Sophienlust 104 – Familienroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Sophienlust 104 – Familienroman E-Book

Patricia Vandenberg

5,0

Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Dominik stellte seine Schultasche hin und schlich auf Zehenspitzen durch die Diele. Er hatte draußen den Wagen von Dr. Baumgarten stehen sehen und war nun sehr gespannt, was er diesmal über Henriks Befinden sagen würde. Auf Gut Schoeneich herrschte, ebenso wie in Sophienlust, seit zwei Wochen eine trübselige Stimmung, denn Henrik, der Jüngste der Schoeneckers, war an einer schweren Angina erkrankt. So krank war nie eines der Kinder gewesen, und deshalb machten sich alle große Sorgen. Am meisten natürlich Denise von Schoenecker. Sie selbst war blass und schmal geworden während dieser schweren Tage, die sie in Angst um ihren Kleinen verbracht hatte. Dominik lauschte aufmerksam, was Frau Dr. Frey seiner Mutter zu sagen hatte, denn tapfer, wie Denise war, hatte sie allen verbergen wollen, wie schlimm es um Henrik wirklich gestanden hatte. Sie mussten nahe bei der Tür stehen, denn Dominik konnte deutlich vernehmen, wie Frau Dr. Frey sagte: »Ein Aufenthalt an der See würde dem Jungen guttun, und Ihnen auch, glauben Sie es mir.« »Ich kann doch jetzt nicht weg. Die Ferien fangen erst in drei Wochen an, und es ist Erntezeit«, sagte Denise. »Dann müssen Sie eben alleine fahren. Warum sollte es denn nicht gehen? Es muss einfach möglich zu machen sein. Nick kann doch nachkommen.« »Nein, wenn es sein muss, Frau Doktor, werde ich es schon selbst tun. Aber meinen Sie nicht, dass die Luft an der See zu rau ist?« »Sie werden staunen, wie schnell er sich erholt«, sagte Frau Dr. Frey, und dann tat sich die Tür auch schon

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Sophienlust – 104 –

Ein Sommer mit Hannibal

Patricia Vandenberg

Dominik stellte seine Schultasche hin und schlich auf Zehenspitzen durch die Diele. Er hatte draußen den Wagen von Dr. Baumgarten stehen sehen und war nun sehr gespannt, was er diesmal über Henriks Befinden sagen würde.

Auf Gut Schoeneich herrschte, ebenso wie in Sophienlust, seit zwei Wochen eine trübselige Stimmung, denn Henrik, der Jüngste der Schoeneckers, war an einer schweren Angina erkrankt. So krank war nie eines der Kinder gewesen, und deshalb machten sich alle große Sorgen. Am meisten natürlich Denise von Schoenecker. Sie selbst war blass und schmal geworden während dieser schweren Tage, die sie in Angst um ihren Kleinen verbracht hatte.

Dominik lauschte aufmerksam, was Frau Dr. Frey seiner Mutter zu sagen hatte, denn tapfer, wie Denise war, hatte sie allen verbergen wollen, wie schlimm es um Henrik wirklich gestanden hatte.

Sie mussten nahe bei der Tür stehen, denn Dominik konnte deutlich vernehmen, wie Frau Dr. Frey sagte: »Ein Aufenthalt an der See würde dem Jungen guttun, und Ihnen auch, glauben Sie es mir.«

»Ich kann doch jetzt nicht weg. Die Ferien fangen erst in drei Wochen an, und es ist Erntezeit«, sagte Denise.

»Dann müssen Sie eben alleine fahren. Warum sollte es denn nicht gehen? Es muss einfach möglich zu machen sein. Nick kann doch nachkommen.«

»Nein, wenn es sein muss, Frau Doktor, werde ich es schon selbst tun. Aber meinen Sie nicht, dass die Luft an der See zu rau ist?«

»Sie werden staunen, wie schnell er sich erholt«, sagte Frau Dr. Frey, und dann tat sich die Tür auch schon auf, bevor Dominik – kurz Nick gerufen – noch zurückweichen konnte.

»Da bist du ja schon, Nick«, sagte Denise von Schoenecker. »Guten Tag, mein Junge.« Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss. Das vergaß sie selbst in ihrem Kummer nicht.

