Sophienlust 100 – Familienroman - Bettina Clausen - E-Book

Sophienlust 100 – Familienroman E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. "Habt ihr es schon gehört?" Henrik sprang aus dem Wagen seiner Mutter, kaum dass Denise von Schoenecker angehalten hatte. Sofort umringten die Kinder von Sophienlust den Jungen. "Was ist denn los? Erzähl doch!", riefen sie durcheinander. Denise von Schoenecker hastete ins Haus. Sie hatte diesmal keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern. Da muss schon etwas Schlimmes passiert sein, dachte Pünktchen, wenn Tante Isi sich nicht einmal die Zeit nimmt, uns guten Tag zu sagen. Sie hörte sich nun mit den anderen Kindern Henriks Schilderung an.

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Sophienlust –100–

Wo ist mein Elternhaus?

Roman von Bettina Clausen

»Habt ihr es schon gehört?« Henrik sprang aus dem Wagen seiner Mutter, kaum dass Denise von Schoenecker angehalten hatte.

Sofort umringten die Kinder von Sophienlust den Jungen. »Was ist denn los? Erzähl doch!«, riefen sie durcheinander.

Denise von Schoenecker hastete ins Haus. Sie hatte diesmal keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern.

Da muss schon etwas Schlimmes passiert sein, dachte Pünktchen, wenn Tante Isi sich nicht einmal die Zeit nimmt, uns guten Tag zu sagen. Sie hörte sich nun mit den anderen Kindern Henriks Schilderung an.

»Zwei Züge sind zusammengeknallt«, sprudelte Henrik atemlos hervor.

»Was? Ist das wirklich wahr?« Die Kinder redeten durcheinander.

Dominik brachte sie wieder zum Schweigen. »Lasst doch Henrik erst mal fertigerzählen. Was für Züge?«, fragte er seinen Halbbruder.

»Ein Güterzug und ein Personenzug. Kurz vor Maibach.« Henrik war genauestens informiert.

»Um Gottes willen, ein Personenzug!« Pünktchen schaute zu Dominik empor. »Da sind doch bestimmt viele verletzt worden. Was meinst du, Nick?«

Der Fünfzehnjährige wandte sich mit einer stummen Frage an seinen jüngeren Bruder.

»Freilich«, bestätigte Henrik rasch. »Sie liegen alle im Maibacher Krankenhaus. Deswegen will Mutti ja Frau Dr. Frey anrufen. Die wird auch gebraucht. Und ihr Mann auch.«

»Stellt euch das mal vor. Zwei so riesige Züge, wenn die zusammenstoßen! Was das für einen Krach gibt!«, meinte Fabian.

»Denk lieber an die armen Menschen«, sagte Vicky leise. »Ob auch welche gestorben sind?«

»Weiß ich nicht.« Henrik schüttelte den Kopf. Alles, was er wusste, hatte er erzählt.

Während die Kinder nun über das Unglück diskutierten, rief Denise von Schoenecker Frau Dr. Anja Frey an. Doch die Ärztin wusste schon Bescheid. Das Maibacher Krankenhaus hatte alle Ärzte der Umgebung um Hilfe gebeten.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass wir auch gern helfen«, fügte Denise hinzu. »Lassen Sie es mich wissen, wenn wir etwas tun können.«

»Vielen Dank«, antwortete Anja Frey. »Soviel ich weiß, befanden sich auch Kinder im Zug. Ich werde also auf Ihr Angebot zurückkommen müssen.«

Zusammen mit ihrem Mann fuhr Anja Frey nach Maibach. Ihre fünfjährige Tochter Felicitas ließ sie bei Elise Karsten zurück. Die Haushälterin und Tante der Ärztin war oft mit dem Kind allein. Es machte ihr nichts aus. »Ich kümmere mich schon um Filzchen«, meinte sie. Das war Felicitas’ Kosename. So nannten sie sie alle.

Filzchen spielte im Garten mit ihrem Spaniel Stoffel. »Gehst du weg, Mutti?«

»Ja, Filzchen. Ich muss ins Krankenhaus, Tante Elise macht dir ein Mittagessen. Sei schön brav.« Sie gab ihr schnell einen Kuss.

Das Mädchen setzte sein Spiel in dem sonnigen Garten fort. Erst zum Mittagessen kam es ins Haus. »Hast du für Stoffel auch etwas gekocht, Tante Elise?«

»Aber freilich. Wir werden doch deinen Stoffel nicht verhungern lassen.« Elise Karsten wusste, wie sehr Filzchen an dem Spaniel hing.

