Schloss Aicken - Alexandra von Grote - E-Book

Schloss Aicken E-Book

Alexandra von Grote

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Beschreibung

Paris 1923 Beatrice, eine junge, geheimnisvoll wirkende Frau, entdeckt in einem Antiquitätenladen ein Schmuckstück, das einmal ihr gehört hat. Vor langer Zeit, in einem anderen Leben, einem anderen Land... Im Gespräch mit dem Antiquitätenhändler erfahren wir die Geschichte der jungen Frau. Eine dramatische Geschichte von adeliger Herkunft und Reichtum, von Liebe, Hass und schicksalhaften Verstrickungen. Eingebettet in die Wirren des Ersten Weltkrieges und der Russischen Revolution spielt das Geschehen in Livland, damals eine Provinz des russischen Zarenreiches. Hineingeworfen in den Atem der Zeit wächst Beatrice an den Herausforderungen und Schicksalsschlägen, die ihr das Leben auferlegt hat.

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Seitenzahl: 498

Veröffentlichungsjahr: 2025

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In Gedenken an meine Großeltern

Heinrich von Grote Natalie von Grote, geb. Baronin von Richter

Und an meinen Vater

Alexander von Grote

Inhalt

Erstes Buch Die Fülle des Lebens

I Paris 1923 – Livland 1913

II Livland, Herbst/Winter 1913

III Livland 1914

Zweites Buch Zeitenwende

IV Livland 1915

Drittes Buch Auf Leben und Tod

V St. Petersburg, Livland, Sibirien und Sewastopol 1916

VI Livland und St. Petersburg 1917

Nachwort

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Jean-Paul

Erstes Buch

Die Fülle des Lebens

I

Paris 1923 – Livland 1913

1

Paris, 31. Oktober 1923

Mit raschen Schritten bog Beatrice in die Rue des Martyrs ein. Sie fühlte sich müde, ausgelaugt, und der Hunger nagte an ihr. In ihrem winzigen Mansardenzimmer mit unzulänglicher Ofenheizung warteten ein Rest Suppe und ein halbes Baguette von gestern. Vielleicht hatte ihr Madame Ginette noch ein Stück Käse oder Schinken vor die Tür gelegt? Die Concierge besaß ein weiches Herz.

Beatrice hatte gerade ihre Lektorenstelle in dem kleinen Verlag für russische Literatur verloren. Die Edition war in Konkurs gegangen. Noch wußte Beatrice nicht, woher sie nun ohne diese einzige Verdienstmöglichkeit die wenigen Francs für das Nötigste zum Leben beschaffen sollte.

Keine fünfzig Meter von ihrer Mansardenkammer entfernt befand sich ein Antiquitätengeschäft. Der Ladeninhaber war ein alter Herr mit Menjoubärtchen und gebückter Haltung, die auf ein Rückenleiden schließen ließ. Oft beobachtete Beatrice ihn in seinem Geschäft. Er hielt einen alten Leuchter in der Hand oder rückte eine Porzellanfigur im Regal zurecht.

Trotz des inzwischen stärker werdenden Regens blieb Beatrice auch heute vor dem Schaufenster stehen. Kostbares Tafelsilber, erlesenes Sèvres Porzellan, goldene Kerzenleuchter, kunstvolle Kristallschalen … All dies hatte Beatrice von Kindheit an umgeben. Und doch schien es ihr jedes Mal, daß die Jahre, in denen dies für sie wie selbstverständlich zum Leben gehört hatte, unendlich weit zurück lagen. In einer anderen Zeit, einem anderen Land, einem längst verblichenen Leben.

Schon wollte sie weitergehen, als sie plötzlich etwas entdeckte. Zögerlich beugte sie sich näher.

Antoine Dubois saß an seinem kleinen Intarsiensekretär und putzte seine Brille. Die Sehkraft wurde schwächer, ein weiterer Stolperstein auf dem Weg ins Alter. Mit seinen dreiundsechzig Jahren war sein Körper bereits stark in Mitleidenschaft gezogen. Sein Rücken schmerzte durch die fortschreitende Wirbelsäulenverkrümmung, eine Erbkrankheit. Im rechten Knie wütete die Arthrose. Aus den Augenwinkeln sah er jetzt eine Bewegung vor dem Schaufenster.

Da war sie wieder, die junge Frau, die jeden Abend die Auslage seines Geschäfts betrachtete. Seit geraumer Zeit hatte er sie schon beobachtet. Im Juli – oder war es August gewesen? - führte sie ihr Weg zum ersten Mal an seinem Laden vorbei. Stets trug sie schwarze Kleidung und einen großen Schal, der ihr dunkles Haar halb bedeckte. Ihre schlanke Gestalt wirkte zerbrechlich, gleichwohl die Fremde groß gewachsen war. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Obgleich er sie nie aus der Nähe gesehen hatte, verströmte sie eine geheimnisvolle Aura.

Die Ladenglocke bimmelte, und mit raschen Schritten kam die junge Frau herein.

»Guten Abend, Mademoiselle – oder sollte ich Madame sagen?«

»Es spielt keine Rolle. Guten Abend, Monsieur.« Ihre Stimme klang warm und ein wenig erregt. Ihre Augen, deren Farbe er nicht genau erkennen konnte, jedoch ein dunkles Blau vermutete, flackerten unruhig.

»Was führt Sie zu mir?«

»Ich habe in Ihrer Auslage einen Ring gesehen. Würden Sie ihn mir bitte zeigen?«

»Welchen der Ringe meinen Sie? Den mit dem kleinen Rubin? Er ist sehr preiswert.«

»Nein, ich meine den Siegelring mit dem Smaragd!«

Ein leichtes, etwas skeptisches Lächeln umspielte die Lippen des Alten. Unwillkürlich fiel sein Blick auf die Schuhe der jungen Frau. Das Leder war zerschlissen, die Absätze schief getreten.

»Ein wertvolles Stück,« meinte er ein wenig von oben herab. »Und natürlich eine ganz andere Preisklasse.«

»Darf ich ihn trotzdem sehen?« Sie klang so entschlossen, daß Antoine Dubois sich beflissen gab.

»Ja, ja natürlich!«

Er schlurfte zur Schaufenstervitrine und holte den Ring. Behutsam nahm die junge Frau ihn, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Im Licht der Stehlampe funkelte der Stein in tausend Facetten.

»Sie müssen wissen,« sagte Dubois geschäftsmäßig, »normalerweise ist der Smaragd viel zu hart, als daß man ihn gravieren könnte. In den meisten Fällen springt das Material. Dieser hier ist ein ganz besonderes Stück.«

»Ich weiß.«

Die Besucherin steckte den Ring an den linken Ringfinger. Ihre Lippen verzogen sich zu einem wehmütigen Lächeln, dann schossen ihr Tränen in die Augen und sie schwankte, als würde sie ein Schwindel ergreifen. Unwillkürlich legte ihr Antoine Dubois die Hand auf den Arm.

»Ist Ihnen nicht gut? Möchten Sie sich einen Moment setzen?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, führte er die Fremde zu einer Sitzgruppe aus Louis XV Möbeln.

»Darf ich Ihnen etwas bringen? Ein Glas Wasser, einen Tee? Ich glaube, ein Schluck Tee würde Ihnen guttun!«

Jetzt bemerkte Dubois, daß seine Besucherin von ebenmäßiger Schönheit war. Noch etwas anderes konnte er in ihrem Gesicht entdecken: Eine große Melancholie, vielleicht Trauer, und eine gewisse Willensstärke.

»Trinken Sie, Madame. Sonst wird er kalt.«

Langsam führte die Unbekannte ihre Tasse zum Mund. Dann sagte sie in ihrem perfekten Französisch, dessen leichter Akzent für das geschulte Ohr des Antiquitätenhändlers sofort zuzuordnen war:

»Dieser Ring, Monsieur, woher haben Sie ihn?«

»Warum fragen Sie, Madame?«

»Ganz einfach: weil er mir gehört.«

»Eine alte Frau hat ihn mir heute Vormittag verkauft. Wer sie war, oder woher sie den Ring hatte, sagte sie nicht. Aber ich bin Geschäftsmann und frage nicht lange, wenn mir ein schönes Stück angeboten wird. Natürlich konnte ich ihr keinen exorbitanten Preis bezahlen, denn …«

Die junge Frau unterbrach ihn und schüttelte erstaunt den Kopf.

»Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie der Ring nach Paris gekommen ist, in den Besitz einer alten Frau! Er ist mir vor vielen Jahren abhanden gekommen!«

Antoine Dubois war neugierig geworden. Sein Beruf brachte es mit sich, daß seine Kunden ihm oft Geschichten erzählten. Auch diese Frau und dieser Smaragdring mit dem eingravierten Wappen zweier sich gegenüberstehender Löwen und einer Grafenkrone hatten eine Geschichte. Und Antoine Dubois war begierig, sie zu erfahren.

»Ich vermute, Sie kommen aus Russland oder Polen? Das höre ich an ihrem leichten Akzent. Dem Akzent der Aristokratie.« Prüfend blickte er die junge Frau an.

Diese lehnte sich im Sessel zurück, und alle Anspannung schien mit einem Mal von ihr abzufallen. Sie legte ihre linke Hand auf die Sessellehne. Erneut funkelte der Stein im Licht der Lampe.

»Mein Name ist Beatrice von Reckendorff, und ich komme aus Russland, Monsieur.«

Ihre Stimme bekam nun einen melancholischen Klang.

