Sommermorde - Alexandra von Grote - E-Book
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Sommermorde E-Book

Alexandra von Grote

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Beschreibung

Mörderische Unterhaltung für Urlaub, Ferien und Wochenenden – über 900 Seiten Krimispannung: der Sammelband „Sommermorde“ als eBook bei dotbooks. Drei Länder, drei erfolgreiche Kriminalromane, drei großartige „Crime Ladies“ – Alexandra von Grote, Ranka Keser und Irene Rodrian garantieren spannende Unterhaltung von der ersten bis zur letzten Seite! Der blaue Himmel über der Provence, ein Dorf im malerischen Kroatien, der Charme der Metropole Barcelona – hier möchte man sein, hier kann man die Seele baumeln lassen und den grauen Alltag vergessen. Doch die Traumziele haben auch eine ganz andere, dunkle Seite: Kommissarin Florence Labelle muss in der schönsten Region Frankreichs einen grausamen Mord aufklären, Inspektor Marko Ban stößt im beschaulichen Mala Šuma auf einen mysteriösen Todesfall und eine Mauer des Schweigens, und der jungen Polizistin Pia Cortes bleibt in der Hauptstadt Kataloniens wenig Zeit, um die Unschuld einer Verdächtigen zu beweisen, bevor der wahre Killer erneut zuschlagen wird … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Sommermorde“, die Anthologie für Hochspannung im Traumurlaub, vereint „Die unbekannte Dritte“ von Alexandra von Grote, „Bluthochzeit Kroatischer Art“ von Ranke Keser und „Meines Bruders Mörderin“ von Irene Rodrian. Wer liest, hat mehr vom Leben! dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1167

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Über dieses Buch:

Der blaue Himmel über der Provence, ein Dorf im malerischen Kroatien, der Charme der Metropole Barcelona – hier möchte man sein, hier kann man die Seele baumeln lassen und den grauen Alltag vergessen. Doch die Traumziele haben auch eine ganz andere, dunkle Seite: Kommissarin Florence Labelle muss in der schönsten Region Frankreichs einen grausamen Mord aufklären, Inspektor Marko Ban stößt im beschaulichen Mala Šuma auf einen mysteriösen Todesfall und eine Mauer des Schweigens, und der jungen Polizistin Pia Cortes bleibt in der Hauptstadt Kataloniens wenig Zeit, um die Unschuld einer Verdächtigen zu beweisen, bevor der wahre Killer erneut zuschlagen wird …

Über die Autorinnen:

Alexandra von Grote ging in Paris zur Schule und machte dort das französische Abitur. Sie studierte in München und Wien Theaterwissenschaften und promovierte zum Dr.phil. Nach einer Tätigkeit als Fernsehspiel-Redakteurin im ZDF war sie Kulturreferentin in Berlin; seit vielen Jahren ist sie als Filmregisseurin tätig. Sie schrieb zahlreiche Drehbücher, Gedichte, Erzählungen und Romane. Ihre Romanreihe mit dem Pariser Kommissar LaBréa wurde von der ARD/Degeto und teamWorx Filmproduktion verfilmt. Alexandra von Grote lebt in Berlin und Südfrankreich. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Website www.alexandra-vongrote.de – eine Übersicht über die Kriminalromane der Autorin steht am Ende dieses eBooks bei den Lesetipps für Sie bereit.

Ranka Keser, 1966 in Rijeka (Kroatien) geboren, lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Deutschland.Sie arbeitet als Autorin und Journalistin in München und leitet Schreibseminare für angehende Autoren. Die Website der Autorin. www.ranka-keser.de

Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, erhielt für ihren Roman Tod in St. Pauli 1967 den begehrten Edgar-Wallace-Preis. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von mehreren Millionen und als Drehbuchautorin (Tatort, Ein Fall für Zwei) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München. Mehr Informationen gibt es auf ihrer Website www.irenerodrian.de – eine Übersicht über die Kriminalromane von Irene Rodrian findet sich am Ende dieses eBooks bei den Lesetipps.

***

Originalausgabe Juli 2018

Copyright © der Anthologie-Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright Alexandra von Grote, DIE UNBEKANNTE DRITTE: Copyright © der Originalausgabe Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1998; Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Copyright Ranka Keser, BLUTHOCHZEIT KROATISCHER ART: Dieses Buch erschien bereits 2002 unter dem Titel Sag nicht hopp, bevor du springst im Milena Verlag. Copyright © der Originalausgabe 2002 Milena Verlag; Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright Irene Rodrian, MEINES BRUDERS MÖRDERIN: Copyright © der Originalausgabe 2002 Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München; Copyright © 2012 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Helen Hotson

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-364-8

***

Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Sommermorde an: [email protected]

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

SOMMERMORDE

Drei Reisekrimis in einem eBook: DIE UNBEKANNTE DRITTE von Alexandra von Grote BLUTHOCHZEIT KROATISCHER ART von Ranka Keser MEINES BRUDERS MÖRDERIN von Irene Rodrian

dotbooks.

Alexandra von Grote DIE UNBEKANNTE DRITTE

Unter mysteriösen Umständen wird eine Deutsche in der Provence erschossen. Die Berliner Kommissarin Florence Labelle wird von ihren französischen Kollegen um Unterstützung gebeten. Zu den Hauptverdächtigen gehört die bekannte Chanson-Sängerin Cathérine Volet, Nichte des französischen Präsidenten. Doch sie war die Geliebte der Ermordeten. Hatte sie wirklich ein Motiv? Florence findet noch andere potenzielle Täter, denn die Tote hatte viele Geheimnisse und eine dunkle Vergangenheit ...

Kapitel 1

Als Gilbert Cosme die Dorfstraße entlanggeht, ist es fünf Uhr dreißig.

Noch immer brütende Hitze. Seit Wochen ist kein Tropfen Regen gefallen. In einzelnen Kommunen des Départements muß das Wasser bereits rationiert werden. Mittags fahren Aluminiumtankwagen in die Dörfer, und die Menschen stehen mit Eimern und Plastikkanistern Schlange. Da hat man hier in Blans noch Glück.

Die Kinder des Dorfes schlagen in der Mittagshitze rohe Eier auf die Straße. Nach vier Minuten wird das Eigelb hart.

Blans hat nicht mehr als hundert Einwohner. Noch Anfang der fünfziger Jahre waren es fast dreimal soviel. Etliche Häuser stehen leer und verlassen. Die Fensterläden sind verriegelt, und auf ausgetretenen Steinstufen wuchert wilde Minze. Dazwischen liegen zerbrochene Ziegel, die der Mistral im Lauf der Jahre von den Dächern gefegt hat.

Eine Kapelle aus dem 12. Jahrhundert oder eine kleine Tropfsteinhöhle als Touristenattraktion – das gibt es in Blans nicht. Das hat dazu geführt, daß sich nur selten Fremde in den Ort verirren. Selbst zur Hochsaison, obwohl Blans keine zwanzig Kilometer von Nîmes entfernt ist und man zum Meer nur eine gute Stunde braucht.

Der staubige Platz in der Dorfmitte liegt bereits zur Hälfte im Schatten. Einige alte Männer in blauen Arbeitshosen und schmuddeligen Unterhemden spielen Boules.

An der Längsseite des Platzes befindet sich das Café Embuscade, die einzige Kneipe am Ort. Elise Lamarque, die Wirtin, wischt gerade einen der Tische ab, die auf dem Bürgersteig stehen, und nimmt dann die Bestellung eines jungen Pärchens entgegen, die einzigen Gäste.

Wahrscheinlich Touristen, denkt Gilbert, und seine Vermutung wird bestätigt durch den vor dem Café parkenden Peugeot 404, Baujahr 78 oder 79, mit holländischem Kennzeichen.

»Bonjour, Madame Lamarque!« Gilbert ist vor dem Café angekommen.

»Salut, Gilbert.« Elise hält Gilbert ihre Wangen hin, und die beiden begrüßen sich mit den drei üblichen Küßchen.

Elise geht zurück ins Café, wo sie sich hinter der Bar zu schaffen macht und zwei Perrier-Menthe vorbereitet. Gilbert folgt ihr.

»Sollte Claire heute nicht kommen?«

»Nein, morgen erst«, antwortet Elise. Dann schaut sie Gilbert prüfend an. »Sag mal, hast du wieder Ärger zu Hause?«

Gilbert antwortet nicht. Er betrachtet die Fingernägel seiner rechten Hand. Sie sind bis auf das Nagelbett abgebissen.

»Einen Kaffee?« Elise stellt eine Tasse unter die Espressomaschine. Während der Kaffee durchläuft, legt sie zwei Stück Zucker auf die Untertasse.

»Hier«, sagt sie und schiebt den fertigen Espresso über den Tresen. »Du könntest wahrscheinlich eher einen Pastis gebrauchen. Aber ich weiß ja, daß du keinen Alkohol mehr trinkst.«

Elise nimmt das Tablett mit den beiden Perrier-Menthe und geht nach draußen an den Tisch der holländischen Touristen.

Gilbert rührt die beiden Zuckerstücke in den Kaffee.

Schon als kleiner Junge hatte er sich immer eine Mutter wie Elise Lamarque gewünscht. Er hatte Claire stets um ihre Familie beneidet, vielleicht weil es keinen Ehemann und Vater im Haus gab. Und Philippe, Claires älterer Bruder, war auch wie ein älterer Bruder für Gilbert. Die Lamarques hatten ein richtiges Zuhause. Als Gilbert und Claire noch zur Schule gingen (sie waren in derselben Klasse), aß Gilbert zwei- bis dreimal in der Woche bei den Lamarques zu Abend, froh, der eigenen häuslichen Misere zu entrinnen.