»Wie geht es Henrik?«, erkundigte sich Nick.

»Es geht aufwärts«, erwiderte Dr. Frey, »aber ich habe deiner Mutter eben gesagt, dass ein Aufenthalt an der See dringend anzuraten ist.«

»Warum ausgerechnet an der See?«, fragte er.

»Weil Henrik Luftveränderung braucht und die Meeresluft gerade bei Erkrankungen der Atmungsorgane am heilsamsten ist. Meinst du nicht, dass ihr ein paar Wochen ohne eure Mami zurechtkommt, Nick?«

Der Junge konnte es sich zwar nicht vorstellen, denn Denise hatte sich nie von ihnen getrennt, aber er nickte tapfer.

»Wenn es gut für Henrik ist, muss es sein«, sagte er vernünftig. »Papi wird das bestimmt auch sagen, Mami, auch wenn jetzt Erntezeit ist.«

»Und eure Mami muss auch einmal dringend ausspannen«, fuhr Dr. Frey fort. »Ich werde Dr. Harald Gottschalk schreiben. Er ist ein guter Freund von mir. Bei ihm seid ihr nicht nur gut aufgehoben, sondern auch gleich unter ärztlicher Aufsicht. Seine gute Mintje ist eine ausgezeichnete Köchin.« Sie verabschiedete sich.

Nick überwand sich und sagte: »Nimm doch keine Rücksicht auf uns, Mami. Denk an Henrik und auch an dich. Dr. Frey weiß schon, was gut für euch beide ist.«

Und weil Alexander von Schoenecker der gleichen Meinung war, geschah es, dass Denise zum ersten Mal in ihrer Ehe sich von ihrem Mann, von Nick und von Sophienlust trennte.

Für Denise war es ein schwerer Entschluss. Würde auch alles seinen Gang gehen? Würden die Kinder ihre Ordnung haben und richtig versorgt werden? Alexander und Nick gaben sich redliche Mühe, zuversichtliche Mienen zu zeigen, als sie sie zum Flugplatz brachten.

In Bremen wollte Dr. Gottschalk sie abholen. Sie hatten schon miteinander telefoniert, aber persönlich kannte Denise Frau Dr. Freys Freund noch nicht.

»Sie hat gesagt, dass es dort sehr schön sein soll«, sagte Henrik leise, und als sie in sein schmales, blasses Gesichtchen blickte, gewann sie ihre Haltung zurück. Henrik brauchte sie jetzt am nötigsten. Sie legte ihren Arm um ihn und sagte: »Bestimmt ist es schön dort, mein Kleiner, und die Hauptsache ist, du wirst schnell wieder ganz gesund.«

*

Denise wusste sofort, dass der große, breitschultrige, sonnengebräunte Mann Dr. Harald Gottschalk war. Er überragte die anderen Wartenden um eine halbe Kopfeslänge.

»Du wirst ihn gleich erkennen«, hatte Dr. Anja Frey gesagt. »Er sieht aus wie ein Wikinger.«

Ja, so sah er aus, aber auch er schien keine Schwierigkeiten zu haben, sie aus den Passagieren herauszufinden, die dem Ausgang zuströmten. Bevor sie es sich versah, trat er auf sie zu. »Frau von Schoenecker?«, sagte er.

»Und du bist Henrik«, sagte Harald Gottschalk, sich zu dem Jungen herabbeugend. »Soll ich dich nicht lieber tragen?«

»Nein, ich kann schon wieder gehen«, sagte Henrik.

Dr. Gottschalks Auto sah recht mitgenommen aus, wie Henrik skeptisch, wenn auch wortlos zur Kenntnis nahm.

»Und nun sind wir bald daheim, Henrik.«

»Wir sind in Schoeneich daheim«, sagte der Junge.

Dr. Gottschalk lächelte flüchtig. »Ich hoffe, dass du dich auch bei uns wohl fühlst«, sagte er mit seiner tiefen, warmen Stimme.

Mintje kam aus dem Haus. Sie war klein und rund. So lang wie breit, würde Nick wohl sagen, aber Henrik sah nur ihr freundliches Lächeln. »Da ist ja das Jungchen«, sagte sie, und dann machte sie vor Denise einen Knicks, was Henrik komisch fand.

