Sophienlust 101 – Familienroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Sophienlust 101 – Familienroman E-Book

Patricia Vandenberg

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Spiegelglatt war die Eisfläche, auf der ein zierliches kleines Mädchen graziös dahinschwebte. Ganz allein war es, und es sah winzig aus. »Mach jetzt endlich ein paar Sprünge, Ruth«, rief eine helle Frauenstimme. Das Kind blieb stehen. Wenn Tante Lilo sie »Ruth« rief, war sie nicht zufrieden. Wenn sie »Sabine« sagte, drückte das Lob aus. Das kleine Mädchen hieß Ruth-Sabine Campen, und von ihrem Daddy wurde sie Rubinchen genannt. Sie vermisste den zärtlichen Kosenamen ebenso wie ihren Daddy selbst, der in der Türkei eine Maschinenfabrik leiten musste und sie in der Obhut von Tante Lilo zurückgelassen hatte. »Na, wird es bald«, rief Tante Lilo ungehalten. Rubinchen lief mit gleitenden Schritten auf die pelzvermummte Gestalt zu, die am Rand der Eisfläche stand. »Es ist so kalt, Tante Lilo«, sagte sie. »Ich friere.« »Stell dich nicht so an. Du weißt genau, dass wir nur früh am Morgen so viel Platz haben. Wenn du dich mehr bewegst, wird es dir schon warm werden.« Rubinchen schlugen die Zähne aufeinander, aber sie wusste genau, dass sie von Tante Lilo, die vom Ehrgeiz besessen war, ihre Nichte zu einer Eisprinzessin zu machen, kein Verständnis erwarten konnte. Rubinchen hatte frühzeitig Schlittschuhlaufen gelernt und sich als sehr talentiert erwiesen. Mit Daddy hatte es ihr auch viel Spaß gemacht. Sie überlegte kurz, ob Daddy wohl einverstanden wäre, wenn er wüsste, dass sie so hart trainiert wurde. Was Training bedeutete, hatte Lilo ihr hinreichend erklärt. Rubinchen hatte einen langen Vortrag darüber zu hören bekommen, nachdem ein fremder Mann, den sie grässlich fand, zu Tante Lilo gesagt hatte, dass sie ein Naturtalent

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Sophienlust – 101 –

Prinzessin Rubinchen

Patricia Vandenberg

Spiegelglatt war die Eisfläche, auf der ein zierliches kleines Mädchen graziös dahinschwebte. Ganz allein war es, und es sah winzig aus.

»Mach jetzt endlich ein paar Sprünge, Ruth«, rief eine helle Frauenstimme.

Das Kind blieb stehen. Wenn Tante Lilo sie »Ruth« rief, war sie nicht zufrieden. Wenn sie »Sabine« sagte, drückte das Lob aus.

Das kleine Mädchen hieß Ruth-Sabine Campen, und von ihrem Daddy wurde sie Rubinchen genannt. Sie vermisste den zärtlichen Kosenamen ebenso wie ihren Daddy selbst, der in der Türkei eine Maschinenfabrik leiten musste und sie in der Obhut von Tante Lilo zurückgelassen hatte.

»Na, wird es bald«, rief Tante Lilo ungehalten.

Rubinchen lief mit gleitenden Schritten auf die pelzvermummte Gestalt zu, die am Rand der Eisfläche stand.

»Es ist so kalt, Tante Lilo«, sagte sie. »Ich friere.«

»Stell dich nicht so an. Du weißt genau, dass wir nur früh am Morgen so viel Platz haben. Wenn du dich mehr bewegst, wird es dir schon warm werden.«

Rubinchen schlugen die Zähne aufeinander, aber sie wusste genau, dass sie von Tante Lilo, die vom Ehrgeiz besessen war, ihre Nichte zu einer Eisprinzessin zu machen, kein Verständnis erwarten konnte.

Rubinchen hatte frühzeitig Schlittschuhlaufen gelernt und sich als sehr talentiert erwiesen. Mit Daddy hatte es ihr auch viel Spaß gemacht. Sie überlegte kurz, ob Daddy wohl einverstanden wäre, wenn er wüsste, dass sie so hart trainiert wurde.