»Genauer gesagt: aus Livland, bis zum Ende der Zarenherrschaft eine der russischen Ostseeprovinzen. Nach der russischen Revolution entstanden daraus die Republiken Estland und Lettland. Damals, als ich diesen Ring geschenkt bekam, gehörten Livland und meine Familie noch zum russischen Zarenreich. Jahrhunderte zuvor war unser Urahn, wie viele andere Deutsche, nach Livland eingewandert. Dort stellten die einheimischen Esten und Letten die Mehrheit der Bevölkerung. Doch die eingewanderten Deutsch-Balten erkämpften ihre politische und kulturelle Eigenständigkeit. Dies betraf unsere deutsche Muttersprache, eine autonome Verwaltung, Schulwesen, Justiz, Polizei und die Bildung des Landtags. Innerhalb Russlands hatten wir als Minderheit eine Sonderstellung. Dennoch waren wir im Vielvölkerstaat Russland stets loyale Untertanen des Zaren. Viele Balten bekeideten hohe Staatsämter, waren in Forschung und Wissenschaft tätig und dienten als Ofiziere in der zaristischen Armee.«

»Das wußte ich alles gar nicht,« meinte Dubois erstaunt.

»Das geht vielen Europäern so. Doch das war eines Tages zu Ende. Der Sturm der Geschichte hat alles verweht.«

Beatrice schwieg und betrachtete nachdenklich den Ring an ihrem Finger. Voller Wehmut eilten ihre Gedanken zurück.

Damals, an ihrem siebzehnten Geburtstag … Schon früh am Morgen traf sich die ganze Familie im Blauen Salon auf Schloss Aicken, um ihr zu gratulieren. Auf einem Silbertablett lagen Briefe und Telegramme. Der Vater öffnete ein kleines, mit Samt ausgeschlagenes Kästchen, nahm einen Ring heraus und steckte ihn an den Finger seiner Tochter. Feierlich sagte er:

»Diesen Ring trug dein Urgroßvater in der entscheidenden Schlacht gegen Napoleon bei Leipzig. Das Wappentier ist unser Schutzpatron! Mögen dir unsere springenden Löwen alles Glück der Welt bescheren! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Beatrice!«

Butler Johann reichte Champagner, und alle gratulierten ihr. Dann ging man beschwingt in den Tag, und am Abend feierte man das Johannifest.

Wenig später ließen Arved und sie ihre Pferde für den morgendlichen Ausritt satteln …

2

Der staubige Weg am Rande des Birkenwäldchens führte später in einen angrenzenden Mischwald. Nach einigen Metern begann ein dichter Schilfgürtel, der das Ufer des Mondsees in weiten Teilen eingrenzte. Über dem Wasser glitzerte das Sonnenlicht. Zwei Fischreiher flogen dicht über der Oberfläche ins Schilf und ließen sich nieder. Durch das plötzliche Geräusch der knisternden Halme scheute das Pferd.

»Ganz ruhig, Rasboi!« Beatrice klopfte den Hals ihres schwarzen Wallachs und ließ das Tier vom Trab in den Schritt fallen. Sie lachte und wandte sich zu Arved.

»Er ist einfach zu dumm! Dabei kennt er doch diese Geräusche!«

Arved lächelte und strich seine blonden, dichten Haare aus der Stirn.

»Auch Rassepferde sind nicht intelligenter als ein Ackergaul. - So eine Hitze!«

»Papa sagt, das soll erst der Anfang sein. Für das Johannifest heute Abend aber genau das richtige Wetter.«

Seit Beginn des Sommers ritt Beatrice im Herrensitz. Dies hatte zu heftigen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater geführt. Graf Moritz von Reckendorff hatte feste Prinzipien hinsichtlich der Erziehung einer jungen Comtesse, deren tadelloses Benehmen und gebührender Anstand die Voraussetzung waren für eine standesgemäße Ehe. Schließendlich hatte Beatrice ihren Willen durchgesetzt, da Tante Meggie sie unterstützt hatte. Und weil Graf Moritz bei allen Prinzipien eine große Schwäche für seine Tochter besaß. Von der Schneiderin in Riga waren Reithosen angefertigt worden. Braune Stiefel aus weichem Leder vervollständigten den ungewöhnlichen Reitdress.

Arved, der Ziehsohn der Reckendorffs, war einige Jahre älter als Beatrice und mit ihr zusammen aufgewachsen. Jetzt, in den Semesterferien, ging er Graf Moritz bei den Belangen der Güter zur Hand und erwies sich bereits als tüchtiger Landwirt.

»Na, was ist, mein Lieber? Kleines Wettrennen, durch den Wald bis zum Hochmoor?«

Ohne Arveds Antwort abzuwarten gab Beatrice ihrem Wallach die Schenkel. In gestrecktem Gallopp bog sie vom Sandweg in den Waldweg ein und preschte davon. Ihre dunklen Haare, lose im Nacken zusammen gebunden, flatterten im Wind.

Arved schüttelte den Kopf und lächelte. Sie reitet wie ein Kosak, dachte er.

Der weiche Waldboden dämpfte die Schritte des Rappen. Beatrice ließ die Zügel etwas lockerer, und Rasboi steigerte sein Tempo. Einige Male drehte sie sich um, Arved war nicht zu sehen. Lauthals warnte ein Eichelhäher. Im Unterholz raschelte es. Ein Fuchs, ein Dachs? Lichtstrahlen glitzerten durch die Zweige der Bäume. Der Geruch des schwitzenden Pferdes vermischte sich mit dem würzigen Duft des Waldbodens. Beatrice war ganz in ihrem Element. In Einklang mit der Schönheit der Natur, mit den Pflanzen und Tieren des weitläufigen Besitzes ihrer Familie. Frei und ungebunden fühlte sie sich. Hier gab es keine Etikette, keine mahnende Stimme, wie junge Comtessen sich zu verhalten und zu kleiden hatten.

Der Weg führte mitten durch den Wingener Forst, eines der Jagdreviere von Graf Moritz. Oft hatte Beatrice bei ihren Ausritten Rehe gesehen, die dann erschrocken ins Unterholz flüchteten. Im Winter konnte es geschehen, daß sich Elche in diese Gegend verirrten, sogar Wölfe und Bären.

Vor einer Brombeerhecke auf einer kleinen Lichtung parierte Beatrice ihr Pferd durch und lockerte die Zügel. Schnaubend und mit schaumigem Maul stand Rasboi, um gleich darauf an den mageren Grasbüscheln zu knabbern. Beatrice ließ ihn gewähren und atmete tief durch. Jetzt kam Arved in verhaltenem Gallopp. Sein Pferd wirkte nur mäßig angestrengt.

»Warst du mit Absicht so langsam?« argwöhnte Beatrice und runzelte die Stirn.

»Ach was, das würde ich nie tun! Fairer Wettstreit, das weißt du doch.«

Beatrice blickte ihn skeptisch an. Beide stiegen ab und überließen die Pferde sich selbst. Ein morscher Baumstamm am Wegesrand lud zur Rast ein.

»Was für ein herrlicher Morgen!« schwärmte Arved und schien sich mit der Hitze arrangiert zu haben. Verträumt blinzelte er in die Sonne. »Ich liebe den Sommer! Die weißen Nächte …

»Und ich habe schrecklichen Durst,« meinte Beatrice wenig prosaisch. »Wir hätten eine Feldflasche mit Wasser mitnehmen sollen.«

»Stimmt. Leider ist das jetzt nicht mehr zu ändern. Ich weiß aber, daß die Köchin frische Zitronenlimonade abgefüllt und in den Eiskeller gebracht hat!«

Arved streckte seine langen Beine aus. Es entstand ein Schweigen. Schmetterlinge flatterten im Sonnenschein. Das Summen der Insekten mischte sich mit dem Schrei eines Eichelhähers. Eine Kornweihe drehte ihre Kreise über dem Hochmoor am flirrenden Himmel, um sich plötzlich in die Tiefe zu stürzen.

Arved wandte sich zu Beatrice. Wie schön sie war! Ihr Gesicht mit den dunkelblauen Augen hatte bereits eine leichte Bräunung angenommen. Das mochte er an ihr: ihre unbekümmerte Frische, die natürliche, unkapriziöse Art. Sie war anders als die jungen Mädchen und Frauen, die Arved in der Verwandtschaft und Bekanntschaft der Reckendorffs bisher kennengelernt hatte.

Seine Stimme klang plötzlich ganz weich.

»Bea, ich, ich wollte dir etwas sagen,« begann er stockend. »Das heißt, das wollte ich dir schon lange sagen. Und heute, an deinem Geburtstag, ist vielleicht genau der richtige Moment.«

»Ja, was denn?« fragte Beatrice unbefangen. »Na los, Arved, sag schon!«

»Kannst du es dir nicht denken?«

»Nein. Worum geht es?«

Er nahm ihre linke Hand. Der Smaragdring mit dem eingravierten Familienwappen funkelte im Sonnenlicht. In Arveds hellgrünen Augen entdeckte Beatrice etwas Unbekanntes. Sie zog ihre Hand nicht weg. Als ob eine Magie von der Berührung ausging, ein Zauber, der sie für einen Moment in den Bann schlug. Ein Schauer durchlief sie plötzlich, und ihr Herz schlug schneller. So lange kannte sie Arved schon, seit ihrer Kindheit. Er war ihr Spielkamerad gewesen, ihr großer Bruder und Beschützer. Ein Waisenjunge und einziger Spross der verarmten Adelsfamilie von Stolkenberg aus Dorpat, den ihr Vater als Ziehsohn angenommen hatte. Und doch, in diesem Moment geschah etwas völlig Neues.

Sie war verwirrt.

Arved schien dies zu spüren. Behutsam legte er seinen Arm um ihre Schulter und küßte ihre Lippen. Sie waren weich und angenehm kühl. Beatrice ließ es einen Moment geschehen, dann löste sie sich abrupt aus der Umarmung.

»Was soll das, Arved? Ich …« Ihre Augen blickten unsicher, ihr Lachen klang verlegen. Arved fühlte sich ermutigt.

»Entschuldige, aber meine Gefühle für dich haben sich seit einiger Zeit verändert. Ich weiß, daß ich dich liebe. Und ich möchte, daß du meine Frau wirst.«

Abrupt erhob sich Beatrice. Sie spürte die Röte in ihrem Gesicht, das Zittern ihrer Hände. Etwas war soeben geschehen, von dem sie eine vage Vorstellung hatte. Sie ahnte, daß an diesem herrlichen Geburtstagsmorgen ein Abschnitt ihres Lebens endgültig zu Ende gegangen war – ihre Kindheit mit dem guten Freund und Kameraden Arved. Sie betrachtete den Mann, der immer noch auf dem Baumstamm saß und sie erwartungsvoll ansah. Seine große, schlanke Gestalt, das markante Gesicht mit der leicht gebogenen Nase, seinen geschwungenen Mund. Er sah blendend aus. Männlich, trotz seiner zwanzig Jahre. Und sein Kuß brannte immer noch auf ihren Lippen.

