Sophienlust 111 – Familienroman - Bettina Clausen - E-Book

Sophienlust 111 – Familienroman E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Dominik von Wellentin-Schoenecker stand vor dem Herrenhaus. Da fuhr ein fremder Wagen auf den Hof von Sophienlust. Ein Mann saß hinter dem Steuer. Etwa fünfunddreißig Jahre alt. Die Frau neben ihm mochte einige Jahre jünger sein. Der Wagen bremste. Die Frau sprang heraus. »Hier muss ein kleines Mädchen sein!«, rief sie aufgeregt. Nick schaute die Unbekannte befremdet an. Grüßen kann sie wohl nicht, dachte er. Trotzdem blieb er höflich. »Ich habe kein Mädchen gesehen.« »Natürlich muss es hier sein. Nicht wahr, Fred?« Die Frau wandte sich zu ihrem Begleiter um, der gerade aus dem Wagen stieg. »Es muss hier sein«, bestätigte er. Gleichzeitig kam er näher. Auch er grüßte nicht. »Es ist fünf Jahre alt und hört auf den Namen Binchen. Eigentlich heißt sie Sabine.« Der Mann war genauso nervös wie die Frau. Das machte Nick misstrauisch. »Ist Ihnen das Kind davongelaufen?«, erkundigte er sich. »Natürlich ist es davongelaufen. Sonst würden wir es ja nicht suchen.« Anne Zimmermann schüttelte den Kopf. Nick spürte, wie er zornig wurde. Aber er wollte nicht unhöflich zu den Fremden werden. Deshalb rief er nach Frau Rennert. »Tante Ma!« Eine Minute später trat die Heimleiterin aus der Tür. »Guten Tag«, grüßte sie freundlich. Doch die Fremden erwiderten den Gruß nicht. Sie hielten es auch nicht für nötig, sich vorzustellen. »Wir suchen ein kleines Mädchen. Es muss hier sein«, wiederholte Fred Zimmermann barsch. »Handelt es sich um Ihre Tochter?«, erkundigte sich Frau Rennert. »Aber das ist doch völlig nebensächlich!«, rief Anne gereizt. Ein Schatten fiel über das gutmütige Gesicht der Heimleiterin. »Bei uns ist kein fremdes Kind«,

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Sophienlust – 111 –

Was soll aus uns werden?

Bettina Clausen

Dominik von Wellentin-Schoenecker stand vor dem Herrenhaus. Da fuhr ein fremder Wagen auf den Hof von Sophienlust. Ein Mann saß hinter dem Steuer. Etwa fünfunddreißig Jahre alt. Die Frau neben ihm mochte einige Jahre jünger sein.

Der Wagen bremste. Die Frau sprang heraus. »Hier muss ein kleines Mädchen sein!«, rief sie aufgeregt.

Nick schaute die Unbekannte befremdet an. Grüßen kann sie wohl nicht, dachte er. Trotzdem blieb er höflich. »Ich habe kein Mädchen gesehen.«

»Natürlich muss es hier sein. Nicht wahr, Fred?« Die Frau wandte sich zu ihrem Begleiter um, der gerade aus dem Wagen stieg.

»Es muss hier sein«, bestätigte er. Gleichzeitig kam er näher. Auch er grüßte nicht. »Es ist fünf Jahre alt und hört auf den Namen Binchen. Eigentlich heißt sie Sabine.« Der Mann war genauso nervös wie die Frau. Das machte Nick misstrauisch. »Ist Ihnen das Kind davongelaufen?«, erkundigte er sich.

»Natürlich ist es davongelaufen. Sonst würden wir es ja nicht suchen.« Anne Zimmermann schüttelte den Kopf.

Nick spürte, wie er zornig wurde. Aber er wollte nicht unhöflich zu den Fremden werden. Deshalb rief er nach Frau Rennert. »Tante Ma!«

Eine Minute später trat die Heimleiterin aus der Tür. »Guten Tag«, grüßte sie freundlich.

Doch die Fremden erwiderten den Gruß nicht. Sie hielten es auch nicht für nötig, sich vorzustellen. »Wir suchen ein kleines Mädchen. Es muss hier sein«, wiederholte Fred Zimmermann barsch.