Was Training bedeutete, hatte Lilo ihr hinreichend erklärt. Rubinchen hatte einen langen Vortrag darüber zu hören bekommen, nachdem ein fremder Mann, den sie grässlich fand, zu Tante Lilo gesagt hatte, dass sie ein Naturtalent sei.

Lilo Lüdke war Sportlehrerin, und im Winter gab sie, selbst eine recht gute Eisläuferin, Unterricht in diesem Sport. Allerdings konzentrierte sie sich neuerdings ausschließlich auf ihre Nichte, was seine guten Gründe hatte.

Rubinchen hätte nicht gewagt, Tante Lilo zu widersprechen. Das hätte bedeutet, den ganzen Tag im Zimmer bleiben zu müssen, um Achter und Kreise zu malen.

So drehte sie sich auf dem frostklirrenden Eis, wie Tante Lilo es befahl, und bemerkte nicht, dass sie inzwischen auch andere Zuschauer bekommen hatte.

»Bezaubernd«, sagte Denise von Schoenecker zu der jungen Dame, die neben ihr stand. »Das ist ja ein entzückendes Kind, Nanni.«

»Für den Betrachter«, erklärte Nanette von Willbrecht. »Für mich ist es ein bedauernswertes Kind, das schamlos strapaziert wird.«

»Das müssen Sie mir erklären, Nanni«, sagte Denise erschrocken. In diesem Augenblick stürzte Rubinchen.

Es tat höllisch weh, aber sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen, weil Tante Lilo über die Eisfläche auf sie zukam.

»Nimm dich zusammen, Ruth«, sagte sie streng. »Die Stunde ist noch nicht um.«

Rubinchen rappelte sich auf. Als sie sich umblickte, flog ein heller Schein über ihr kleines Gesicht. Winkend hob sie die Hand. Lilo Lüdke drehte sich um und sah Nanette von Willbrecht. Ihre Miene verdüsterte sich.

»Du sollst nicht mit ihr reden, Ruth«, sagte sie unwillig.

»Warum denn nicht?«

Lilo blieb ihr die Antwort schuldig, denn sie entdeckte jetzt einen Mann im hellen Ledermantel, der sich auf einer Bank niedergelassen hatte.

»Du übst den Rittberger«, sagte sie. »Noch zehn Minuten! Hast du verstanden?«

»Ja, Tante Lilo«, erwiderte Rubinchen gehorsam, weil sie genau wusste, dass Tante Lilo abgelenkt war. Der Fremde, der ihr dieses harte Training eingebrockt hatte, war wieder da. Rubinchen war entschlossen, diesen Mann noch viel abscheulicher zu finden als vor vierzehn Tagen.

Sie übte zweimal den Rittberger, trotz der scheußlichen Schmerzen im Knie, aber dann sah sie, dass Tante Lilo sich angeregt mit dem Fremden unterhielt, und sie entdeckte den großen schneeweißen Hund, der sich neben Nanette von Willbrecht niedergelassen hatte.

Ganz nahe lief sie an die Bande heran. »Pipp«, rief sie und der Hund legte seine Ohren zurück. Dann sah Rubinchen zwei Buben, einen großen und einen kleinen, und der große sagte: »Du kannst vielleicht toll Schlittschuh laufen. Ich bin ganz weg.«

Da vergaß sie ihre Schmerzen und lief weiter. Sie sprang den Rittberger und den Salchow fehlerlos und ahnte nicht, dass sie dadurch alles noch schlimmer für sich machte.

»Sie haben schon viel erreicht«, sagte der Fremde anerkennend zu Lilo Lüdke. »Wenn die Kleine weiter solche Fortschritte macht, kann ich sie nächstes Jahr in die Revue einbauen.«

»Was springt für mich dabei heraus, Mr Miles?«, fragte Lilo.

