Sonnenmensch –  oder Vampir? - Georgia Wingade - E-Book

Sonnenmensch – oder Vampir? E-Book

Georgia Wingade

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Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht – Neue Edition: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Mystik Romanen interessiert. Lilija hatte sich für den Mann entschieden, der sie die Herzogin von Kurland werden ließ – Herrin über die legendären, angeblich verschollenen oder ausgerotteten Sonnenanbeter. Sie wusste, dass es sie noch gab. Sie hatte Träume, die es ihr verrieten. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, hatte sie jene unerklärliche Sehnsucht … Sie hatte sich ertappt, dass sie unerklärliche Bissbewegungen gemacht hatte, doch in was oder wen wollte sie beißen? Sie wollte beißen – und küssen. Und dann dieses Sehnen. Manchmal dachte sie, dass sie erlöst werden wollte. Doch wovon? Und warum erinnerte sie sich nicht an ihre Vergangenheit? So richtig begann alles erst am siebten Tag, als die »Latvia Queen« im Hafen von Sankt Petersburg einlief. Karla Neumann bestaunte bereits von weitem das imposante Panorama, das sich den Passagieren des Kreuzfahrtschiffes bot. Es war später Vormittag und nach einem vorgezogenen Mittagessen würden die ersten Ausflüge starten. Das alles ging vorbereitet und ohne allzu unnötige Hast vonstatten. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war Karla »Charlie« Neumann durchaus sportlich zu nennen, doch was sie nicht leiden konnte, war Hetze, zeitliches Gedränge; das konnte sie arg in Not bringen. Manchmal äußerte sich dies in einem Wutausbruch, zunehmend aber auch in purer Resignation, was ihr noch viel weniger passte. Hier auf der »Latvia Queen« hatte sie ein wohl dosiertes Zeitmanagement festgestellt, das ihr behagte. Karla, die sich von ihren Freunden und Freundinnen »Charlie«

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Irrlicht - Neue Edition – 17 –

Sonnenmensch – oder Vampir?

Im Kurland passiert das Unfassbare

Georgia Wingade

Lilija hatte sich für den Mann entschieden, der sie die Herzogin von Kurland werden ließ – Herrin über die legendären, angeblich verschollenen oder ausgerotteten Sonnenanbeter. Sie wusste, dass es sie noch gab. Sie hatte Träume, die es ihr verrieten. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, hatte sie jene unerklärliche Sehnsucht … Sie hatte sich ertappt, dass sie unerklärliche Bissbewegungen gemacht hatte, doch in was oder wen wollte sie beißen? Sie wollte beißen – und küssen. Und dann dieses Sehnen. Manchmal dachte sie, dass sie erlöst werden wollte. Doch wovon? Und warum erinnerte sie sich nicht an ihre Vergangenheit?

So richtig begann alles erst am siebten Tag, als die »Latvia Queen« im Hafen von Sankt Petersburg einlief. Karla Neumann bestaunte bereits von weitem das imposante Panorama, das sich den Passagieren des Kreuzfahrtschiffes bot. Es war später Vormittag und nach einem vorgezogenen Mittagessen würden die ersten Ausflüge starten. Das alles ging vorbereitet und ohne allzu unnötige Hast vonstatten.

Mit ihren fünfundzwanzig Jahren war Karla »Charlie« Neumann durchaus sportlich zu nennen, doch was sie nicht leiden konnte, war Hetze, zeitliches Gedränge; das konnte sie arg in Not bringen. Manchmal äußerte sich dies in einem Wutausbruch, zunehmend aber auch in purer Resignation, was ihr noch viel weniger passte. Hier auf der »Latvia Queen« hatte sie ein wohl dosiertes Zeitmanagement festgestellt, das ihr behagte.

Karla, die sich von ihren Freunden und Freundinnen »Charlie« nennen ließ, war von zierlicher Gestalt und maß nicht viel mehr als einen Meter fünfundsechzig. Boris, ihr langjähriger Freund aus der Bankenbranche hatte sie immer als eine »liebevolle Handvoll« bezeichnet. Nun war es aus zwischen ihnen und sie musste sich diese, in ihren Augen eher leicht abqualifizierende Bezeichnung, nicht länger gefallen lassen.