Seit Jahren hat er einen immer wiederkehrenden Traum: Er kommt in die Küche seines Elternhauses. Die Küche ist riesengroß, viel größer als in Wirklichkeit. Dort steht sein Vater mit dem Rücken gegen die Wand. Von allen Seiten stürzen Raubtiere auf ihn zu und reißen ihn in Stücke. Panisch rennt Gilbert aus der Küche, den Todesschrei seines Vaters im Nacken. Als er in den Hausflur kommt, sieht er in einer Ecke auf einem Kehrblech den abgeschnittenen Kopf seiner Mutter. Die Augen leben noch, sie verfolgen ihn. Er rennt aus dem Haus und wacht auf, noch ehe er die Straße erreichen kann.

Gilbert leert seine Tasse mit einem Zug, legt ein paar Francstücke auf den Tresen und verläßt das Café. An der Tür stößt er fast mit Elise zusammen, die ihm nur noch nachrufen kann:

»Versuch's morgen abend. Dann ist Claire sicher da!«

»Ja, ja«, antwortet er und dreht sich kurz um.

»Vielleicht hat sie irgendwann mal Lust, nachts mit mir rauszukommen. Saturn beobachten!«

»Bestimmt!« antwortet Elise. Dann schüttelt sie den Kopf und verfolgt Gilbert einen Moment lang mit ihren Blicken, wie er über den Platz geht.

Ein Kindskopf, denkt sie. Will einfach nicht erwachsen werden. Und das mit sechsundzwanzig Jahren. Seine Mutter, die arme Madeleine, muß zwei Kerle durchfüttern, die ihr auf der Tasche liegen. Dabei hat sie seit Jahren schwere Rückenprobleme, und der Putzjob, mit dem sie die Familie über Wasser hält, ist Gift für sie.

Aber irgendwie hat Gilbert natürlich auch seine liebenswerten Seiten. Die gibt es bei jedem Menschen, egal, ob er es im Leben mal zu etwas bringt oder nicht. Außerdem ist er ein Freund ihrer Tochter Claire.

Ja, ein Freund, weiter nichts. Gott sei Dank hat das Schicksal Elise davor bewahrt, jemanden wie Gilbert zum Schwiegersohn zu bekommen. Das muß man Claire lassen: Sie hat Instinkt für Menschen und einen kühlen Kopf in Sachen Liebe.

Mit einem zärtlichen Lächeln für ihre Claire geht Elise hinter den Tresen zurück.

Gilbert lenkt seine Schritte auf ein geräumiges Haus mit lila Fensterläden. Am Eingang ein Schild: Poterie.

Vor dem Haus parkt ein Mercedes 500, silbermetallic, mit deutschem Kennzeichen. Gilbert kennt den Besitzer. Er ist ein Geschäftspartner von Tommy, dem Töpfer. Ein stinkreicher Knopf aus München. Inhaber eines Antiquitätengeschäftes und einer Keramikboutique. Einer von Tommys besten Kunden. Gilbert durchquert den dunklen Flur und erreicht den dahinter liegenden Innenhof der Poterie.

Die Doppelglastür zum Atelier steht offen, und Gilbert tritt ein.

Tommy räumt gerade den Brennofen aus, der in der Mitte des Ateliers steht. Als er Gilbert sieht, hält er ihm eine frischgebrannte Keramik entgegen.

»Wie findest du das?«

»Na ja ...«

Gilbert wirft nur einen kurzen Blick darauf. Dann zuckt er mit den Schultern. Was soll das sein? Eine Art Hut, Damenhut mit Krempe, Farbe Türkis, mit bunten Blumen darauf. Er findet Tommy insgesamt in Ordnung, aber mit den Keramiken kann er nichts anfangen. Töpfersachen müssen Gebrauchsgegenstände sein. Tommys Arbeiten haben keinerlei Nutzwert. Die Leute hängen sich die Dinger an die Wand oder stellen sie in eine Vitrine. Wozu? Wenn er Geld hätte, würde er sich bestimmt nicht so einen Firlefanz kaufen.

»Kommst du heute nacht mit raus?« fragt er Tommy. »Es wird eine klare Nacht. Und heute steht Saturn in Opposition zur Sonne.«

Tommy nickt vage mit dem Kopf. »Vielleicht«, sagt er und betrachtet stolz seine Keramiken. »Wenn ich nicht zu müde bin. Ich hab unheimlich geackert in den letzten Tagen, damit Werner die Sachen heute abend mit nach München nehmen kann.«

»Genau«, sagt eine männliche Stimmt mit ausländischem Akzent.

Aus dem angrenzenden Raum, vom Atelier durch eine Tür und eine große Fensterscheibe getrennt, betritt ein gutgekleideter Mann Ende Dreißig das Atelier. Er streckt Gilbert lachend die Hand hin.

»Salut.«

»Salut«, sagt Gilbert etwas unsicher.

Er mag Werner nicht. Dieser Deutsche schwimmt im Geld. Er kann sich sicher nicht vorstellen, wie es ist, wenn man von seinen Eltern und vom Sozialamt abhängig ist.

»Schade, daß ich heute abend zurück nach München muß«, sagt Werner. »Sonst wäre ich mal mit dir rausgegangen auf deine Sternwarte.«

»Ja, schade«, antwortet Gilbert und ist froh, daß aus dieser Idee nichts wird. Das fehlte noch! Dieser Typ hat so viel Geld, daß er sich ein 300er Schmidt-Cassegrin kaufen könnte, während er sich seit Jahren mit diesem 100er Secondhand-Refraktor ohne vollautomatische Steuerung behelfen muß. Das ist so, als ob ein Konzertpianist auf einem verstimmten Flügel spielen müßte ...

Na ja, eines Tages wird sich Gilbert dieses Superteleskop aus den USA bestellen, mit computergesteuerter Koordinateneinstellung und der entsprechenden Software. Und dann wird der Andromedanebel nicht nur als milchiger Punkt zu sehen sein, sondern in seiner wahren Form einer Spiralnebelgalaxie.

Gilbert verabschiedet sich und beschließt, auf dem schnellsten Weg nach Hause zu gehen. Dort wird er sich zum hundertsten Mal in den Prospekt des 5000 Dollar teuren Schmidt-Cassegrin-Teleskops vertiefen. Was gibt es Schöneres, als von etwas zu träumen, das man eines Tages wie durch ein Wunder zu besitzen erhofft?

Kapitel 2

Früher als geplant kommt Cathérine aus Paris zurück und parkt ihren staubigen Landrover auf dem Kiesweg im Park.

Sie geht durch die Pforte, die in den quadratischen Innenhof führt, und überquert ihn Richtung Herrenhaus. An den Stallungen bleibt sie einen Moment stehen. Aus einer der Boxen hört sie Miras Schnauben. Sie öffnet den oberen Teil der Stalltür, und Mira streckt ihren Kopf heraus. Cathérine streicht mit ihren Händen über Miras Nüstern, sagt ein paar beruhigende Worte und geht weiter.

Cathérine ist eine große Frau, Anfang Fünfzig, die trotz zunehmenden Alters ihre schlanke Figur behalten hat. Der ideale Körper für maßgeschneiderte Hosenanzüge, die sie früher bevorzugte. Feinste englische Tuche. Glencheck, dunkelblauer Nadelstreifen. Leinenstoffe.

Heute trägt sie eine dünne weiße Gabardinehose und eine karierte kurzärmelige Hemdbluse. Ihre braungebrannten Arme haben zwar an den Innenseiten ein paar Falten und schlaffe Hautstellen, aber dennoch: Cathérine ist eine attraktive Frau, die ihr Alter besser und erfolgreicher in den Griff bekommen hat als andere.

Früher, als sie noch auf der Bühne stand, waren ihre blonden Haare lang bis auf die Schultern, glatt geschnitten mit Pony. Ihr Markenzeichen sozusagen. Doch seit vielen Jahren sind die Haare nun kurz, was ihren androgynen Typ noch unterstreicht.

Vor der Freitreppe parken Monikas gelber Clio, ein schwarzer Golf Cabrio und der beige R4 von Emmanuelle, der Haushälterin.

Kein menschlicher Laut ist zu hören. Nur das Schreien der Zikaden in den Bäumen der Pinienallee durchbricht die Stille.

Cathérine benutzt den Seiteneingang, durch den früher Dienstboten und Lieferanten kamen, und betritt einen Flur. Er ist kühl und dunkel. Für einen Moment schließt Cathérine die Augen. Der Kontrast zu dem gleißenden Licht der Nachmittagssonne ist so stark, daß kleine schwarze Flecken vor ihren Pupillen auf- und abtanzen.

Am Ende des Flurs erstreckt sich die Eingangshalle, von der aus diverse Türen in die Salons und Kaminzimmer führen.

Die Tür zum venezianischen Salon steht einen Spalt offen. Cathérine geht darauf zu und will gerade etwas sagen, da sieht sie durch den Türspalt Monika und Lucienne.

Die beiden stehen mitten im Raum. Lucienne hat Monika mit beiden Armen umschlungen. Monika hält Luciennes Gesicht in ihren Händen, und die beiden küssen sich. Sie haben die Augen geschlossen. Ihr Kuß wird immer heftiger, und Cathérine sieht, wie Monikas linke Hand jetzt Luciennes rechte Brust umschließt.

Cathérine dreht sich weg. Geräuschlos entfernt sie sich und öffnet die Tür zur Bibliothek. Als sie sie hinter sich geschlossen hat, steht sie eine Weile reglos da und starrt auf den Lichtstreifen, der durch den geschlossenen Fensterladen ins Zimmer fällt.

Also doch! denkt sie, ich habe es geahnt. Es hätte mich auch gewundert, wenn sie sich geändert hätte. Das haben die beiden ja schön eingefädelt ... Cathérine atmet tief durch und gibt sich einen Ruck. Jetzt hat sie endlich den Beweis. Betont leise geht sie zurück zum venezianischen Salon und beobachtet die beiden durch den Türspalt. Monika liegt inzwischen in einem der Sessel, Lucienne beugt sich über sie.

»Sag mir, daß du mich liebst.« Luciennes Stimme ist fordernd.