»Handelt es sich um Ihre Tochter?«, erkundigte sich Frau Rennert.

»Aber das ist doch völlig nebensächlich!«, rief Anne gereizt.

Ein Schatten fiel über das gutmütige Gesicht der Heimleiterin. »Bei uns ist kein fremdes Kind«, erklärte sie.

»Aber Binchen muss hier sein!«

»Wieso muss das Kind ausgerechnet bei uns sein?«, fragte Frau Rennert irritiert. »Genauso gut kann es doch woanders sein.«

»Wo denn?«, schnappte Fred Zimmermann.

»Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen«, erwiderte die Heimleiterin. »Ich würde Ihnen raten, zur Polizei zu gehen.«

»Vielen Dank für den Ratschlag«, entgegnete Anne Zimmermann voller Hohn. »Aber wir sind überzeugt, dass Binchen hier ist.«

Das verstand die Heimleiterin nicht. »Darf ich fragen, warum Sie da so sicher sind?«

»Weil unser Haus nicht allzu weit von hier entfernt ist«, erklärte Fred ungeduldig.

»Und weil wir schon überall gefragt haben. Binchen ist nirgends.«

Mit einem Seufzer wandte sich Frau Rennert an Dominik. »Nick, würdest du bitte alle Kinder zusammenrufen?«

»Sofort, Tante Ma.« Er lief los.

»Darf ich Sie ins Haus bitten?«, wandte sich die Heimleiterin an die ungebetenen Gäste. Sie blieb noch immer höflich, wünschte sich aber, dass Frau von Schoenecker da wäre.

Anne und Fred Zimmermann betraten die Halle von Sophienlust. »Donnerwetter«, entfuhr es dem Mann. Neugierig betrachtete er die große Halle mit den wertvollen alten Möbeln. Dabei wurde sein Blick gierig.

Das entging der Heimleiterin nicht. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Dominik holt alle Kinder, die sich zur Zeit hier befinden. Dann können Sie selbst feststellen, ob ein fremdes Kind darunter ist.«

»Wer ist dieser Junge?«, wollte Anne Zimmermann wissen.

»Sie sprechen von dem künftigen Erben dieses Besitzes«, klärte Frau Rennert den Besuch auf.

Annes Augen wurden groß. »Dem Erben? Diesem Kind?«

»Dominik von Wellentin-Schoenecker ist der eigentliche Besitzer von Sophienlust. Seine Mutter verwaltet es nur für ihn.«

»Dann ist seine Mutter Frau von Schoenecker?«, folgerte Fred Zimmermann. Natürlich war ihm der Name von Schoenecker ein Begriff. Schließlich wohnten sie ja in der Nähe.

Frau Rennert bestätigte es.

Stimmengewirr erklang. Nick öffnete die Tür. Die Kinder traten ein. Eines nach dem anderen.

»Bitte, schauen Sie selbst, ob Ihre Tochter dabei ist«, forderte Frau Rennert die Besucher auf.

»Binchen ist nicht unsere Tochter«, entgegnete Anne Zimmermann geistesabwesend.

»Nicht Ihre Tochter?« Frau Rennert schaute fragend auf. Sie sah, wie der Mann der Frau einen tadelnden Blick zuwarf.

»Binchen ist unsere Nichte«, erklärte Fred. »Aber wir sind für das Kind verantwortlich.«

Anne Zimmermann musterte jedes Kind. Ungeduldig sprang sie schließlich auf. »Unsere Sabine ist nicht dabei.«

»Ich sagte Ihnen ja bereits, dass sie nicht hier ist.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns hier etwas umsehen?«

»Wie bitte?« Frau Rennert konnte ihre Entrüstung nicht verbergen. Das geht doch entschieden zu weit, sagte sie sich.

Da fuhr draußen ein Wagen vor. Kurz darauf betrat Denise von Schoenecker die Halle.

Gott sei Dank, dachte die Heimleiterin. Ihr Blick drückte diesen Stoßseufzer auch aus.

»Was ist denn hier los?«, erkundigte sich Denise. Erst dann sah sie die Fremden.

Fred Zimmermann erhob sich. »Wir suchen unsere kleine Nichte. Sie heißt Sabine, aber sie hört auf den Namen Binchen.«

»Darf ich mich erst einmal vorstellen?« Denise nannte ihren Namen.