Filzchen hatte drei Löffel von ihrem Brei gegessen, da hörte sie schon wieder auf zu essen. »Warum bleibt Mutti heute so lange weg, Tante Elise? Ist etwas passiert?«

Die Haushälterin wusste von dem Unglück. Sie brachte es Filzchen schonend bei. »Aber nun iss brav weiter, Filzchen. Deine Mutti kommt bestimmt am Abend nach Hause.«

»Tante Elise?« Filzchen legte schon wieder den Löffel aus der Hand. »Können wir nicht nach Maibach zum Krankenhaus fahren?«

»Nein, Filzchen. Das können wir nicht. Warum willst du denn dort hin?«

»Wir können doch Mutti und Vati abholen.«

Elise Karsten überlegte einen Moment. Dann entschied sie sich dagegen. »Nein, Filzchen. Deine Mutti hat gesagt, wir sollen zu Hause bleiben.«

»Vielleicht hat sie nicht gewusst, wie lange es dauern wird.« Die Kleine gab keine Ruhe.

»Das hat sie bestimmt gewusst. Und wenn wir jetzt hinfahren, dann müsstest du den ganzen Nachmittag im Krankenhaus sitzen. Da ist es doch hier im Garten viel schöner.«

Das leuchtete Filzchen ein. Also spielte sie weiter. Aber schon nach einer Stunde kam sie wieder ins Haus und meinte: »Vielleicht kommen Mutti und Vati schneller mit nach Hause, wenn wir sie abholen, Tante Elise?«

Die ältere Frau lächelte nachsichtig. Sie kannte Filzchens Hartnäckigkeit. Wenn sich die Kleine etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann erreichte sie es meistens auch. »Deswegen können sie auch nicht schneller kommen, Filzchen. Sie können das Krankenhaus erst dann verlassen, wenn sie mit der Behandlung der Patienten fertig sind.«

»Dann warten wir eben dort auf sie. Bitte, komm doch, Tante Elise«, drängte das Kind. »Wir können uns doch in den Garten des Krankenhauses setzen und dort warten. Dort ist es auch schön.«

»Also gut«, seufzte die Tante und gab sich geschlagen. Sie hatte ohnehin noch einige Besorgungen in der Stadt zu erledigen. »Du gibst ja sonst doch keine Ruhe.«

Filzchen klatschte in die Hände. »Komm, Stoffel! Wir fahren in die Stadt.« Schnell nahm sie die Hundebürste vom Regal und strich dem Spaniel glättend übers Fell. »Jetzt bist du schön genug. Muss ich mich umziehen, Tante Elise?«

»Ja. Zieh das Kleidchen hier an. Komm, ich helfe dir.«

Eine halbe Stunde später verließen die beiden das Doktorhaus. Elise Karsten erledigte zuerst in Maibach ihre Einkäufe. Dann fuhr sie mit Filzchen zum Krankenhaus.

Die Schwester an der Pforte kannte sie schon. »Warten Sie wieder auf Herrn und Frau Dr. Frey? Heute wird es aber spät werden.«

Elise nickte. »Wir setzen uns in den Garten.«

Während die Tante eine Strickarbeit aus der Tasche zog, spazierte Filzchen um die Blumenrabatten herum. In ihrer aufgeschlossenen fröhlichen Art sprach sie auch manchmal Patienten an und verwickelte sie in eine kindliche Unterhaltung. Auf diese Art hatte sie schon manchen kleinen Sonnenstrahl in das Herz eines verzweifelten Kranken gezaubert.

Neugierig blickte sie jetzt an der ein wenig düsteren Fassade hoch. »Wo Mutti und Vati jetzt wohl sind, Stoffel?«

Der Hund schaute sie nur an. Er wartete auf ein neues Spiel. Doch Filzchen hatte sich etwas anderes ausgedacht. »Du gehst jetzt zu Tante Elise, Stoffel. Ich will hineingehen ins Krankenhaus. Da kann ich dich nicht mitnehmen.« Sie gab dem Hund einen Klaps aufs Hinterteil. Gehorsam trabte der Spaniel davon.

Filzchen aber huschte schnell in die Vorhalle des Krankenhauses. Von hier aus kam sie leicht in den ersten Stock zu den Operationssälen. Aber sie traf dort weder die Mutter noch den Vater an. Es war diesmal auch alles ganz anders als sonst. Viel aufgeregter.

Unsicher schlurfte Filzchen über den blankgebohnerten Gang. Ob sie jemanden nach der Mutter fragen sollte? Aber alle schienen es eilig zu haben. Schwestern und Ärzte. Niemand achtete auf sie.