»Ich liebe dich«, flüstert Monika, und Lucienne preßt ihre Lippen auf ihren Mund. Monika schlingt ihre Arme um Lucienne und zieht sie an sich. Lucienne legt sich auf sie, ohne von ihren Lippen zu lassen. Mit ihrem Knie zwingt sie sanft Monikas Beine auseinander, aber die öffnen sich nur allzu bereitwillig. Lucienne bewegt sich rhythmisch zwischen Monikas Schenkeln.

»Begehrst du mich?« fragt Lucienne, und der Druck ihrer kreisenden Bewegungen wird immer stärker.

»Ja. Hör nicht auf!«

Lucienne dreht sich jetzt abrupt zur Seite, um mit der rechten Hand nach Monikas Schoß zu greifen. Monika stöhnt laut.

»Tut das gut? Willst du es so?«

»Ja«, flüstert Monika heiser und bewegt sich auf und ab.

Angewidert und mit einer grenzenlosen Leere im Herzen verläßt Cathérine ihren Beobachtungsposten.

***

Zum zweiten Mal klingelt das Telefon. Als er den Hörer abnimmt, wird wieder aufgelegt.

François Berrière, Politiker und Präfekt des Départements, ist ein Mann, der viel Wert auf seine äußere Erscheinung legt, selbst dann, wenn sein offizieller Tag beendet ist und er keinerlei Repräsentationspflichten mehr hat, sondern seinen Feierabend zu Hause verbringen kann. Von großer und schlanker Statur, trägt er gutsitzende Calvin-Klein-Jeans, ein dunkelgrünes Polohemd und hellbraune Mokassins. Seine von grauen Strähnen gleichmäßig durchzogenen schwarzen Haare, voll und leicht gewellt, sind noch naß vom Duschen.

Komisch, ständig diese anonymen Anrufe. Zu unterschiedlichen Tageszeiten, aber fast täglich klingelt das Telefon, und am anderen Ende wird sofort aufgelegt, wenn er sich meldet.

François Berrière will gerade den Salon verlassen, als das Telefon zum dritten Mal läutet. Im selben Augenblick wird die Tür geöffnet. Chantal, seine Frau, lächelt ihn flüchtig an.

»Laß mich mal rangehen.« Sie nimmt den Hörer ab, sagt: »Hallo?«, wirft ihrem Mann einen kurzen Blick zu und dreht sich dann mit dem Rücken zu ihm.

»Ja? Ach so, nein, nein, Sie stören nicht«, sagt sie zögernd und nimmt den Hörer nervös in die andere Hand. Wieder wendet sich ihr Blick rasch dem Präfekten zu. Der spürt, daß er offenbar unerwünscht ist, und verläßt den Raum. Als er die Tür schließt, vernimmt er gerade noch Chantals Lachen. Es klingt so, als sei sie mit dem Teilnehmer am anderen Ende der Leitung vertraut, als kenne sie ihn schon lange und ...

Auf halbem Wege zu seinem Arbeitszimmer hält der Präfekt plötzlich inne. Der Gedanke, den er zu Ende denkt, ist zwar ungeheuerlich, aber er ist die einzige Erklärung für die fortwährenden Anrufe.

Ja, richtig: Ihr Lachen klingt, als habe sie auf diesen Anruf gewartet.

François Berrière dreht seinen Kopf Richtung Salon, lauscht, doch es ist nichts zu hören.

In einer schnellen Abfolge von Bildern dringen die letzten Monate in seine Erinnerung: Chantal, die mehr und mehr eigene Wege geht; die von einer Stagnation in der Beziehung mit ihm redet; die die Idee hat, sich eine eigene kleine Wohnung zu mieten, als Arbeitsplatz, wie sie sagt, um nicht nur zu Hause an ihren Übersetzungen zu arbeiten, zur Zeit eine Neuübertragung sämtlicher Werke von Joyce.

Der Präfekt hat das alles geduldet und versucht, Verständnis dafür aufzubringen. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, was sie weniger zu bedauern schien als er. Die einst eher schüchterne, introvertierte Tochter aus einflußreicher Familie, deren Elternhaus für ihn das Sprungbrett zu seiner Karriere war, hatte sich zunehmend emanzipiert. Chantal begnügte sich nicht mehr damit, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen und in Waisenhäusern zu repräsentieren. Sie vertrat zunehmend eindeutige politische Standpunkte. Letzten Monat empfing sie eine Delegation bosnischer Frauen, unterschrieb eine Petition an den Präsidenten, in der zum Eingreifen Frankreichs im Bosnienkonflikt aufgefordert wurde. Vor wenigen Tagen demonstrierte sie sogar zusammen mit einer Gruppe von Atomkraftgegnern vor der Präfektur gegen die neuen atomaren Versuche auf Mururoa.

Der Präfekt steht regungslos da, seine Augen starren ins Leere.

Und jetzt? Diese ständigen Telefonate und die Tatsache, daß aufgelegt wird, wenn er den Hörer abnimmt?

Wie Schuppen fällt es ihm von den Augen. Die zunehmende Selbständigkeit seiner Frau muß einen Grund haben, und zwar einen, der weit über politisches Engagement und den Wunsch nach einem eigenen Arbeitsplatz hinausgeht. Etwas ganz Privates steckt dahinter.

Entschlossen geht der Präfekt in sein Arbeitszimmer, nimmt behutsam den Hörer des Telefons ab und lauscht am Zweitapparat den letzten Gesprächsfetzen. Das, was er hört, verwirrt und irritiert ihn, doch es bestätigt seine Vermutung, wenn auch auf völlig andere Weise, als er gedacht hat.

***

Monika öffnet den Knopf ihrer Leinenhose. Sie hat zuviel gegessen, aber was soll's, sie kann es sich leisten. Seit Jahren hält sie ihre Figur, egal wieviel sie ißt. Lucienne findet das beneidenswert, denn die vier Zucchini-Crêpes, die sie selbst verdrückt hat, werden morgen früh sicher auf der Waage zu Buche schlagen.

Monika sieht Lucienne an, die ihr gegenübersitzt. Ihr halblanges schwarzes Haar reflektiert das flackernde Kerzenlicht. Ihre Augen sind blau, aber das verspielt sich in der Dämmerung des Raumes.

Monika spürt noch die flirrende Intensität ihrer mittäglichen Liebesstunde. Niemals hat sie eine Frau so begehrt wie Lucienne. Zum ersten Mal in ihrem Leben gibt sie sich einer Frau richtig hin, läßt sich fallen und ist nicht selbst diejenige, die ihre Gefühle und die Inszenierung der Liebesstunde unter Kontrolle hat. Lucienne mit ihrem weiblichen Körper. Nie hätte Monika gedacht, daß ihr das gefallen könnte. Luciennes Brüste sind voll und groß, ganz anders als die von Cathérine. Bisher dachte Monika immer, daß sie sich nur in große, schlanke Frauen verlieben könnte. Lucienne ist das genaue Gegenteil davon. Sie ist das, was Männer im allgemeinen ein »Vollweib« nennen.

Sie sei ein maßloser Mensch, behauptet Lucienne gern von sich selbst. Maßlos und unersättlich in allem ... Schade, daß Cathérine schon wieder zurück ist. Sie müssen vorsichtig sein und erfindungsreich ...

Monika legt Messer und Gabel auf den Teller und wischt sich mit der Serviette den Mund ab.

»Das war phantastisch, Cathérine!«

»Danke.« Cathérine verzieht keine Miene. Sie zündet sich eine Zigarette an und bläst den ersten Rauch mit einer schnellen Bewegung senkrecht in die Luft.

Monika trinkt einen Schluck Rosé.

»Wieso bist du eigentlich früher zurückgekommen?«

Cathérine wirft ihr einen flüchtigen, abschätzenden Blick zu.

»Weil das, was ich zu erledigen hatte, schneller ging als erwartet.«

»Hoffentlich hört das irgendwann auf, dieses ewige Hin- und Herfahren nach Paris. Bei der Hitze!«

Wie geschickt sie sich verstellt! Cathérine muß sich beherrschen, um ihr nicht ins Gesicht zu schleudern, wie sehr sie ihr Spiel durchschaut hat.

»Was macht ihr denn mit dem Rest des Abends?« Cathérines Stimme klingt kühl und sachlich.

»Ich fahre nach Nîmes. In die Spätvorstellung«, erwidert Lucienne schnell.

»Was gibt es denn?« fragt Monika.

»Der englische Patient mit Juliette Binoche.«

»Hab ich schon gesehen. Ich hab dir doch neulich von dem Film erzählt.«

»Ja, stimmt.« Lucienne nickt zerstreut.

»Und du?« Monikas Blick wandert zu Cathérine, die ihr Weinglas mit beiden Händen umfaßt hält, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Sie schüttelt den Kopf.

»Ich bin müde von der Fahrt und leg mich früh schlafen.«

Monika faltet ihre Serviette zusammen und wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Ich bringe Tommy frisches Gemüse und gehe danach kurz mit ihm zu diesem Gilbert auf seine Sternwarte. Heute nacht ist irgendwas mit Saturn.«

»Ich denke, du bist Sternzeichen Skorpion?« Lucienne leert ihr Glas mit einem Zug.

»Saturn ist ein Planet.« Monika lächelt. »Und die Sternzeichen bestehen, wie der Name schon sagt, aus Sternen. Das ist ein Unterschied.«

Lucienne winkt ungeduldig ab. »Ja, ja, so genau interessiert mich das nicht.«

Sie legt ihre Hand auf Monikas Arm, zieht sie jedoch sofort zurück, als sie Cathérines Blick wahrnimmt.

»Ich würde ja gern mitkommen, aber ...«, meint Cathérine.

»Nein, nein, laß nur«, sagt Monika schnell und sieht erneut auf die Uhr. »Ich fahre lieber allein.«

»O. K.« Cathérine steht auf. »Ich wünsche euch einen schönen Abend, ob im Kino oder auf der Sternwarte. Also – wer räumt ab?«

»Ich«, sagt Lucienne lustlos.