»Ich …ich weiß nicht, was ich sagen soll, Arved. Es wäre mir lieber, du würdest …«

Sie stockte und drehte sich um. Mit raschen Schritten ging sie zu ihrem Wallach, schwang sich in den Sattel und gab Rasboi die Schenkel.

3

Die Fenster im ersten Stock des Südflügels von Schloss Aicken waren weit geöffnet. Gesprenkeltes Licht floß in den Raum, der mit seinen hohen Wänden auch im heißesten Sommer stets eine gewisse Kühle verströmte. Auf der Fensterbank dösten schläfrige Fliegen. Im Park lärmten die Sommervögel. Ihre aufgeregten Stimmen vermischten sich mit dem Geruch von frisch gemähtem Rasen.

Charlotte Gräfin von Reckendorff saß an dem kleinen Biedermeierschreibtisch in ihrem Salon. Sie pflegte eine rege Korrespondenz. In Riga, Dorpat, Berlin, Paris und Sankt Petersburg lebten Verwandte und alte Freundinnen, denen sie, je nachdem, auf Deutsch, Russisch oder Französisch schrieb. Sie beendete das kyrillisch gehaltene Schreiben an Tatjana Kropotkin in St. Petersburg, die Patentante von Charlottes Tochter Beatrice. Seit ihrem siebzehnten Lebensjahr kannten die beiden Frauen sich. Tatjana war ein halbes Jahr jünger als Charlotte, im Mai hatte sie ihren neununddreißigsten Geburtstag gefeiert. 1892 gehörten beide Frauen zum Kreis der Hofdamen der Zarenmutter Marija Fjodorowna, wie vor ihnen andere ausgesuchte Töchter des Hochadels. Während Charlotte nach ihrem Ehrendienst am Zarenhof mit Graf Moritz von Reckendorff nicht nur eine standesgemäße Verbindung, sondern eine Liebesheirat eingegangen war, hatte Tatjanas persönliches Schicksal unter keinem guten Stern gestanden. Nach einer unglücklichen Ehe mit einem Fürsten Kropotkin war sie Witwe. Seitdem lebte sie kinderlos in einem Stadtpalais in St. Petersburg und schrieb Liebesromane, die sie unter Pseudonym in einem Moskauer Verlag veröffentlichte.

Charlotte legte den Füllfederhalter beiseite. Für das Johannifest am Abend war alles gut vorbereitet. Auf Aicken rechnete man mit etwa dreißig Gästen. Vor zwei Tagen waren bereits Moritz’ Eltern aus Riga angereist und logierten in einem der Gästeappartements im Westflügel. Der alte Graf Sigismund hatte den Reckendorff ’schen Besitz, bestehend aus Schloss Aicken, den Gütern Rübswald, Breitensee und Wingen, schon vor Jahren in die Verantwortung seines einzigen Sohnes Moritz gelegt. Zum Besitz gehörten ein großes Sägewerk, eine Ziegelei, eine Brauerei so wie eine Meierei zur Verarbeitung der Milch, die die Holsteiner Kühe von Gut Rübswald lieferten. Mit seiner Frau Elisabeth bewohnte der alte Reckendorff eine geräumige Stadtvilla in Riga. Zwei seiner Töchter waren verheiratet und wohnten weit entfernt. Eine andere lebte als Nonne in der Nähe von Moskau. Moritz’ älteste Schwester Margarethe, genannt Tante Meggie, hatte nie geheiratet und wohnte im Schloss.

Charlotte ging zum Fenster und blickte in den Park, dessen frisch gemähter Rasen soeben von zwei Gärtnergehilfen besprengt wurde. Das kräftige Blattwerk der alten Eichen, die den Park und die breite Schlossauffahrt umsäumten und dem Anwesen vor vielen Generationen seinen Namen »Aicken« gegeben hatten, warf flirrende Schatten auf die Grünfläche. Gleich hinter dem Park lag der Mondsee, der größte der zahlreichen Seen, die zum Besitz der Grafen von Reckendorff gehörten. Gerade wollte Charlotte sich abwenden, als eine Schar Stare das helle Licht durchschnitt. Mit kräftigem Flügelschlag zog sie Richtung See. Doch einer der Vögel drehte plötzlich ab. Beinahe im Sturzflug steuerte er auf das offene Fenster zu und ließ sich auf dem steinernen Sims nieder.

Erschrocken wich Charlotte zurück. Die Prophezeihung! dachte sie und spürte, wie ein Schauer sie durchfuhr. Die Prophezeihung der alten Zigeunerin vor vier Monaten in Monte Carlo, wo sie mit Moritz einige Wochen zur Kur weilte, wie jedes Jahr. Ein schwarzer Vogel, Exzellenz. Wenn er sich in Ihrer Nähe niederläßt, bringt er Unglück! Ich sehe eine Feuersbrunst und großes Sterben …

Ein heftiger Hustenanfall unterbrach Charlottes Erinnerung. Das Geräusch verscheuchte den Vogel. Charlotte rang nach Luft, und Tränen der Pein liefen ihr über die Wangen. Sie richtete Frisur und Kleidung und verließ das Arbeitszimmer.

Eine lang gestreckte Galerie verband den Nord- und Südflügel mit dem Haupttrakt des Schlosses. Seit einiger Zeit gab es in Aicken elektrisches Licht. Im letzten Sommer hatte Graf Moritz eine Zentralheizung einbauen lassen, die mit Holz betrieben wurde. Ein einfacher und billiger Brennstoff, der in den Schloss eigenen Wäldern von den Waldarbeitern geschlagen wurde. In den oberen Etagen gab es weiterhin nur Kachelöfen oder Kamine als einzige Heizquelle. Dort lagen die Schlafzimmer der Kinder, die Zimmer des Hauslehrers, von Mademoiselle und der Hausdame, so wie einige Gästezimmer. Im Dachgeschoß befanden sich die Kammern der Dienerschaft, über eine hintere Stiege zu erreichen.

Über die große Freitreppe ging Charlotte ins Erdgeschoss. Aus dem Musikzimmer hörte sie vertraute Klänge. Tante Meggie spielte eine Klaviersonate von Mozart. Charlotte lächelte. Sie mochte die unverheiratete Schwester ihres Mannes, wenn sie auch nicht deren politische Ansichten teilte. Margarethe Comtesse von Reckendorff besaß eine gewisse Schwäche für anarchistisches Gedankengut und revolutionäre Ideen. Sie verurteilte die repressive Innenpolitik des Zaren und war der festen Meinung, dass die Revolution von 1905, vom Zaren blutig nieder geschlagen, den Beginn weiterer Unruhen und Revolten nach sich ziehen würde. Mit ihren »sozialromantischen Anwandlungen«, wie Graf Moritz die Äußerungen seiner Schwester bezeichnete, handelte sie sich regelmäßig dessen Unwillen ein.

Charlotte seufzte. Rein und makellos klang das Spiel ihrer Schwägerin. War Meggie ein glücklicher Mensch? Wenn sie bei ihrem meisterlichen Spiel an ihrem Flügel saß, schien dies gewiß. Doch Charlotte wußte, dass Meggie auf diese Weise Vergessen suchte. Durch ihre Geburt und ihren Stand war ihr Schicksal vorgezeichnet gewesen. Einst hatte sie sich vergeblich dagegen aufgelehnt.

4

Der Lärm der Dieselmotoren klang ohrenbetäubend. Eine dichte Staubwolke trübte das Licht in der großen Sägehalle. Die Luft war zum Schneiden, der Steinboden ringsum mit einer dicken Schicht Sägespäne und Ausschuß bedeckt. Immer neue Rundstämme legten die Arbeiter in den Vorschub der Gattersäge, bevor sie zu gleichmäßigen Brettern zerteilt wurden.

»Wieviel habt ihr noch?« rief Graf Moritz dem Vorarbeiter zu.

»Zwei volle Wagen, gnädiger Herr.«

»Die Ladung muß heute noch zur Bahnstation.«

Er gab Hans Schröder, dem Verwalter der Reckendorff ’schen Güter, einen Wink. Mit seiner Familie bewohnte Schröder das kleine Verwalterhaus gleich hinter dem Herrenhaus.

»Kommen Sie, hier drinnen versteht man sein eigenes Wort nicht.«

Die beiden Männer verließen die Halle und entfernten sich einige Schritte. Graf Moritz strich mit dem Handrücken den Schweiß aus der Stirn.

»Ich weiß nicht, wie Ihr Eindruck ist, Schröder. Aber ich beobachte schon seit geraumer Zeit, daß die Arbeit im Sägewerk nicht so voran geht, wie ich mir das vorstelle. «

»Da mögen Sie Recht haben, Herr Graf. Der Vorarbeiter hatte neulich gemeint, die Sägeblätter, auch von der Bandsäge, müßten dringend geschärft werden.«

»Und - wurden sie das?«

»Gleich gestern. Hat aber anscheinend wenig genützt. Da wird absichtlich gebummelt.«

Ein junger Mann schlenderte über den Rundholzplatz auf den Eingang der Sägemühle zu. Graf Moritz stutzte.

»Ist das nicht der älteste Sprößling von diesem Simberg?«

»Ja, er heißt Jännis,« erwiderte der Verwalter. »Ich habe mich vorhin schon gefragt, warum er nicht bei den anderen ist.«

Graf Moritz runzelte unwillig die Stirn.

»He, Simberg!« rief er. »Komm mal her.«

Der junge Mann zögerte kurz, dann ging er langsam auf die beiden Männer zu.

»Warum bist du nicht bei der Arbeit?« Moritz’ Stimme war scharf geworden.