Die Kabine, in der sie die Nächte seit Abfahrt von Bremerhaven verbracht hatte, lag auf Deck 6 »Neptun« des Kreuzfahrtschiffes und war für ihre Verhältnisse geradezu luxuriös, dabei aber angenehm und gefällig ausgestattet. Die vierzehntägige Reise war ein Geschenk ihrer Erbtante Christa, der sie zu ihrem 75. Geburtstag einen gemischten Strauß aus rot getüpfelten weißen Tulpen und dunkelroten Rosen geschenkt hatte. Zum Dank war sie als einzige Gratulantin, die persönlich vorbei gekommen war, zum Abendessen in einem gewiss nicht billigen Restaurant eingeladen worden.

Charlie, die sich viel auf ihre indivíduelle Freiheit zugutehielt, hatte sich zu dem Besuch überwinden müssen, denn Christa Verhusch, geborene von Frideck, galt als verschroben und eigenbrötlerisch, die an allem und jedem herumzumeckern hatte. Grund genug, sie möglichst zu meiden und selbst telefonisch Zurückhaltung zu üben.

Allerdings, Erbtante Christa war eigentlich die Stiefschwester von Karlas Mutter, genauer gesagt: sie war eine Art Großtante von Charlie. Und was noch viel wichtiger und interessanter war: Sie war dem Vernehmen nach im Besitz enormer Reichtümer wie Aktien und Immobilien. Und das in einem Gesamtumfang, der – so munkelte man – mehrere Millionen Euro erreichte.

Da Charlie durch den verhängnisvollen Autounfall ihrer Eltern vor fünf Jahren zur Waise geworden war und keine Geschwister hatte, war die 25-Jährige nun die einzige Anverwandte der griesgrämigen Großtante. Und ­daher hatte sie sich bemüßigt gefühlt, zu deren Jubiläumsgeburtstag nach Kronberg im Taunus zu fahren, wo die aus hellem Sandstein erbaute Gründerzeit-Villa in einem weitläufigen Park hinter hohen Hecken versteckt war.

Das Essen im »Gutsherrenhof« verlief in angenehm ruhiger Atmosphäre. Tante Christa, sonst wegen ihres sarkastischen Humors gefürchtet, zeigte sich von einer ungewohnten, weil sehr umgänglichen Seite, interessierte sich für Charlies beruflichem Alltag, als wollte sie sich selbst auf eine solche Stelle bewerben.

Allerdings war Karla Neumann nicht der Meinung, dass das Sekretärinnen-Dasein in Frankfurt am Main besonders interessant oder gar spannend war, dem entsprechend fiel ihre Schilderung eher dürftig aus.

Als Dessert hatte Tante Christa eine Mousse au chocolat für beide bestellt, nicht ohne ihre zukünftige Erbin zuvor mit einem raschen Blick um Zustimmung zu fragen. Während sie die traumhaft cremige Schoko-Masse genossen, eröffnete die 75-Jährige ihrem Gast, dass sie im Testament als Alleinerbin eingesetzt war, was sie ziemlich überraschte. Denn sie war immer davon ausgegangen, dass ihre Tante eine Menge Geld für besondere, beziehungsweise mildtätige Zwecke vererben würde.

»Ich weiß nicht, wie viele Jahr mir noch bleiben«, führte Tante Christa aus und ihr Blick wurde mit einem mal sehr sanft, fast melancholisch. »Soll der Staat alles einsacken, was nach meinem Tode bleibt? Außer dir habe ich keinen Angehörigen, also sollst du dieses Haus und meine restlichen Reserven bekommen. Und für andere Dinge oder Organisationen bin ich nicht zuständig.«

Sie hielt kurz inne, um einen Schluck Champagner zu trinken, den sie zur Mousse geordert hatte, dann griff sie über den Tisch und fasste Charlies rechte Hand. Diese wurde durch die für ihre Tante fast intime Geste total überrascht, wollte ihre Hand instinktiv zurückziehen, beließ es aber dann dabei. Denn sie merkte sofort, wie ernst es ihrer Tante war. Hier ging es – auch – um ihre eigene Zukunft.

