Sommerglück im Apfelgarten - Fay Keenan - E-Book

Sommerglück im Apfelgarten E-Book

Fay Keenan

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Beschreibung

Erneut erschafft die englische Bestseller-Autorin Fay Keenan einen wunderbar prickelnden Liebesroman der ganz besonderen Art.  Schicksalhafte Begegnungen, hoffnungsfrohe Herzen, vage Vergangenheiten - eine lang ersehnte Liebe. "Sommerglück im Apfelgarten" ist ein Sommerroman, so leichtfüßig und lebendig, wie nur Fay Keenan ihn zu schreiben vermag. Sophie Henderson liebt ihren Job bei Carter's Cider in Little Somerby. Als Kellermeisterin ist sie für den einzigartigen Geschmack des Ciders verantwortlich, doch gern würde sie mehr Verantwortung in dem Familienunternehmen übernehmen. Der Kanadier Alex Fraser kommt nach Little Somerby, um bei Carter's alles über die traditionelle Cider-Herstellung zu erfahren. Nach dem Tod seiner Mutter möchte er sich endlich den Traum einer eigenen Cider-Kellerei erfüllen. Sophie wird seine Mentorin. Sofort spüren beide eine starke Anziehung - und kommen sich auch privat immer näher. Doch was Sophie nicht weiß: Alex hat einen weiteren Grund, warum er ausgerechnet nach Little Somerby gekommen ist. Kann er Sophie die Wahrheit erzählen, ohne die neue Liebe zu gefährden? Dieses atmosphärische Wohlfühlbuch ist der letzte Teil der Little-Somerby-Trilogie von der britischen Bestseller-Autorin. "Sommerglück im Apfelgarten" spielt wie seine Vorgänger "Annas kleiner Teeladen" und "Das kleine Bistro in Little Somerby" in der traumhaften Idylle Somersets in England. Hier trifft die Leidenschaft für prickelnden Cider auf innige Liebe und Romantik.

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Seitenzahl: 422

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Fay Keenan

Sommerglück im Apfelgarten

Roman

Aus dem Englischen von Simone Jakob und Anne-Marie Wachs

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Sophie Henderson liebt ihren Job bei Carter’s Cider in Little Somerby. Als Kellermeisterin ist sie für den einzigartigen Geschmack des Ciders verantwortlich, doch gern würde sie mehr Verantwortung in dem Familienunternehmen übernehmen. Nach dem Tod seiner Mutter möchte sich der Kanadier Alex Fraser endlich den Traum einer eigenen Cider-Kellerei erfüllen. Er kommt nach Little Somerby, um bei Carter’s Sophie alles über die traditionelle Cider-Herstellung zu lernen. Sophie wird seine Mentorin. Sofort spüren beide eine starke Anziehung - und kommen sich auch privat bald näher. Doch was Sophie nicht weiß: Alex hat einen weiteren Grund, warum er ausgerechnet nach Little Somerby gekommen ist. Kann er Sophie die Wahrheit erzählen, ohne die neue Liebe zu gefährden?

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

Frühling

Danksagung

 

 

 

 

Für Mum und Dad … für alles

1

Sophie Henderson blickte in das Meer teilnahmsloser Gesichter und musste schlucken. Egal wie oft sie sich sagte, dass alles gut gehen würde und dass es keine große Sache war, ihre ehemalige Schule zu besuchen und von ihrer Arbeit zu erzählen – für sie war das alles andere als eine Kleinigkeit. Es hat schon seinen Grund, weshalb ich nie Lehrerin werden wollte, dachte sie, während Mr Jones, der Oberstufenleiter, sich immer noch mit der Begrüßung aufhielt.

Die Aula der Churchwell School hatte sich in den gut zehn Jahren seit Sophies Schulabschluss kaum verändert, und so fühlte sie sich auf unangenehme Weise wieder wie damals als Schülerin – auch wenn sie wusste, wie viel Zeit vergangen war, seit sie selbst da unten gesessen und Matthew Carter, der Geschäftsführer von Carter’s Cider, den gleichen Vortrag über die Firma gehalten hatte wie jetzt sie selbst. Dass die Schüler in ihrer beneidenswert jugendlichen Frische sie von ihren Plastikstühlen aus eindeutig gelangweilt anstarrten, trug nicht gerade dazu bei, ihre Nerven zu beruhigen. Hatte sie selbst damals auch so dreingeschaut, als Matthew zum Berufs-Informationstag gekommen war? Hoffentlich nicht.

»Daher bin ich überzeugt, dass Sophie nicht nur mit den Mythen aufräumen wird, die sich um die Arbeit einer Kellermeisterin ranken, sondern auch erläutern kann, warum ein Job bei Carter’s Cider genau das Richtige für euch sein könnte.« Als Mr Jones mit seiner Einführung fertig war, warf er Sophie einen Blick zu, die sich daraufhin etwas zu schnell von ihrem Stuhl erhob, sodass dieser gefährlich ins Schwanken geriet, ehe er lautstark wieder auf die Holzdielen des Podiums zurückkippte. Sie versuchte, nicht an ihre weichen Knie zu denken, und schaute mit aufgesetztem Lächeln ins Publikum, das nicht ganz freiwillig dort ausharrte.

»Guten Morgen«, sagte sie, wobei ihre Stimme im Saal leicht hallte. »Ich freue mich sehr, dass ich heute hier sein darf.«

Als sie eine kurze Pause zum Luftholen machte, war sie sich sicher, aus der ersten Reihe ein geflüstertes »Wenigstens eine« zu hören.

»Ich hoffe, ich kann heute all eure Fragen über die Arbeit bei Carter’s Cider beantworten. Vielleicht spielen ja ein paar von euch mit dem Gedanken, sich nächsten Sommer nach den Prüfungen bei uns auf eine Lehrstelle zu bewerben.«

»Klar, wenn wir uns mit dem Cider die Kante geben dürfen!«, sagte ein Schüler, gefolgt von lautem Gelächter.

Sophies Lächeln verrutschte leicht. »Also, lustig, dass du das erwähnst, denn die Cider-Verkostung ist tatsächlich Teil meiner Arbeit. Wer weiß, vielleicht gehört das dann auch zu euren Aufgaben. Natürlich nur, wenn ihr alt genug seid, um Alkohol zu trinken.«

Da sich der Zwischenrufer durch Sophies Schlagfertigkeit, wie die Schüler es sagen würden, »voll blamiert« hatte – jedenfalls hatte sie ihm damit den Wind aus den Segeln genommen –, lachte das Publikum jetzt noch lauter, und Sophie fühlte sich dadurch so ermutigt, dass die Anspannung von ihr abfiel. Sie hatte nur deshalb eingewilligt, am Berufs-Informationstag einen Vortrag zu halten, weil David Armitage, der Leiter der Cider-Produktion, versehentlich noch einen anderen Termin zur selben Zeit hatte und, wie er selbst einräumte, »für eine Rede vor den jungen Leuten ohnehin schon etwas zu betagt« sei. Selbst mit ihren neunundzwanzig Jahren spürte Sophie während ihres Vortrags deutlich den Altersunterschied zum Publikum, doch seit ihrem Schulabschluss war ja auch viel passiert. Nach zehn Jahren im Cider-Geschäft war sie zur stellvertretenden Leiterin der Cider-Produktion aufgestiegen und zudem eine engagierte und eloquente Rednerin.

Erst als Sophie ihren Vortrag beendet hatte und für Fragen zur Verfügung stand, spürte sie wieder einen Anflug von Nervosität. Was, wenn sich keiner der Schüler meldete? Sollte sie einfach stehen bleiben oder sich wieder setzen? Mr Jones hatte nicht genau gesagt, was im Anschluss passieren sollte. Zum Glück hob jemand in einer der vorderen Reihen die Hand. Sophie seufzte erleichtert.