Jännis blieb stehen. Seine hellen Augen strahlten dennoch etwas Dunkles aus.. Unter seiner speckigen Mütze quoll weißblondes, struppiges Haar hervor. Seine weite Arbeitshose wurde von einem Strick zusammengehalten. Das Hemd war verschmutzt und über der Brust eingerissen.

»Mußte mal austreten«, murmelte er.

»Austreten? Das dauert normalerweise aber nicht so lange.«

»Manchmal schon …Gnädiger Herr.«

Jännis Simberg blickte dem Grafen geradewegs in die Augen. In seinem Blick lag eine Art Widerwillen, den er nur mühsam verbergen konnte. Er tippte mit dem Finger an seine Mütze und drehte sich um. Seine Schritte waren jetzt etwas zügiger als zuvor, dennoch hatte sein Gang etwas Provozierendes.

»Auf den müssen wir ein Auge werfen, Herr Graf.« Nachdenklich strich der Verwalter mit dem Daumen über seinen ungepflegt wirkenden Schnauzbart. Graf Moritz nickte.

»Einer der Holzfäller hat vor einigen Wochen gehört, wie der Junge im Dorfkrug große Reden geschwungen hat. Tendenz: Bevor die Deutschen hierher kamen, gehörte das Land uns. Auch wenn das schon Jahrhunderte zurück läge …Über den Lohn im Sägewerk hat er sich auch beschwert.«

»Das sind schwierige Leute, Herr Graf. Der Vater Quartalssäufer. Dann sieben Kinder, die er kaum ernähren kann. Aus der Brauerei habe ich ihn kürzlich aus naheliegenden Gründen abgezogen. Im Moment arbeitet der Mann in der Ziegelei. Kommt aber nie pünktlich und fehlt oft.«

»Die Buschwächter vermuten, daß der Kerl im letzten Winter in meinen Wäldern bei Breitensee gewildert hat. Er wurde aber nie auf frischer Tat ertappt.«

»Weil er schlau ist und vermutlich Helfershelfer hat. Die Frau ist aber ordentlich, doch mit den vielen Kindern überfordert. Und der Älteste ist keine große Hilfe für sie.«

»Wie der Herr, so’s Gescherr,« antwortete Graf Moritz und zückte seine Taschenuhr.

Über den Rundholzplatz näherten sich zwei Reiter im leichten Trab. Es waren Beatrice und Arved.

»Hallo, Papa! Guten Morgen, Herr Schröder.«

»Guten Morgen, gnädiges Fräulein. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

»Danke!«

»Guten Morgen, Herr Baron.«

Mit wohlwollender Skepsis betrachtete Moritz seine Tochter und deutete auf Rasboi.

»Mal ganz ehrlich, Schröder: wie denken Sie darüber?

»Worüber, Herr Graf?«

»Ich meine, finden Sie es nicht ein wenig ungebührlich, daß meine Tochter im Herrensitz reitet?«

Schröder lachte und schüttelte den Kopf. Er war keiner, der seinem Brotherrn nach dem Mund redete.

»Ganz und gar nicht! Die Zeiten ändern sich doch. Und nichts spricht gegen eine junge Comtesse, die ihre eigenen Ansichten hat.«

»Sagen Sie das nicht zu laut, sonst kommen noch ganz andere Dinge auf mich zu! Seien Sie bloß froh, daß Sie keine Tochter haben. Na ja, kann ja noch kommen. – Aber Scherz beiseite. Ihr zwei seht irgendwie so ernst aus! Oder irre ich mich?«

»Du irrst dich, Papa,« sagte Beatrice rasch. «Das ist nur die Hitze.«

»Ja, was sonst?« murmelte der Graf.

Er schwang sich auf sein Pferd, einen hellbraunen Trakehnerhengst. Zusammen mit Beatrice und Arved machte er sich auf den Rückweg zum Schloss.

5

»Sind wir bald fertig?« fragte der 13-jährige Constantin ungeduldig und reckte seinen Kopf zum Fenster. »Ich will noch vor dem Lunch zum Schwimmen!«

»Moment noch,« erwiderte Hauslehrer Friedrichs. «Sag mir zum Schluß den Satz des Pythagoras.«

»Der fällt mir gerade nicht ein!« Der Junge glitt vom Stuhl. «Aber ich kann Ihnen den Satz des Diogenes sagen: Geh mir aus der Sonne!« Schon fiel die Tür des Schulzimmers zu. Wenig später sah Friedrichs wie Constantin über den Schlosshof lief. Eine zweite Gestalt trat in sein Blickfeld. Es war Florentine de Pradesse, die junge Französin. Sie lebte im Schloss und wurde »Mademoiselle« genannt. Vor zwei Jahren war sie direkt aus der französischen Provinz angereist, um Constantin Französischunterricht zu geben. Mit eiligen Schritten ging sie auf den Hintereingang des Schlosses zu.

Friedrichs seufzte und packte die Lehrbücher und Constantins Geometrieheft zusammen. Bis zum Mittagessen an der gräflichen Tafel war noch Zeit, um in Ruhe eine Zigarette zu rauchen.

Constantin hatte seine Badesachen geholt und rannte zum See, der sich so weit erstreckte, daß man das gegenüber liegende Ufer nicht sehen konnte. Alle Gewässer auf den Reckendorff ’schen Ländereien waren äußerst fischreich. Die Fischereirechte hatte Graf Moritz an einheimische Letten verpachtet, die einen Teil ihres Fangs ans Schloss liefern mußten. An der gräflichen Tafel mangelte es deshalb nie an Fischgerichten, die die Köchin Anna in immer neuen Variationen zubereitete.

Constantin war kein Junge, der verzärtelt wurde. Als alleiniger Erbe des gräflichen Besitzes und späterer Majoratsherr wurde auf seine Erziehung und Bildung besonderen Wert gelegt. Auch sportliche Ertüchtigung wie täglicher Reitunterricht und Schwimmen im See waren wichtig. Er war ein aufgeweckter und intelligenter Junge. Mit seinen braunen Haaren, den grünbraunen Augen und den kräftigen Lippen ähnelte er seinem Vater. Von der Mutter hatte er den schmalen Gesichtsschnitt und die hohen Backenknochen geerbt. Noch hatte seine Stimme den hellen Klang des Kindes, doch große Hände und Füße so wie eine schlaksige Gestalt wiesen bereits darauf hin, dass Constantin von Reckendorff dem Knabenalter bald entwachsen sein würde.

Mit Arved, der schon lange im Schloss lebte, verstand Constantin sich gut, ebenso mit Beatrice. Doch Constantins Liebling war Cousin Alexander Eisenstetten. Als jüngster Sohn von Gräfin Charlottes Bruder Donatus war er Berufsoffizier geworden und diente im Chevalier-Garderegiment, dem Leibregiment der Zarin, in St. Petersburg. Constantin bewunderte ihn grenzenlos.

Am Ufer stand ein kleines Badehäuschen zum Umziehen und Ablegen der Kleidung. Als guter Schwimmer badete Constantin selbst bei sehr kühlen Temperaturen regelmäßig im See. Nach einer Viertelstunde stieg er aus dem Wasser.

Wenig später hörte er Motorengeräusche. Auf der Eichenallee, die zum Schloss führte, sah er eine Staubwolke. Das mußte Willuk sein, der ehemalige Oberkutscher, inzwischen Chauffeur des brandneuen Automobils, das Graf Moritz im Frühjahr gekauft hatte. Es war eine himmelblau lackierte Linousine mit schwarzem Dach. Weit und breit war Graf Moritz der Einzige, der schon ein Automobil besaß. Auch Constantin begeisterte sich für diese Anschaffung. Willuk hatte ihm die Technik dieses Wunderwerkes in allen Einzelheiten erklärt, und in einigen Jahren würde er dem jungen Herrn das Fahren beibringen.

Wenig später fuhr das Prachtstück mit einem lauten Hupton vor. Die nächsten Gäste waren angekommen. Es waren Baron und Baronin Bergh mit ihrer Tochter Emily aus Dorpat. Willuk hatte sie von der Bahnstation Wolmar abgeholt. Constantin begrüßte die Baronin mit Handkuß, den Ehemann mit einem Diener und Emily mit einem kühlen »Hallo«. Sie war ein pummeliges Mädchen in seinem Alter, das bei jeder Gelegenheit unbekümmert lachte. Der Junge konnte wenig mit ihr anfangen und befürchtete, daß sie in den kommenden Wochen wie eine Klette an ihm hängen würde.

»Du meine Güte!« sagte Baronin Bergh. »So ein Gerüttele, und dann diese lauten Motorengeräusche! Ich bevorzuge die Kutsche!«

Die spitze Nase der Baronin, ihre zu eng stehenden Augen und ihr schiefer Gesichtsschnitt vermittelten eine leichte Verschlagenheit. Durch ihren herrschsüchtigen und neidischen Charakter wurde dieser Eindruck verstärkt. Ihr Mann Adam, der mehr oder weniger an den Herausforderungen des Lebens gescheitert war, stand ganz in ihrem Schatten. Niemand auf Aicken mochte die Berghs. Seit langem schlug sich die Familie irgendwie durch. Sie bereiste das Land auf der stetigen Suche nach Aufnahme bei reichen Verwandten, und ihre Besuche dauerten oft Wochen und Monate. Jeder in der Familie hielt sie für Schnorrer, die die sprichwörtliche baltische Gastfreundschaft schamlos ausnutzten. Doch niemand wollte sich nachsagen lassen, daß man sich nicht mitleidvoll gegenüber einer armen und glücklosen Verwandtschaft zeigte.

»Constantin,« sagte die Baronin. »Kümmere dich am besten gleich um Emily. Sie hat sich so auf dich gefreut!«

6

Als letzte stieg Beatrice vom Pferd und überließ Rasboi dem Stallburschen Päkka.