Während Karla noch nach Worten rang, um sich für die verheißungsvolle Ankündigung zu bedanken, drückte Tante Christa fest ihre Rechte und fuhr fort: »Beim Notar war ich schon, die Papiere sind unterschrieben. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass du meinen Geburtstag nicht vergessen hast. Es war ein unglaublich schönes Gefühl, auf diese Weise beschenkt zu werden. Daher will ich mich mit einem Geschenk meinerseits an dich bedanken. Hier!«

Sie hatte ihre andere Hand in die Handtasche gesenkt, die neben ihr auf dem Fensterbord stand, und einen Umschlag im DIN-A 5-Format hervorgezogen.

»Nimm! Es soll ein Vorgeschmack sein auf das, was du dir nach meinem Tod wirst leisten können. Mach es auf!«

Und gehorsam öffnete Karla den Umschlag, der nicht zugeklebt, sondern von dem nur die Lasche eingesteckt war.

»Wie du siehst«, fuhr die Tante fort, ohne auf Charlies Reaktion zu warten. »Du gehst auf Kreuzfahrt, sollst ein wenig mehr von dieser Welt kennenlernen, von deren schönen Ecken ich im Laufe der Jahre eine ganze Anzahl sehen und bewundern durfte.«

Karla Neumann war überrascht. Damit hatte sie nun so gar nicht gerechnet, dass sie bei Gelegenheit des Geburtstages ihrer Tante auch selbst beschenkt werden würde!

»Ostsee!«, sagte sie und: »Danke, wie soll ich dir bloß danken. So ein tolles Geschenk. Das Meer wollte ich schon immer einmal befahren. Und dann gleich eine so große Reise. Vierzehn Tage, steht hier, soll es dauern. Und Sankt Petersburg ist auch dabei mit der legendären Eremitage! Ich freue mich.«

Sie stand auf, ging um den Tisch herum und umarmte ihre Tante, die angesichts ihrer, sie seit Jahren plagenden Arthritis dabei sitzen blieb.

Als sich Karla wieder gesetzt hatte, griff Tante Christa noch einmal in ihre voluminöse Tasche und reichte ihrer Nichte ein Päckchen.

»Du findest darin ein Smartphone!«, erläuterte sie. »Alles eingerichtet und bezahlt. Damit du mich jeden Tag auf dem Laufenden halten kannst, falls du das für notwendig hältst. Aber natürlich nur«, fügte sie hinzu, als sie Karlas fragenden Blick auf sich gerichtet sah, »falls du das willst. Da hast du natürlich freie Hand, denn es geht mir keinesfalls darum, dich zu überwachen.«

Sie lächelte, als Karla zustimmend nickte, und diese merkte erst jetzt, dass ihr Gegenüber in Erwartung von Karlas Reaktion die Luft angehalten hatte.

*

Und jetzt war Karla bereits den siebenten Tag auf diesem eleganten, fast luxuriösen Kreuzfahrtschiff, das gerade in den Hafen von St. Petersburg einlief. Von der Reling, an die sie sich auf Deck sieben »Nereus« lehnte, hatte sie einen umfassenden Überblick auf das Panorama dieser weltberühmten Stadt mit seinen unglaublich vielfältigen Museen und Palästen; eigentlich erstaunlich, dass die Zeit des strammen sowjetischen Kommunismus so zahlreiche Beweise adeliger und großbürgerlicher Vergangenheit hatte stehen lassen, dachte sie und horchte auf. Im Lautsprecher, von denen es zur Information der Passagiere und der Besatzungsmitglieder sehr viele überall auf dem Schiff gab, war ein Knacken zu hören. Und dann: »Passagiere, die den Ausflug SP 3 Eremitage gebucht haben, sammeln sich ab sofort im Theatersaal! Ich wiederhole: Ausflug SP 3 Eremitage; Kartenausgabe für den Bus im Theatersaal.«

Sie musste los.