»Also, Sie probieren den Cider, bevor er Ihre Fabrik verlässt, oder?«

»Genau.«

»Und was machen Sie, wenn er nicht schmeckt? Schütten Sie den dann weg oder wie?«

»Na ja.« Sophie schmunzelte. »Glücklicherweise kommt das nicht sehr oft vor, denn unser Cider ist ziemlich gut, das finden sowohl wir als auch unsere Kunden. Wobei …« Sie machte eine kleine Kunstpause. »Vor einem Jahr gab es einen Vorfall, nach dem wir ungefähr siebzigtausend Pints aus einem der Eichenbottiche in der Scheune entsorgen mussten.«

»Siebzigtausend!«, staunte Mr Jones. »Das scheint mir eine unerhörte Verschwendung. Ich bin sicher, dafür hätte durchaus noch jemand Verwendung gefunden.« Er deutete grinsend auf sich selbst. Die Schüler lachten halbherzig über seinen lahmen Versuch, witzig zu sein.

»Das glaube ich kaum«, entgegnete Sophie mit einem freundlichen Kopfschütteln. »Schließlich verunreinigt es das Produkt schon ein bisschen, wenn jemand in einen Cider-Bottich geworfen wird!«

Die Oberstufenschüler wirkten plötzlich deutlich interessierter. »Kommt so etwas öfter vor?«, fragte Mr Jones.

»Nein, Gott sei Dank nicht. Und ich glaube, man kann sich das nur erlauben, wenn einem das Unternehmen gehört.« Sophie hatte natürlich auf den Abend angespielt, als Jonathan Carter, das schwarze Schaf der Familie und damals Miteigentümer von Carter’s Cider, einen Mann, der die Liebe seines Lebens bedroht hatte, in einen der alten Eichenbottiche geworfen hatte. Jonathan hatte den Kerl schließlich der örtlichen Polizei übergeben, und wenngleich die Details des Falls nie an die Öffentlichkeit gedrungen waren, war die Episode im Ort zur Legende geworden. Schließlich handelte es sich um die spektakulärste Cider-Zutat, seit Jonathans inzwischen verstorbener Vater Jack Carter in den frühen Achtzigerjahren die Rezepturen seines Großvaters abgewandelt hatte und eine Reihe von Landwirten im Dorf deswegen eine Traktordemonstration vor den Toren der Cider-Farm organisiert hatten.

»Es hat vier Tage gedauert, den Bottich zu leeren, zu säubern und mit neuem Vintage-Verschnitt zu füllen. Das hat die Produktion für eine Weile unterbrochen, aber glücklicherweise hat der Mann keinen allzu großen Schaden angerichtet.«

»Ist er denn nicht ertrunken?«, rief einer der Schüler.

»Jeder Bottich ist innen mit einer Edelstahlleiter ausgestattet, damit die Fassmacher hineinsteigen können, wenn Reparaturen anstehen«, antwortete Sophie. »Und dem Mann wäre zwar ziemlich kalt geworden, aber er hätte auch bis zu seiner Befreiung Wasser – oder Cider – treten können.«

»Wäre auch nicht die schlechteste Art, den Löffel abzugeben«, fügte Mr Jones mit einem Grinsen hinzu. Wieder lachten die Anwesenden pflichtbewusst. »Danke, Sophie, für diesen informativen Einblick in Ihren Beruf und das Unternehmen, für das Sie arbeiten. Und wenn jemand Interesse hat, sich nächstes Jahr auf einen Ausbildungsplatz zu bewerben, am Ausgang liegen Informationsblätter, die ihr nachher beim Rausgehen mitnehmen könnt.« Er schüttelte Sophie die Hand, sagte leise: »Gut gemacht«, und sie ging von der Bühne.

Als sie hinter dem Vorhang die Stufen hinabsteigen wollte, erstarrte sie plötzlich. Ein schmerzlich vertrauter Aftershaveduft hing in der Luft. Sie wartete im Dunkeln oben an den Stufen und verfluchte ihre zittrigen Beine.

»Nach dir, Sophie«, flüsterte eine Stimme. »Toller Vortrag übrigens.«

»Was machst du denn hier?«, murmelte Sophie und versuchte, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen.

»Wahrscheinlich das Gleiche wie du.« Vorsichtig stieg sie die ausgetretenen Holzstufen hinab und näherte sich dabei der Gestalt. »Ich werde den Schülern hier einen Vortrag darüber halten, dass man für seinen Lebensunterhalt arbeiten muss.«

»Ich bezweifle, dass du dafür qualifiziert bist.« Sophie wollte an ihm vorbeigehen, doch er streckte den Arm aus und hielt sie zurück. Als sie aufblickte, sah sie ihrem Ex-Freund in die Augen – Mark Simpson, Chef eines Molkereibetriebs, der ein paar Meilen von der Schule entfernt lag. Bei der Erinnerung an ihre letzte Begegnung versetzte es ihr einen Stich, und sie hoffte, dass er das Thema nicht hier, in Hörweite der versammelten Oberstufenschüler, ansprechen würde.

»Sei doch nicht so«, entgegnete Mark, die Hand immer noch an ihrem Ellbogen. »Warum gehen wir heute Abend nicht was trinken? Um über alles zu reden?«

»Es gibt nichts zu bereden.« Sophie zog ihren Arm zurück. »Und da du das letzte Mal mit mir reden wolltest, als ich dich dabei erwischt habe, wie du deine Verwaltungsmitarbeiterin gevögelt hast, in diesem Witz von einem Büro, wo du arbeitest, denke ich, du wirst mir ebenfalls nicht viel zu sagen haben.« Sie hob den Kopf und ging geradewegs Richtung Ausgang, ohne der Versuchung zu erliegen, sich noch einmal umzuschauen. Sie blieb nur kurz stehen, um sich aus dem Besucherbuch auszutragen, dann verließ sie das Schulgebäude. Als sie bei ihrem Wagen angelangt war, zitterten ihre Hände kaum noch.

Bevor sie den Motor anließ, nahm sie ihr Telefon zur Hand und schaute in ihre E-Mails. Ganz oben in ihrem Posteingang fand sich wieder mal eine Mail von einer konkurrierenden Cider-Farm, Martingtons in Herefordshire. Eine alte Bekannte dort versuchte schon seit Jahren, sie von Carter’s abzuwerben, und mit jeder Mail von Alannah wurde das Jobangebot attraktiver. Sophie schwankte immer noch: Sollte sie kündigen und den Schritt in eine neue Karrierephase wagen, die Sicherheit und das Vertraute aufgeben, ihre Komfortzone verlassen? Oder sollte sie bei Carter’s bleiben und hoffen, dass David, sosehr sie ihn mochte, irgendwann in naher Zukunft den Verkostungskrug an sie weiterreichen würde?

Sophie beschloss, das Angebot heute nach der Arbeit genauer zu prüfen, und warf einen Blick auf die anderen Nachrichten. Eine E-Mail von ihrer Großmutter Lily mit vielen Bildern im Anhang war auch darunter. Lily, von Beruf Liebesromanautorin, hatte jüngst Pinterest für sich entdeckt und war eifrig damit beschäftigt, virtuelle Pinnwände mit Bildern von »umwerfenden männlichen Hauptfiguren« zusammenzustellen, die sie bei der Arbeit an ihrem neuesten Roman inspirieren sollten. Lilys aktueller »Held« war Keanu Reeves, und Sophie hatte in den letzten Monaten schon einige gemütliche Abende auf Lilys Sofa verbracht und sich mit ihr durch seine umfangreiche Filmografie gearbeitet. Lily war, wie bei einer Autorin von Liebesromanen nicht anders zu erwarten, besonders von The Lake House und Sweet November angetan, während Sophie eher die John Wick-Filme mochte. Schmunzelnd scrollte sie durch die E-Mail, die mindestens zehn Bilder von Keanu enthielt, und beschloss, nach der Arbeit bei ihrer Großmutter vorbeizuschauen. Wenigstens hatte diese Mail sie nach der Begegnung mit Mark ein wenig aufgeheitert, dachte sie, als sie vom Schulparkplatz zurück zu Carter’s Cider fuhr. Mit ihrem Ex wollte sie sich keine Sekunde länger beschäftigen als unbedingt nötig.