Plötzlich blieb Filzchen stehen. Am anderen Ende des Ganges saß jemand, der es nicht eilig hatte. Ein kleiner Junge. Aber gar so klein war er eigentlich nicht mehr. Filzchen stellte es fest, als sie näher kam. Bestimmt geht er schon in die Schule, dachte sie.

Verlassen hockte der Junge auf der Bank vor dem großen Operationssaal. Filzchen blieb an der gegenüberliegenden Wand stehen und musterte ihn neugierig. Er hatte dichtes braunes Haar und lustige Sommersprossen. Aber er sah gar nicht lustig aus.

Spontan überquerte Filzchen den Gang und setzte sich neben ihn. Doch der Bub bemerkte sie gar nicht. Er starrte auf die weiße geschlossene Tür des Operationssaales. Keine Sekunde wandte er den Blick davon ab.

»Ist da jemand von dir drin?«, fragte Filzchen leise.

Nun zuckte der Junge zusammen. Überrascht stellte er fest, dass plötzlich ein kleines Mädchen neben ihm saß.

Filzchen wiederholte ihre Frage. Da nickte er. »Ja.«

»Oh!« Voller Mitleid tastete Filzchen nach der Hand des Jungen. Sie dachte, er würde sie zurückziehen. Jungen waren da ja manchmal komisch. Doch er tat das nicht. Ohne sich zu rühren ließ er geschehen, dass die Kleine seine Hand streichelte. Seit Stunden hatte sich niemand um ihn gekümmert. Er war sich vorgekommen, als sei er ganz allein auf der Welt. Doch nun saß plötzlich ein kleines Mädchen neben ihm, das sogar Verständnis für den schmerzenden Kloß in seiner Brust hatte. Auf jeden Fall sah es so aus.

Scheu blickte der Junge Filzchen von der Seite an. Ob er ihr von diesem schmerzenden, drückenden Gefühl erzählen sollte? Oder von dem Unglück? Von dem furchtbaren Moment, in dem sich plötzlich die ganze Welt in Flammen, Ruß, Schreie und Stöhnen aufgelöst hatte? Aber wahrscheinlich verstand sie das noch gar nicht. Sie ging ja noch nicht einmal zur Schule.

»Ich heiße Filzchen«, sagte die Kleine da leise. »Und du?«

»Andy.« Er schaute sie wieder an. »Wieso heißt du Filzchen? Das ist doch gar kein Name.«

»Nein. Eigentlich heiße ich auch Felicitas. Aber alle sagen Filzchen zu mir. Mein Vati, meine Mutti …«

Als Filzchen das letzte Wort aussprach, zuckte der Junge zusammen. Er erinnerte sich wieder an seine Mutter, die jetzt da drinnen hinter der weißen Tür lag. Wie lange bloß noch?

Filzchen deutete seine Bewegung richtig. »Ist deine Mutti da drin? Oder dein Vati? Oder alle zwei?«, fragte sie erschrocken.

Andy schluckte. »Meine Mutti. Mein Vati ist in einem anderen Zimmer. Aber da lassen sie mich nicht rein.«

»Oh!« Filzchen begann wieder die Hand des Jungen zu streicheln. So, wie ihre Mutti es immer machte, wenn sie sich weh getan hatte.

Tatsächlich tröstete es Andreas auf eine seltsame Weise. Andreas war der richtige Name des Jungen, alle nannten ihn nur Andy. Das war sein Kosename.

Andy trug einen roten Nickipullover und ausgewaschene Jeans, wie die meisten Jungen in seinem Alter. Und plötzlich, ohne dass Filzchen ihn gefragt hatte, begann er von dem Unglück zu erzählen.

»Wir wollten in Urlaub fahren. Meine Mutti, mein Vati und ich. Aber plötzlich gab es einen Schlag und einen ganz furchtbaren Krach. Und dann flog alles durcheinander. Der ganze Waggon kippte um, weißt du?«

Er schaute Filzchen an. Die nickte, obwohl sie sich das nicht so recht vorstellen konnte.

»Und dann schrie meine Mutti auf einmal. Sie lag mit dem Kopf unter einem Eisenstück.« Bei der Erinnerung daran liefen Andy plötzlich Tränen über die Wangen. »Das war schlimm«, schluchzte er. »Ich konnte sie doch nicht herausziehen. Und Vati war auch nicht mehr da.«

Ohne dass Filzchen wusste, was sie tat, weinte sie plötzlich mit. »Armer Andy.« Sie hielt nun beide Hände des Jungen fest. Das tröstete ihn. Und er weinte weiter, bis er sich ein wenig leichter fühlte.

»Und du?«, schnüffelte Filzchen. »Hast du gar nichts abgekriegt?« Sie betrachtete ihn von oben bis unten.