Auf dem Innenhof des Schlosses herrschte allerlei Betrieb. Ein Gärtner schleppte einen großen Korb voller frisch geernteter Kirschen aus dem Obstgarten ins Haus. Zwei Hausknechte mühten sich mit einer Zinkwanne ab, die bis zum Rand mit Eisbrocken aus dem Eiskeller bestückt war. Der Stallmeister scheuchte die Stallburschen herum. Die meisten Gäste würden mit eigenen Kutschen und Jagdwagen kommen. Da galt es, sich um das Rangieren der Fahrzeuge und die Versorgung der Pferde zu kümmern. Für die Kutscher und begleitenden Diener der Herrschaften würde im Gesindehaus eine deftige Mahlzeit gereicht werden. Von dort eilte soeben die Hausdame, Fräulein Kleinschmidt, Richtung Kücheneingang. Sie führte das Regiment über sämtliches Hauspersonal und war an einem Tag wie diesem besonders gefordert.

Verschwitzt und außer Atem ging Beatrice in ihr Zimmer. Es lag im ersten Stock des Südflügels, gegenüber dem Zimmer ihres Bruders Constantin. Im Raum war es angenehm kühl. Gleich darauf klopfte es an der Tür. Lena, das sechzehnjährige Stubenmädchen, knickste und stellte ein Tablett mit einer Karaffe Zitronenlimonade und einem Glas auf den Tisch.

»Der Baron und die Baronin sind eingetroffen,« sagte Lena mit schüchterner Stimme.

»Wie immer zu früh,« murmelte Beatrice. «Danke, Lena, du kannst gehen, ich schenke mir selbst ein.«

Leise fiel die Tür ins Schloss. Mit gierigen Zügen trank Beatrice die kühle Erfrischung. Gedanken und Gefühle schwirrten in ihrem Kopf. Auf dem Rückweg hatten sie und Arved nur wenige belanglose Worte gewechselt. Beatrice hatte sich vorgenommen, das Gespräch und den Kuß beim Hochmoor nicht wieder zu erwähnen. Zunächst wollte sie ein wenig Abstand gewinnen. Arveds Geständnis und sein Heiratsantrag hatten sie vollkommen überrascht und in einen Zustand innerer Unruhe versetzt. Sie hatte ein starkes Gefühl verspürt, als er sie auf diese völlig neue Art berührte. Doch Beatrice war besonnen genug, sich nicht einfach von einem romantischen Moment blenden zu lassen.

Sie zog ihren Reitdress aus und ging ins Badezimmer. Nachdem sie sich erfrischt hatte, klingelte sie nach der Kammerzofe Sofia, einer alterslos wirkenden Frau mit strenger Knotenfrisur. Eine Bedienstete vom alten Schlag, die schon der Mutter des Grafen gedient hatte.

»Was meinst du, Sofia: zum Lunch das hellblaue Mousselinkleid mit den schmalen Ärmeln?«

»Eine gute Wahl, gnädiges Fräulein,« erwiderte die Kammerzofe und holte das Kleid aus der angrenzenden Ankleide. Sie mochte Beatrice, und ihren Dienst im gräflichen Haushalt versah sie gern. Die Bezahlung war großzügiger als anderswo. Die drei Damen des Hauses, die Gräfin, die Schwester des Grafen und die junge Comtesse, behandelten sie freundlich und mit Respekt.

****

Arved wählte eine weißgelb gestreifte Seidenkrawatte zu seinem hellen Leinenanzug, der ebenso lässig wie elegant seine schlanke, große Gestalt betonte. Beatrice und er hatten kaum geredet, als sie zurück geritten waren. Durch den kurzen Aufenthalt am Sägewerk und die anschließende Begleitung von Onkel Moritz hatte sich die Stimmung etwas aufgelockert. Trotz Beatrices brüsker Reaktion fühlte Arved sich weder niedergeschlagen noch deprimiert. Er war erleichtert, daß er sein Liebesgeständnis endlich hinter sich gebracht hatte. Alles Weitere würde sich finden. Denn was hatte er erwartet? Daß Beatrice ihm stürmisch um den Hals fallen würde? Das wäre sehr untypisch für ihren Charakter gewesen. Natürlich hatte er gespürt, daß Beatrice einen Moment willenlos schien und verwirrt. Er würde warten, was sich in den kommenden Wochen und Monaten entwickelte.

Ein letzter Blick in den Spiegel. Der blonde Oberlippenbart war sorgfältig gestutzt. Auf dem Weg nach unten traf er Tante Meggie, die sich zum Lunch ebenfalls umgezogen hatte. Ihr grünes, Knöchel langes Taftkleid raschelte bei jedem Schritt. Wohlwollend betrachtete Meggie den jungen Mann und lächelte.

»Gut siehst du aus, Arved! Im übrigen ganz dein Papa. Ich denke oft an ihn und daran, wie er seinerzeit in Dorpat allen jungen Mädchen den Kopf verdreht hat. Bei deiner Mutter wurde es dann Ernst. «

Wehmütig nickte Arved. In Dorpat hatte Vater Louis von Stolkenberg als Insektenforscher an der Universität gearbeitet. Der Tod seiner Eltern auf ihrer Forschungsreise in den Kaukasus hatte Arveds Leben bestimmt. Nie war der feige Mord an ihnen aufgeklärt worden. Ausgeraubt und erschlagen wie räudige Hunde hatte man sie und ihre ortskundigen Reiseführer erst Tage nach der Tat am Rand einer Schlucht gefunden. Arved war damals noch ein Kind, doch er erinnerte sich genau, wie fremde Menschen ihm die schreckliche Nachricht überbracht hatten. Verwandte, die den Jungen hätten aufnehmen können, gab es nicht. Nur eine Schwester seiner bürgerlichen Mutter, die in Pommern wohnte, hatte sich widerstrebend dazu bereit erklärt. Doch das hatte Graf Moritz verhindert. Mit Louis Stolkenberg war er seit seiner Studentenzeit in Dorpat befreundet. Moritz wollte, daß der Sohn seines alten Corpsbruders in seiner Heimat groß wurde und eine standesgemäße Erziehung erhielt.

»Danke für das Kompliment, Tante Meggie. Ich fühle mich phantastisch. Der Sommer ist meine Jahreszeit!«

»Warst du mit Beatrice ausreiten?«

»Ja.«

»Bei der Hitze? Für mich ist das nichts. Ich fange erst im September wieder an. Ich hoffe, der Stallmeister bewegt ab und zu meine Stute.«

»Ich habe die beiden gerade heute Morgen gesehen.«Auch im fortgeschrittenen Alter war Meggie immer noch eine schöne Frau. Feine Fältchen auf ihrer makellos hellen Haut verspielten sich. Doch inzwischen lag eine gewisse Strenge, beinahe eine asketische Entsagung auf ihren schmalen, klassischen Gesichszügen. Oft jedoch blickten ihre dunkelbraunen Augen melancholisch und ein wenig verloren, als suchten sie etwas, was sie nicht finden konnten.

»Bis zum Lunch ist es noch eine Viertelstunde,« sagte sie mit ihrer dunklen Stimme. »Ich würde gern einen kleinen Gang durch den Park machen. Begleitest du mich, Arved?«

Galant reichte der junge Mann ihr den Arm.

7

Auf dem Weg zum Speisesaal begegnete Beatrice ihrer Mutter. Gräfin Charlotte öffnete soeben die große Flügeltür, die den Blauen Salon mit dem Katharinen-Zimmer verband. Es war das Rauch- und Spielzimmer. Am Abend würden sich hier einige der älteren Gäste zu einer Partie Bridge zusammenfinden.

Angrenzend an das Katharinen-Zimmer lag das Musikzimmer mit dem Bechstein Flügel und diversen Instrumenten wie Geige und Cello. Dies war hauptsächlich Tante Meggies Reich. In den Herbst- und Wintermonaten gab es oft Hauskonzerte. Arved spielte Cello, Tante Meggie und Beatrice musizierten vierhändig auf dem Flügel. Constantin bekam seit drei Jahren Geigenunterricht und machte gute Fortschritte. Manchmal erklang auch Gräfin Charlottes schöner Sopran. Doch in den letzten Jahren litt sie wegen ihrer Lungenerkrankheit oft unter Atemproblemen und mußte deshalb kürzer treten.

Mit raschen Schritten durchquerten Mutter und Tochter die Halle mit der imposanten Freitreppe. Gleich dahinter lagen das Jagd- und Arbeitszimmer des Grafen. Die Wirtschaftsräume mit der großen Küche und dem Gesindezimmer für das Hauspersonal befanden sich im Souterrain des Schlosses. Man erreichte sie durch eine kleine Treppe am Ende der Halle sowie durch den Kücheneingang auf dem Schlosshof. In der Schlossküche wurde für die gräfliche Familie und ihre Gäste gekocht, auch für die Dienerschaft. Für die Knechte und das Stall- und Hofpersonal gab es die Küche im Gesindehaus. Am Ende der Halle lag der Ballsaal. Mit seiner verzierten Stuckdecke, den drei riesigen Kronleuchtern und dem blank gewienerten Parkettfußboden wirkte er imposant. So manches Fest war hier schon gefeiert worden.

Als Beatrice den Speisesaal betrat, gratulierten ihr Mademoiselle, Friedrichs und die Berghs zum Geburtstag. Während die junge Französin und der Hauslehrer kleine Geschenke überreichten, waren der Baron und die Baronin mit leeren Händen gekommen.

Graf Moritz hatte als Letzter Platz genommen und sprach das Tischgebet. Auch er hatte seine Reitkleidung gegen einen hellen Sommeranzug getauscht. Sein dunkler Vollbart war kurz gestutzt, und sein dichtes, nur an wenigen Stellen ergrautes Haar gab ihm ein jugendliches Aussehen. Etwas seitlich, am Katzentisch, saßen Emily Bergh und ein sichtlich unglücklicher Constantin. Butler Johann servierte als Vorspeise eine Gurkenkaltschale. Wer wollte, trank ein Glas kühlen Chablis. Für alle anderen standen Krüge mit Wasser auf dem Tisch.