»Ich helfe dir.« Monika berührt kurz Luciennes Hand und beginnt dann, die Teller zusammenzuräumen.

Cathérine verläßt mit großen Schritten den Raum, als ob sie in Eile wäre.

***

Monika parkt ihren zitronengelben Clio, dessen Schiebedach geöffnet ist, vor der Poterie. Kurz nach zwanzig Uhr, und noch immer steht die Hitze.

Vom Rücksitz nimmt sie einen Korb mit Gemüse: Zucchini, Tomaten, grüne Bohnen und Auberginen. Sie wirft einen kurzen, aber desinteressierten Blick auf den metallicfarbenen Mercedes und geht ins Töpferatelier. Ihre beigefarbene, gutgeschnittene Leinenhose und das ärmellose grüne Trägerhemdchen betonen ihre schlanke, fast mädchenhafte Figur.

Das Auffälligste an Monika sind ihre Haare; braunrote, bis auf die Schultern fallende Naturlocken. Jetzt sind sie wegen der Hitze zu einem Seitenzopf geflochten.

Im Atelier ist Tommy damit beschäftigt, seine Keramikhüte in einer Kiste mit Holzwolle zu verstauen. Als er Monika sieht, blickt er kurz auf und lächelt. »Salut, Monika.«

»Salut. Ich hab dir was mitgebracht. Mit schönem Gruß von Cathérine.« Sie stellt den Korb mit dem Gemüse auf den Ateliertisch und umarmt Tommy.

»Danke.« Tommy gibt ihr drei Küßchen.

Vorsichtig nimmt Monika jetzt einen der noch nicht eingepackten Keramikhüte, betrachtet ihn von allen Seiten und hält ihn an den Kopf, als wolle sie ihn anprobieren.

Tommy lacht. »Dafür ist er zu klein. Aber er würde dir stehen!«

»Er ist unheimlich schön.« Ihre Bewunderung ist echt.

»Ich habe zwanzig Stück gemacht. Für ein Geschäft in München. Und jeder Hut ist anders.«

Monika gibt Tommy den Hut. Der packt ihn zu den anderen in die Kiste.

»Wie geht's bei euch oben?«

»Gut. Cathérine ist gerade wieder aus Paris zurückgekommen.«

»Ich dachte, sie wollte die ganze Woche bleiben?«

»Ja, das dachte ich auch.« Monika hat es plötzlich eilig. »Du, ich muß vorher noch was erledigen. Soll ich dich nachher abholen?«

»Nein.« Tommy überlegt. »Ich bin vielleicht schon oben bei Gilbert, wenn du kommst. Treffen wir uns doch gleich draußen auf der Lichtung.«

Kaum hat Monika die Tür ins Schloß fallen lassen, kommt Werner aus dem hinteren Raum ins Atelier. Er pfeift leise durch die Zähne.

»Wer war denn das?«

Tommy sieht ihn spöttisch an.

»Zu spät. Ich hätte dich vorstellen können.«

»Ich habe euch durch die Glasscheibe beobachtet. Spitze, die Kleine. Sag mal, sind die roten Haare echt?«

»Ich glaub schon.«

»Die sehen so nach Henna aus. Na, ist auch egal. Die Frau weiß jedenfalls, was ihr steht.«

»An der verbrennst du dir die Finger.«

Werner sieht Tommy erstaunt an, dann grinst er.

»Wieso?«

Tommy hat keine Lust, ihm das groß zu erklären. Werner ist sein Geschäftspartner, weiter nichts. Seine Ansichten über Politik und Frauen gehen Tommy auf die Nerven. Daß sie sich duzen, war Werners Idee.

Er wechselt das Thema.

»So, ich wäre jetzt fertig. Wir können alles in deinen Wagen laden, wenn du willst.«

»Ja, sofort. Aber erst sagt du mir, wer die Kleine ist.«

»Du kannst einen wirklich nerven.«

»Ach, komm, tu mir den Gefallen. Nicht jeder ist schließlich so ein Asket wie du, mein lieber Tommy.«

Tommy überhört diese Bemerkung und sagt kühl:

»Also gut, die Kleine heißt Monika.«

»Eine Deutsche?«

»Ja.«

»Macht sie Ferien hier? Doch nicht etwa allein?«

Tommy sieht Werner direkt in die Augen. Habichtsaugen, denkt er. Obwohl sie blau sind. Werner versucht, Tommys Blick standzuhalten, doch nach ein paar Sekunden gibt er auf. Schon stellt er die nächste Frage:

»Wo wohnt sie? Hier im Dorf? Mann, spann mich doch nicht so auf die Folter!«

Tommy sieht Werner verächtlich an.

»Der Jäger auf der Fährte, was? Gut, daß ich Vegetarier bin. Ich kann dich nur bedauern.«

»Du, sie ist genau mein Typ. Außerdem bin ich seit zwei Wochen solo.«

Tommy weiß, daß Werner nicht eher lockerlassen wird, bis seine Neugierde befriedigt ist. Also gut, dann gib dem Affen Zucker ...

»Sie wohnt auf Les Oliviers. Das ist ein Anwesen, davon kannst du nur träumen. Ein alter Herrensitz mit 2000 Hektar Land, und – wie der Name schon sagt – Olivenhainen. Beeindruckt dich das nicht?« Der Sarkasmus in Tommys Stimme ist kaum zu überhören.

»Doch, und wie«, antwortet Werner. »Gehört das alles ihr?«

»Ende der Durchsage. Laß die Finger davon. Beladen wir jetzt den Wagen oder nicht?«

»Na klar!« Werner lacht sein jungenhaftes Lachen und klopft Tommy auf die Schulter. »War doch nur Spaß, Tommy. Du mußt das Leben ein bißchen lockerer nehmen. Vielleicht stellst du mich ihr mal vor, wenn ich das nächste Mal komme, hm?« Werner sieht auf die Uhr. »So, beeilen wir uns. Ich muß los. Wenn ich durchfahre, bin ich morgen früh in München.«

***

Lucienne wirft einen Blick auf die Uhr und wischt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie sucht sich einen Tisch in der Ecke. Als der Kellner kommt, bestellt sie sich einen Kaffee.

Es ist eine schwüle Nacht. Lucienne ist dankbar für den leichten Windhauch, der ab und zu ihre Arme streift, auch wenn er keine Kühlung bringt. Sie schließt die Augen.

Das Leben hat es gut mit ihr gemeint. Beruflich hat sie Erfolg. Demnächst soll sie für Harper's Bazaar eine Artikelserie schreiben mit dem Titel Nachsaison an der Côte. Das wird ihr Sprung ins internationale Geschäft sein, endlich!

Der Kellner bringt den Kaffee, und Lucienne trinkt ihn schwarz und heiß.

Und, was mindestens ebenso wichtig ist, sie hat Erfolg bei Frauen. Sie kennt ihr Geheimnis diesbezüglich nur allzugut. Lucienne hat die Fähigkeit, zuzuhören und Verständnis zu entwickeln, das hat sie schon von Berufs wegen gelernt. Aber das ist nicht alles. Hinzu kommt, daß Lucienne eine gute Liebhaberin ist, was ihr bisher immer wieder bestätigt wurde. Insbesondere ihre letzte Eroberung ... Lucienne seufzt wohlig. Sie ist verliebt in die Liebe. Es erregt sie, eine Frau verrückt zu machen, sie zu beherrschen. Eine Frau zu erobern ist wie ein Kartenspiel, das immer neu, aber auf immer dieselbe Weise gemischt wird. Ein Spiel, das sie immer gewinnt.

Lucienne trinkt den letzten Schluck Kaffee, legt ein paar Münzen auf den Tisch und steht auf. Sie weiß, daß es noch zu früh ist. Langsam schlendert sie den großen Boulevard entlang, der voller Leben ist mit seinen vielen Cafés und Restaurants.

Hin und wieder bleibt sie vor einem Schaufenster stehen. Nach einer halben Stunde biegt sie in die Gasse ein.

***

Gilbert steckt den Schlüssel in das Vorhängeschloß und sperrt die Tür auf. Den Holzschuppen am Rande der Lichtung, etwa einen Kilometer außerhalb von Blans, hat er vor Jahren selbst gebaut. Das Waldstück gehört der Kommune. Nach längerem Hin und Her hatte der Bürgermeister ihm schließlich die Genehmigung zum Bau der Hütte erteilt.

Gilbert trägt Teleskop und Stativ aus dem Schuppen, plaziert das Stativ an einem markierten Punkt und schraubt den Tubus auf. Mit dem bloßen Auge sucht er prüfend den Himmel ab.

Milliarden von Sternen, Nebeln, Sternhaufen und fernen Galaxien. Die Unendlichkeit in ihrer unvorstellbaren Größe ... Ob es irgendwo da oben Leben gibt? Bestimmt. Einige der vielen Sonnen werden sicher auch Planeten haben, auf denen dieselben günstigen Bedingungen für die Entstehung von Leben existieren wie auf der Erde. Wie weit mögen sie dort sein? Gibt es schon Menschen? Hausen sie noch in Höhlen wie bei uns in der Steinzeit? Oder erleben sie bereits die Vorboten des Untergangs ihres Sonnensystems: verwüstete Landstriche, Temperaturen von über achtzig Grad Celsius im Dezember? Werden schon Kriege geführt wegen Wassermangels? Ob wir Menschen das jemals in Erfahrung bringen werden? Gilbert ist überzeugt davon. Eines Tages wird es möglich sein, die riesigen Entfernungen des Weltalls zu überwinden und zu anderen Galaxien aufzubrechen ...

Kein Planet ist zu sehen. Venus ist bereits untergegangen, Jupiter zeigt sich erst in den frühen Morgenstunden, Saturn wird gegen dreiundzwanzig Uhr zehn am Südosthimmel aufgehen.