»Mintje hat Sie gleich ins Herz geschlossen, gnädige Frau«, sagte Dr. Gottschalk zu Denise.

»Lassen wir die gnädige Frau beiseite«, sagte Denise. »Sind wir Ihre einzigen Gäste?«

»Nächste Woche kommen noch ein paar. Ich habe sozusagen eine Miniklinik«, erwiderte er lächelnd.

*

Das Haus war sehr geräumig, die Zimmer groß und luftig. Selbst in den Betten war der herbe Geruch des Meeres.

»Riecht das gut, Mami«, sagte Henrik und atmete tief. »Und das Essen war fein. Magda würde schön staunen, wie gut Mintje kochen kann. Schreiben dürfen wir es nicht, sonst ist sie beleidigt! Aber ein paar Rezepte müssen wir ihr schon mitnehmen, meinst du nicht?«

»Ich bin froh, wenn es dir schmeckt, mein Kleiner«, sagte Denise zärtlich.

»Und wie, Mami! Hier bekommt man Appetit. Schön wäre es ja, wenn Papi und Nick auch bei uns wären.«

In Gedanken sind sie bei uns, dachte Denise, und sie war in Gedanken bei ihnen, bevor der Schlaf sie umfing.

Das Rauschen des Meeres war wie Musik und wurde ihr zum Wiegenlied. Henrik war sofort eingeschlafen.

Träume kamen und gingen. Es waren schöne Träume, und nach einem langen erquickenden Schlaf kam ein köstliches Erwachen.

»Von meinem Fenster aus kann man das Meer sehen, Mami«, sagte er. »Es sieht aus, als ob es fortläuft.«

»Die Flut geht zurück«, erklärte Denise. »Schau doch mal, ob du es von meinem Fenster aus auch sehen kannst.«

Er konnte es, und Denise sprang aus dem Bett und dehnte wohlig ihre Arme.

Mintje hatte den Frühstückstisch auf der Veranda gedeckt. Rund und rosig strahlte ihr Gesicht, als Denise und Henrik kamen.

»Wir sind rechte Langschläfer«, sagte Denise freundlich.

»Das ist gut. Sie sollen sich doch erholen. Die Luft ist stark, und ein Klimawechsel macht müde«, sagte Mintje. »Der Doktor ist schon über Land. Frau Stormsen bekommt ihr Baby. Da hat er früh aus den Federn müssen.«

»Er ist wohl der einzige Arzt weit und breit?«, fragte Denise. Sie wollte nicht neugierig erscheinen, aber so schien es Mintje auch nicht aufzufassen. Sie nickte.

»So schnell findet sich keiner, der das Leben hier auf sich nimmt. Die Ärzte sind doch heutzutage alle aufs Geldverdienen aus, und da ist hier nicht viel zu holen.«

Ohne Geld wird Dr. Gottschalk auch nicht leben können, dachte Denise, aber das Haus wirkte nicht so, als würde es ihm daran mangeln.

»Die Urahnen vom Doktor waren schon in Ostfriesland ansässig«, sagte sie, »und er ist hierher zurückgekehrt.«

Mit flinken Schritten eilte sie in die Küche und brachte für Denise und Henrik ein wahrhaft üppiges Frühstück.

Mintje verschwand, nachdem sie guten Appetit gewünscht hatte, und Henrik schenkte sich schon die zweite Tasse Kakao ein.

»Schmeckt lecker, Mami«, stellte er fest und schleckte sich die Lippen ab.

Denise hatte ihre Gedanken schnell heimwandern lassen. Sie stellte sich Alexander vor, wie er allein sein Frühstück einnahm. Sie meinte erst, trotz all dieser Köstlichkeiten keinen Bissen über die Lippen zu bringen, aber dann kam der Appetit.

Drinnen im Haus war eine Zeitlang alles ruhig, doch plötzlich vernahm sie Mintjes Stimme.

»Bekommst gleich was, Hannibal«, sagte sie, und nun lauschte Henrik natürlich.

»Du verwöhnst ihn, Mintje«, sagte eine Kinderstimme. »Er tut immer so, als würde er bei uns nichts bekommen. Benimm dich, Hannibal. Reiß Mintje nicht gleich um.«

»Darf ich mal gucken, wer das ist, Mami?«, fragte Henrik neugierig.