»Vorerst fünftausend, wenn Sie den Vertrag unterschreiben«, erwiderte er. »Ich werde die Kleine morgen noch beobachten. Abends treffen wir uns dann, okay?«

Lilo nickte ihm mit ihrem betörendsten Lächeln zu. Wenigstens glaubte sie, dass es betörend sei. Für ihre Begriffe war Mr Gordon Miles der attraktivste Mann, der ihr seit Langem begegnet war, und sie war immerhin bereits dreißig.

Rubinchen drehte indessen eine Pirouette und versetzte ihre interessierten Zuschauer damit in helles Entzücken. Ganz schnell glitt sie dann wieder an die Bande, wo Nanette stand.

»Wenn ich fort kann, komme ich heute Nachmittag«, flüsterte sie. »Darf ich?«

»Immer, Rubinchen«, erwiderte Nanni, und der weiße Hirtenhund Pipp bellte zweimal.

*

Denise und Alexander von Schoenecker waren mit ihren Söhnen Dominik und Henrik für ein paar Tage Gäste der Familie von Willbrecht. Nanette war als Krankengymnastin einige Wochen im Kinderheim Sophienlust gewesen und hatte sich dort sehr wohl gefühlt. Seit dieser Zeit bestand zwischen ihr und der Familie von Schoenecker ein freundschaftlicher Kontakt.

Weil Dominik und Henrik einmal ein richtiges Eishockeyspiel sehen wollten, während Denise sich mehr für den Eiskunstlauf begeisterte, hatten sie die Einladung von Nanettes Eltern, ein paar Tage bei ihnen zu verbringen, gern angenommen.

Friedrich von Willbrecht und seine Frau Annemarie freuten sich, die Schoen­eckers persönlich kennenzulernen. Sie hatten aus der Not der Nachkriegsjahre eine Tugend gemacht und ihr hochherrschaftliches Haus zu einer Pension umgestaltet, in der sie ausschließlich Stammgäste aufnahmen. Für private Gäste blieben aber immer ein paar Zimmer reserviert. In diesen waren jetzt die Schoeneckers untergebracht.

Nick und Henrik waren betrübt, weil Pünktchen diesmal daheim bleiben musste. Aber Pünktchen, deren richtiger Name Angelina Domin lautete und die schon ganz zu den Schoeneckers und Sophienlust gehörte, musste noch die Folgen einer schweren Grippe auskurieren.

»Pünktchen kann zwar auch sehr gut Schlittschuh laufen«, sagte Henrik auf dem Heimweg vom Stadion, »aber sie hätte vielleicht gestaunt, was die kleine Eisprinzessin für Sprünge macht.«

Denise von Schoenecker dachte immerzu daran, was Nanni über dieses bezaubernde Kind gesagt hatte: Ein bedauernswertes Kind, das schamlos strapaziert wird.

Denise, die seit Jahren das Kinderheim Sophienlust leitete und darauf bedacht war, immer nur das Beste für ihre Schützlinge zu bewirken, wollte zu gern wissen, was Nanni damit gemeint hatte.

Als sie bei dem wunderschönen Haus anlangten, das den Willbrechts schon in der dritten Generation gehörte, sah sie zu Nanni: »Sie müssen mir unbedingt von dieser kleinen Eisprinzessin erzählen.«

Nick spitzte die Ohren, aber er hörte auch, wie Nanni erwiderte: »Wenn wir allein sind, Frau von Schoenecker.«

Das ergab sich bald, ohne dass Nick etwas dagegen unternehmen konnte. Der ungarische Hirtenhund Pipp war nämlich zum Herumtollen aufgelegt, und darüber vergaß Nick alles andere. Sie hatten zwar in Sophienlust und Schoeneich viele Hunde der verschiedensten Rassen kennengelernt, aber Pipp war ein ungewöhnliches Exemplar. Herr von Willbrecht hatte den Buben erzählt, dass er schon Menschen aus Lawinen gerettet hatte. Er war als drei Monate altes Hundebaby zu den Willbrechts gekommen, mit dem stolzen Namen Pippin, aber Nanni hatte ihn gleich Pipp genannt, und so war es geblieben.

