Zwei Schlüssel, aber kein Zuhause - Aliza Korten - E-Book

Zwei Schlüssel, aber kein Zuhause E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Sascha von Schoenecker schlenderte durch das Kaufhaus in Maibach. Er hatte eben ein paar Kleinigkeiten in der Schreibwarenabteilung gekauft. Da er sonst nichts brauchte, schaute er sich Sportsachen an, die ihn interessierten, er hatte nämlich noch etwas Zeit unterzubringen. Gleich nach dem Mittagessen war Sascha mit Frau Rennert in die Kreisstadt gefahren. Die Heimleiterin hatte eine lange Liste von Besorgungen gehabt, und Sascha hatte sich als Chauffeur angeboten. Er hatte gern ausgeholfen, weil er gerade seine kurzen Pfingstferien zu Hause verbrachte. Für fünf Uhr nachmittags war er mit Frau Rennert in einer Konditorei verabredet. Der Wagen seiner Mutter, mit dem er und die Heimleiterin gekommen waren, parkte dort. Der lange Student seufzte ein bisschen. Man konnte in Maibach nicht viel anfangen. In Heidelberg, wo er studierte, gab es mehr Abwechslung als hier. Ungeduldig blickte er auf seine Uhr. Es war erst vier. Sascha ging in die Parfümerie-Abteilung im Erdgeschoss des Kaufhauses und erstand eine neue Zahnbürste für sich. Dann verließ er das Kaufhaus und ging ins Café, weil ihm nichts anderes mehr einfallen wollte. Er bestellte Kaffee und ein Stück Käsekuchen für sich. Bald darauf stellte er fest, dass der Kuchen bei Weitem nicht so gut schmeckte wie der aus Magdas Küche. Aber man konnte ihn essen. Nun entdeckte Sascha einen Stoß Illustrierte und begann gelangweilt darin zu blättern. Die kleine Konditorei war fast leer.

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Sophienlust – 284–

Zwei Schlüssel, aber kein Zuhause

Warum Tina unglücklich war

Aliza Korten

Sascha von Schoenecker schlenderte durch das Kaufhaus in Maibach. Er hatte eben ein paar Kleinigkeiten in der Schreibwarenabteilung gekauft. Da er sonst nichts brauchte, schaute er sich Sportsachen an, die ihn interessierten, er hatte nämlich noch etwas Zeit unterzubringen.

Gleich nach dem Mittagessen war Sascha mit Frau Rennert in die Kreisstadt gefahren. Die Heimleiterin hatte eine lange Liste von Besorgungen gehabt, und Sascha hatte sich als Chauffeur angeboten. Er hatte gern ausgeholfen, weil er gerade seine kurzen Pfingstferien zu Hause verbrachte. Für fünf Uhr nachmittags war er mit Frau Rennert in einer Konditorei verabredet. Der Wagen seiner Mutter, mit dem er und die Heimleiterin gekommen waren, parkte dort. Der lange Student seufzte ein bisschen. Man konnte in Maibach nicht viel anfangen. In Heidelberg, wo er studierte, gab es mehr Abwechslung als hier. Ungeduldig blickte er auf seine Uhr. Es war erst vier.

Sascha ging in die Parfümerie-Abteilung im Erdgeschoss des Kaufhauses und erstand eine neue Zahnbürste für sich. Dann verließ er das Kaufhaus und ging ins Café, weil ihm nichts anderes mehr einfallen wollte. Er bestellte Kaffee und ein Stück Käsekuchen für sich. Bald darauf stellte er fest, dass der Kuchen bei Weitem nicht so gut schmeckte wie der aus Magdas Küche. Aber man konnte ihn essen.

Nun entdeckte Sascha einen Stoß Illustrierte und begann gelangweilt darin zu blättern. Die kleine Konditorei war fast leer. Lediglich an einem Fenstertisch saß ein Pärchen.

Sascha konnte nur hoffen, dass Frau Rennert bereits vor fünf Uhr eintreffen würde. Aber nach kurzer Zeit wurde er auf die beiden jungen Leute am Fenster aufmerksam. Diese begannen nämlich zu streiten. Dabei sprachen sie so laut, dass Sascha zuhören musste, ob er wollte oder nicht.

»Das finde ich gemein von dir!«, beklagte sich das Mädchen mit tränenerstickter Stimme.

»Nimm endlich Vernunft an, Tina«, schalt der Junge. »Es geht einfach nicht. Das musst du doch einsehen.«

»Aber du hast mir versprochen, dass ich mitkommen darf, Dirk. Jetzt willst du kneifen.«

Es gelang Sascha nicht, herauszufinden, worüber die beiden sich zankten. Jedenfalls begann das Mädchen zu weinen. Der Junge schlug wütend mit der Faust auf den Tisch, sprang auf, ergriff seine Jacke und stürmte aus dem Lokal. Durchs Fenster konnte Sascha beobachten, dass er in einen Kleinwagen einstieg. Beim Anfahren gab er zu viel Gas. Man hörte es deutlich. Mit quietschenden Reifen bog er um die nächste Ecke.

Das Mädchen blieb schluchzend auf seinem Platz sitzen. Es war ein mitleiderregender Anblick. Genau zwei Minuten lang ertrug Sascha diesen Anblick. Dann klappte er seine Illustrierte zu, stand auf und ging an den anderen Tisch.