2

Donnerwetter … schau mal, wer da gerade mit dem Chef reinkommt.«

Sophie hob bei Lauras Bemerkung ruckartig den Kopf. Den ganzen Vormittag über, seit sie von der Churchwell School zurückgekommen war, hatte sie mit ihrer Kollegin auf der Filtrationsebene gearbeitet, völlig versunken in die Welt von Tanninen, Timing und Tests. »Was? Wer?« Sie prüfte noch den Druck der Cider-Charge, deren Verkostung anstand, und wandte sich dann in die Richtung, in die Laura, eine Hand in die Seite gestemmt, nicht gerade unauffällig deutete. Matthew Carter kam auf sie zu, begleitet von einem großen, dunkelhaarigen, auffallend gut aussehenden Fremden. Der Unbekannte trug leicht ausgeblichene Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber ein offenes kariertes Hemd. Er war genauso groß wie Matthew und von ähnlicher Statur. Sophie versuchte, den Mann mit seinen langen, nicht ganz geraden Beinen, den muskulösen Armen, dem schlanken Oberkörper und dem freundlichen Lächeln, mit dem er alles und jeden bedachte, nicht allzu offensichtlich anzustarren. Japp, Donnerwetter, dachte sie, während Matthew und der Unbekannte näher kamen.

Von der anderen Seite der Plattform schritt ihr Chef David auf die beiden Männer zu. Er schüttelte dem Besucher die Hand und bedeutete Sophie, sich zu ihnen zu gesellen. Sie ignorierte Lauras neidischen Blick und folgte der Aufforderung.

»Sophie, ich möchte dir Alex Fraser vorstellen«, sagte Matthew. »David hat vorgeschlagen, dass du ihn den Sommer über während seines Praktikums betreust, denn Alex möchte mehr über die verschiedenen Apfelsorten aus Somerset erfahren, die wir hier verarbeiten.«

Alex’ Händedruck war warm und kräftig, und Sophie gefiel, wie er ihr direkt in die Augen sah. »Schön, Sie kennenzulernen, Sophie.«

»Ebenso.« Ja, natürlich, jetzt fiel ihr auch wieder ein, dass sie besprochen hatten, einen Praktikanten einzustellen. Sie war gedanklich so mit ihrem Vortrag vor den Oberstufenschülern beschäftigt gewesen, dass ihr ganz entfallen war, dass David für den Sommer ein Praktikum ausgeschrieben hatte, das nicht so gut bezahlt war wie die Lehrstellen und von Ende Juni bis September dauern sollte. Sophie hatte einen pickligen Teenager aus der Schule hier im Dorf erwartet, der sich mehr mit seinem Smartphone beschäftigen würde, als etwas über das Handwerk zu lernen. Mit so einem umwerfend aussehenden Mann hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Seinem Akzent nach stammte er auch nicht aus der Gegend.

»Alex ist aus Vancouver rübergekommen, um herauszufinden, ob unsere heimischen Somerset-Äpfel mit kanadischen Sorten kombiniert werden könnten«, fuhr Matthew fort. »Ich denke, er sollte unser Unternehmen von Grund auf kennenlernen. Daher wird er während seiner Zeit bei uns mit verschiedenen Kollegen zusammenarbeiten, hauptsächlich aber mit dir und David – damit er wirklich ein Gefühl fürs Mischen und Verkosten bekommt. Ich hoffe, dass wir alle auf lange Sicht voneinander lernen können.« Er wandte sich nun wieder Alex zu. »Alex, ich gebe dich jetzt in Sophies und Davids kompetente Hände. Ich wünsche dir eine erfolgreiche und angenehme Zeit bei uns. Wenn du Fragen hast, kannst du dich jederzeit an mich oder meinen Bruder Jonathan wenden.«

»Danke«, sagte Alex lächelnd. Er und Matthew schüttelten sich die Hand, und Matthew verabschiedete sich.

»Also, was führt dich – sagen wir doch gleich du – zu Carter’s Cider?«, fragte Sophie, während sie mit Alex und David dorthin schlenderte, wo sie kurz zuvor mit Laura gearbeitet hatte. »Für ein Praktikum mit Mindestlohnvergütung hast du ja eine weite Reise auf dich genommen!«

»Ja, aber das ist okay. Ich habe vor Kurzem eine Cider-Kelterei in der Nähe von Vancouver gekauft, und bevor ich richtig loslege, wollte ich mich schlaumachen, wie man so ein Geschäft am besten aufzieht. Auf Carter’s bin ich gekommen, weil ich hier etwas über englische Apfelsorten lernen kann, das sind die weltbesten Cider-Äpfel. Ich hab mich zwar gründlich über die heimischen kanadischen Sorten informiert, aber ich will eine original anglo-kanadische Mischung kreieren, die würde sich in Kanada sehr gut verkaufen.«

»Was ist mit französischen Sorten? Es gibt ein, zwei aus Frankreich, die wir für unsere Rezepturen nutzen, und sicherlich sind doch einige mit den französischen Siedlern nach Kanada gekommen?«

»Ja, natürlich«, erwiderte Alex hastig. »Aber die werden hauptsächlich in Quebec genutzt, wo die Anbaubedingungen etwas anders sind. Ich suche dezidiert englische Sorten, die robust genug sind, um einen Winter in Vancouver zu überstehen.«

»Na, dann bist du hier genau richtig.« Sophie konnte Alex’ Begeisterung für sein Projekt spüren. Neue Craft-Keltereien schossen überall wie Pilze aus dem Boden, daher war es für Sophie nicht überraschend, dass man sich auch im Ausland für Carter’s Cider interessierte; sie waren schließlich eine der größten Marken in Großbritannien. »Wenn du was über englische Äpfel lernen willst, sind wir die richtige Adresse. Leider lebt Jack Carter nicht mehr – Matthews und Jonathans Vater. Er wusste einfach alles über den Apfelanbau.«

»Davon habe ich gehört«, erwiderte Alex, und obwohl er es leichthin aussprach, hatte Sophie bemerkt, dass er sich vorher kurz auf die Lippen gebissen hatte; anscheinend war er wirklich nervös, weil er einen guten Eindruck machen wollte.

»Hier gibt es jede Menge zu lernen«, sagte sie, »wundere dich also nicht, wenn dir heute Abend der Kopf schwirrt!«

Die beiden verabschiedeten sich von David und machten sich auf den Weg nach draußen in den Haupthof, wo sich die Obstwaschanlage befand. »Stehst du schon lange auf Cider?«, fragte Sophie im Gehen, musste aber sofort schallend lachen. »Tut mir leid, das war eine blöde Formulierung. Was ich meine, ist: Warum willst du eine Cider-Farm betreiben?«

»Ich möchte mich beruflich verändern«, erklärte Alex, als sie blinzelnd ins helle Licht der Frühsommersonne traten. »Ich bin … also, ich war Anwalt, aber mich hat schon immer etwas Kreativeres gereizt. Als der Obstgarten in der Nähe meiner Eltern zum Verkauf stand, dachte ich, es wäre die perfekte Gelegenheit für einen Neubeginn.«

»Und was halten sie davon? Deine Eltern, meine ich?«

Alex zögerte einen Moment, ehe er antwortete. »Meine Mutter ist Ende letzten Jahres gestorben, aber ich glaube, ihr hätte die Idee gefallen. Mein Stiefvater hat mich sehr unterstützt, aber er ist leider auch nicht mehr bei bester Gesundheit.«

»Das tut mir leid«, sagte Sophie betroffen.