Gilbert hat ein paar Dosen Cola mitgebracht und öffnet jetzt eine. Er holt einen verbeulten Metallhocker aus dem Schuppen, setzt sich hin und wartet.

Wie schwül es ist! Ob ein Gewitter kommt? Doch noch ist der Himmel klar. Die Zikaden schreien in den Bäumen, und allerlei Insekten und Nachtfalter sind unterwegs.

Gilbert greift nach seinem Walkman, den er in der Brusttasche seines Hemdes trägt. Er setzt den Kopfhörer auf und schaltet so die nächtlichen Außengeräusche einfach ab.

Nach einigen Minuten sieht er den Strahl einer Taschenlampe.

»Salut. Ich bin hier«, ruft er in die Dunkelheit. Er nimmt den Walkman ab. Es ist Monika, allein.

»Ich hab uns was mitgebracht.« Sie reicht Gilbert eine Flasche Rosé und dreht sich suchend um.

»Ist Tommy noch nicht hier?«

»Nein. Ich dachte, ihr kommt zusammen?«

Monika schüttelt den Kopf. »Er kommt sicher gleich. Der Wein ist sogar noch kalt. Schenkst du uns was ein?«

»Danke«, sagt Gilbert, »aber ich bleibe bei Cola.«

Er steht auf und holt aus dem Schuppen ein Wasserglas. Aus der Tasche seiner Jeans zieht er sein Taschenmesser, klappt den Korkenzieher raus und öffnet den Rosé.

Er schenkt Monika ein, reicht ihr das Glas und sagt: »Noch ein paar Minuten Zeit, bis Saturn herauskommt. Hoffentlich verpaßt Tommy den Zeitpunkt nicht.« Sein ausgestreckter Finger zeigt zum Himmel und malt ein Dreieck in die Luft. »Wega in der Leier, Deneb im Schwan und Atair im Sternbild Adler. Das Sommerdreieck.«

Monika hat ihren Kopf nach hinten gebogen und sieht nach oben.

»Ja, sieht tatsächlich aus wie ein Dreieck. Sommerdreieck, sagst du? Und was ist im Winter?«

»Da ist nur noch Deneb zu sehen, tief am Nordhimmel. Die anderen Sterne sind dann auf der Südhalbkugel der Erde sichtbar. In Australien zum Beispiel.«

Gilbert betrachtet Monika von der Seite. Sie hat immer noch den Kopf nach hinten gebogen und blickt in den Sternenhimmel.

Er mag sie. Ihr Interesse an den Sternen ist echt, das spürt er. Neben Claire und Tommy ist sie die einzige, die schon mit hier draußen gewesen ist.

Gilbert berührt Monika jetzt leicht am Arm und zeigt mit der Hand nach Süden.

»Da unten, der riesige, rötlich schimmernde Stern, das ist Antares im Skorpion.«

»Ich bin Sternbild Skorpion.«

»Tatsächlich?«

Gilbert öffnet eine zweite Dose Cola. Mit einer Kopfbewegung deutet er auf den Metallhocker.

»Setz dich doch. Es geht gleich los. Heute nacht steht Saturn in Opposition zur Sonne, das heißt, da ist er besonders gut zu beobachten. Eine Saturnopposition gibt es nur einmal im Jahr. Genauer gesagt: alle 378 Tage.«

»Woher weißt du das eigentlich alles?«

»Tja, Astronomie ist eben mein Hobby«

»Hättest du so was nicht beruflich machen können?«

Das ist sein wunder Punkt. Natürlich hätte er Astrophysik studieren können, wenn sein Physiklehrer auf der Schule seine Begabung erkannt hätte, statt ihn ständig vor der Klasse bloßzustellen. Und wenn er ein anderes Elternhaus gehabt hätte ... Wenn Geld und Verständnis für ihn dagewesen wären.

Gilbert läßt Monikas Frage unbeantwortet und steht auf. Er geht zum Teleskop und stellt die Koordinaten für Saturn ein. Er weiß sie auswendig. Das Teleskop dreht sich und zeigt mit der Tubusöffnung genau nach Südosten. Gilbert stellt den Nachführungsmotor an. Dann holt er aus einem Pappkarton ein Okular, steckt es in die Okularhülse. Er kneift das linke Auge zu, mit dem rechten sieht er durchs Fernrohr und dreht am Schärfeneinstellknopf.

Nach einer Weile blickt er auf.

»Wahnsinn! Sieh ihn dir an. Aber berühr nicht mit dem Auge das Okular, sonst wackelt es.«

»Ich weiß, das hast du letztes Mal schon gesagt.«

Monika sieht durch das Fernrohr.

»Ist es scharf?« fragt Gilbert.

»Ja, ich glaube schon. Ich kann die Ringe sehen. Und das Schwarze in der Mitte.«

»Das nennt man die Cassini-Teilung.«

Gilbert steht jetzt direkt hinter Monika. Die ganze Zeit schon hat er ihr Parfüm gerochen. Frauen mit starkem Parfümgeruch erregen ihn. Die Nutte auf dem Wohnwagenstrich zwischen Nîmes und Arles hatte auch so ein intensives Parfüm, nur schwerer und süßlicher. Tagelang kriegt man so was nicht aus den Kleidern heraus. Die Frauen nehmen wahrscheinlich deshalb so starkes Parfüm, damit man sich länger an sie erinnert.

Gilberts Augen ruhen auf Monikas Nacken. Neben dem Duft ihres Parfüms fällt ihm noch etwas auf. Komisch, daß er das vorher nie gesehen hat ...

Als spüre sie seinen Blick, hebt Monika schnell ihren Kopf.

»Wirklich, sehr beeindruckend. Bloß schade, daß das Ganze nur so ein winziges Scheibchen ist. Nach einer Weile ist es ein bißchen anstrengend. Du, ich muß jetzt gehen. Ich bin ein bißchen sauer, daß Tommy nicht gekommen ist.«

Doch Gilbert hat bereits ihre Schultern von hinten umfaßt und will Monika an sich ziehen. Mit einer schnellen Bewegung macht sie sich frei, tritt einige Schritte zurück und zwingt sich zu einem Lachen.

»Na hör mal, Gilbert!«

Gilbert fühlt, wie er rot wird. Monikas Körper versetzt ihn in eine plötzliche Erregung.

Monika nimmt ihre Taschenlampe. Zu blöd, daß Tommy nicht gekommen ist, dann wäre sie nicht in diese Situation geraten. Weitab vom Dorf, allein mit diesem Gilbert, der offensichtlich mehr von ihr will, als ihr nur die Sterne zu zeigen ... Monika ist es unbehaglich. Sie beschließt jedoch, sich nichts anmerken zu lassen und gelassen zu bleiben.

»Dann werde ich mal gehen. Danke, Gilbert, bis bald!«

Ohne große Eile schlendert sie über die Lichtung Richtung Blans. Als sie Gilberts Blicken entschwunden ist, beschleunigt sie ihre Schritte, und ihr klopfendes Herz schlägt wieder gleichmäßiger.

Gilbert, der sein Geschlecht steif und pulsierend in seiner Jeans spürt, sieht ihr nach, bis die Dunkelheit sie verschluckt hat und der Strahl ihrer Taschenlampe schwächer und schwächer wird.

Kapitel 3

Es ist wie Weltuntergang, denkt Claire und lenkt ihre Ente mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Kilometern in der Stunde über die Landstraße. Das Wasser steht mindestens zehn Zentimeter hoch, und der Regen ist so heftig, daß Claire keine drei Meter Sicht hat. Hoffentlich hält der Scheibenwischer durch.

Schon seit einer Stunde tobt das Unwetter. Blitze folgen dicht aufeinander, und Donner und Regen geben eine Geräuschkulisse ab, die Claire angst macht. Aber im Wagen ist sie sicher, das weiß sie.

Vormittagsgewitter. Wie letztes Jahr die großen Unwetter Anfang Oktober. Oder vor ein paar Jahren, als Nîmes unter Wasser stand und siebzehn Menschen den Tod fanden.

Wenn nur der Regen bald aufhört!

Claire ist unterwegs nach Hause, dahin, wo einmal ihr Zuhause war. Vor acht Jahren, als sie noch zur Schule ging und daheim wohnte. Jetzt lebt sie in Aix. Gleich nach dem Examen hat sie hier eine Stelle als Grundschullehrerin bekommen. Aber ihre Mutter in Blans sagt immer: Claire, dein richtiges Zuhause ist hier.

Alle zwei bis drei Wochen legt sie diese Strecke zurück, von Aix nach Blans, rund hundertzehn Kilometer. Von der einen Seite der Rhône auf die andere. In Avignon über die Europabrücke, dann Richtung Remoulins und Uzès.

Vor zwei Tagen haben die Sommerferien begonnen. Und die will Claire zum großen Teil in Blans verbringen.

Hinter Uzès biegt Claire von der Nationalstraße auf die kleine Départementstraße ab. Noch zehn Kilometer. Elise, ihre Mutter, hat sicherlich wieder Soupe au Pistou gekocht. Claire muß lächeln. Immer gibt es Soupe au Pistou, wenn sie nach Blans kommt. Zugegeben, im Sommer schmeckt sie besonders gut, weil das Basilikum ganz frisch aus dem Garten kommt.

Eigentlich sind Suppen eher etwas für Herbst und Winter. Aber es ist Elises Willkommensessen, zu jeder Jahreszeit. Die heiße Gemüsesuppe mit dem rohen Knoblauch, dem Olivenöl und dem Käse durchflutet die Magenwände und erzeugt eine Behaglichkeit, nur vergleichbar mit der Wärme eines Kaminfeuers im Winter, wenn der eisige Tramontane bläst.

Die Allee, die Claire jetzt entlangfährt, wird rechts und links von großen Platanen gesäumt. Es sind genau zweihundertzweiundfünfzig. Damals, als Claire noch zur Schule ging, ist sie die Straße mit ihrem Fahrrad entlanggefahren und hat die Bäume gezählt. Jetzt sind die Stämme naß vom Regen und glänzen.

