sie ihm blöd kommen sollten; aber unter ihnen befanden sich auch Barry Barnes und seine zwei hirnlosen Freunde. Deren Aufmerksamkeit hatte Sam ebenfalls erregt. Barry Barnes grölte etwas Unverständliches. Der Wind trug seine Worte nicht bis ans andere Ufer, aber wer Barnes kannte, wusste, dass es nichts Nettes gewesen war. Wenn etwas aus seinem Schandmaul kam, dann nur Hasstiraden und Schimpfparolen.