»Danke.« Alex schüttelte den Kopf und lächelte schwach. »Mom hat in der Nähe gelebt und mochte die Gegend sehr, daher denke ich, sie hätte es toll gefunden, dass ich dort etwas Neues auf die Beine stelle. Aber wenn es funktionieren soll, brauche ich einen Crashkurs in Cider-Rezepturen. Es ist ein großer Unterschied, ob man daheim ein paar Flaschen herstellt oder das Ganze in großem Maßstab betreibt, zumindest vermute ich das, und daher freue ich mich darauf, bei Carter’s möglichst viel zu lernen – auch von dir.«

»Das wirst du garantiert.« Sophie war erleichtert, dass das Gespräch wieder in weniger heikle Fahrwasser gelangt war. »Du wirst mit einer Menge Ideen im Gepäck nach Hause fliegen.« Sie schaute auf ihrem iPad nach, was für heute noch auf dem Programm stand. In dieser Jahreszeit, wo man sich im Cider-Geschäft auf die erste Apfelpressung im Spätsommer vorbereitete, war gute Planung das A und O. »Wollen wir gleich loslegen?«

»Gern«, antwortete Alex. Es kam Sophie vor, als würde sein Blick einen Moment zu lange auf ihr ruhen, und sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie hatte es sich zur Regel gemacht, sich in niemanden aus ihrem Arbeitsumfeld zu verlieben, und sich auch zehn Jahre lang daran gehalten. Romanzen am Arbeitsplatz brachten einfach zu viele Probleme mit sich, fand sie. Sie hatte miterlebt, wie verzweifelt Laura nach der Trennung von ihrem letzten Freund gewesen war, der immer noch in der Abfüllung arbeitete, und Sophie wollte nichts mit jemandem anfangen, dem sie, falls es schiefging, jeden Tag über den Weg laufen würde. Und seit ihrem Liebeskummer wegen Mark war sie noch vorsichtiger. Aber Alex war attraktiv, das ließ sich nicht bestreiten.

Sie schob den Gedanken beiseite und führte Alex jetzt zu den achtundvierzig riesigen Stahltanks, die darauf warteten, mit der Apfelmischung befüllt zu werden, welche sich wie von Zauberhand durch natürliche Fermentation in die beliebten Sorten von Carter’s Cider verwandeln würde. Das war buchstäblich das industrielle Herz des Unternehmens, und als Sophie Alex erklärte, dass hier jeden Tag Tausende Pints Cider produziert wurden, schüttelte er staunend den Kopf.

»Diese Stahltanks kommen aus Deutschland«, sagte sie, als sie an den riesigen, knapp acht Meter hohen, makellos glänzenden Behältern hochschauten, die die Wände der Fermentationsebene säumten. »Jedes Mal, wenn wir einen ersetzen müssen, wird er per Kran durchs Dach auf einen Tieflader gehoben und der neue mit dem Kran hinuntergelassen. Das Dach lässt sich öffnen, aber regnen darf es an dem Tag nicht, sonst gibt es hier drinnen eine Überschwemmung.«

Sie setzten ihren Rundgang fort, und Sophie zeigte ihm ihren Lieblingsplatz auf der Farm: den Ort, wo die Eichenbottiche standen. Beim Öffnen des Scheunentors hielt sie inne und atmete den Duft der alten Eichendauben ein. Die dunklen Holzbottiche strahlten etwas Geheimnisvolles und Zeitloses aus. Sie waren der ganze Stolz des Unternehmens. »Ihre Geschichte reicht bis in die Anfangszeit der Firma zurück«, erklärte Sophie und drückte das Tor weiter auf, damit Alex hindurchgehen konnte. »Solche Bottiche haben die Leute vor Augen, wenn sie an Cider denken, obwohl heutzutage nur die ganz besonderen Sorten darin lagern – Eloise natürlich und die Vintage-Jahrgänge, und der ziemlich starke Somerset Sprite.« Sie gingen zum ersten Bottich, und Sophie legte für einen Moment die Hand auf das Holz. Die Eichenbottiche waren zehn Meter hoch und hatten einen Durchmesser von viereinhalb Metern. Früher hatte darin feinster schottischer Whisky gelagert. Ihr Holz war nach jahrzehntelanger Nutzung rau und dunkel geworden. Es schien, als würde es noch leben, atmen, sie beobachten.

Alex ging um den Bottich herum und legte den Kopf in den Nacken, um den Anblick ganz in sich aufzunehmen. »Wunderschön«, sagte er leise. »Überwältigend.« Er folgte Sophies Beispiel und legte eine Hand auf die Seitenwand des nächsten Bottichs, erspürte die raue Oberfläche.

»Ja, atemberaubend«, stimmte Sophie ihm zu. Unwillkürlich ließ sie ihren Blick von Alex’ Gesicht zu seinen Händen, seinen Fingern wandern, die über die Eichendauben strichen; von dort zu seinem Mund und dann einmal über seinen Körper. Alex schien ganz im Augenblick versunken. Sophie spürte etwas in sich aufblitzen, was ziemlich eindeutig Anziehung war. Mit großen Augen und leicht geöffneten Lippen schien er wie gebannt vom Anblick, dem Duft und der Textur der alten Holzbehälter in der Scheune. Reiß dich zusammen, dachte Sophie. Denk dran, keine Beziehungen am Arbeitsplatz!

Alex kam wieder in die Gegenwart zurück und ließ die Hand sinken. »Ich wünschte, ich könnte mir solche Bottiche für Adelaide’s leisten, aber vermutlich lässt sich etwas in dieser Größenordnung bei mir nicht unterbringen.«

»Im Laden haben wir auch ein paar kleinere Fässer«, bemerkte Sophie. »In den nächsten Wochen wirst du sicher genug Gelegenheit haben, sie dir anzusehen und alles zu verkosten. Wobei du im Hinterkopf behalten solltest, dass manche unserer Sorten dir einen ziemlichen Kater bescheren können, wenn du zu viel des Guten genießt!« Sie erinnerte sich noch gut an einige Nächte, die der Somerset Sprite sie in ihrer Teenagerzeit gekostet hatte.

»Ich hoffe es.« Alex sah Sophie an, und sie war überrascht von der Intensität seines Blicks. Doch beinahe jeder, der die Eichenbottiche zum ersten Mal sah, war von ihnen beeindruckt, sie hatte das bereits unzählige Male miterlebt. Die bloße Präsenz der riesigen Behälter reichte aus, um selbst dem wortgewandtesten Menschen die Sprache zu verschlagen; und das, noch bevor er überhaupt deren Inhalt hatte kosten können.

»Es ist so wunderbar, hier zu sein und von den Profis zu lernen«, fuhr Alex fort und schien seine Gedanken zu ordnen. »Harter Cider ist in Kanada noch nicht so verbreitet.«

»Harter Cider?«

»Der mit Alkohol drin. Wenn man in Kanada Cider bestellt, dann kriegt man mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach nur Apfelsaft. Wobei der Eis-Cider natürlich schon fermentiert ist.«

»Eis-Cider?«, fragte Sophie erstaunt. Sie kannte sich mit Cider sehr gut aus, aber davon hatte sie noch nie gehört.

Alex schien sich zu freuen, dass er einer Cider-Expertin noch etwas Neues erzählen konnte. »Er wird vorwiegend in Quebec hergestellt, aus gefrorenen Äpfeln. Und er kann ganz schön stark geraten.«

»Klingt so, als könntest du mir auch noch das eine oder andere beibringen!«, lachte Sophie, dann errötete sie. »Vielleicht sollten wir einen Gegenbesuch bei deiner Firma organisieren.«

Alex lachte ebenfalls. »Gib mir erst mal Gelegenheit, Adelaide’s zum Laufen zu bringen, dann kannst du mich gern besuchen, wann immer du willst.« Er blickte ihr in die Augen, und Sophie spürte, wie ihr noch wärmer wurde.

Um die Anspannung abzuschütteln, schlug sie vor, ins Büro zurückzukehren. Neben den vielen praktischen Dingen, die man sich abschauen konnte, gab es für einen Praktikanten bei Carter’s einiges über die Firma nachzulesen und zu lernen, und Sophie wollte, dass er so bald wie möglich damit anfing. Schließlich hatte Alex nur ein paar Monate Zeit, um sich alles anzueignen.

Als sie die Scheune verließen und er voranging, fiel Sophie auf, dass sein o-beiniger Gang doch recht ausgeprägt war. Sie fragte sich, was der Grund dafür sein mochte. Ein ehemaliger Profi-Rugbyspieler, mit dem sie mal ausgegangen war, hatte einen ähnlichen Gang gehabt; vielleicht ein Sportunfall? Dann gab sie sich einen Ruck und wandte den Blick von ihm ab, sie wollte schließlich nicht dabei erwischt werden, wie sie den Praktikanten begaffte. Sophie schloss das Scheunentor und ging mit Alex zurück ins Büro, das sie sich mit David teilte und wo auch Alex für die Dauer seines Praktikums seinen Arbeitsplatz haben würde.