Die Platanenallee liegt deutlich höher als das Land ringsum, wo Wein wächst, Melonen, Sonnenblumen und Getreide. Hin und wieder säumen Kirschbäume die Felder. Manchmal steht mittendrin ein einsamer Maulbeerbaum.

Der Regen hat nachgelassen, und Claire wirft einen Blick aus ihrem Seitenfenster. Die Felder rechts und links der Chaussee sind überspült, eine lehmige, ockergelbe Brühe.

Plötzlich stockt der Motor des Wagens. Claire wirft einen schnellen Blick auf das Armaturenbrett. Der Zeiger der Benzinuhr steht auf Null. Sie schlägt ärgerlich mit der Hand aufs Lenkrad. »So was Dämliches!« Doch dann muß sie unwillkürlich lachen. Einige Kilometer vor dem Ziel geht ihr das Benzin aus, und das bei diesem Wetter. Dabei hätte sie schwören können, daß sie es bis Blans schaffen würde.

Claire schaltet in den Leerlauf, und der Motor gibt einen letzten Seufzer von sich, bevor er endgültig schweigt. Langsam rollt der Wagen aus, bleibt dann vor der nächsten Kurve stehen. Sie drückt auf den Knopf der Warnblinkanlage und überlegt. Soll sie warten, bis irgendwann ein Auto vorbeikommt? Das kann lange dauern. Sie beschließt, zu Fuß zu gehen. Das Gewitter ist weitergezogen, nur vereinzelt sind noch Blitze zu sehen, und der Donner verliert sich in der Ferne. In ungefähr zwanzig Minuten wird sie in Blans sein und Gilbert bitten, sie mit seinem Moped und einem Reservekanister wieder hierherzufahren.

Claire streckt sich kurz, überquert die Straße und läuft auf der linken Seite der Allee Richtung Blans. Im Nu sind ihre Sandalen durchtränkt. Claire zieht sie einfach aus und geht barfuß weiter.

Nach etwa fünfzig Metern biegt ein Schotterweg ab. Eine Abkürzung, um ins Dorf zu kommen. Er führt über die Anhöhe durch ein Wäldchen, über die Lichtung an Gilberts Sternwarte vorbei, und von da aus ist es noch knapp ein Kilometer.

Die Erde ist völlig aufgeweicht. Der Regen hat bizarre Rinnsale gegraben. Vereinzelt liegen Äste auf dem Weg, vom Wind abgerissen und lehmverschmiert. Bäume und Büsche glitzern vor Nässe. Jetzt kommen die ersten Sonnenstrahlen heraus. In einer halben Stunde wird der Himmel wieder tiefblau sein.

Wenig später überquert Claire die Lichtung, wo Gilberts Sternwarte steht. Ein idealer Platz. Man hat die volle Sicht nach allen Himmelsrichtungen, beinahe bis an den Horizont. In den nächsten Tagen wird sie mal mit Gilbert hierhergehen.

Hinter der Lichtung beginnt das dichte Unterholz. Buschwerk, Ginster und grüne Eichen bilden ein undurchdringliches Gestrüpp. Als Kinder haben sie hier oft Versteck gespielt.

Der Weg macht jetzt eine Biegung und führt dann etwa hundert Meter steil nach unten. Claire muß aufpassen, daß sie auf dem glitschigen Bogen nicht ausrutscht.

Als sie den Abhang passiert hat und schon die drei Maulbeerbäume sehen kann, die die Kinder von Blans Die drei Schwestern nennen, entdeckt Claire etwas. Es liegt an der Seite und ist ein gelber Espadrille, verdreckt und vom Gewitterregen völlig durchweicht.

Während Claire noch nachdenkt, fällt ihr Blick auf das Unterholz. Da steckt ein nackter Fuß zwischen den Zweigen, merkwürdig verrenkt.

Claire geht ein paar Schritte näher. Ein unheimliches Gefühl der Beklemmung und Angst überkommt sie. Mit zitternden Händen schiebt sie vorsichtig die Zweige des Dickichts beiseite. Und da, etwas tiefer in den Büschen, liegt der dazugehörige Körper.

Claire schreit auf, taumelt entsetzt zurück und rennt, so schnell sie kann, ins Dorf.

Kapitel 4

Blaschke steht am offenen Fenster und hält sein Gesicht in einen Luftzug, den es nicht gibt. Der Himmel über der Stadt hat eine milchige Farbe, und die Hitze treibt den Schweiß aus jeder Pore.

»Berlin im Sommer ist das letzte«, sagt er und dreht sich um. »Wenn bloß endlich ein Gewitter käme!« Feine Schweißperlen laufen über sein Gesicht. »Ganz ehrlich, ich beneide dich, Florence. Leider hab ich meinen Urlaub schon hinter mir.«

Florence Labelle, Kommissarin bei der Berliner Kriminalpolizei, steht an ihrem Schreibtisch und packt die letzten Akten zusammen. Sie schaut Blaschke kurz an.

»Du wirst es kaum glauben, aber ich beneide mich selbst. Morgen früh um acht bin ich schon in der Luft.«

»Wie lange fliegt man denn nach Australien?«

Blaschke versucht, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen. »Vierundzwanzig Stunden. Zwischenlandung in Bangkok. In Australien ist jetzt Winter.«

»Kann ich mir gar nicht vorstellen.« Blaschke zieht sein Taschentuch aus der Hosentasche und tupft sich die Stirn ab. »Ehrlich – was wollt ihr denn da? So ein Haufen Weiber ganz allein auf einem fremden Kontinent?«

Florence nimmt ihre Handtasche aus der linken Schreibtischschublade. Sie sieht Blaschke spöttisch an.

»Ach, Blaschke, immer denkst du, wenn ein paar Frauen was zusammen unternehmen, haben sie nichts Besseres zu tun, als sich auszumalen, wie sie euch Kerle am besten kastrieren.«

»Quatsch!«

»Wir sind sechs gestandene, berufstätige Frauen, die in ihren wohlverdienten Urlaub fahren. Wir sind einfach abenteuerlustig, weiter nichts.«

»So kann man das auch nennen«, sagt Blaschke. Er spürt, daß Florence ihm in dieser Diskussion weit überlegen ist. Deshalb wechselt er das Thema. »Meine Tochter hat übrigens neulich so'n Buch gelesen. Da hat eine Frau allein mit Kamelen die australische Wüste durchquert.«

»Das ist doch 'ne tolle Leistung, oder?« sagt Florence, doch Blaschke überhört diese Bemerkung.

»Sie hat die Kamele vorher gezähmt, extra für diese Tour, um dann dreitausend Kilometer mit ihnen durch den Busch zu latschen. Ganz ehrlich – dafür fehlt mir jedes Verständnis.«

Florence wirft einen letzten prüfenden Blick auf den Schreibtisch und schiebt Blaschke dann einen Zettel hinüber.

»Hier, eine Telefonnummer, wo ich mich zweimal die Woche melde. Falls was Dringendes ist.«

Für die nächsten vier Wochen wird sie untertauchen. Einmal alles hinter sich lassen. Nicht morgens als erstes den Geruch der gebohnerten Flure vor ihrem Dienstzimmer in der Nase haben. Nicht Blaschkes verschwitzte Hand schütteln und sein blödes Gequatsche über Frauen anhören. Keine Leichen in irgendwelchen Bahnhofstoiletten, keine Mordanschläge auf Asylanten. Keine Wochenendlehrgänge in Sachen Täterpsychologie oder genetischer Fingerabdruck.

In wenigen Minuten wird sie unten auf dem Parkplatz in ihren Honda steigen, durch die verstopfte City bis zu ihrer Wohnung nach Friedenau fahren, eine Dusche nehmen, die Sachen zusammenpacken, die Reiseliste checken. Dann ein letzter Rundruf mit den fünf Reisegefährtinnen aus ihrer Karategruppe. Danach mit Rita essen gehen, zum Inder bei Rita um die Ecke.

Als Florence jetzt auf Blaschke zugeht und ihm zum Abschied fest die Hand drückt, sagt sie nichts. Längst ist sie mit ihren Gedanken woanders.

»Na denn, viel Spaß.« Blaschke lächelt dünn. »Schreib mal 'ne Ansichtskarte!«

Auf dem Hof des Polizeipräsidiums steht die Luft wie Beton.

Florence geht zum Parkplatz.

Ein Streifenwagen fährt mit Blaulicht und Martinshorn auf die Torausfahrt zu.

»Viel Spaß im Schwimmbad, Kollegin!« ruft einer der Beamten ihr aus dem Wagen zu. »Wir kommen nach, halten Sie uns ein Handtuch frei!«

Florence lacht und tippt sich an die Stirn. Der Streifenwagen fährt mit quietschenden Reifen um die Ecke.

Florence kramt gerade ihren Autoschlüssel aus der Seitentasche ihres Leinenrockes, als sie Blaschkes Stimme hört.

»Florence, warte!«

Das darf doch nicht wahr sein! Er kann sich einfach nicht trennen.

Florence dreht sich um und sieht, daß Blaschke sich weit aus dem Fenster ihres gemeinsamen Dienstzimmers im zweiten Stock hinauslehnt.

»Komm sofort zurück, der Chef will dich sprechen!«

Kriminaldirektor Müller-Ehrlich ist ein Vorgesetzter, den man nie richtig einschätzen kann. Seine grauen Augen blicken distanziert. Er ist ein nüchterner Typ, dessen Maxime ist, sich im Dienst und auch sonst im Leben niemals von Emotionen leiten zu lassen.

Er reicht Florence ein Fax.

»Hier, das kam vor fünf Minuten. Von französischen Kollegen aus Nîmes. Ich glaube, daß ich den Text einigermaßen richtig verstanden habe.«

Florence nimmt das Fax und liest es sorgfältig, während Müller-Ehrlich weiterspricht.