»Du wirst es noch erwarten können«, bemerkte Denise lächelnd, doch da erschien schon ein kleines Mädchen auf der Veranda.

Zwei klare hellgraue Augen blickten Denise aus einem süßen Gesichtchen an.

Das Kind mochte fünf Jahre alt sein und war bekleidet mit einem rosa Leinenhöschen und einer passenden rosa-weiß gestreiften Bluse. Seidiges blondes Haar umgab das gebräunte Gesicht.

»Ich bin Dodo«, sagte sie, und dann erschien hinter ihr ein Hund, der seine Schnauze auf ihre Schulter legte, als wolle er demonstrieren, dass er da sei, um sie zu bewachen.

»Und das ist Hannibal«, sagte Dodo. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, wünschten auch Denise und Henrik wie aus einem Mund. Henrik ging auf das Kind zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Henrik, und das ist meine Mami«, erklärte er. »Du hast einen sehr schönen Hund.«

»Ja, er ist schön und klug«, sagte Dodo, »aber wenn er zu Mintje kommt, ist er nur verfressen. Onkel Harald hat mir erzählt, dass ein Junge zu Besuch kommt. Ich wollte mal schauen, wie er aussieht.« Nun bedachte sie auch Henrik mit einem langen, forschenden Blick. »Du gefällst mir«, erklärte sie dann. »Wenn du willst, können wir zusammen spielen.«

»Ich hab’ schon von deinem Großvater gehört«, sagte Henrik. »Das ist doch der Käpt’n, nicht wahr?«

»Ja, das Großväterchen ist der Käpt’n«, erwiderte Dodo. »Die Freys waren vorigen Sommer da. Es war eine schöne Zeit.« Sie sagte es mit seltsam ernstem Nachdruck.

»Möchtest du dich nicht ein bisschen zu uns setzen, Dodo?«, fragte Denise.

»Ich möchte schon«, erwiderte das Kind, »aber ich muss nach Hause, sonst ängstigt sich Großväterchen. Ich muss ihm erst sagen, wo ich bin.«

Henrik sah seine Mutter fragend an. »Darf ich Dodo begleiten?«, bat er.

»Darf er?«, schloss sich Dodo an.

Denise nickte zustimmend.

»Wenn Großväterchen euch kennt, wird er erlauben, dass ich euch die Gegend zeige«, sagte Dodo, »aber er muss euch erst kennen. Aber gefallen werdet ihr ihm schon, das weiß ich.«

Mintje kam mit dem Tablett. »Dodo ist ein liebes Kind«, erklärte sie. »Sie freut sich, wenn sie Gesellschaft hat. Sie lebt allein mit dem alten Brodersen.«

»Hat sie keine Eltern mehr?«, fragte Denise.

»Nein«, erwiderte Mintje, aber sie gab keine weitere Erklärung.

Vom Strand herauf kam ein knorriger alter Mann in hohen Gummistiefeln. »Das ist Krischan«, sagte Mintje. »Er bringt den Mund nicht auf. Nehmen Sie es ihm nicht übel, Madame.«

Aber als Krischan näher kam, sagte er: »Mor’n«, was wohl soviel wie guten Morgen heißen sollte, und wenn es auch kurz war, so riss Mintje doch überrascht die Augen auf.

In Kapitän Brodersens Haus tat sich für Henrik eine Wunderwelt auf. Mit offenem Mund bestaunte er Schiffsmodelle verschiedenster Art, sie standen auf der langen Vitrine, die sich über die ganze Wand erstreckte. Exotische Masken und Waffen hingen an den Wänden, Skulpturen, Vasen, Schalen, Elfenbeinschnitzereien – Henrik wusste nicht, wohin er zuerst schauen sollte.

»Hat Großväterchen alles von seinen Reisen mitgebracht«, erklärte Dodo, und da stand Kapitän Brodersen schon selbst in der Tür.

»Das ist Henrik, der mit seiner Mami jetzt bei Onkel Harald ist, Großväterchen«, sagte Dodo. Henrik wich respektvoll zurück.

»Brauchst nicht auszureißen, ich beiße nicht«, sagte Käpt’n Brodersen mit tiefer, dröhnender Stimme.