*

Wie sie da, an der Reling gelehnt, die nahe Stadt bestaunt hatte, während der leichte Wind mit ihrem Kurzhaar spielte, hatte ihn das total angemacht. Eine bildhübsche Frau, noch dazu anscheinend ungebunden, zumindest hatte ein Blick auf ihre Hände keinen Ring erkennen lassen. Wenn er mit einer solchen Frau bei seiner Familie auftauchen würde, wäre sein Status innerhalb des vielköpfigen Clans für alle Zeiten gesichert.

Er hatte sich für alle Fälle die Tickets für mehrere Ausflüge gesichert, um sie begleiten zu können, die Eremitage gehörte dazu. Und, wie es aussah, hatte er das Richtige getan. Er musste sich beeilen und versuchen, mit ihr in denselben Bus und damit in dieselbe geführte Besuchergruppe zu gelangen. Er wollte in ihrer Nähe sein und bleiben, um sie genauer studieren zu können: ihr Wesen, ihre körperliche Verfassung, ihre Ausdauer. Es gab so viel, was für ein Leben bei ihm zu Hause von Bedeutung war. Darauf musste er achten.

Eigentlich waren die vergangenen Tage in dieser Hinsicht verlorene Zeit gewesen. Doch er war erst am Tag zuvor so richtig auf sie aufmerksam geworden. Da mochten viele Gelegenheiten des näheren Kennenlernens vergeudet worden sein. Aber nun war es einmal so; er musste das Beste daraus machen.

Auch, schoss es ihm durch den Kopf, wenn dies nicht so mit seinem Auftrag, den er zu erfüllen hatte, konform ging. Der ging natürlich vor, denn sonst würde es für ihn ungemütlich werden. Bei dem unduldsamen Auftraggeber!

Er hastete die Treppen von Deck sieben zu Deck 4 hinab; dort befand sich das Theater.

*

Schon die Außenansicht der Eremitage war eine Wucht. Der ehemalige Winterpalast, erbaut im 18. Jahrhundert von dem Florentiner Bartolomeo Rastrelli beherrschte den St. Petersburger Schlossplatz mit der 47 Meter hohen Alexandersäule in der Mitte und prägte ihn durch das Graugrün des russischen Rokokos. Bis zur russischen Revolution im Jahre 1917 war dieser Prunkbau der Herrschaftssitz der russischen Zaren und ihrer Großfamilien. Karla konnte sich an den Bogenfenstern, dem Schattenspiel der Säulen und den eingefügten Statuen nicht satt sehen und musste sich fast gewaltsam von diesem Anblick losreißen, da der einheimische, deutsch sprechende Stadtführer zum Betreten des Gebäudes aufforderte. Der vom Kreuzfahrtschiff mitgegebene Leiter der Gruppe hielt sich, wie immer, vornehm im Hintergrund. Seine Aufgabe bestand darin, die Gruppenmitglieder zusammenzuhalten und bei Schwierigkeiten, gleich welcher Art, zu vermitteln oder auch die Wogen einer Auseinandersetzung zu glätten. Falls das nötig war.

»Bitte bleiben Sie zusammen«, forderte der einheimische Stadtführer in einwandfreiem Deutsch. »Einzelne Erkundungsgänge sind hier nicht erlaubt. Sie riskieren ansonsten, dass Sie zum sofortigen Verlassen des Gebäudes verpflichtet sind. Und das wäre doch schade, oder?«

Im Innern kam Karla, angesichts der ungeheuren Fülle an Meisterwerken der Menschheitsgeschichte, aus dem Staunen nicht heraus. Lange stand sie vor Leonardo da Vincis genialem Porträt »Madonna Litta«. Ihr schien es, als versinke sie in dem Gemälde, als würde die abgebildete Schönheit mit sanfter Stimme zu ihr sprechen.