Fred Zimmermann errötete. Das war ein deutlicher Hinweis auf seine Unhöflichkeit. »Mein Name ist Fred Zimmermann. Und das ist meine Schwester Anne.« Steif reichte er Denise die Hand.

Ich hätte geschworen, dass sie ein Ehepaar sind, dachte Frau Rennert und schickte die Kinder wieder hinaus.

Die Kinder verließen die Halle. Nick ging als Letzter. Dabei warf er dem frechen Geschwisterpaar einen unfreundlichen Blick zu. Die beiden gefielen ihm nicht.

Sie gefielen auch Denise nicht. Trotzdem machte sie mit ihnen einen Rundgang. »Binchen könnte sich ja irgendwo versteckt haben«, hatte Fred erklärt.

Ein Kind versteckt sich nur, wenn es sich fürchtet, dachte Denise. Doch sie blieb höflich. Damit konnte sie die aufgebrachten Geschwister beruhigen. Und sie konnte die beiden schließlich überzeugen, dass die kleine Sabine nicht in Sophienlust war.

»Vielleicht taucht Binchen noch bei Ihnen auf«, meinte Fred beim Abschied.

»Dann werde ich Sie selbstverständlich sofort benachrichtigen, Herr Zimmermann.«

»Sie haben uns sehr geholfen, Frau von Schoenecker«, flötete Anne Zimmermann. Sie reichte Denise die Hand.

Denise fühlte sich abgestoßen. Sie verabschiedete sich höflich, aber sehr kühl. Dann schaute sie den beiden nach. Sie gingen zu ihrem Wagen. Doch sie stiegen nicht sofort ein. Mit lauernden Blicken schauten sie sich um. Dann betrachteten sie das Herrenhaus von Sophienlust. Ihre Gesichter drückten dabei das Gleiche aus. Pure Besitzgier.

Das arme Kind, dachte Denise. Und wohin mochte es gelaufen sein?

Denise betrat die Halle. Nick stand bei Frau Rennert. Er stellte die gleiche Frage: »Wo kann dieses Mädchen sein, Mutti?«

»Da fragst du mich zu viel. Bei uns ist es jedenfalls nicht.«

Nick pflichtete ihr sofort bei. »Ich habe mit den Kindern noch einmal das ganze Haus durchsucht.«

»Sehr gut«, lobte Denise. »Es wäre nämlich unangenehm, wenn die Kleine doch hier wäre.«

»Verstehe ich, Mutti. Bei dieser übergeschnappten Tante und dem verrückten Onkel!«

Denise warf ihrem Sohn einen tadelnden Blick zu. Doch sie sagte nichts. Im Grunde genommen war die Charakteristik ja richtig. Sie wandte sich um. »Ich muss zurück nach Schoeneich.«

»Darf ich zum Abendessen hierbleiben, Mutti?«

»Also gut. Aber komm nicht zu spät zurück. Und vergiss deinen kleinen Bruder nicht. Ich kann ihn nirgends finden.«

»Er spielt mit Heidi und Fabian im Park. Ich bringe ihn schon mit.«

Frau Rennert öffnete das Küchenfenster. Es war Essenszeit. Doch sämtliche Kinder spielten noch draußen. »Heute habt ihr wohl wieder mal überhaupt keinen Hunger?«

»Doch!«, riefen sofort einige Stimmen. Die Hungrigsten liefen sofort ins Haus.

»Es gibt Pfannkuchen mit Himbeermarmelade«, verkündete Fabian.

»Woher weißt du das, Fabian?«

»Ich hab’s gerochen.«

Henrik lachte ihn aus.

»Wollen wir wetten?«, schlug Fabian sofort vor. Da trat Nick zu ihnen. Er verpasste Henrik einen sanften Rippenstoß. »Du sollst doch nicht wetten, kleiner Bruder.«

»Nenn mich nicht immer kleiner Bruder. So klein bin ich nicht mehr. Außerdem will ich ja gar nicht wetten. Fabian ist ganz wild darauf. Um was willst du wetten?«, erkundigte er sich aber doch.