Man konnte ihn mit dem Korb zum Bäcker schicken, und er brachte die frischen Brötchen nach Hause, ohne dass ein einziges gefehlt hätte. Er holte die Zeitungen und trug sie zwischen seinen Zähnen, ohne dass sie je eingerissen wären.

Nun hatte Henrik einen großen Knochen ganz am Ende des Gartens tief unter dem Schnee vergraben, weil er genau wissen wollte, ob Pipp ihn finden würde, und um ihn abzulenken, gingen sie erst noch mit ihm die Straße auf und ab.

So konnten Denise und Nanni sich ganz ungestört unterhalten, während Friedrich von Willbrecht und Alexander von Schoenecker eine Partie Schach spielten.

Denise und Nanni hatten es sich beim Kamin gemütlich gemacht.

»Ich fürchte, dass ich bei dieser Geschichte leicht in den Verdacht geraten kann, klatschhaft zu sein«, begann Nanni verlegen.

»Iwo, Nanni. Ich kenne Sie doch. Das Kind interessiert mich wirklich sehr. Erzählen Sie bitte!«

»Dann sollte ich wohl bei Lilo beginnen. Früher haben wir uns gedutzt. Sie ist vier Jahre älter als ich und war mit meinem Bruder Hasso befreundet, als sie noch ein junges Mädchen war. Vielleicht hatte sie Torschlusspanik bekommen, als ihre Schwester Jan Campen heiratete, jedenfalls zeigte sie es Hasso ein bisschen zu deutlich, dass sie geheiratet werden wollte. Vielleicht war es auch etwas anderes, dass er sich von ihr trennte. Er hat nie darüber gesprochen, und seit zwei Jahren ist er nun mit der richtigen Frau verheiratet. Lilo hat mich seither wie eine Fremde behandelt. Das macht mir zwar nichts aus, aber seit Rubinchen hier ist, muss auch das Kind darunter leiden. Wir haben uns nämlich auf Anhieb gemocht.«

»Rubinchen ist ein reizender Name, so reizend wie das Kind selbst«, warf Denise ein.

Nanni erklärte ihr, wie der Name entstanden war, und sie sagte auch, dass Lilo abwechselnd Ruth oder Sabine sagte.

»Schon mit den Namen zeigt sie ihre Launen. Sabine sagt sie nur höchst selten. Einmal hat mir die Kleine schon ihr Herzchen ausgeschüttet, aber es ergibt sich nur höchst selten eine Gelegenheit, allein mit ihr zu sprechen, und seit Lilo das Kind wie verrückt trainiert, was ich nicht nur für unsinnig, sondern auch für schädlich halte, ist es ganz aus.«

»Und der Vater? Duldet er das denn?«

»Herr Campen ist schon seit Monaten in der Türkei. Deswegen hat er Rubinchen seiner Schwägerin in Obhut gegeben. Ruth, Rubinchens Mutter, ist bei der Geburt gestorben. Sie war ganz anders als Lilo. Sie war meine Freundin. Jan Campen kenne ich nur flüchtig. Er hat jetzt eine Bombenstellung, und soviel ich weiß, liebt er sein Kind auch sehr. Ich glaube nicht, dass er damit einverstanden wäre, was Lilo mit dem Kind treibt. Was mich aber besonders nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, dass Lilo jetzt des Öfteren mit diesem Mr Miles zusammensteckt. Er ist Manager einer Eisrevue.«

»Du lieber Himmel«, sagte Denise erschrocken, »sie wird doch nicht schon Kapital aus dem Kind schlagen wollen?«

»Das eben fürchte ich. Nun, vielleicht kann Rubinchen heute entwischen und ich erfahre mehr.«

Denise überlegte. »Wir werden morgen noch früher ins Stadion gehen«, sagte sie. »Vielleicht komme ich mit dieser Lilo ins Gespräch. Sie haben mich neugierig gemacht, Nanni.«

Aber das war es nicht allein. Denise hatte ein Herz für Kinder und besonders für jene, die nicht unbeschwert Kind sein durften. Nicht umsonst nannte man Sophienlust das Haus der glücklichen Kinder.