»Nun, wir haben uns ja einige Monate nicht gesehen,« begann Amalie Bergh gleich nach dem Tischgebet. »Und wie ich bemerke, ist Beatrice immer noch nicht in Petersburg?« Sie runzelte die Stirn und blickte Charlotte forschend an. »Oder wartet sie bis nach dem Sommer?«

Beatrice, die genau wußte, worauf die Baronin anspielte, erwiderte rasch:

»Nein, Tante Amalie, ich warte nicht bis nach dem Sommer. Ich gehe gar nicht nach Petersburg.«

»Was?! Und das läßt du zu, Moritz?«

Graf Moritz zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen. Das Thema, das in diesem Haus nicht zum ersten Mal diskutiert wurde, war ihm mehr als lästig.

»Was heißt zulassen? Beatrice sträubt sich nun einmal dagegen. Und ich kann sie ja schlecht dorthin prügeln.«

»Aber Moritz …« Die Baronin blickte empört in die Runde. »Hofdame bei ihrer kaiserlichen Majestät! Was kann ein 17-jähriges Mädchen sich mehr wünschen? Schließlich hat das in eurer Familie eine lange Tradition!« Sie wandte sich an Elisabeth, die Mutter von Moritz. »Was sagen Sie dazu?«

Die alte Gräfin lächelte verbindlich.

»Ich mische mich da nicht ein, Amalie.«

»Emily wäre überglücklich, wenn sie später einmal diese Chance hätte! Nicht wahr, mein Kind?«

Emily, die mit ihrer Kaltschale beschäftigt war, hatte nicht zugehört. Dennoch nickte sie artig und antworte:

»Natürlich, Maman.«

Jetzt ergriff Tante Meggie das Wort.

»Ach weißt du, Amalie – auch wenn Emily sich glücklich schätzen würde: in der heutigen Zeit scheint mir der Ehrendienst bei der Zarin antiquiert.« Ihre Stimme klang ironisch und trocken.

»Das hätte ich mir denken können, Margarethe, daß du wieder einmal dahinter steckst!«

»Du irrst dich, Tante Amalie.« Beatrice sah die Baronin herausfordernd an. «Das habe ich ganz allein entschieden. Ich will einen Beruf erlernen, vielleicht sogar studieren. Wir leben schließlich im Zwanzigsten Jahrhundert!«

Amalie Bergh war so schockiert, daß sie einen Moment sprachlos in die Tischrunde blickte. Bevor sie sich fassen konnte, ergriff Graf Moritz das Wort.

»Jetzt laßt uns bitte das Thema wechseln. Die Sache ist entschieden, und damit basta.«

Dann wurde der zweite Gang serviert: Geräucherter Stör, kaltes Fleisch, Fischpastete, Butter aus der Schloss eigenen Meierei und Schwarzbrot. Adam Bergh wandte sich an Mademoiselle, die ihm gegenüber saß. Den Habichtsaugen seiner Frau entging dabei nicht, daß er sie wohlwollend betrachtete.

»Mademoiselle de Pradesse, ich habe mir erlaubt, ein wenig Ahnenforschung zu betreiben, was Ihre Familie in Frankreich betrifft. Ihre Mutter war ja eine geborene Marquise de Bourrière, und einer Ihrer Ahnen väterlicherseits diente als Obermundschenk am Hof von König Ludwig dem Vierzehnten.«

Mademoiselle, die plötzlich im Mittelpunkt des Tischgesprächs stand, errötete leicht.

»Vous avez raison, Monsieur le Baron. Aber das ist lange her, und meine Familie …« Sie beendete den Satz nicht.

Die Baronin mischte sich ein.

»Das ist uns durchaus bekannt,« meinte sie und lächelte spitz. »Die Revolution in Ihrem Land hat Ihre Familie ruiniert. Sind nicht auch Köpfe gerollt?«

Bevor die sichtlich verlegene Mademoiselle etwas erwidern konnte, schaltete sich Gräfin Charlotte ein.

»Amalie, ich bitte dich! Das ist doch kein Gesprächsstoff bei Tisch!«

»So war das gar nicht gemeint!« Entrüstet blickte die Baronin in die Runde.

Beatrice, die sich während des Essens nur gelangweilt hatte, blickte verstohlen auf die Standuhr an der Schmalseite des Raumes. Gleich halb zwei. Schon jetzt gingen ihr die Berghs auf die Nerven. Amalies stockkonservative Einstellungen, ihre Art, jede Tischrunde zu dominieren, fand sie unerträglich. Sie bewunderte ihre Eltern, die trotz aller Vorbehalte gegen diese Verwandtschaft immer wieder gutmütig genug waren, sie aufzunehmen.

Mit Arved hatte sie wöhrend des Essens nur einige belanglose Worte gewechselt. Das Geschehen am Hochmoor hatte sie zu sehr irritiert. Sein Geburtstagsgeschenk, ein kleiner, goldener Armreif mit Topassteinen, trug sie am Handgelenk, was Arved nicht entgangen war. Einige Male bemerkte sie die wohlwollenden Blicke ihrer Mutter, die die beiden jungen Leute hin und wieder beobachtete. Jetzt wünschte Beatrice sich nur eines: Sobald wie möglich allein zu sein, um über alles nachzudenken.

8

Jännis Simberg hatte das Sägewerk gegen Mittag mit einer fadenscheinigen Begründung verlassen. Nun war er mit seinem Informanten in dem kleinen Waldstück einige hundert Meter hinter dem gräflichen Gemüsegarten verabredet. Die Luft flirrte. Allerlei Insekten schwärmten umher, lästige Plagegeister. Jännis schlug mit der Hand nach ihnen, eine mechanische Geste.

Obgleich er wußte, daß offenes Feuer und das Rauchen in den gräflichen Wäldern im Sommer streng verboten waren, drehte er sich eine Zigarette. Tief sog er den Rauch ein und wartete. Er hatte Zeit. Vor Mitternacht wollte er ohnenhin nicht zu Hause auftauchen. Die armselige Hütte seiner Eltern stand am Rand von Dorf Aicken, eine Werst vom Schloss entfernt. Die Geschwisterschar und das Plärren der drei Kleinsten gingen ihm schon lange auf die Nerven. Gewiß lag der Alte wieder sturzbetrunken auf der fleckigen Matratze. Am frühen Abend würde er wieder zum Knüppel greifen und sich seine Frau vornehmen. Mehr als einmal hatte Jännis sich ihm in den Weg gestellt, um seine Mutter zu schützen. Raus, nur raus wollte er aus dieser Misere! Eines Tages würde er das alles hinter sich lassen. Wenn die neue Zeit gekommen war, erkämpft von vielen, von allen! Wenn Waffen vorhanden wären und Männer, die das Volk in eine andere Zukunft führen würden. Wenn der Orkan der Geschichte die Ausbeuter und Kapitalisten hinweggefegt hätte! Die Genossen in den geheimen Versammlungen in Wolmar, an denen Jännis schon einige Male teilgenommen hatte, sprachen die richtige Sprache. Schluß mit der Herrlichkeit der Grundherren, der Fron in den Fabriken, der Willkür der Kosaken und der Allmacht der zaristischen Geheimpolizei.

Inzwischen wuchs die Anzahl der Genossen stetig. Vor allem die Arbeiter in den Städten schlossen sich mehr und mehr zusammen, auch wenn man ihre Streiks bereits im Keim erstickte und ihre Anführer exekutierte oder nach Sibirien schickte. Jännis gab sich größte Mühe, in der Umgebung von Aicken Männer für seine Sache zu gewinnen. Im Dorf hatte er Carl Kaitis, einen der Buschwächter des Grafen rekrutiert.

Ein leises Geräusch riß ihn aus seinen Gedanken.

»Na endlich!« murmelte er und nickte dem Ankömmling zu. Es war der Stallbursche Päkka. Zusammen mit dem übrigen Stallpersonal wohnte er über den Pferdeställen. Einige Jahre älter als Jännis und von kräftigerem Wuchs als dieser, war er erst seit wenigen Wochen Genosse. In dieser Zeit hatte er Jännis bereits über die Anzahl des Schlosspersonals, den Bestand der Pferde und Wagen informiert sowie über die Besucher, die regelmäßig auf Aicken verkehrten. Päkka grinste schief.

»Ging nicht schneller. Im Schloss wird heute Johanni gefeiert. Und der Geburtstag der jungen Comtesse. Jede Menge Leute reisen an.« Er räusperte sich und spuckte aus. »Verdammt trockene Luft!«

»Wer ist alles dabei?«

»Verwandtschaft. Auch Nachbarn von anderen Gütern.«

»Mein spezieller Freund?«

»Bisher nicht eingetroffen.«

Mit seinem speziellen Freund Graf Alexander Eisenstetten verband Jännis eine Todfeindschaft, von der der Graf in seinem Hochmut und seiner Abneigung gegen das einfache Volk vermutlich nichts ahnte. Nie hatte Jännis vergessen, wie dieser arrogante Leuteschinder ihm zum ersten Mal begegnet war. An einem brütend heißen Tag arbeitete der damals 14-jährige Jännis (wie andere Kinder und Jugendliche aus dem Dorf ) bei der Getreidernte auf den Feldern. Er hatte Durst, doch das Wasser war an diesem Tag zu knapp bemessen worden. Da kam ein Reiter über die Felder geprescht, das Maul seines Pferdes schäumte. Der junge Graf Eisenstetten, ein Neffe der Gräfin, nur wenig älter als Jännis, ließ seinen Schimmel um die Ernteleute kreisen. Aus einer Satteltasche nahm er eine Feldflasche und trank genüßlich daraus. Jännis, dessen Zunge vor Durst geschwollen war, näherte sich und bat untertänigst um einen Schluck Wasser. Der junge Graf musterte ihn, lachte hochmütig und ließ langsam das Wasser aus der Flasche auf die Erde laufen.

»Hol’s dir doch, du Tölpel!« rief er höhnisch und verpaßte Jännis einen kräftigen Schlag mit der Reitgerte. Dann ritt er davon, und sein Lachen klang nach.

Die Zigarette war bis auf einen kurzen Stummel aufgeraucht. Jännis drückte ihn auf einem Stein aus und verstaute ihn in der Streichholzschachtel.