Der Rest des Tages verging wie im Flug, und Sophie war erleichtert. Sie hatte zwar nichts dagegen, Alex unter ihre Fittiche zu nehmen, aber sie musste sich noch daran gewöhnen, bei der Arbeit jemanden dabeizuhaben, der ihr folgte wie ein Schatten.

Als sie gerade nach Hause gehen wollte und noch überlegte, ob sie auf dem Heimweg bei ihrer Großmutter vorbeischauen sollte, sah sie, wie Alex und Matthew gemeinsam über den Hof schlenderten. Alex war gegen Ende des Arbeitstages in Matthews Büro gebeten worden, um von seinen ersten Eindrücken zu berichten, und Sophie war überrascht, dass die beiden immer noch in ein Gespräch vertieft waren. Erneut stach ihr die Ähnlichkeit der beiden Männer ins Auge. Sie beschloss, Lily heute nicht mehr zu besuchen; sie wollte nicht, dass ihre Großmutter sie über den neuen Praktikanten ausquetschte. Denn sicher hatte sie bereits über den Dorftratsch erfahren, dass der Mann, den Sophie bei Carter’s betreute, nicht irgendein Abgänger der örtlichen Sekundarschule war, und sie wusste, dass Lilys Gedanken unweigerlich eine ganz bestimmte Richtung einschlagen würden. Der Himmel bewahre, dass ihre Großmutter ihm einmal begegnete, dachte Sophie mit einem Kopfschütteln und machte sich auf den Nachhauseweg.

3

Hallo, mein Lieber!«, rief Brenda, die resolute Pensionswirtin des Rose Cottage Bed and Breakfast, kaum dass Alex den Schlüssel im Schloss gedreht und die schwere Eingangstür geöffnet hatte. »Hatten Sie einen angenehmen Tag?«

»Ja, danke, Ma’am«, antwortete Alex und ging mit zügigen, auf den Steinfliesen hallenden Schritten durch den kühlen Flur zur Treppe. Er sah, wie Brenda im Wohnzimmer geschäftig herumging, die Zeitschriften auf dem makellos glänzenden Couchtisch zurechtrückte und einen Staubwedel zückte, um den Nippes auf dem Kaminsims zu säubern. Ihr Ehemann Roy saß derweil zusammengesunken in seinem Sessel und schaute die Vorabendnachrichten. Alex ging noch schneller. Die zentrale Lage des B&B war für ihn günstig, aber Brenda hatte sich als Quasselstrippe erwiesen, und nach einem langen ersten Tag bei Carter’s brauchte er Zeit für sich allein, um seine Gedanken zu ordnen.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, erreichte er den Treppenabsatz und betrat sein Zimmer. Das Bett war auch heute ordentlich gemacht; beinahe zu ordentlich für seinen Geschmack, und von einem Krug mit einem Strauß Gartenwicken, den Brenda auf den kleinen Schreibtisch in der Zimmerecke gestellt hatte, ging ein beinahe erdrückender Duft aus. Alex’ Rollkoffer befand sich unter dem Bett, seine Kleidung hing fein säuberlich auf Bügeln in dem kleinen Kiefernholzschrank an der gegenüberliegenden Wand. Er griff unters Bett und zog den Koffer hervor, den er mit einem Vorhängeschloss gesichert hatte.

Er sah sich um, um sich zu vergewissern, dass die Zimmertür zu war, öffnete das Schloss und das Reißverschlussfach auf der Deckelinnenseite, zog den darin verborgenen Packen Papiere hervor und setzte sich auf den Bettrand. Seine Hände zitterten, während er das rote Band löste, das das Bündel von etwa einem halben Dutzend Briefen zusammenhielt, Briefe, die so leidenschaftlich waren, dass er beim ersten Lesen kaum hatte glauben können, dass sie wirklich für ihre ursprüngliche Adressatin gedacht waren. Zuunterst in dem Konvolut befand sich ein in der Mitte und an einer Ecke leicht geknicktes und im Laufe der Jahre vergilbtes Foto. Es verriet mehr, als die Briefe je hätten sagen können, und Alex betrachtete es eine Weile und versuchte, eine Verbindung dazu zu bekommen. Er hatte die Aufnahme wohl schon tausendmal betrachtet, seit seine Mutter ihm das alles hinterlassen hatte, aber es hatte ihn der Wahrheit noch kein Stück näher gebracht.

»Möchten Sie Abendessen, mein Lieber?«, rief Brenda so laut vom Fuß der Treppe herauf, dass man es durch die geschlossene Tür hören konnte.

Alex zuckte zusammen, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem ertappt. »Nein danke, Ma’am. Ich gehe gleich noch eine Runde laufen und werde mir später etwas zu essen besorgen.« Er konnte sich einfach nicht an die englische Bed-and-Breakfast-Kultur gewöhnen, nach der man seiner Vermieterin offenbar jederzeit Rechenschaft schuldig war. Als er als Kind mit seiner Mutter Fawlty Towers geschaut hatte, hatte er gedacht, das in der Serie Gezeigte sei zu absurd, um wahr zu sein, doch im realen Gastgewerbe schienen sich durchaus Elemente dieser beliebten britischen Sitcom wiederzufinden, zumindest hier in Little Somerby. Brenda hatte unbestreitbar etwas von Sybil Fawlty. Sorgfältig band er die Briefe wieder zusammen und legte sie zurück in den Koffer, wobei er darauf achtete, ihn wieder mit dem Vorhängeschloss zu sichern, ehe er ihn unters Bett schob. Es wäre keine gute Idee, die Briefe offen herumliegen zu lassen.

Er zog sich rasch seine Laufkleidung an und verließ sein Zimmer. Beim Joggen würde er den Kopf freibekommen. Es gab so viel zu verarbeiten, nicht nur die Informationsflut, von der Sophie Henderson heute früh bei ihrem Kennenlernen augenzwinkernd gesprochen hatte. Den ganzen Sommer auf einem anderen Kontinent zu verbringen, für einen Job anzureisen, dessen Bezahlung kaum ausreichte, um davon die wöchentliche Zimmermiete im B&B zu berappen, die Aussicht, beruflich einen ganz neuen Weg einzuschlagen, die Bekanntschaft mit neuen Leuten … von all dem fühlte er sich überwältigt. Von den weiteren, eher privaten Gründen für den Besuch in England ganz zu schweigen.

Alex fiel in einen Laufschritt und versuchte, auf den schmalen Gehwegen von Little Somerby sein Tempo zu finden, bis er zur Strawberry Line gelangte, die parallel zum Dorfkern verlief. Es war eine ehemalige Nebenstrecke der Eisenbahn, die in den 1960er-Jahren stillgelegt worden war und nun als Fuß- und Fahrradweg diente. Sie führte vom für seinen Käse bekannten Dorf Cheddar durch die Eisenbahnstadt Yatton und sollte, so war es geplant, einmal das pittoreske Küstenstädtchen Clevedon mit Yeovil im Süden verbinden. Der Weg war bei Ortsansässigen und Touristen beliebt und bot einen großartigen ersten Eindruck von der Landschaft Somersets – so hieß es zumindest im Faltblatt, das im B&B auslag. Alex hatte zwar keine Lust, das ganze Stück von Little Somerby bis nach Cheddar zu laufen, was eine acht Meilen lange Runde bedeutet hätte, wollte aber den stillgelegten Eisenbahntunnel sehen, der etwa auf der Hälfte der Strecke lag.

Allmählich fand er seinen Rhythmus. Zu beiden Seiten der Strawberry Line wuchsen Eichen und Holundersträucher, die in voller Blüte standen und ihren milden Duft in der Abendluft verströmten. Alex kam am Gelände des örtlichen Fußballvereins vorbei und musste schmunzeln, als er dort eine Gruppe Grundschüler beim Kicken sah. Dass die Saison schon zu Ende war, tat der Begeisterung keinen Abbruch. Alex joggte vorbei an Weideland, wo Mutterschafe mit kehligen Lauten nach ihren Lämmern riefen, die träge zurückblökten. Die Luft begann sich jetzt zum Abend hin abzukühlen, das Geißblatt in den Hecken schwankte sanft im Wind, und seine Blüten gaben den ihnen eigenen, lieblichen Duft ab. Langsam spürte Alex, wie die Anspannung des Tages von ihm abfiel.