*

Rubinchen staunte, wie freundlich Tante Lilo heute mit ihr war. Sie bekam Kalbschnitzel, die sie besonders gern mochte, ihr Knie wurde bandagiert, und Lilo raffte sich sogar zu ein paar mitfühlenden Worten auf. Rubinchen sah die Möglichkeit, ihr zu entwischen, allerdings immer mehr schwinden.

»Schreiben wir an Daddy?«, fragte sie.

»Dazu habe ich heute keine Zeit«, erwiderte Lilo. »Ich muss noch dein Kleidchen für morgen fertig machen. Ach ja, du könntest von Frau Brühl einen Reißverschluss holen. Das wird dein Bein wohl nicht zu sehr anstrengen.«

In diesem Augenblick tat es gar nicht mehr weh, denn von dem kleinen Laden der Frau Brühl war es wirklich nicht weit bis zu den Willbrechts. Rubinchen sah einen Silberstreif am Horizont.

»Ich kann ja langsam gehen«, sagte sie schlau. »Hinfallen darf ich nicht noch einmal, wenn ich morgen laufen soll.«

»Du bist ja ganz vernünftig«, meinte Lilo, und ihr schmaler Mund, der schon ein bisschen verkniffen wirkte, lächelte.

Rubinchen schlüpfte in die langen Hosen und zog ihren Anorak an. Frühzeitig war sie zur Selbstständigkeit erzogen worden.

»Binde den Schal um, damit du kein Halsweh bekommst«, sagte Lilo mahnend.

Rubinchen tat widerspruchslos, was man von ihr verlangte. »Kann ich noch etwas für dich besorgen, Tante Lilo?«, fragte sie.

»Ein paar Krapfen kannst du uns mitbringen. Die magst du doch.«

Von so viel Freundlichkeit wurde Rubinchen verblüfft. Sie überlegte, ob das wohl auch mit dem fremden Mann zusammenhing. Vielleicht wollte Lilo mit ihm ausgehen. Langsam ging Rubinchen die Straße entlang, bis sie vom Haus aus nicht mehr zu sehen war. Dann lief sie schneller.

Vielleicht findet Lilo doch einen, der sie heiratet, dachte sie. Dann wird sie endlich nicht mehr davon reden, dass es für mich das Beste wäre, wenn Daddy sie heiraten würde. Der Gedanke, dass Tante Lilo Daddys Frau werden könnte, ängstigte sie, aber Daddy hatte so etwas nie verlauten lassen.

Nun sah sie das Haus der Willbrechts und dachte nicht mehr an Tante Lilo, denn Pipp kam ihr schon entgegengelaufen, als hätte er sie längst gewittert.

»Lieber Pipp«, sagte sie zärtlich und kraulte ihm den Kopf, und dann sah sie Nanni. Ein glückliches Leuchten kam in die schönen Augen des Kindes.

»Ich muss etwas holen, und darum konnte ich schnell kommen«, rief sie.

»Hast du dir heute Morgen arg wehgetan?«, fragte Nanni besorgt.

»Es geht schon«, erwiderte Rubinchen. »Muss ja morgen laufen, vor all den vielen Leuten am Nachmittag.«

Erschrocken sah Nanni das Kind an. »Willst du das?«

»Tante Lilo will es«, erwiderte Rubinchen seufzend. »Ich kann nichts machen. Ich habe bloß Angst, dass ich mich blamiere. Ich möchte so gern spielen.« Sehnsüchtig wanderten die Augen zu den beiden Jungen, die jetzt näher kamen.

»Bleib doch hier«, rief Henrik, der es gehört hatte.

Rubinchen schüttelte den Kopf.

»Meine Tante wartet«, sagte sie. »Vielleicht darf ich übermorgen kommen, wenn ich morgen gut laufe.«

»Dann fahren wir schon bald wieder weg«, sagte Henrik enttäuscht.

»Nanni, ich möchte dir gern etwas sagen«, flüsterte Rubinchen.

»Du kannst mir alles sagen.«

Des Kindes Blick verdunkelte sich. »Ich muss aber schnell wieder heim«, erwiderte es.