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Überhaupt keinen Kratzer?«

»Gar nichts.« Er starrte wieder auf die Tür des Operationssaales. »Ist von dir auch jemand drin?«

»Meine Mutti ist ein Doktor und mein Vati auch«, erzählte Filzchen. »Sie arbeiten manchmal hier.«

Jetzt musterte Andy die Kleine mit unverhohlener Bewunderung. »Dann operieren sie vielleicht meine Mutti?«

»Vielleicht«, meinte Filzchen. Sie wusste es ja nicht. »Sie machen deine Mutti bestimmt wieder gesund«, fügte sie schnell hinzu.

Daran, dass Tante Elise im Garten auf sie wartete, dachte Filzchen nicht mehr. Auch nicht an ihren Spaniel Stoffel. Sie hatte nur Augen und Ohren für Andy, der doch so unglücklich war. »Ich lasse dich nicht allein«, versicherte sie ihm leise. »Wenn du willst, bleibe ich bei dir, bis sie deine Mutti fertigoperiert haben.«

Er nickte dankbar und wischte sich die letzte Tränenspur vom Gesicht.

In diesem Augenblick bog Frau Dr. Anja Frey um die Ecke des Korridors. Sie sah die beiden Kinder und blieb überrascht stehen. Nanu, dachte sie, das ist ja Filzchen. Und den Jungen hatte sie schon vor Stunden im Krankenhaus gesehen. Das Kind eines Verletzten. Offensichtlich war es in der Hektik des Krankenhauses vergessen worden.

Filzchen war aufgesprungen und kam nun zu ihr. »Mutti, das ist Andy. Seine Mutti wird da drin operiert. Ich warte mit ihm, damit er nicht so allein ist. Das darf ich doch?«

»Ja, ja«, sagte Frau Dr. Frey abwesend. »Aber wie kommst du denn überhaupt hierher?«

»Mit Tante Elise und Stoffel. Sie warten unten im Garten.« Ein wenig unsicher blickte Filzchen zu der Mutter empor. Würde sie schimpfen?

Doch Anjas Interesse galt in erster Linie dem unglücklichen Jungen mit dem verweinten Gesicht. Seine Mutter wurde gerade operiert. Das stimmte. Aber der Vater war seinen Verletzungen erlegen. Doch das wusste das Kind noch nicht.

Es gab Anja einen schmerzhaften Stich, als sie daran dachte. Sie wandte sich vorsichtig an Andy. »Es kann noch länger dauern, bis deine Mutti fertig ist.«

Er blickte ängstlich zu ihr empor. »Darf ich … darf ich nicht hier warten?«

»Das darfst du natürlich. Aber ich mache dir einen besseren Vorschlag. Fahr doch mit Filzchen und Tante Elise nach Hause. Sobald du deine Mutti sehen darfst, hole ich dich dann.«

»Ist das heute noch?«

Anja wusste genau, dass dies nicht der Fall sein würde. Christina Herking, die Mutter des Jungen, war sehr schwer verletzt. Die Operation konnte noch Stunden dauern. Und anschließend würde der behandelnde Arzt bestimmt keinen Besuch genehmigen. Auch nicht für Andy. »Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, antwortete sie ausweichend, um den Jungen nicht zu verletzen. »Aber wenn du sie sehen darfst, dann fahre ich dich ins Krankenhaus. Das verspreche ich dir.«

Andy nickte vertrauensvoll. Dann stand er auf und ging mit Filzchen.

Anja brachte die Kinder in den Garten zu ihrer Tante.

»Da bist du ja!«, rief Elise Karsten erleichtert aus, als sie Filzchen sah. Stoffel kam ihr entgegengelaufen und sprang an ihr hoch.

Während Filzchen Andy den Hund vorstellte, informierte Anja kurz ihre Tante. Der arme Junge, dachte auch die Haushälterin und nahm die beiden Kinder schnell bei der Hand. »Wir fahren jetzt sofort nach Hause. Ihr müsst doch Hunger haben?«

Das hatten sie alle beide.

Vorübergehend ließ sich Andy von Filzchen trösten. Er bewunderte den schönen Garten und spielte mit Stoffel. Auch das Essen schmeckte ihm, denn er hatte Hunger.

»In Heidelberg haben wir auch ein Haus«, erzählte er Filzchen.

»Mit einem Garten?«

Andy nickte. »Aber es sind nicht so viele Blumen drin. Dafür mehr Gras. Da darf man auch darüberlaufen oder darauf spielen.«

Filzchen hörte andächtig zu. Auch dann, als er von seinen Schulfreunden erzählte und von seiner kleinen Freundin.