»Halt weiter die Augen offen, Päkka. Genosse Sergej sagt, jede Kleinigkeit ist wichtig! Und verplappere dich ja nicht mal bei deiner Lena!«

Seit zwei Monaten war Päkka mit dem Stubenmädchen Lena verlobt. Nächstes Jahr sollte Hochzeit sein.

»Jetzt verschwinde, sonst bekommst du Ärger,« knurrte Jännis und drehte sich um.

Fünf Minuten später erreichte Päkka den Schlosshof. Hier herrschte geschäftiges Treiben. Mehrere Jagdwagen standen aufgereiht, deren Pferde ausgeschirrt und in die Ställe gebracht wurden.

Als hätte Stallmeister Gulbe nur auf Päkka gewartet, stand er Ausschau haltend vor dem Tor der Wagenremise. Er war ein fünfzigjähriger Mann mit hellroten Haaren und einem schmutzig-gelben, gezwirbelten, preussischen Schnauzbart. Die Hose spannte über dem mächtigen Bauch, und die Hosenträger lagen stramm über dem ausladenden Brustkorb. Unter den Achseln seines braunen Hemdes hatten sich große Schweißflecken gebildet. Schon brüllte er los.

»Wo treibst du dich rum, Päkka?! Kümmere dich um die Gäule da hinten!«

Als Päkka die Pferde ausschirrte preschte ein Reiter in scharfem Galopp in den Hof. Es war der junge Graf Eisenstetten. Sogleich eilte Stallmeister Gulbe zu ihm und verneigte sich, so gut es sein Bauch erlaubte.

»Gnädiger Herr …«

Alexander Eisenstetten trug die Uniform seines Chevalier-Garderegiments. Vor zehn Tagen war er zum Hauptmann befördert worden. Mit klirrendem Säbel sprang er aus dem Sattel und warf Gulbe die Zügel hin.

9

Beinahe schwerelos glitt das junge Paar durch den Ballsaal. Leichtfüßig, doch mit festem Griff führte Alexander seine Cousine Beatrice. Die Kapelle spielte einen Walzer, Beatrices’ Lieblingstanz. Niemand beherrschte ihn so gut wie Sascha! Sie bog ihren Oberkörper zurück, Schloss einen Moment die Augen und ließ sich hineinfallen in die starke Hand, die wie vertraut auf ihrem Rücken lag. Ihre Wangen glühten. Eine Strähne hatte sich aus dem hochgesteckten Haar gelöst und gab ihrem Aussehen etwas Verwegenes. Sie schien entrückt, tanzte wie in Trance. Alle Blicke ruhten auf ihr.

Insbesondere Arved, der am Rand der Tanzfläche stand, ließ sie nicht aus den Augen. Die eine Hand in der Hosentasche, in der anderen eine Zigarette, gab er sich betont lässig. Doch Alexander durchschaute ihn. Ach Arved, dachte er. Wie schlecht du dich verstellen kannst! Mitleidig lächelte er. Für den Ziehsohn der Reckendorffs, den er seit frühester Jugend kannte, hatte Alexander noch nie große Sympathie empfunden. Er beugte sich zu seiner Tanzpartnerin.

»Du siehst bezaubernd aus, Cousinchen,« raunte er an ihrem Ohr. »Und der Saphiranhänger ist wie gemacht für dich. Dieselbe Farbe wie deine Augen!«

Beatrice drückte leicht seinen Arm. Der Anhänger war Saschas Geburtstagsgeschenk.

»Wie schön, daß du heute Abend gekommen bist, Sascha! Ich hatte dich gar nicht erwartet.«

»Ich werde doch nicht das Geburtstagsfest meiner Lieblingcousine verpassen! Nach meiner Beförderung bekam ich Urlaub und war in Riga. Heute Morgen habe ich den Zug genommen, und in Wolmar stand ein gutes Pferd bereit.«

»Wie lange bleibst du?

»Zwei, drei Tage. Mal sehen.« Er zog sie enger an sich. »Kommt ganz darauf an, wie nett du zu mir bist, Cousinchen!«

»Ach Sascha, du kannst es einfach nicht lassen!«

»Das fällt mir schwer, ich gebe es zu. So hübsch und bezaubernd wie du bist. Weißt du, daß du einem Mann den Verstand rauben kannst?«

Beatrice schüttelte amüsiert den Kopf.

»Aber dir doch nicht, Sascha!«

Alexander lächelte. Er war zweiundzwanzig Jahre alt und gehörte zur Elite des russischen Reiches. Vor ihm lag eine glänzende, militärische Laufbahn. Mit seinen vollen, schwarzen, aus der Stirn gekämmten Haaren, dem Grübchen im markanten Kinn, das seine Männlichkeit unterstrich, und seinem Gardemaß von einem Meter fünfundachtzig war er ein blendend aussehender Mann. Sein Charme galt als legendär und öffnete ihm viele Türen, insbesondere die zu weiblichen Herzen. Im Regiment waren seine Eroberungen ständiger Gesprächsstoff. Beatrice hatte er seit einem Dreivierteljahr nicht gesehen. Aus dem hübschen Backfisch von einst war eine selbstbewußte, schöne junge Dame geworden.

Der Tanz war zuende.

Beatrice war außer Atem geraten und ihre Wangen glühten, als Alexander sie zurück zum Tisch brachte. Dort saß Irina, die Schwester von Baron Peter von Sanderan. Auf dem dem Lyzeum in Riga hatten die beiden jungen Frauen im Frühsommer ihr Abitur abgelegt. Seit ihrer Kindheit waren sie befreundet. Vor kurzem hatte Irina sich mit einem jungen Russen verlobt, im Winter sollte Hochzeit sein. Weitere junge Leute von entfernten Nachbargütern waren ebenfalls gekommen, unter ihnen Irinas älterer Bruder Peter. Er war ein zierlicher Mann Anfang dreißig mit aschblonden Haaren und wimpernlosen blauen Augen. Als vermögender Gutsbesitzer war er noch unverheiratet und galt bei den Töchtern des Landes als gute Partie. Sein durchschnittliches Äußeres machte er durch seine witzige und schlagfertige Art und eine gehörige Portion Charme wett. Bei Bällen und Festen war er stets willkommen, weil er die Menschen mit seiner Liebeswürdigkeit, seiner Kenntnis von Kunst und Kultur für sich einnahm. Er war ein guter Zuhörer und galt als flotter Tänzer.

Arved hatte seinen Platz am Rand der Tanzfläche verlassen und ließ sich neben Beatrice nieder. Alexander sah ihn spöttisch an und klopfte ihm kräftig auf die Schulter.

»Na, mein Lieber? So ernst heute Abend? Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen.«

»Gar keine, lieber Sascha,« erwiderte Arved ruhig, ohne den Blick von Beatrice abzuwenden. Diese beugte sich jetzt zur ihrer Schulfreundin Irina.

»Du hast gesagt, nach der Hochzeit willst du dich mit deinem Mann in Moskau niederlassen? Dann sehen wir uns ja kaum noch!«

»Ja leider, Bea. Aber so ist es nun einmal, wenn man seinem Mann folgt!« Sie lachte. Es klang unbeschwert. Beatrice blickte sie einen Moment prüfend an, dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich denke da anders, Irina. Ich möchte frei sein und mich nicht nach dem Willen eines Mannes richten.«

»Heißt das, Sie wollen gar nicht heiraten?« Amüsiert verzog Irinas Bruder Peter die Lippen.

»Das sage ich ja nicht. Ich meine nur, daß ich selbst über mich bestimmen will, wo und wie ich leben möchte. Außerdem will ich erst einmal studieren. Bei uns ist Vieles noch rückständig. In England kämpfen die Frauen für ihre Freiheit vom Joch ihrer Ehemänner.«

»Für ihre Freiheit vom Joch der Ehermänner, ho ho!« meinte Peter Sanderan lachend und fügte hinzu. »Ist das nicht maßlos übertrieben, verehrte Beatrice? Kennen Sie denn die Verhältnisse in England so gut?«

»Ich kenne die Verhältnisse bei uns in Russland,« erwiderte Beatrice mit blitzenden Augen. »Und so anders werden sie auf der Insel auch nicht sein!«

Erstaunt blickte Arved sie an. So hatte er sie noch nie reden gehört! Hatte sie deshalb seinen Heiratsantrag abgelehnt? Nun, er würde warten. Die Meinung einer jungen Frau konnte sich rasch ändern.

Nur Sascha sagte nichts. Doch Arved entgingen nicht die Blicke, die er Beatrice zu warf. Die Blicke eines Mannes, der erobern will. Als in diesem Moment die Kapelle den nächsten Tanz intonierte, sprangen Alexander und Arved gleichzeitig auf und verbeugten sich vor Beatrice. Doch Arved hob die Hand und sagte entschieden:

»Du nicht, Sascha. Jetzt bin ich dran. – Entschuldige, Bea, aber schenkst du mir diesen Tanz?«

Beatrice zögerte kurz, nickte dann und erhob sich. Als Arved sie zur Tanzfläche führte, blickte Alexander ihnen spöttisch nach.

10

Im Ballsaal stand die Luft stickig. Durch die geöffneten Fenster wehte kein Windhauch. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr. Die kürzeste Nacht des Jahres, in der die Sonne sich nur für wenige Stunden leicht verdunkelt und das milde Licht der weißen Nächte Schlaf und Müdigkeit verscheucht.

Erhitzt vom Tanzen durchquerte Beatrice den Saal. Durch eine Seitenpforte schlenderte sie in den Rosengarten. Dort schlugen die Nachtigallen, und Nachtfalter umschwirrten Beatrices Gestalt. Zarte Flügel streichelten ihr Gesicht, ein leises Kitzeln auf den erröteten Wangen. Der betäubende Duft des Jasmin aus den Büschen am Kiesweg legte sich schwer und verheißungsvoll auf ihre erhitzte Haut. Plötzlich sah sie Saschas Gesicht so nah vor ihrem inneren Auge, daß sie meinte, seine Lippen zu berühren. Sein begehrlicher Blick, sein laszives Lächeln ließen ihr Herz schneller schlagen. Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund, als hätte sie sich bei etwas Verbotenem ertappt. In der Ferne hörte sie Stimmen. Am See huschten Gestalten durch das helle Dämmerlicht. Bald war es Zeit für das Johannifeuer.