Ein weniger sanftes, als vielmehr eher rauhes, männliches Organ riss sie aus ihrem Tagtraum: »Unter den fast drei Millionen Kunstgegenständen in Form von Gemälden, Plastiken und sonstigen Artefakten ist dies Bild hier ein besonders eindrucksvolles Beispiel.«

Karla, aus ihrem Sinnen gerissen, drehte sich um. Hinter ihr stand ein vielleicht vierzig Jahre alter Passagier, den sie einige Male flüchtig auf dem Schiff gesehen hatte, ohne ihm freilich besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Er war etwa einen Kopf größer als sie und war wie fast alle Passagiere mit Urlaubsklamotten bekleidet. Nichts besonders Auffälliges also. Was ihr allerdings auffiel, waren seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen, in denen sie eine verhangene Schwermut zu erkennen glaubte.

»Da haben Sie recht«, antwortete Karla artig. Auch ihr Eindruck entsprach seinem Urteil.

»Sieben Zaren haben diese Schätze zusammengetragen, eine einzigartige Sammlung«, fuhr der Unbekannte fort. »Oh, entschuldigen Sie. Ich habe vergessen, mich Ihnen vorzustellen.«

Die Andeutung einer Verbeugung unterstrich seine Worte.

»Mein Name ist Palanga. Meine Familie kommt aus dem Baltikum, daher hänge ich an dieser Weltgegend, auch wenn ich jetzt in München arbeite.«

Sein Blick war eher zurückhaltend, hatte Karla den Eindruck, so als wollte er nicht aufdringlich erscheinen. Doch es glomm darin auch ein kleines Feuer beginnenden Interesses, meinte sie zu sehen. Ihr war unerklärlicherweise unbehaglich zumute. An der musealen Umgebung konnte es nicht liegen.

›Du bildest dir etwas ein‹, schalt sie sich selbst und sagte dabei laut: »Ich bin Karla Neumann, ein Allerweltsname. Und ich arbeite in Frankfurt am Main. Was Sie erzählen, ist gewiss interessant, allerdings …«

Von Ferne, nämlich aus der nächsten Räumlichkeit, hörte man die Stimme des Stadtführers, zu der sich der Gruppenleiter von der Schiffscrew mit der Frage gesellte: »Wo sind die Anderen?«

Da hakte Karla ein: »Ich denke, wir sollten unsere Träumerei vor diesem Bild beenden und uns zum Rest der Gruppe begeben. Wenn wir abgehängt werden, könnte das unangenehme Folgen haben.«

Sie hatte nicht damit gerechnet, aber Herr Palanga stimmte sofort zu: »Ja, Sie haben Recht. Man ist hier nur allzu schnell bereit, jemanden hinaus zu expedieren, der sich nicht an die vorgegebenen Spielregeln hält.«

Also eilten sie der Gruppe nach.

*

In der Dreifaltigkeitskirche zu Kuldiga kniete Pater Anselmo vor dem Hauptaltar, den einst Zar Alexander I. gestiftet hatte. Inmitten der prunkvollen Ausstattung der Kirche im Barock- und Rokokostil stach der Altar durch besondere Schönheit hervor, der speziell für dieses Gotteshaus errichtet worden war.

Pater Anselmo war vor einem Jahrzehnt auf eigenen Wunsch nach Kurland geschickt worden. Ihn reizte die Aufgabe, in dem ehemals sowjetisch reglementierten Landstrich die katholische Heilslehre zu verkünden. Was, wie er bei seiner Ankunft feststellen musste, eigentlich unnötig war. Denn das Land verfügte immerhin über einen Erzbischof, der für etwa ein Viertel der Bevölkerung zuständig war. Und das war weitaus mehr, als es sich Pater Anselmo ausgerechnet hatte.