»Sie sieht dir ein bißchen ähnlich«, meinte er. Kritisch musterte er Filzchens langes braunes Haar. »Aber sie hat keine Ponyfransen.«

Elise Karsten verfolgte die kindliche Unterhaltung, ohne sich einzumischen. Sie begriff, dass es Felicitas am besten gelang, den unglücklichen Jungen abzulenken und zu trösten. Ab und zu, wenn Stoffel seine lustigen Sprünge machte, lachte Andy sogar ein wenig.

*

Es war schon spät, als Anja Frey und ihr Mann Stefan das Krankenhaus verließen. Anja hatte ihrem Mann von dem achtjährigen Andy erzählt. Daraufhin hatte sich Stefan Frey vor dem Verlassen des Krankenhauses selbst noch einmal nach Christina Herking erkundigt. Doch seine Kollegen hatten ihm noch nichts Genaues sagen können.

»Ist denn nicht einmal gewiss, ob sie am Leben bleiben wird?«, fragte Anja.

»Der Chirurg, der sie operiert hat, hofft es. Aber er konnte es noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Ihre Verletzungen sind sehr schwer. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er morgen noch einmal operieren muss. Leider ist auch ihr Gesicht verletzt.«

Anja erschrak. Sie wusste, was eine Gesichtsverletzung unter Umständen bedeuten konnte. Entstellung für das ganze Leben. »Hoffentlich nicht schlimm«, sagte sie leise.

Ihr Mann wiegte den Kopf. »Ich habe die Patientin zwar nicht gesehen, aber nach den Worten des Kollegen muss ich fast annehmen, dass es schwere Verletzungen sind. Ich werde morgen noch einmal mit ihm sprechen.«

»Bitte, tu das«, bat Anja. Noch während sie es sagte, spürte sie wieder jene Hilflosigkeit, die sie immer dann überfiel, wenn sie als Ärztin einem Menschen nicht helfen konnte. So sehr sie ihren Beruf sonst liebte, in solchen Augenblicken war sie oft verzweifelt.

Die beiden Ärzte waren bei ihrem schönen Häuschen angekommen. Filzchen und Andy spielten im Garten. Gerührt erkannten Stefan und Anja, wie sehr sich Filzchen um Andy bemühte. »Ist sie nicht wunderbar?«, fragte Anja leise. »Sieh nur, wie sie versucht, ihn abzulenken.«

Sie blieben einen Augenblick im Wagen sitzen und beobachteten die Kinder. Dann hatte Filzchen sie entdeckt. Gemeinsam mit Stoffel kam sie zur Gartentür gesprungen. »Mutti! Vati!«

Filzchen bekam von beiden einen Kuss. Und gleich anschließend verlangte der Spaniel gestreichelt zu werden. Eher gab er keine Ruhe. Das hielt er für sein gutes Recht. Das verlangte er jeden Tag von Frauchen und Herrchen, wenn sie nach Hause kamen.

Anja tat das sonst auch immer sehr ausführlich und auch gern. Nur an diesem Abend war sie nicht ganz bei der Sache. Ihr Blick suchte das fremde Kind. Dabei war Andy für Filzchen schon kein Fremder mehr. »Ich weiß schon vieles von Andy, Mutti. Er kommt aus Heidelberg. Dort haben sie auch so ein Haus wie wir. Nur mit mehr Gras.«

Andy war näher gekommen. Mütterlich legte Anja ihren Arm um ihn. »Gefällt es dir ein bisschen bei uns, Andy?«

Er nickte abwesend, aber als Stefan ihn begrüßte, gab er höflich die Hand. Doch dann wandte er sich gleich wieder an Anja. »Bringen Sie mich jetzt zu meiner Mutti?«

Diese Frage hatte Anja befürchtet. »Dazu ist es heute schon zu spät, Andy.« Sie sah sein enttäuschtes Gesicht. Schnell fuhr sie fort: »Deine Mutti ist nach der Operation nur ganz kurz aus der Narkose aufgewacht und dann gleich wieder eingeschlafen. Du hättest also sowieso nicht mit ihr sprechen können.«

»Aber ich hätte sie doch sehen können? Nur sehen.« Seine Stimme klang geradezu verzweifelt.

Anja konnte den Jungen ja so gut verstehen. Trotzdem sagte sie: »Das erlaubt der Doktor leider nicht, Andy.«

»Aber Sie sind doch auch ein Doktor. Sie hätten ihm doch sagen können, dass ich sie nur sehen will. Ich hätte sie ja weiterschlafen lassen.« Andy schaute bittend zu der Ärztin auf.