»Ich wollte nicht stören«, sagte Henrik schüchtern.

»Du störst nicht«, sagte Dodo, »wenn Großväterchen nicht reden will, redet er nicht. Lässt du Henrik durch dein Fernrohr schauen? Damit kannst du nämlich bis zu Mintje in die Küche schauen, Henrik.«

Das glaubte er nun doch nicht, denn das Doktorhaus lag sehr weit entfernt. Aber er konnte sich überzeugen, dass Dodo nicht übertrieben hatte. Das Fernrohr stand auf der Veranda. Es war riesengroß und stammte wohl aus einer Zeit, in der sich die Seefahrer noch nicht auf elektronische Geräte verlassen konnten. Zuerst konnte Henrik überhaupt nichts sehen, aber mit geschickten Fingerchen drehte Dodo daran, und da sah er tatsächlich in Mintjes Küche hinein. Sie saß mit einem alten Mann am Tisch, der eine Suppe löffelte. Sogar das konnte Henrik erkennen.

»Mintje hat Besuch«, sagte er.

»Lass mich mal gucken, wer das ist«, sagte Dodo.

Sie war kleiner als Henrik und musste sich auf eine Fußbank stellen. »Ach, der Krischan«, sagte sie. »Ob er einen guten Fang gehabt hat? Was meinst du, Großväterchen?«

»Ich denke schon«, erwiderte der alte Mann.

»Er ist nämlich Fischer«, erklärte Dodo. Dann schwenkte sie das Fernrohr mit einiger Kraftaufwendung herum.

»Da ist deine Mami«, rief sie aus. »Sie geht ins Wasser. Großväterchen, ist es gut, wenn sie jetzt schon ins Wasser geht?«

»Wenn es ihr nicht zu kalt ist«, brummte der Käpt’n.

»Sie wird doch nicht zu weit hinausschwimmen?«, meinte Dodo besorgt. »Willst du nicht lieber mal die Sirene heulen lassen?«

»Mami kann sehr gut schwimmen«, sagte Henrik. »Sie ist auch vorsichtig. Aber Sirenen kann sie einfach nicht leiden. Sie denkt dann immer, dass es brennt.«

»Das Meer kann tückisch sein«, sagte Dodo. »Es behält manchmal die Schiffe und die Männer.« Ihr Gesichtchen hatte jetzt einen bekümmerten Ausdruck.

»Jetzt ist Ebbe, da kann nicht viel passieren«, sagte Wilm Brodersen und seine sehnige braune Hand legte sich leicht auf den blonden Scheitel des Kindes.

»Mein Muttichen kommt aber wieder, nicht wahr, Großväterchen?«, flüsterte Dodo.

Der alte Mann wandte sich ab und ging in das Zimmer zurück. Dodo nickte tiefsinnig. »Ich habe es ja gesagt, wenn er nicht reden will, redet er nicht. Du brauchst dir nichts dabei zu denken, Henrik. Gehen wir jetzt mal ans Meer und schauen nach deiner Mami?«

Henrik wusste nicht, warum sie so besorgt war, viel besorgter als er. Er ging gar nicht gern wieder fort aus diesem Haus und hätte sich viel lieber all diese Dinge angesehen.

»Du kannst noch oft zu uns kommen«, sagte Dodo, als ahne sie seine Gedanken. »Großväterchen wird uns dann auch Geschichten erzählen von seinen Reisen. Er war überall in der Welt, auf allen Meeren und in allen Ländern.«

»In allen Ländern?«, fragte Henrik staunend, »auch in Indien und Afrika und am Nordpol?«

»Und am Südpol«, sagte Dodo, »überall.«

Hier konnte es ihm bestimmt nicht langweilig werden, dachte Henrik, wenn man auch kaum einen Menschen traf und es außer Dodo keine Kinder zu geben schien.

»Bist du das einzige Kind hier?«, fragte er.

»Nein, es gibt eine ganze Menge«, erklärte sie, »aber die haben keine Zeit zum Spielen. Die müssen helfen.«

»Was müssen sie helfen?«

»Auf den Feldern und beim Fischen. Die Mädchen müssen auf die kleinen Geschwister aufpassen. Das ist hier so.«

»Habt ihr keinen Kindergarten?«, erkundigte er sich.