Die Dreifaltigkeitskirche war ein fast magnetisch wirkender Anziehungspunkt für die Gläubigen, so dass der Pater eigentlich nie Probleme hatte, seine Predigten vor leeren Bänken abhalten zu müssen. Allerdings schien es neuerdings Schwierigkeiten zu geben, mit denen niemand gerechnet hatte.

Nun also kniete Pater Anselmo vor dem Hauptaltar und hoffte auf göttliche Eingebung, denn es war ihm rätselhaft, was er mit jenen Gerüchten anfangen und wie er sie deuten sollte, die ihm seit einigen Monaten zu Ohren gekommen und zunehmend auch unter den Gläubigen zu hören waren.

Zuerst hatte ihn Oma Dace angesprochen, eine über achtzigjährige Witwe aus der Großfamilie der Petersons. Die alte Dame war sehr gut im Ort vernetzt und hörte, wie man gemeinhin sagte, »das Gras wachsen«. Sie war regelmäßige Kirchgängerin, nahm es allerdings mit der Beichte nicht so genau. War sie doch der Meinung, dass es den Herrn Pastor nichts anging, was sie so tat und dachte. Das war allein eine Sache zwischen dem Herrgott und ihr – ganz persönlich. Und um den Ablass machte sie sich keine Sorgen, durch ihre Zwiesprache mit »dem da oben« würde sich das quasi von alleine regeln. Davon war sie fest überzeugt.

Oma Dace hatte sich nach einem sonntäglichen Gottesdienst an Pater Anselmo gewandt, den sie immer nur »Herr Pater« nannte, und um eine «private Unterredung« gebeten. Sie nahm es als Selbstverständlichkeit, dass der Priester sie unverzüglich in die Sakristei mitnahm, wo sie reden konnten, ohne Gefahr zu laufen, dass ein Unbefugter – gewollt oder ungewollt – Ohrenzeuge ihres Gesprächs wurde.

Oma Dace hatte kurz gezögert, so als schämte sie sich dessen, was sie zu sagen hatte, doch dann presste sie ihre überdimensionale Handtasche an die Brust und hub an zu erzählen: »Herr Pater, ich mache mir Sorgen. Es scheint, als seien diese Sonnenmenschen wieder aufgetaucht, die …«

Pater Anselmo war irritiert: »Wer, sagen Sie?«

»Na ja, ich weiß nicht so recht, wie ich das sagen soll. Das ist eine besondere Gruppierung von Menschen, die es nur hier in Kurland gibt. Lange Jahrhunderte waren sie verschwunden, schienen nicht mehr zu existieren. Nun aber hat mir meine Nachbarin berichtet, man habe eines ihrer Opfer gefunden.«

»Was für Opfer?« Der katholische Geistliche war nicht in der Lage, der Erzählung der alten Dame zu folgen. »Opfer von wem und was ist genau geschehen?«

Oma Dace setzte ihre Handtasche neben sich auf dem Fußboden ab und griff hinein: »Ich habe hier etwas Geschriebenes, das sollten Sie lesen, Herr Pater! Der Vater – oder war es der Urgroßvater? – meines Urgroßvaters hat damals notiert, was er erfahren oder vielleicht sogar selbst erlebt hat. Meine Augen sind nicht mehr so gut, dass ich es selbst entziffern könnte. Früher habe ich mich dafür nicht interessiert, da ich das alles für Humbug gehalten habe. Aber vielleicht ist doch etwas daran, wer weiß? Gewiss sind Sie in der Lage, die Handschrift zu entziffern, beziehungsweise kennen Sie jemanden, der Ihnen dabei behilflich sein kann.«

Damit überreichte sie dem Pater drei Blätter im Oktavformat, die offensichtlich beidseitig mit winzigen Buchstaben beschrieben waren. Das Papier war vergilbt und die Schrift ziemlich verblasst und damit schlecht lesbar.

Pater Anselmo wusste nicht, was er von dieser Gabe halten sollte. Daher fragte er etwas ratlos: »Liebe Oma Dace, wissen Sie vielleicht doch noch etwas, was mir auf die Sprünge helfen könnte?«