»Sie sehen ja selbst, die wollen, daß wir bei diesem Fall kooperieren. Im Sinne einer europäischen Zusammenarbeit und des Binnenmarktes ist das auch nur zu begrüßen. Wissen Sie, wo das liegt, Blans oder wie das heißt? Das muß irgendwo bei Nîmes sein, sonst wäre das Präsidium da nicht zuständig.«

Florence hört die Stimme ihres Chefs wie von fern. Noch ehe sie das Fax zu Ende gelesen hat, begreift sie, daß all ihre Pläne von einer Sekunde zur anderen über den Haufen geworfen werden. Kein Abenteuer im australischen Busch. Kein Urlaub, den sie dringend nötig hat. Den ersten seit zweieinhalb Jahren.

»Tut mir leid, Kommissar.« Müller-Ehrlich sieht Florence kühl an.

Florence versucht mit aller Kraft gegen ihre Enttäuschung anzukämpfen. Obwohl sie weiß, daß es wenig Zweck hat, sagt sie: »Ich habe einen festgebuchten Flug morgen früh nach Australien.«

Der Kriminaldirektor hebt beruhigend die Hand. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir regeln das Finanzielle. Sie haben keinerlei Verlust.«

»Aber darum geht es mir nicht!« Ihre Stimme hat einen Anflug von Verzweiflung.

Müller-Ehrlich steht auf, zum Zeichen, daß das Gespräch damit beendet ist. »Das Opfer ist aus Berlin. Mein Kollege Desgranges will uns hinzuziehen. Niemand bei uns spricht auch nur annähernd so gut Französisch wie Sie. Ich beglückwünsche Sie zu dieser Chance, Kommissar!«

***

Im nachlassenden Blau des Tageslichtes verändern sich die Farben des Fußbodens im venezianischen Salon auf Les Oliviers.

Cathérine betrachtet die geometrischen Muster aus weißem, flaschengrünem, schwarzem und rosa Marmor. Ein Kunstwerk, zeitlos schön. Wie ein Gemälde, das das Auge immer wieder aufs neue verwöhnt. Die matte Politur der Steine ist ohne Spiegelung, so daß nichts von der Struktur der dreieckigen und treppenförmigen Mosaike ablenkt.

Cathérine bückt sich und legt ihre flache Hand auf die nahtlos verfugten dreidimensionalen Muster. Die Oberfläche fühlt sich glatt und kühl an.

Ein Stück Ewigkeit.

Anders als das menschliche Leben. Das ist ohne Garantie und ohne bleibenden Wert. Ein Vabanquespiel von einem Tag zum nächsten. Plötzlich ausgelöscht, ohne Vorwarnung, ohne Grund, ohne Chance. Wie schnell doch alles geht! Einige Stunden zuvor weiß man noch nicht, daß die Spirale sich immer rasender dreht, ihrem Ende zu. Daß es die letzte Mahlzeit sein wird, der letzte Blick. Die letzten Worte.

Monikas letzte Worte gestern abend waren: »Ich helfe dir.« Sie galten nicht ihr, Cathérine, sondern Lucienne und bezogen sich aufs Tischabräumen.

Ich helfe dir.

Einige Stunden später hätte sie selbst Hilfe brauchen können. Was geschah in ihren letzten Minuten, Sekunden? Was fühlte sie? Was waren ihre letzten Worte, ihre allerletzten?

Angst hatte sie nicht gehabt.

Als Cathérine am späten Nachmittag Monikas Gesicht im Leichenschauhaus betrachtete, sah es entspannt aus. Ihre Lippen waren so, als ob sie sich jeden Moment aus einer festgefrorenen Bewegung lösen würden, zu einem Lächeln. Zu jenem Lächeln, das Cathérine so geliebt hat an ihr, früher ...

Also keine Todesangst.

Das ist ihr erspart geblieben. Den Tod auf sich zukommen sehen, muß das Schrecklichste sein. Schlimmer als das Ende selbst, weil man um das Unausweichliche weiß und gleichzeitig nichts dagegen tun kann.

Die Sekunde vor dem Tod.

Cathérine steht auf und geht zum Fenster. Am westlichen Horizont wird die Sonne von einem Wolkenstreifen verdeckt.

Seltsam, wie nüchtern sie über die Ereignisse nachdenkt. Mit einer gewissen Distanziertheit und unberührt davon, daß sie Monika gekannt und einmal geliebt hat.

Diese Kälte in ihr ... sie hat nun doch Einlaß gefunden. Cathérine hat es kommen sehen und sich nicht dagegen wehren können. Aber sie hat sich nicht vorgestellt, daß es so sein würde. Monikas Tod berührt sie nicht im geringsten. Auch die Umstände ihrer Ermordung nicht. Als die Polizei sie am frühen Nachmittag anrief, sie bat, die Leiche offiziell zu identifizieren, stellte sie erstaunt fest, wie gleichgültig sie bei dieser Nachricht blieb. Sie war sogar erleichtert. Als ob auf diese Weise endlich ein Problem gelöst worden sei, das anders nicht lösbar war.

Monika ist tot. Etwas ist abgeschlossen, endgültig. Der Zufall, das Schicksal – was auch immer eingegriffen und die Dinge geregelt hat. Erledigt.

Monika auf der Metallbahre im Leichenschauhaus. Das Ende einer Geschichte, die von Anfang an schiefgelaufen ist.

Sie, Cathérine, hat gelitten und dafür bezahlt. Jetzt war Monika dran. Das Leben kennt immer eine ausgleichende Gerechtigkeit. Niemals schlägt das Pendel nur nach einer Seite aus.

Und Lucienne? Monika war ihr mit Haut und Haaren verfallen. Cathérine hatte lange gebraucht, um sich das einzugestehen. Nicht sie, die Monika alles geboten, alles für sie getan hat, wurde von ihr geliebt, sondern Lucienne, die hergelaufene Journalistin. Doch Lucienne wiederum ... Cathérine muß unwillkürlich lächeln. Welche Ironie des Schicksals! Lucienne und ihr großes Geheimnis, das ihr jetzt das Genick brechen wird.

In aller Ruhe kann Cathérine zusehen, wie Lucienne zu Fall kommt. Kann den Haß zulassen. Endlich. Ihn auskosten bis zum letzten. Wie eine Erlösung ist das.

»Nein – nein!!!« Cathérine vernimmt ihren eigenen Schrei wie den einer anderen Person. Mit drei Schritten geht sie zum Kaminsims, nimmt einen silbernen Kerzenleuchter und schleudert ihn mit weit ausholender Geste auf den Marmorfußboden.

Metall auf Stein, ein allzu lautes Geräusch, das einige Sekunden nachklingt.

In die Stille hinein verharrt Cathérine einen Moment bewegungslos. Dann geht sie langsam an die Stelle, wo der Leuchter aufgeschlagen ist.

Aus einem der Dreiecke aus weißem und rosa Marmor ist ein Stück herausgebrochen. Ein kreisrundes Stück wie eine Delle. Nein, wie die Schußwunde in Monikas Kopf.

***

Das Gewitter ist an Berlin vorbeigezogen, und über der Stadt liegt dichter Smog.

Florence hat weder Hunger noch Appetit. In der Hoffnung, daß sich beides einstellen werde, bestellt sie ihr Lieblingsgericht, vegetarisches Biryani. Dazu einen Gewürztee und ein Mineralwasser. Sie würde jetzt viel lieber einen doppelten Whisky pur herunterkippen. Aus Erfahrung weiß sie jedoch, daß Alkohol und beruflicher Ärger in ihrem Körper eine Kombination eingehen, die fatale Folgen hat.

Rita gibt ebenfalls ihre Bestellung auf und klappt die Menükarte zu.

»Ich würde die Sache positiv sehen. Ein Mordfall im Ausland, und sie schicken dich hin. Das ist doch die Chance!«

»Das sagt Müller-Ehrlich auch, dieser Idiot. Aber der fährt ja im Urlaub nur in den Schwarzwald. Der hat doch keine Ahnung, was mir dieser Australientrip bedeutet. Scheißjob!«

»Wann fährst du?«

»Morgen früh um sieben. Ich nehme den Flieger nach Paris und von da aus den TGV bis Nîmes. Dort holt mich mein französischer Kollege ab.«

»Weißt du schon Einzelheiten?«

»Nur, daß das Opfer eine Frau ist und aus Berlin stammt. Während ich mich in Frankreich vor Ort mit den Tatumständen vertraut mache, wird Blaschke hier in Berlin die Daten der Toten recherchieren. Du, der war richtig erleichtert, daß ich nicht nach Australien fahren kann.«

Florence spürt plötzlich einen großen Kloß in ihrem Hals. Sie muß sich zusammennehmen, um nicht loszuheulen.

»Ach, Rita, ich hatte mich so auf die Reise gefreut!«

»Ich weiß. Aber freu dich doch jetzt auf die Provence. Das Land deiner Mutter.«

Florence muß lachen.

»Na, stimmt doch«, fährt Rita fort. »Schließlich hat nicht jeder eine Mutter, die aus Avignon stammt, oder?«

Als das Essen kommt, sagt Florence: »So, Themenwechsel. Morgen werde ich noch früh genug mit dem Mordfall Monika Terboven konfrontiert.«

Rita läßt langsam ihr Besteck sinken.

»Was? Monika Terboven?«

»Ja. Wieso, kennst du sie?«

Rita schüttelt den Kopf.

»Nur flüchtig. Aus einer Arbeitsgruppe. Das ist bestimmt schon zehn Jahre her. Wenn es die Monika Terboven ist. In der Szene hat man sich später erzählt, sie sei nach Paris gegangen, wo sie angeblich mit einer französischen Schlagersängerin zusammenlebte. Cathérine Volet, die kennst du doch auch. Schnulzen aus den späten Sechzigern.«

Florence nickt vage.