Als er sich dem Eisenbahntunnel näherte, wurde die Luft kühler und feuchter. Der Tunneleingang war zu beiden Seiten von Felsgestein gesäumt, das mit leuchtend grünem Farn und Moos bewachsen war. In freudiger Erwartung zog Alex das Tempo ein wenig an und joggte auf den gähnenden Tunnelschlund zu. Er konnte das Licht von der anderen Seite sehen und dort einen entgegenkommenden Radfahrer ausmachen, also hielt er sich links, weil er annahm, dass hier die gleichen Verkehrsregeln galten wie auf den Straßen. Als er in den Tunnel hineinlief, merkte er zu spät, dass die solarbetriebene Beleuchtung nicht funktionierte, was bedeutete, dass er die Strecke im mittleren Teil quasi blind würde zurücklegen müssen. Er hoffte, dass der Boden nicht zu uneben war, denn er war nicht sonderlich versessen auf einen Ausflug ins örtliche Krankenhaus.

Er wurde langsamer, um sich an die Dunkelheit und den Untergrund zu gewöhnen, und hörte seinen eigenen Atem von den Tunnelwänden widerhallen. Sie waren feucht vom Kondenswasser, das auch am Boden Pfützen bildete. Langsam konnte Alex die Unebenheiten der in den Fels geschlagenen Wände erkennen, die Konturen wurden nach und nach deutlicher, wie Geisterzüge aus längst vergangenen Zeiten. Ihm lief ein Prickeln über den Rücken, und unwillkürlich hielt er schneller auf das Licht zu. In der Ferne konnte er sehen, wie sich der Radfahrer näherte, doch es schien, als würde es endlos dauern. Er atmete schwerer und wartete auf den Augenblick, in dem die Dunkelheit dem Licht weichen würde.

Warum war er wirklich in Little Somerby?, fragte er sich beim Weiterlaufen. Was hoffte er, hier zu finden? Ging es wirklich um einen Neuanfang, oder versuchte er, sich an die Vergangenheit zu klammern, an Fragmente von Erinnerungen, die nicht einmal seine eigenen waren? War seine Entscheidung, eine Cider-Kelterei zu betreiben, bloß durch eine frühe Midlife-Crisis bedingt, oder glaubte er wirklich daran, dass er das Vorhaben zum Erfolg bringen könnte? Bereits nach einem einzigen Tag bei Carter’s schwirrte ihm der Kopf vor lauter Fragen. Wie würde er sich wohl nach einigen Praktikumswochen fühlen?

Als er sich dem Tunnelausgang näherte und es allmählich heller wurde, wanderten seine Gedanken wieder zu Sophie. Ihr herzliches Lächeln und ihre leuchtend blauen Augen hatten dafür gesorgt, dass er sich sofort wohlgefühlt hatte. Sie hatte professionell gewirkt und war offensichtlich sehr kompetent, und nach dem heutigen Tag mit ihr hatte er nicht nur Neues gelernt, sondern auch Spaß gehabt. Als er endlich hinaus ins Sonnenlicht gelangte, kam ihm der Gedanke, dass Sophie ihm eine gute Freundin werden könnte; vielleicht sogar noch mehr. Aber es brachte nichts, solchen Fantasien nachzuhängen; er war nur bis Ende September in England, danach würde er mit seiner Firma alle Hände voll zu tun haben. Und abgesehen davon war sein letzter Streckenrekord im Hinblick auf Frauen auch nicht gerade rühmlich gewesen. »Schwierig« war noch untertrieben. Wahrscheinlich war es gar nicht schlecht, dass er beschlossen hatte, nach dem Tod seiner Mutter auf Dates zu verzichten; er hatte schon genug um die Ohren, ohne dass er sich auch noch verliebte.

Alex beschleunigte sein Tempo nochmals, um Richtung Hauptstraße und zurück zum Dorfkern zu gelangen, ins Herz des Ortes, das, so fand er, das einzige Herz war, das ihn jetzt kümmern sollte. Er schob alle weiteren Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf dem Rückweg zum B&B ganz darauf, den Jetlag abzuschütteln.

4

Die erste Woche von Alex’ Praktikum verging überraschend schnell, und Sophie gewöhnte sich allmählich daran, ihn bei der Arbeit an ihrer Seite zu haben. Er war wissbegierig, stellte kluge Fragen und schien wirklich zuzuhören, wenn sie sie beantwortete. Ihr machte es sogar richtig Spaß, ihm etwas beizubringen. Über Privates hatten sie allerdings nicht viel gesprochen. Alex schien es vorzuziehen, nur über Geschäftliches zu reden, und Sophie hielt es ebenso. Sie war eher zurückhaltend, was ihr Privatleben betraf, umso mehr, seit sie sich von Mark getrennt hatte – der sich nach ihrer kurzen Begegnung hinter der Bühne am Berufs-Informationstag zum Glück nicht wieder gemeldet hatte. Eine Sache aber wollte sie doch zu gerne wissen: wie Alex das Rose Cottage B&B gefiel. Brendas Ruf eilte ihr voraus.

»Es ist in Ordnung«, lachte Alex. »Wenigstens habe ich keine lange Anfahrt. Ich fand es sinnvoller, mich für die Zeit meines Praktikums in Little Somerby einzuquartieren, als irgendwo weiter draußen zu wohnen und mir einen Mietwagen nehmen zu müssen.« Er sah Sophie an, die mit ihrem iPad in der Bürotür stand, um einen »Statuscheck« der Bottiche vorzunehmen, wie sie es nannte. Es ging um Daten wie Temperatur, Säuregehalt und Tanninspiegel, Gärparameter und dergleichen. Die Technik war so modern, dass die Werte aller achtundvierzig Tanks auf der Hauptfermentationsebene jederzeit auch von außerhalb überprüft werden konnten. Die aktuellen Zahlen waren rund um die Uhr online zugänglich. Von David, der phasenweise unter Schlaflosigkeit litt, wusste man, dass er sich durchaus auch mal nachts um drei einloggte, um die Werte zu prüfen und danach beruhigt einschlafen zu können.

»Aber das heißt auch, dass du hier festsitzt«, sagte Sophie. »Meinst du nicht, dass du Little Somerby irgendwann leid wirst?«

Alex lachte. »Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen, da bin ich es gewohnt, meilenweit zu laufen, um überhaupt irgendwohin zu kommen. Das macht mir nicht wirklich Sorgen.«

»Dann empfehle ich dir aber, dass du dir die App für den regionalen Busverkehr runterlädst, für den Fall, dass du mal in einen größeren Ort fahren möchtest. Und ich kann dich auch im Auto mitnehmen, wenn du zwischendurch mal einen Tapetenwechsel brauchst.«

»Danke«, entgegnete Alex, offenbar überrascht von ihrem Angebot. »Vielleicht komme ich darauf zurück.«

Sophie errötete. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Alex’ intensiver Blick sie aus dem Konzept gebracht, aber inzwischen hatte sie sich an seine Eigenheiten gewöhnt und konnte sogar mit ihm scherzen. Einige ihrer anderen männlichen Kollegen hätten ihr Angebot vermutlich als Anmache interpretiert. Alex hingegen schien ihre Worte so zu verstehen, wie sie gemeint waren.

»Und, was steht heute auf dem Plan?«, fragte er.

»Zuerst die üblichen Checks. Und dann hab ich noch was ganz Besonderes mit dir vor.« Sophie grinste. »Ich will prüfen, was bei dir bis jetzt hängen geblieben ist!«

»Ich werde dich bestimmt nicht enttäuschen«, sagte Alex schmunzelnd. »Solange du nicht verlangst, dass ich einen ganzen Dabinett esse – der eine Bissen gestern hat mir gereicht.«

Sophie lachte. Dabinett-Äpfel waren hervorragend geeignet, um einem Cider Säure hinzuzufügen, denn sie enthielten viele Tannine, aber ansonsten waren sie ungenießbar, sie schmeckten herb und bitter, trotz ihrer appetitlich roten Färbung. Die Ernte für dieses Jahr war zwar noch nicht reif, doch es lagen immer noch ein paar vom Vorjahr im Kühllager, und sie hatte Alex gestern mit einem Exemplar einen ähnlichen Streich gespielt, wie David es vor Jahren, am Anfang ihrer Ausbildung, mit ihr gemacht hatte. Sie hatte damals nicht gemerkt, dass er sich einen Scherz mit ihr erlaubte, und beherzt versucht, den Apfel komplett aufzuessen, so todernst hatte David bei der ganzen Sache dreingeschaut. Heute, nach Jahren der Zusammenarbeit, war er für sie leichter zu durchschauen.