»Oh, vielleicht um einen Pfannkuchen.«

Nick musste lachen. »Ihr könnt doch sowieso essen, so viel ihr wollt.«

»Stimmt auch wieder.« Fabian betrat mit Nick und Henrik den Speisesaal.

Es gab tatsächlich Pfannkuchen. Und sie schmeckten wieder einmal ganz ausgezeichnet. Doch plötzlich interessierten die guten Pfannkuchen keinen mehr. Fast gleichzeitig hörten alle Kinder zu essen auf.

»Was ist denn das?«, rief Heidi laut und deutete in die Mitte des Saales. Dort balgten sich zwei junge Hunde. Das wäre eigentlich nichts Ungewöhnliches gewesen. Doch es waren fremde Hunde. Kein Kind hatte sie je zuvor gesehen. Es waren zwei junge Spaniels. Der eine war honiggelb, das Fell des anderen war ganz hell. Schon fast weiß.

Nick schloss die Augen und öffnete sie sofort wieder. Aber die Hunde waren noch da. Es war keine Sinnestäuschung. »Aber das gibt es doch gar nicht!« Er stand auf.

Pünktchen und Heidi spielten schon mit den Hunden. »Ob die uns zugelaufen sind, Nick?« Pünktchen schaute auf. Helle Freude stand in ihren blauen Augen. Die beiden tollpatschigen ­jungen Tiere waren aber auch gar zu drollig.

Nick schüttelte verwundert den Kopf. »Sie müssen doch irgendwo herkommen. Hunde haben doch normalerweise einen Herrn.«

»Willst du sie auch mal streicheln, Nick?« Henrik hob den helleren der beiden Hunde auf und hielt ihn Nick vor die Brust. Automatisch nahm Nick das weiche Knäuel auf den Arm.

Fast alle Kinder hatten ihre Plätze nun verlassen. Sie standen in der Mitte des Speisesaales.

»Was ist denn hier los?« Mit einer Platte dampfender Pfannkuchen stand Frau Rennert in der Tür.

»Wir haben zwei neue Hunde, Tante Ma! Schau mal, wie lieb sie sind! Zwei Spaniels!«, so riefen die Kinder durcheinander.

Die Heimleiterin stellte rasch die Platte mit den Pfannkuchen ab. Dann kam sie in die Mitte des Raumes.

Inzwischen hatte sich Nick aus der Gruppe gelöst. Er schaute sich im Speisesaal um. Da sah er in der äußersten Ecke eine kleine Gestalt, halb vom Fenstervorhang verdeckt. Er kam näher. Tatsächlich! Seine Vermutung war richtig. Da stand ein Kind. Zitternd blickte es ihm entgegen. Mit großen verschreckten Augen. Es war ein Mädchen.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Hier tut dir niemand etwas.« Nick streckte dem Kind seine Hand entgegen. »Komm hervor. Na, komm schon. Du kannst dich doch nicht die ganze Nacht hier im Vorhang verstecken.«

Die Kleine nickte. Dann kroch sie aus ihrem Versteck hervor.

Nick nahm sie bei der Hand. So traten die beiden zu den anderen.

»Nanu«, sagte Henrik. »Jetzt haben wir zu den Hunden auch noch ein Mädchen. Was wir heute alles kriegen …«

Pünktchen strich dem Mädchen vorsichtig übers Haar. »Sind das deine Hunde?«

Die Kleine nickte. Sie ging in die Knie. Da kamen die Hunde sofort zu ihr.

Doch jetzt griff Frau Rennert ein. »Setzt euch wieder auf eure Plätze«, ordnete sie an. »Und du ruf bitte deine Mutter an, Nick.« Dann nahm sie das fremde Mädchen auf den Arm und verließ mit ihm den Speisesaal.

Die Kinder aßen weiter. Doch ihre Aufmerksamkeit war nicht mehr bei den Pfannkuchen. Sie diskutierten das Ereignis. »Wo ist die Kleine?«, wollten sie von Nick wissen, der eben zurückgekehrt war.

»Bei Tante Ma in der Küche. Sie bekommt etwas zu essen. Die Hunde auch.«

»Hast du deine Mutti angerufen?«, fragte Fabian.

»Ja, sie muss jeden Moment hier sein.« Nick setzte sich wieder zu den Kindern. »Kann ich noch einen Pfannkuchen bekommen?«

»Wo sie wohl herkommt?«, überlegte Pünktchen laut.