»Einen Kindergarten? Nein. Einen Garten haben alle Leute.«

»Wir haben ein Kinderheim«, erzählte er voll Stolz.

»Was ist ein Kinderheim?«

»Ein großes Haus, wo viele Kinder leben können.«

»Habt ihr denn so viele?«

»Es sind doch nicht alle unsere eigenen.«

»Und warum sind sie bei euch?«

»Manchmal, weil sie keine Eltern haben, oder die Eltern haben keine Zeit sich um sie zu kümmern, oder ihre Mütter sind krank. Dann kommen sie nach Sophienlust.«

»Sophienlust, das klingt schön«, sagte Dodo. »Aber mein Großväterchen würde mich nie hergeben.«

Schweigend gingen sie eine Weile. Mit großen Sprüngen folgte ihnen Hannibal und sprang dann übermütig um sie herum.

»Er will, dass ich ihm Holz ins Wasser werfe«, erklärte Dodo. »Dann holt er es. Er wird auch mit großen Wellen fertig. Ich verstehe einfach nicht, dass er stärker sein soll als ein Segelboot.«

Henrik wusste wieder nicht, was sie damit sagen wollte, aber irgendetwas hinderte ihn, sie danach zu fragen.

Denise kam schon aus dem Wasser zurück. Sie schüttelte sich und lachte, als sie die Kinder erblickte. Sie hüllte sich in ihren Bademantel. »Es ist kalt, aber schön«, sagte sie.

»Mittags wird es wärmer«, erklärte Dodo. »Dann kann man sich in den Sand einbuddeln. Das ist gesund. Aber es ist besser, wenn man in der Bucht badet, da sind keine Strudel.«

»Dodo wollte schon, dass ihr Großvater die Sirenen heulen lässt, damit du nicht zu weit hinausschwimmst, Mami«, sagte Henrik. »Sie hatte Angst.«

»Ja, ich habe Angst«, sagte Dodo leise. »Wen das Meer verschlingt, den gibt es nicht mehr her.«

Denise kroch ein Frösteln über den Rücken. »Gehen wir jetzt lieber zurück. Ich möchte mich umziehen«, sagte sie.

Dodo nickte. »Man soll nicht in nassen Sachen bleiben, da kann man leicht krank werden«, sagte sie. »In der Bucht haben wir eine Hütte, da kannst du dich umziehen.« Sie sah Denise an. »Wie darf ich dich nennen?«

»In Sophienlust sagen die Kinder Tante Isi zu mir«, erwiderte Denise mit weicher Stimme.

»Tante Isi«, wiederholte Dodo andächtig. »Ich mag dich.«

Und so war schon am ersten Tag eine innige Freundschaft zwischen ihnen geschlossen.

*

Dr. Gottschalk war zurückgekommen und stärkte sich erst einmal richtig.

»Bleiben Sie sitzen«, sagte Denise fröhlich, als er aufspringen wollte. »Ist das Baby gut angekommen?«

»Ach, Mintje hat es schon erzählt«, sagte er lächelnd. »Ja, es ist ein gesunder Junge. Es hat ein bisschen lange gedauert. Sie waren doch nicht etwa schon im Wasser?«

»Nicht schimpfen! Es war so verlockend. Jetzt ziehe ich mich rasch um.«

Dodo kletterte zu Harald Gottschalk aufs Knie. »Bekomme ich ein Häppi, Onkel Harald?«, fragte sie schelmisch.

»Freilich«, erwiderte er zärtlich und schob ihr ein Häppchen in den Mund.

»Bekommt Henrik auch eins?«

»Ich habe schon soviel gegessen«, sagte Henrik. »Ich bin ganz satt.«

»Ich habe auch keinen Hunger«, sagte Dodo, »aber Onkel Haralds Häppis sind so gut. Du hast genug, Hannibal«, ermahnte sie den Collie, der seinen Kopf ebenfalls auf Harald Gottschalks Knie legte. »Ach, er ist sicher beleidigt, weil ich ihm keine Hölzer ins Wasser geworfen habe. Sagst du Tante Isi, dass sie nicht so weit ins Meer schwimmen soll, Onkel Harald?«