Nach einem bewusst neutralen Mittagessen in der Firmenkantine, um ihre Geschmacksknospen zu schonen, nahm Sophie Alex mit in die Scheune, wo sich die Cider-Holzbottiche befanden, um mit ihm die wöchentliche Verkostung der Vintage-Sorten vorzunehmen. Seit Gründung des Unternehmens war es Tradition, dass die Mischer mit Glaskrügen jedem Bottich Cider entnahmen, um zu prüfen, wie die sorgfältig abgestimmten Verschnitte sich entwickelten. Sophie hatte David bei dieser Aufgabe seit ihren Azubitagen assistiert, und es war stets ein Höhepunkt in ihrer Arbeitswoche.

Heute Nachmittag war David in einer Besprechung, daher gingen sie und Alex ohne ihn in die Scheune. Normalerweise war einer der Carter-Brüder bei der Verkostung anwesend, was aber seit ein paar Wochen nicht mehr der Fall war. Es war eine betriebsame Jahreszeit, und auch Sophie hatte es im Testen und Verkosten schon zur Meisterschaft gebracht.

»Pass beim Hochgehen auf«, warnte sie Alex, als sie zwischen den Bottichen hindurch zum Fuß der Stahltreppe gingen. »Man kann sich leicht erschrecken, und wenn man nicht aufpasst, schmiert man hin.«

»Hinschmieren?«, fragte Alex verständnislos.

Sophie grinste. »Hinfallen.«

Er lachte. »Danke für die Warnung.«

»Als David auf der Treppe mal den Halt verloren und sich das Steißbein geprellt hat, war er drei Wochen lang krankgeschrieben – wobei er mir trotzdem jeden Tag gemailt hat, um sicherzugehen, dass ich alles nach seinen Vorgaben erledige.«

»Hört sich ein bisschen nach einem Workaholic an«, bemerkte Alex trocken. Er hatte in der Woche, die er jetzt schon bei Carter’s war, bisher wenig mit David zu tun gehabt, da er die meiste Zeit von Sophie angeleitet wurde. Und angesichts der Tatsache, dass David sich kaum je zu einem Lächeln hinreißen ließ, hatte Alex keinen Zweifel, dass der Mann seine Verpflichtungen sehr ernst nahm. Sophie hatte ihn vorgewarnt, dass David für seine nüchterne Art bekannt war, aber er hatte sich noch nicht ganz daran gewöhnt.

Alex befolgte Sophies Rat und hielt sich am Geländer fest, als er in seinen Stiefeln geräuschvoll die Metallstufen hinaufstieg. Von oben bekam er zum ersten Mal einen Eindruck von der vollen Größe der Bottiche, die die Scheune komplett ausfüllten. Man hatte hier eine ganz andere Perspektive; die Aussicht von oben auf alle siebzehn massiven Behältnisse hatte etwas Überwältigendes. Alex nahm einen tiefen Atemzug und ließ seinen Blick auf den Bottichen ruhen. Die Geschichte, die hier in der Luft lag, konnte man beinahe riechen. Er stemmte sich gegen den Ansturm von ungebetenen Gedanken und Gefühlen und schloss für einen Moment die Augen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Sophie, sobald sie oben bei ihm angekommen war.

Alex öffnete sofort die Augen und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. »Ja.« Er lachte nervös. »Mir ist nur ein wenig schwindlig.«

»Höhenangst?«, neckte ihn Sophie. »Dann versuch bloß nie, die Jakobsleiter in der Cheddar Gorge hochzusteigen! Fangen wir an?« Sie ging auf der Plattform zum ersten Bottich, dem sie eine Probe entnehmen wollten. »Das hält schon. Man kann auf die Abdeckungen steigen. Nur so kommt man überhaupt ran.«

Alex verfolgte, wie Sophie den Riegel der Abdeckung des ersten Eichenbottichs öffnete. Als der Saum ihres grauen T-Shirts hochrutschte und einen verlockenden Streifen blasser Haut über ihrer Jeans freigab, musste er sich beherrschen, um nicht hinzustarren. Denk nicht mal dran, sagte er sich selbst.

»Bist du bereit?« Sie wandte sich kurz zu ihm um. »Mal sehen, wie viel du von dem behalten hast, was ich dir diese Woche über Geschmack beigebracht habe.«

»Meine erste Verkostung?«, fragte Alex leichthin und war froh, etwas zu haben, was ihn vom Gefühlswirrwarr ablenkte, den dieser Ort in ihm hervorrief, der so mit Geschichte und Vergangenheit aufgeladen war. Und dann noch der Blick auf Sophies nackte Haut … Er war schließlich auch nur ein Mensch, musste er sich eingestehen.

Sophie grinste. »Kümmere dich nicht zu sehr um die Details. Sag mir einfach nur, wie du ihn findest.« Sie tauchte den Glaskrug in den Bottich und versenkte den Arm beinahe bis zum Ellbogen darin, um unter die oxidierte Schicht an der Oberfläche zu gelangen, dann goss sie den Inhalt in zwei Gläser. Sie reichte Alex eines davon und trank selbst absichtlich noch nicht.

Er hielt inne, dann hob er das Glas, um die Färbung zu begutachten. Es war ein tiefes, sattes Gold, und durch die Fermentation stiegen kleine träge Bläschen darin auf. Er führte das Glas zum Mund, nahm aber erst einen tiefen Atemzug, um den Geruch aufzunehmen. Der Cider hatte einen intensiven, eichenlastigen Duft, mit einem Hauch von Cognac, den ihm das Holz verliehen hatte; er roch nach warmen Sommertagen, Obstgärten und Somerset. Alex sog noch einmal das Aroma ein, setzte das Glas an die Lippen und ließ die perlende Flüssigkeit seine Zunge benetzen, wobei er den Mund leicht geöffnet ließ, damit der Cider atmen konnte.

»Wow«, sagte er. »Der ist echt gut.«

Sophie sah ihn gespannt an. »Und sonst?«

Beim Blick in ihre leuchtend blauen Augen spürte er Schmetterlinge im Bauch. »Vollmundig. Und man merkt schon, er entwickelt sich in die richtige Richtung.« Er nahm noch einen Schluck. »Vielleicht braucht er einen Tick länger? Etwas mehr Süße? Schmeckt noch leicht säuerlich.«

Sophie nickte. »Nicht schlecht.« Jetzt nahm auch sie einen Schluck aus ihrem Glas und bewegte die Flüssigkeit im Mund. »Wie lange würdest du sagen braucht er noch?«

»Vielleicht eine Woche?«

»Vielleicht.« Sophie stellte ihr Glas ab und lächelte. »Ich würde sagen, dass die Säure für den Markt in Großbritannien eigentlich ganz gut passt – die Briten mögen den Vintage Cider meist mit ein wenig mehr Biss, aber es wäre kein Problem, die Süße für den kanadischen Markt zu verstärken, wenn du glaubst, dass das nötig ist. Die Sorte Eloise könnte da gut geeignet sein – optimier die Rezeptur einfach so, dass es zu deinen Kunden passt.«

»Wird gemacht.« Alex nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas.

»Halt«, lachte Sophie. »Wir müssen heute noch fünf weitere Bottiche prüfen, und wenn du jedes Mal ein ganzes Glas trinkst, dann schmierst du beim Runtersteigen wirklich hin.«

Da hatte sie – angesichts seines tiefen Zugs vom Vintage Cider – durchaus recht, schließlich wollte er, wenn es sich vermeiden ließ, nicht die Treppe heruntersegeln wie David.