Rita trinkt einen Schluck aus ihrem Bierglas und sieht Florence mit großen Augen an.

»Monika Terboven, da bist du sicher? Und diese Frau wurde ermordet?«

Florence beugt sich nach vorn und sagt leise: »Hör mal, du weißt, daß du die Klappe halten mußt. Keine Namensnennung. Halte dich bitte zurück, wenn du irgendwelche Freundinnen aus der damaligen Zeit triffst.«

»Keine Angst. Von denen ist ja fast niemand mehr in Berlin.«

»Ich verlasse mich auf dich«, antwortet Florence. Doch mit ihren Gedanken ist sie längst woanders. Sie versucht, sich an einen Schlager der französischen Sängerin Cathérine Volet zu erinnern, doch es gelingt ihr nicht.

***

François Berrière, der Präfekt des Départements, drückt seine Frau an sich, preßt seine Lippen auf ihren Mund, so daß sie seine gierige Zunge spürt. Mit einer schnellen Bewegung entzieht sich Chantal seiner Umarmung.

»Nicht doch, François, ich muß mich noch fertig machen!«

Sie öffnet den Kleiderschrank, wirft einen prüfenden Blick hinein und entscheidet sich für das lapislazuliblaue Satinkleid.

Der Präfekt dreht sich wortlos um und nimmt von der Kommode ein Paar goldene Manschettenknöpfe. Geschickt schiebt er sie durch die Knopflöcher seines blütenweißen Smokinghemdes. Dann hebt er seinen Blick und betrachtet die Silhouette seiner Frau, die am Kleiderschrank steht und das Satinkleid mit dem Bügel außen an die Tür hängt.

»Kannst du mir eigentlich sagen, was mit dir los ist?« Seine Frage soll beiläufig klingen, doch er ahnt, daß zu viel Emotion in seiner Stimme mitschwingt.

Chantal dreht sich um. »Wieso?« Sie lächelt. »Was soll los sein?«

Ihr Mann lacht kurz auf. »Du mußt mich nicht für blöd verkaufen. Glaubst du, ich merke nicht, daß du dich komisch benimmst in den letzten Monaten?«

Chantal streift den Morgenrock ab und steht im dunkelblauen Seidenslip und Büstenhalter da.

Er kann seine Augen nicht von ihrer Gestalt lösen, und Chantal dreht sich schnell weg, als seien ihr die Blicke ihres Mannes peinlich.

Sie ist schön, und er begehrt sie, und dieses Gefühl ist so übermächtig, daß er auf sie zugeht und sie in seine Arme reißt.

»Du bist meine Frau«, sagt er heiser und vergräbt seinen Mund in ihrer Halsbeuge. »Seit Monaten entziehst du dich, mit immer neuen Ausreden.«

Sein Atem wird schneller. Chantal versucht, sich aus seiner Umklammerung zu befreien, doch er ist stärker. Er wirft sie aufs Bett, reißt ihr mit einem Ruck den Büstenhalter herunter und umfaßt mit einer brutalen Bewegung ihre nackten Brüste. Chantal schreit leise auf und stemmt ihre Fäuste gegen seine Brust.

»Ich bin ein normaler Mann, das solltest du wissen. Ich begehre dich, verdammt noch mal, und habe ein Anrecht auf dich!«

Jetzt gelingt es Chantal, ihre Knie an den Körper zu ziehen und ihren Mann wegzustoßen. Er taumelt zur Seite, und Chantal nutzt den Augenblick, um rasch aufzustehen. Sie weicht ein paar Schritte zurück und sieht ihn entsetzt an.

»Bist du wahnsinnig?«

François Berrière setzt sich auf den Rand des Bettes und starrt seine Frau an. Wie aus einem Traum erwachend, sagt er langsam: »Entschuldige, Chérie, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« Er bedeckt sein Gesicht mit den Händen.

Chantal zieht hastig ihren Morgenrock über und sieht ihren Mann kalt an.

»Ich wollte es dir schon lange sagen, aber vielleicht ist das ja der richtige Augenblick. Wir haben uns auseinandergelebt. Ich möchte gern eigene Wege gehen. Ich habe vor, mich von dir zu trennen.«

François Berrière nickt, als habe er das, was seine Frau ihm da eröffnet, erwartet.

»Weswegen?« fragt er leise.

Chantal zögert einen Augenblick und betrachtet ihren Mann, der zusammengesunken auf der Bettkante sitzt. Sie setzt sich neben ihn, legt freundschaftlich ihren Arm um seine Schulter und sagt: »Wir sollten in aller Ruhe und vernünftig miteinander reden.«

Er nickt und nimmt ihre Hände.

»Alles, was du willst. Ich akzeptiere alles, nur keinen Skandal!«

Chantal Berrière atmet tief durch, sieht ihren Mann prüfend an, als wolle sie herausfinden, ob man ihm vertrauen könne. Dann beginnt sie, ihm eine Geschichte zu erzählen. Ihre Stimme ist fest und entschlossen.

Der Präfekt hört zu, ohne sie zu unterbrechen. Als sie geendet hat, sind zwei Dinge für ihn zur Gewißheit geworden: Zum einen, daß sie sich unter keinen Umständen von ihrem Weg abbringen lassen wird, und zum anderen, daß er einem verhängnisvollen Irrtum aufgesessen ist.

***

Pierre Desgranges, Chef der Départementpolizei, hat es sich zur Gewohnheit gemacht, auf offiziellen Empfängen erst dann zu erscheinen, wenn die meisten Gäste bereits eingetroffen sind. Zum einen verschafft ihm das einen raschen Überblick, um die wirklich wichtigen Leute zu registrieren, zum anderen genießt er es, seine Ankunft als kleinen Auftritt zu inszenieren.

Zu den wichtigen Leuten gehört er ja selbst. Vor ihm rangiert nur noch der Präfekt und allenfalls der Oberstaatsanwalt, wenn überhaupt.

Auch diesmal ruhen die Blicke der bereits Anwesenden auf Desgranges. Sein Smoking ist maßgeschneidert und sitzt tadellos. Seine Manieren sind die eines Absolventen der Eliteschule ENA. Mit seinem Charme und seiner jungenhaften Art erweckt er bei älteren Männern, die über Macht und Einfluß verfügen, väterliche Gefühle und größtes Wohlwollen und bei Damen jeden Alters Bewunderung.

Desgranges' Karrierekurve zeigt steil nach oben. Er ist jemand, der seinen Beruf liebt. Er ist gern Polizist. Die Zeit an der Basis ist natürlich längst vorbei. Aber Männer wie er, mit Ideen und Initiative, steigen schnell in Führungspositionen auf. Nachdem er in Paris einige Jahre Chef der Kommissarsgewerkschaft war und in dieser Funktion drei Innenminister überstanden hatte, belohnte man ihn vor zwei Jahren mit dem Posten in Nîmes. Bedauerlicherweise steht das Département, was die Klein- und Beschaffungskriminalität betrifft, in den Statistiken an dritter Stelle aller Départements. Desgranges liebt Statistiken, und insbesondere mag er es, wenn sie sich positiv verändern, sobald er die Verantwortung übernommen hat.

Er geht an den Gästen vorbei hinaus auf die Terrasse. Die Menschen drehen sich nach ihm um. Viele grüßen ihn, und Desgranges lächelt ihnen zu. Hin und wieder schüttelt er eine Hand und wechselt ein paar freundliche, belanglose Worte.

Draußen im Park spielt eine Combo gedämpfte Barmusik. Kellner in weißen Dinnerjacketts und Serviermädchen in gestreiften Kleidern und mit weißgestärkten Schürzen reichen Getränke und Canapés.

Jetzt weht der Wind ein Lachen herüber, das warme, tiefe Lachen einer Frau. Desgranges dreht sich um. Chantal Berrière, die Gattin des Präfekten, steht inmitten einer Gruppe von Gästen, unter ihnen auch die junge Untersuchungsrichterin Arlette Colombier, die gerade aus Grenoble hierher versetzt wurde.

Desgranges schlendert zu ihnen. Er lächelt in die Runde, nimmt Chantal Berrières Hand und führt sie an seine Lippen.

Chantal strahlt ihn an.

»Pierre, wie schön, Sie zu sehen!«

»Ganz meinerseits, meine Liebe.«

Mit ihren blaßblauen Augen, dem aschblonden Haar und der Zartheit ihrer ganzen Erscheinung hat Chantal Berrière eine gewisse Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Aurore Clément, für die Desgranges seit jeher schwärmt. Chantal ist eine schöne und attraktive Frau und der Präfekt ein beneidenswerter Glückspilz.

Desgranges spürt jetzt eine Hand auf seiner Schulter. Der Präfekt hat sich zu ihnen gesellt und zieht ihn sanft von der Gruppe weg. Während sie ein paar Schritte gehen, vernimmt Desgranges erneut Chantals Lachen. Es löst ein Gefühl in ihm aus, das ihm vertraut ist, solange er Chantal Berrière kennt. Eine Mischung aus Wehmut und Selbstmitleid, gepaart mit der sicheren Erkenntnis, daß es keine Erlösung für ihn gibt. Er weiß, daß er Chantal Berrière hebt. Sie ist der eigentliche Grund, warum er seit zwei Jahren jeder ernsthaften Bindung aus dem Weg geht. Ob sie seine Leidenschaft ahnt? Er hat sich ihr nie offenbart. In einem Land, wo Anstand und Moral zunehmend verfallen, muß es dennoch ein paar Menschen geben, denen der Begriff Ehre noch etwas bedeutet. Und Desgranges' Ehrbegriff verbietet ihm, sich Chantal Berrière, der Frau seines Vorgesetzten, zu nähern. Ein bißchen Karrieredenken ist natürlich auch dabei, zugegeben. Denn der Arm eines Präfekten hat eine große Reichweite, insbesondere, wenn sein Name für den Posten des nächsten Innenministers gehandelt wird.

Der Präfekt reißt Desgranges aus seinen Gedanken.