»Dann begleite ich dich ein Stück.«

Henrik wollte auch hinterherlaufen, aber Nick hielt ihn zurück. Er hatte begriffen, dass das kleine Mädchen etwas auf dem Herzen hatte, was sie nicht jedem erzählen wollte. Und so war es auch. »Weißt du, Nanni, Tante Lilo hat gesagt, dass Daddy es gern will, wenn viele Leute mir zuschauen. Sie sagt, dass er das geschrieben hat. Aber sie hat mir einen ganz alten Brief von Daddy vorgelesen, in dem das stehen soll, und vorher hat es da nicht dringestanden. Ist das Lüge?«

Was sollte Nanni dazu sagen? Sie traute es Lilo ohne Weiteres zu, dass sie so etwas tat, wenn es ihren eigenen Zielen nützlich war.

»Vielleicht hast du dich getäuscht und es war doch ein anderer Brief, Rubinchen«, sagte sie beklommen.

»Aber Daddy hat mich doch lieb. Er weiß doch, dass ich es gar nicht mag, wenn die Leute mich anschauen.«

»Er wird aber auch stolz sein auf sein begabtes Töchterchen«, meinte Nanni.

»Wir sind doch aber immer nur zum Spaß gelaufen, und mit Daddy war das auch schön«, sagte Rubinchen. »Ich muss mir so viel den Kopf zerbrechen. Jetzt bin ich schon bald sechs Jahre, aber ich möchte so gern noch fünf bleiben, Nanni. Am liebsten möchte ich jetzt gar nicht mehr Schlittschuh laufen.«

Nanni verspürte eine tiefe Verzweiflung. Sie konnte dem Kind nicht helfen. Sie musste es mit billigem Trost abspeisen. Sie wusste genau, dass Lilo Lüdke noch unnachsichtiger werden würde, wenn sie sich einmischte.

»Ich möchte auch zu gern wissen, warum Tante Lilo dich nicht mag«, sinnierte Rubinchen. »Vielleicht weil du so hübsch bist und die Männer dir immer nachschauen.«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, mein Kleines«, sagte Nanni. »Morgen sind wir wieder im Stadion, ganz früh.«

»Danke«, entgegnete Rubinchen, »dann bin ich nicht so allein. Könnten die Buben nicht auch ganz früh Schlittschuh laufen?«

»Vielleicht geht es.«

Rubinchen ging in den Laden von Frau Brühl. Sie blieb einen Augenblick an der Tür stehen und sah Nanni und Pipp mit sehnsüchtigen Augen an. Dann ging sie hinein.

»Einen Reißverschluss für mein Kleid. Einen roten«, sagte Rubinchen zu Frau Brühl.

»Musst du immer in einem so leichten Kleid bei der Kälte laufen?«, fragte Frau Brühl missbilligend.

»Wenn es Tante Lilo doch so will«, erwiderte Rubinchen.

»Dass dein Vater das zulässt, wo du so klein und dünn bist«, brummte Frau Brühl. Rubinchen schwieg.

Die Krapfen vergaß sie in der Aufregung, aber daran dachte Lilo auch nicht mehr. Sie hatte hochrote Wangen, als Rubinchen heimkam.

»Du hast einen feinen Vater«, platzte sie erregt heraus. »Du wirst noch dankbar sein, wenn ich mich um dich kümmere. Er hat geschrieben – und was meinst du wohl, hat er vor? Heiraten will er!« Lilo schrie es fast.

Seltsame Gedanken gingen durch den Kopf des Kindes. War das wieder gelogen? Sie wusste nicht mehr, was bei Tante Lilo Wahrheit oder Schwindel war.

»Ich werde es dir vorlesen«, sagte Lilo heiser, und diesmal hatte sie einen Brief in der Hand, den Rubinchen noch nicht gesehen hatte. Sie hörte erst richtig zu, als Lilo eine bestimmte Stelle erreicht hatte: »Sobald wir ein Haus gefunden haben, werde ich dich holen, Rubinchen. Du wirst dich mit Yasmin bestimmt gut verstehen. Sie mag Kinder sehr gern, und sie ist sehr hübsch und sehr lieb. Wir werden endlich wieder beisammen sein.«

»Ist das eine Türkin?«, fragte Rubinchen leise.