*

Später am Abend dachte Sophie auf ihrem Heimweg über die Planung für die nächsten Wochen nach – welche Sorten bald geerntet wurden und welche Mischungen angesetzt werden mussten –, als sie Alex beim Supermarkt die Straße überqueren sah. Bevor sie groß darüber nachdenken konnte, hob sie schon die Hand, winkte ihm zu und spürte, wie sie errötete. Wie idiotisch, ihm so übereifrig zuzuwinken!

Aber zu ihrer großen Erleichterung erwiderte Alex ihren Gruß und kam rasch auf sie zu.

»Hallo«, sagte er im Näherkommen. »Schöner Abend für einen Spaziergang.«

»Stimmt«, entgegnete Sophie. »Obwohl ich es nicht weit habe. Ich hab meiner Großmutter gesagt, dass ich heute bei ihr vorbeischaue.«

Alex ging neben ihr her, während sie in Richtung von Lily Hendersons Haus schlenderten. »Schön, dass ihr so nahe beieinander wohnt. Das erleichtert bestimmt vieles. Die Eltern meiner Mutter haben etwa zwanzig Meilen von uns entfernt gewohnt, also haben wir sie ziemlich oft besucht, aber die Eltern meines Stiefvaters lebten ziemlich weit im Norden, und wir haben sie nur in den Ferien länger gesehen.« Er blieb stehen und wirkte etwas unsicher, aber keineswegs unattraktiv, fand Sophie. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich bin gerade einfach davon ausgegangen, dass ich mit dir zusammen spazieren gehen kann, ohne überhaupt zu fragen, ob das für dich okay ist.« Er schüttelte den Kopf über sich selbst. »Wo sind nur meine guten Manieren geblieben?«

»Das ist ein freies Land, die Straßen sind für alle da«, erwiderte Sophie freundlich. »Und wohin bist du unterwegs?«

Alex wirkte verlegen. »Ich brauch abends einfach mal ein bisschen Ruhe vor Brenda. Sie und ihr Mann sitzen gerne im Garten, was ja in Ordnung ist, aber sie redet wie ein Wasserfall, deshalb spaziere ich hier im Dorf herum. Es ist erstaunlich, wie weit man an einem englischen Sommerabend so gehen kann.«

Sophie prustete los und fragte sich, ob Alex sich der Zweideutigkeit seiner Worte bewusst war. »Seit du mir erzählt hast, dass du im B&B wohnst, hab ich mich gefragt, wie lange du es dort wohl aushalten würdest. Brenda ist hier in der Gegend berüchtigt dafür, dass sie nur im Schlaf den Mund hält, und manchmal wohl selbst dann nicht!« Sie runzelte die Stirn. »Aber du hast meine Großmutter noch nicht kennengelernt, stimmt’s? Sie ist auch so jemand, der endlos reden kann.«

»Nein, ich glaube nicht. Obwohl ich vor ein paar Tagen abends eine ältere Dame gesehen habe, die einen Weimaraner ausgeführt hat – womöglich war sie das? Hast du nicht mal erwähnt, dass sie so einen hat?«

»Ja, genau. Barney ist nicht zu übersehen und, soweit ich weiß, auch der einzige Hund dieser Rasse hier im Dorf.« Sophie schwieg einen Moment und schmunzelte dann schelmisch. »Also, wenn du mitkommen und mal Hallo sagen möchtest, um Brenda ein wenig länger zu entkommen, meine Großmutter hat sicher nichts dagegen.«

Was sie nicht erwähnte, war, dass Lily binnen fünf Minuten wahrscheinlich mehr über Alex erfahren würde als Brenda innerhalb der ganzen letzten Woche; Lily hatte ein Talent dafür, Leute auszuquetschen.

»Bist du sicher, dass sie nichts dagegen hat?«, fragte Alex. »Ich will mich nicht aufdrängen.«

»Ach, Gran mag Gäste. Sie freut sich, neue Leute kennenzulernen.« Und du bist ganz nach ihrem Geschmack, fügte sie im Stillen hinzu, denn sie wusste, dass ihre Großmutter den Anblick gut aussehender Männer immer noch zu schätzen wusste.

»Also, wenn du wirklich meinst«, sagte Alex. »Es wäre nicht schlecht, Brenda zu entkommen, bis sie sich in den Schlaf gequatscht hat!«

»Ich kann dich ja wohl schlecht alleine durch die Straßen von Little Somerby streifen lassen, oder?« Sophie deutete nach links. »Und Grans Haus ist gleich hier. Sie hat einen sehr großen Garten, in den man flüchten kann.«

Mit diesen Worten öffnete sie die Gartenpforte und betrat den gepflasterten Weg zu Lily Hendersons Haustür.

5

Die Tür war nicht abgesperrt, da Lily den Besuch ihrer Enkelin erwartete, und Sophie und Alex wurden beim Eintreten von freudigem Gebell begrüßt. Barney, der Weimaraner, wuselte aufgeregt zwischen den beiden hin und her. Der riesige Vierbeiner mit dem grauen Fell und der Energie eines Kleinkinds mit Zuckerschock war über Sophies Besuch völlig aus dem Häuschen und fasziniert von ihrem Begleiter.

»Ruhig, Großer!«, sagte sie und warf Alex einen entschuldigenden Blick zu, als Barney mit seiner nassen Schnauze dessen Handfläche beschnupperte. »Tut mir leid, das macht er immer bei Besuchern.«

»Kein Problem«, lachte Alex und beugte sich zu Barney hinunter, um ihm die Ohren zu kraulen. »Er ist ein sehr schöner Hund.«

»Er mag Leute, die ihn mögen«, bemerkte Sophie, als sie sah, wie Barney sich unter Alex’ Berührungen sofort entspannte.

»Mir fehlt ein Hund. Als Kind hatte ich einen Dobermann, aber seit ich in der Stadt wohne, habe ich keinen mehr. Vielleicht kann ich mir wieder einen anschaffen, wenn ich raus aufs Land ziehe.«

Wie ein Gastgeber auf vier Pfoten führte Barney Alex und Sophie durch den Flur und die Küche in den großen, gepflegten, von einer Mauer umgebenen Garten hinter dem Haus, wo Sophie rasch ihre Großmutter entdeckte. Lily stand neben einem der mit üppigen Englischen Rosen bepflanzten Beete, in der Hand eine Gartenschere, mit der sie ein paar Stiele für die Kristallvase abschnitt, die stets ihren Esstisch zierte. Sie trug einen großen Strohhut mit geschwungener Krempe, der ihr silbergraues Haar vor der immer noch kräftigen Sommersonne schützte, und eine lange Leinenbluse mit dazu passender cremefarbener Hose. Sie wirkte wie der Inbegriff von Eleganz, als sie die Rosen auf dem Gartentisch ablegte und dem Mann, der mit ihrer Enkelin und Barney gekommen war, eine blasse Hand mit dezent rosa lackierten Fingernägeln entgegenstreckte.

»Gran, das ist Alex«, sagte Sophie.

»Nett, Ihre Bekanntschaft zu machen, Alex«, begrüßte ihn Lily und betrachtete ihn eingehend. »Sophie hat mir viel von Ihnen erzählt. Sind Sie ein Alex oder ein Alexander?«

Alex lächelte. »Eigentlich bin ich ein Alexander, aber praktisch nur dann, wenn ich in Schwierigkeiten stecke.« Er schüttelte ihr die Hand. »Freut mich ebenfalls, Sie kennenzulernen, Ma’am. Und ich hoffe, Sophie hat nicht zu viel von mir erzählt.«

»Genug, dass ich neugierig geworden bin«, sagte Lily freundlich. »Und sosehr ich Ihre wunderbar altmodische Anrede schätze, nennen Sie mich doch bitte Lily.«

»Kann ich dir was zu trinken bringen, Alex?«, fragte Sophie hastig. Ihre Großmutter war trotz ihres Alters immer noch unverbesserlich, was Flirten anging. »Möchtest du auch was, Gran?«

»Ich geh uns eine Erfrischung holen.« Lily griff nach ihren Rosen. »Die muss ich ins Wasser stellen. Macht es euch gemütlich.« Sie deutete auf die Hollywoodschaukel am hinteren Ende des Gartens, bei der auch ein Holzstuhl und ein kleiner Tisch standen. »Setzen wir uns dahin.«