Irmela schob ihren Teller zurück. »Ich kann jetzt einfach nichts mehr essen. Ich bin viel zu aufgeregt.«

Das Geräusch eines vorfahrenden Wagens unterbrach das Gespräch.

»Tante Isi!« Heidi wollte aufspringen.

Nick drückte sie auf ihren Stuhl zurück. »Tante Ma will, dass ihr hierbleibt. Esst fertig!«

»Aber ich bin fertig«, beschwerte sich Heidi.

»Dann musst du trotzdem hierbleiben.« Nick aß seelenruhig weiter. Dabei war er genauso neugierig wie die anderen. Doch er wusste, dass seine Mutter jetzt mit dem fremden kleinen Mädchen allein sein musste.

Irmela verstand das. Sie kam ihm zu Hilfe. »Die Kleine ist doch sowieso schon ganz eingeschüchtert«, sagte sie. »Wenn wir jetzt noch alle herumstehen, bringt Tante Isi keinen Ton aus ihr heraus.«

Das verstanden alle. Also blieben sie auf ihren Plätzen. Wenn auch ungern.

Als Denise die Halle von Sophienlust betrat, sprangen zwei junge Spaniel an ihr hoch. »Nanu?«, staunte sie. »Von Hunden hat Nick doch nichts gesagt.« Aber da kam ihr auch schon die Heimleiterin entgegen. »Wo ist denn der unerwartete Zuwachs?«, fragte Denise.

»In der Küche. Die Kleine ist völlig verschüchtert. Und ganz verhungert. Ich habe ihr zu essen gegeben.«

Denise betrat die Küche. Sofort legte das Mädchen den Pfannkuchen auf den Teller zurück, in den es gerade hatte hineinbeißen wollen.

»Du kannst ruhig weiteressen«, sagte Denise freundlich.

Doch die Kleine rührte sich nicht. Ängstlich schaute sie Denise entgegen.

Die Herrin von Sophienlust und Schoeneich setzte sich zu ihr. Sie wusste, dass es schwer sein würde, das Kind zum Sprechen zu bringen. Die Angst stand ja ganz deutlich in den großen blauen Kinderaugen.

»Haben deine Hunde schon etwas zu fressen bekommen?«

Das Mädchen nickte.

»Wie heißen sie denn?«

»Sie haben noch keine Namen.«

»Ach so.« Denise nickte verständnisvoll. »Und wie heißt du?«

Die Kleine senkte den Blick. Sie gab keine Antwort.

»Heißt du vielleicht Binchen?«

Mit einem Ruck hob das Kind den Kopf. Nun hatte die Überraschung ihm die Sprache geraubt. Es konnte nur nicken.

Denise sprach ganz ruhig weiter. »Du bist doch bestimmt schon den Nachmittag über bei uns?«

Wieder konnte das Kind nur nicken.

»Hast du dich versteckt?«

»Ja«, kam es kläglich von den blassen Lippen.

»Dann hast du also Angst?«

Keine Antwort.

»Vor wem fürchtest du dich denn, Binchen?«

Das Mädchen begann zu weinen. Da nahm Denise die Kleine auf ihren Schoß. Behutsam tupfte sie die Tränen von den erhitzten Kinderwangen. »Nicht weinen, Binchen.« Sie redete beruhigend auf das Kind ein.

Endlich beruhigte sich die Kleine. Sie aß sogar ihren Pfannkuchen auf. Dann begann sie stockend zu erzählen, dass sie Onkel und Tante davongelaufen war.

»Aber warum denn?«, erkundigte sich Denise vorsichtig. »War Tante Anne nicht lieb zu dir?«

»Nein«, antwortete Binchen spontan. »Sie ist garstig und ekelhaft. Und Onkel Fred auch. Ich mag nicht mehr zu ihnen zurück.« Sie schaute zu Denise auf. »Kann ich nicht bei dir bleiben?«

Diese flehende Kinderbitte rührte Denise fast zu Tränen.