Sie verließ den Rosengarten und ging durch den Blauen Salon ins Katharinen-Zimmer, setzte sich auf ein Kanapee und beobachtete das Treiben. An den Spieltischen gab es jeweils eine Bridge-Runde. Zigarren- und Zigarettenqualm waberten durch den Raum. Soeben füllte Butler Johann das Wodkaglas von Adam Bergh am Tisch eins. Der Baron hatte sich bereits einige Mal kräftig einschenken lassen. Er und seine Frau waren ein eingespieltes Bridge-Team und spielten heute auf der Position Nord-Süd. Die Position Ost-West hielten Tante Meggie und ihr Bruder, Graf Moritz. Auch sie waren langjährige Partner und ausgefuchste Spieler. Soeben war ein Spiel beendet.

An Tisch zwei und drei spielten Nachbarn und Freunde, zumeist ältere Herrschaften. Unter ihnen waren auch die Eltern des Grafen sowie Gräfin Charlotte.

»Man soll es ja nicht beschwören,« meinte Adam Bergh unvermittelt und trank seinen Wodka in einem Zug. »Aber in den russischen Universitätsstädten werden die Studenten unruhig und gehen auf die Straße.«

»Ach, das gibt sich wieder,« murmelte Graf Moritz und mischte die Karten neu. »Es ist ein Privileg der Jugend, zu rebellieren. Entscheidend ist, daß man irgendwann zur Vernunft kommt und die alte Ordnung nicht infrage stellt.«

»Außerdem laufen Gerüchte über neue Streiks in Riga und Petersburg,« fuhr Adam fort. »Man sollte dem Pöbel die Grenzen zeigen!«

»Man sollte ihm nicht so viel Bedeutung beimessen, Adam. Anarchisten und Revoltionäre hat es in Russland, und auch bei uns in Livland, immer gegeben.«

»Ich finde, du verharmlost die Sache, Moritz.« Amalie Bergh nippte an ihrem Bowleglas. »1905 haben wir ja gesehen, wohin das geführt hat.«

Mit flinker Hand verteiltde Moritz die Karten.

»Was erwarten wir denn?« Tante Meggie nahm ihre Karten auf, ordnete sie und wandte sich an Amalie. »Die lettische und estnische Bevölkerung haßt uns Grundbesitzer. Sie wollen eine eigene staatliche Identität. Seit Jahrhunderten fühlen sie sich von Baltendeutschen und Russen unterdrückt. Irgendwann bekommt man die Quittung. Sonst wären die Greueltaten an unseresgleichen damals nicht so extrem gewesen.«

Mit Mühe beherrschte sich Moritz. Nur seine Stimme klang eine Spur lauter und schärfer als gewöhnlich.

»Meggie, bitte! Ich dulde solche Reden in meinem Haus nicht!«

An den beiden anderen Spieltischen war man aufmerksam geworden und lauschte unauffällig. Tante Meggie ließ sich durch den Einwand ihres Brudes nicht irritieren.

»Ob du es duldest oder nicht, Moritz! Wenn der Zar keine ernsthaften Reformen auf den Weg bringt, wird ein Sturm losbrechen, daß uns Hören und Sehen vergeht!«

Moritz entschied sich, die flammenden Worte seiner Schwester zu ignorieren. Ihre politische Einstellung war auf Aicken hinreichend bekannt. Hätte sie vor dreißig Jahren bloß nicht diesen verdammten Kerl kennengelernt! Wie hieß er doch gleich? Egal, er hatte ihr diese sozialromantischen Ideen erst eingeredet! Als dieser Mann damals für fünfzehn Jahre in die Verbannung nach Sibirien geschickt wurde, hatte die Familie aufgeatmet. Seine wirren Ideen, verbunden mit leidenschaftlichen Liebesschwüren, waren bei ihr auf fruchtbaren Boden gefallen. Zum Glück hatte Meggie nicht den letzten Schritt vollzogen und sich Hals über Kopf einer dieser Terroristengruppen angeschlossen. Leider gab es in dieser Hinsicht bereits einige Beispiele adeliger Töchter (und Söhne). Vater Sigismund hatte seinerzeit überlegt, Margarethe aus der Familiengemeinschaft auszuschließen. Doch ihre Mutter, Gräfin Elisabeth, war strikt dagegen gewesen. Von all ihren Kindern, dem Sohn und den vier Töchtern, liebte sie Margarethe am meisten. Sie durfte weiter auf Aicken bleiben, mit allen Privilegien ihrer Herkunft. Gegen eine standesgemäße Heirat mit einem ihrer zahlreichen Verehrer hatte sie sich erfolgreich gewehrt. Nun waren viele Jahrzehnte vergangen. Charlotte und die Kinder liebten Meggie. Ein besonders enges Verhältnis gab es zu Beatrice. Hinzu kam, daß Meggie mit ihrem wunderbaren Klavierspiel die Menschen erfreute und für sich einnahm. Auch hatten ihre politischen Ansichten im Lauf der Jahre an Vehemenz und Radikalität verloren. Nur hin und wieder loderten sie auf, wie Flammen aus einer längst erloschen geglaubten Glut. So wie am heutigen Abend.

Aufmerksam studierte Meggie ihr Blatt und sagte wie beiläufig:

»Ich weiß, du willst das alles nicht hören, Moritz. Aber du solltest Vorkehrungen treffen.«

Am Nachbartisch ergriff nun Graf Helmer das Wort. Er war ein vierschrötiger, hünenhafter Mann mit weißer Löwenmähne und einem mächtigen Backenbart. Während der revolutionären Unruhen im Jahr 1905 waren zwei seiner Gutsbetriebe von Aufständischen überfallen und niedergebrannt worden. Blankenburg, das alte Stammschloss der Familie, unweit von Aicken gelegen, konnte nur durch Zufall vor dem aufgebrachten Mob gerettet werden. Eine Schwadron Kosaken war rechtzeitig eingetroffen und hatte den Aufstand blutig niedergeschlagen.

»Deine Schwester hat nicht Unrecht, Moritz. Wir können die Tatsachen nicht beiseite schieben. Nicht nur die einheimische Bevölkerung will eine Veränderung der alten Ordnung. Durch die zunehmende Russifizierung unserer baltischen Heimat sind auch unsere Kultur, unsere Selbstverwaltung und unsere rechtmäßigen Privilegien in Gefahr. Wir Deutschbalten dienen inzwischen als Sündenböcke für alles Mögliche, was im russischen Reich schief läuft.« Er schüttelte den Kopf. »Aber heute ist vielleicht nicht der richtige Tag, um über Politik zu reden.«

»Ja eben, Rudolph, du sagst es!« erwiderte Moritz und sah seine Schwester streng an. Diese kannte ihren Bruder gut genug, um seine Miene zu deuten. Eine gewisse Grenze durfte sie jetzt auf keinen Fall überschreiten.

11

Mehr und mehr Menschen kamen zum Ufer des Mondsees. Auf der Wasseroberfläche spiegelte sich der helle Nachthimmel wie ein feiner Schleier. Von fern erklang der Schrei einer Eule.

Beatrice befand sich nun inmitten der Gruppe der jungen Leute. Mit ihrer Freundin Irina stand sie untergehakt in einiger Distanz zu dem großen Holzstoß, der soeben angezündet wurde. Das Feuer warf seinen Widerschein in einer blaßroten Schneise aufs Wasser.

Emily und Constantin hatten sich auf die Stufen des Badehäuschens gesetzt. Nur widerstrebend war der Junge zusammen mit ihr zum Seeufer gegangen. Nach einer Weile sprang er unvermittelt auf und rannte zur Gruppe der jungen Leute. Er stellte sich direkt neben Alexander und blickte bewundernd zu ihm hoch. Emily blieb nichts anderes übrig, als zu ihrer Mutter zu gehen. Man sah ihr die Enttäuschung an. Beatrice, die diese Begebenheit beobachtet hatte, wandte sich an ihren Bruder.

»Sei doch nicht so gemein zu ihr, Consti! Kannst du dich nicht um sie kümmern? Sie hat doch sonst niemanden hier in ihrem Alter.«

»Ich hab mich den ganzen Abend um sie gekümmert,« erwiderte Constantin unwirsch. »Sie geht mir auf die Nerven! Über nichts kann man sich mit ihr unterhalten!«

»Das liegt doch an dir,« mischte sich Arved ein. »Du als Kavalier und Gastgeber mußt dich bemühen, sie ins Gespräch zu ziehen.«

»Du hast gut reden, Arved! Übrigens: Gastgeber sind meine Eltern, nicht ich,« entgegnete Constantin spitz. Er blickte zu Sascha, der mit einem leicht ironischen Unterton sagte:

»Arved ist manchmal ein wenig überkorrekt, wie wir alle wissen. Ich sehe das nicht ganz so eng, Constantin. Wenn du erwachsen bist, wirst du dich noch oft genug um irgendwelche Damen bemühen müssen, die du nicht ausstehen kannst.«

»Seht euch lieber das Feuer an, anstatt hier herumzustreiten,« meinte Beatrice etwas genervt und blickte in die Flammen.

Plötzlich ertönte von der Turmplattform des Schlosses eine durchdringende Stimme. Sie gehörte einem Buschwächter, der in den Sommermonaten an den Nachmittagen mit einem Feldstecher Ausschau hielt.

»Feuer! Feuer! Im Wingener Forst! Eine große Rauchsäule ist zu sehen!«

Vor Aufregung sprachen alle durcheinander.

Graf Moritz zögerte nicht lange. Mit lauter Stimme, doch ruhig und besonnen gab, er Befehle. Nicht zum ersten Mal brachen im Sommer Feuer in seinen Wäldern und auf den Hochmooren aus.