»So eine wird es wohl sein, aber ich werde deinem Vater schon die Meinung sagen. Schließlich war deine Mutter meine Schwester, und ich werde nicht zulassen, dass du eine Stiefmutter bekommst.«

Rubinchen schluckte, dann fragte sie: »Und wenn Daddy dich geheiratet hätte, wärest du dann nicht meine Stiefmutter?«

»Leg dich jetzt hin und schone dein Bein«, stieß Lilo wütend hervor.

Das ließ sich Rubinchen nicht zweimal sagen, denn das Bein schmerzte höllisch, weil sie so schnell gelaufen war.

*

Jan Campen war groß, blond, und er hatte die gleichen Augen wie seine Tochter. Er war ein Mann, nach dem die Frauen sich umdrehten, besonders in diesem Land, wo man solche Männer höchst selten sah.

Er ging in seinem modernen Büro hin und her, und die nachtdunklen Augen der bildhübschen jungen Frau, die vor der Schreibmaschine saß, folgten ihm.

»Jetzt werden sie meinen Brief wohl schon haben, Yasmin«, sagte er mit gepresster Stimme.

Sie lächelte ironisch. »Das klingt, als hättest du Angst vor deiner Tochter, Jan«, sagte sie anzüglich.

»Ich habe plötzlich Bedenken, wie Lilo es ihr beibringen wird. Sie ist unberechenbar. Vielleicht hätte ich es Rubinchen besser selbst sagen sollen.«

Yasmin Haman war klug und diplomatisch. Sie sagte nichts, was ihn hätte ärgern können. Es hatte Monate gedauert, bis sie diesen recht verschlossenen Mann aus seiner Reserve gelockt hatte, und nun wollte sie ihn um keinen Preis mehr verlieren.

Er war für sie die große Chance, herauszukommen aus dieser engbegrenzten Welt, in der sie sich nach der Familie richten musste. Sie war die älteste von vier Geschwistern, ihr Vater war ein kleiner Beamter. Recht und schlecht hatte er seine Familie durchs Leben gebracht und wirklich alle Hoffnung auf seine ebenso kluge wie schöne Tochter gesetzt, die einen blendend bezahlten Posten als Sekretärin bekam und ihm nun den Direktor der Firma auch noch als Schwiegersohn präsentierte.

»Jetzt mach dir nicht so viel Gedanken, Jan«, sagte sie in ihrem sehr guten Deutsch, das nur einen aparten Akzent aufwies. Ihre großen dunklen Augen, die wie ein samtener Nachthimmel schimmerten, sahen ihn lockend an.

Sie hatte ihn bezaubert mit ihrem Charme. Sie war so ganz anders als Ruth, die immer ein wenig gehemmt gewesen war.

»Es ist eben ein dummes Gefühl, wenn man eine fast sechsjährige Tochter mit in die Ehe bringt«, bemerkte er.

Sie lachte melodisch. »Ich habe doch kleine Geschwister. Für mich ist das nicht so schlimm.«

»Ich hätte sie nicht bei Lilo lassen sollen«, sagte er. »Nein, das war nicht richtig. Es kompliziert alles.«

»Dann hast du Angst vor dieser Frau?«, fragte Yasmin.

»Angst nicht. Aber ich fürchte, sie hat sich Hoffnungen gemacht, dass ich sie heiraten würde.« Nun war es heraus. Yasmin sah ihn nachdenklich an.

»Hast du ihr solche Hoffnungen gemacht?«, fragte sie.

»Gott bewahre, nein, aber sie ist schon dreißig und hat noch keinen Mann. Aber lassen wir das jetzt. Wir gehen heute Abend aus. Jetzt werden es deine Eltern erlauben.« Er holte tief Atem. »Schau mich nicht so an, Yasmin. Du bringst mich noch ganz durcheinander.«