»Ich würde dich ja so gern hierbehalten …«

Binchen schluckte. »Tust du es nicht?«

Nun musste auch Denise schlucken. Erst dann konnte sie antworten: »Das darf ich nur, wenn deine Tante und dein Onkel einverstanden sind, Binchen.«

»Oh.« Grenzenlose Enttäuschung lag im Blick des Kindes. »Sie lassen mich doch nie weg. Nicht einmal zu meiner Mutti.« Bewundernd schaute sie zu Denise empor. »Sie ist genauso schön wie du.«

Denise und Frau Rennert horchten auf. »Deine Mutti?«

Binchen nickte und senkte die Lider.

»Ich dachte, sie sei Waise«, sagte die Heimleiterin leise zu Denise.

Die nickte. Dann wandte sie sich wieder an Binchen. »Weißt du, wo deine Mutti ist?«

»Freilich! Ich wollte doch zu ihr.« Das Stimmchen begann bedenklich zu schwanken. »Sie sagen immer, meine Mutti ist verrückt. Sie ist aber nicht verrückt. Das weiß ich ganz genau.« Besorgt klammerte sie sich an Denises Arm. »Du glaubst mir doch?«

»Ich glaube dir, Binchen. Aber kannst du uns nicht sagen, wo deine Mutti ist?«

»In einem Krankenhaus. Es ist groß und schön und hat einen Garten. Gar nicht weit weg von hier.«

»Die Nervenklinik«, entfuhr es Frau Rennert. Auch Denise hatte daran gedacht. Offensichtlich befand sich die Mutter des Kindes in der nahen Nervenheilanstalt.

Binchen blickte misstrauisch zu der Heimleiterin. »Sie ist aber nicht verrückt.«

»Das glauben wir ja auch gar nicht«, versicherte Frau Rennert rasch. »Magst du noch ein Glas Milch?«

Doch Binchen schüttelte eigensinnig den Kopf. »Ihr wollt mich wieder zu Tante Anne bringen, nicht wahr?«

Unter dem anklagenden Kinderblick wurde Denise verlegen. Natürlich musste sie Binchen zurückbringen. Gegen den Willen der Verwandten konnte sie das Mädchen nicht behalten. Damit hätte sie sich strafbar gemacht. Einen Ausweg gab es nur dann, wenn die Verwandten das Kind misshandelten. Dann konnte sie etwas unternehmen.

Denise fragte Binchen noch einmal nach ihrer Tante. Die Kleine hatte nun alle Scheu verloren und erzählte freimütig. »Immer schlägt sie mich«, berichtete sie. »Wenn sie sagt: ›Komm her!‹, dann muss ich sofort rennen.«

»Und wenn du es nicht tust?«, fragte Denise.

»Dann bekomme ich gleich zwei Ohrfeigen. Oder ich kriege nichts zu essen.« Binchens Gesichtsausdruck wurde gequält. »Und wenn ich nach meiner Mutti frage, dann schlägt sie mich auch. Oder sie sagt, Mutti ist verrückt.« Offensichtlich quälte diese Behauptung das Kind am meisten.

»Da muss man doch etwas unternehmen, Frau von Schoenecker«, meinte Frau Rennert erschüttert.

Denise schaute die Heimleiterin an. »Ja, aber es wird nicht einfach sein. Ich weiß noch gar nicht, wie ich es anfangen soll.«

»Sprechen Sie mit Ihrem Rechtsanwalt«, riet Frau Rennert.

»Jetzt bringt ihr mich wieder zu ihr zurück, gelt?«

Mit einem Seufzer zog Denise das Kind wieder auf ihren Schoß. »Das müssen wir leider tun, Binchen. Ich würde dich gern hierbehalten. Aber ich darf es nicht.«

»Kannst du mich auch nicht zu meiner Mutti bringen?«

»Nein, das geht leider auch nicht. Aber ich werde versuchen, dir zu helfen. Das verspreche ich dir.«

Forschend blickte die Kleine zu Denise auf. »Wirklich?«

»Ganz bestimmt, Binchen. Du musst nur ein wenig Geduld haben. Versprichst du mir das?«

Eifriges Nicken. »Ja. Ich will jeden Tag auf dich warten. Irgendwann holst du mich doch, oder?«

»Ich werde es versuchen, Binchen. Aber es wird nicht so schnell gehen. Du darfst also nicht enttäuscht sein, wenn es ein bisschen dauert.«