Sascha bemerkte, dass das Mädchen noch fast ein Kind war. Wenigstens konnte er es beim Namen anreden. Den hatte der Junge laut genug genannt.

»Kann ich dir helfen, Tina?«, fragte Sascha freundlich und setzte sich einfach zu ihr.

Sie hob das tränenüberströmte Gesicht zu ihm empor. Ein Pagenkopf, braune Augen – wirklich, sie war eigentlich noch ein Kind.

»Mir kann niemand helfen«, stieß Tina leidenschaftlich hervor. »Dirk hat mich sitzen lassen. Nicht einmal Geld habe ich bei mir.«

»Na ja, besonders nett ist das sicherlich nicht. Ich heiße übrigens Sascha. Woher kommst du, Tina?«

Sie weinte nicht mehr. Aus der Tasche ihrer Jeans holte sie ein Papiertuch und putzte sich die Nase. »Aus Hamburg«, antwortete sie unsicher. »Aber das ist doch ziemlich schnuppe.«

»Stimmt. Nur überlege ich, wie du jetzt wieder nach Hause fahren sollst. Weißt du, wohin dein Freund Dirk unterwegs ist?«

»Nein, irgendwohin. Er macht einen großen Europatrip. Einen Studienplatz hat er noch nicht, und vom Militärdienst wurde er zurückgestellt. Da will er sich einfach einmal ein bisschen die Welt anschauen.«

»Eine feine Sache. Und du wolltest ihn begleiten?«

»Ja, aber jetzt hat er plötzlich gemeint, er könnte mich nicht mitnehmen.«

»Wie lange seid ihr schon unterwegs, Tina? Was sagen deine Eltern zu dieser Reise? Du bist doch höchstens fünfzehn.«

»Vierzehn«, gestand sie errötend.

»Hm, und da lassen dich deine Eltern so ins Blaue fahren?«

»Die wissen natürlich nichts davon. Deswegen hat Dirk ja auch seinen Moralischen bekommen.«

»Hör mal – du bist doch nicht etwa ausgerissen?«

Tina hob die Schultern und zog dazu einen Flunsch. »Man könnte es so nennen«, erklärte sie gelassen. »Aber bei mir merkt es sowieso kein Mensch, wenn ich weg bin.«

»Das gibt es doch gar nicht, Tina.«

»Hast du eine Ahnung! Erstens sind Pfingstferien, sodass es in der Schule gar nicht auffallen kann. Klar?«

»Ja, aber bei dir zu Hause?«

Tina griff in den engen Ausschnitt ihres roten T-Shirts und brachte an einer Kordel zwei Schlüssel zum Vorschein.

»Schau dir das an, Sascha«, sagte sie. »Der eine Schlüssel passt zu unserer Wohnung, der andere zur Wohnung über der Praxis meines Vaters. Mal schlafe ich bei meiner Mutter, mal bei meinem Vater. Kapiert?«

»Noch nicht ganz. Du musst es mir erklären, Tina. Ich bin ein bisschen schwer von Begriff, wie es scheint.«

»Mein Vater und meine Mutter leben getrennt. Sie wollen sich scheiden lassen. Geht dir jetzt eine Laterne auf?«

»Ach so – sie kontrollieren nicht einmal, wo du gerade schläfst. Stimmt das?«

»Jetzt dämmert es wohl bei dir. Sie sind so wütend aufeinander, dass sie nicht mehr miteinander reden. Mir haben sie alles irgendwie erklärt. Du kannst dir schon vorstellen, wie das ist. Vati hat eine Freundin, und Mutti hockt ständig mit Jürgen Keller zusammen. Das ist ein in Hamburg ziemlich bekannter Journalist. Sie versteht sich wunderbar mit ihm, weil sie früher selber Reporterin werden wollte. Für mich ist nirgends Platz. Wenn Vati keine Patienten hat, er ist nämlich Zahnarzt, dann steckt er mit Jutta zusammen. Bei Mutti treffe ich garantiert Jürgen Keller an. Wenn man es mir auch nicht gerade ins Gesicht sagt, so merke ich doch, dass ich bloß immer störe.

»Das ist sicherlich keine erfreuliche Situation für dich, Tina. Trotzdem hättest du nicht mit Dirk abhauen dürfen. Der Junge hatte völlig recht, als er dich zurückschicken wollte.«

»Du redest so blöd wie ein Erwachsener. Jetzt bringst du mich wohl zur Polizei? Gehst du überhaupt noch zur Schule?«

»Entschuldige, Tina, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich habe schon das Abitur und studiere. Ein Mummelgreis bin ich nicht.«

»Irgendwie finde ich dich nett. Mit Dirk konnte ich wenigstens immer über alles reden. Er verstand mich. Und jetzt ist er weggefahren. Ich habe kein bisschen Geld bei mir. Nicht einmal unseren Kuchen kann ich bezahlen.« Ihr hübsches Gesicht sah reichlich sorgenvoll aus.

»Vielleicht kann ich dir helfen, Tina.«

»Wir haben sehr viel Kuchen gegessen. Das wird teuer. Weißt du, wir sind seit gestern auf Achse. In der Nacht haben wir im Auto geschlafen, um zu sparen. Heute wollten wir uns einmal richtig satt essen. Ich hatte zwei Tassen Kakao und vier Stück Torte. Dirk nahm zweimal Kaffee und sogar fünf Stück Kuchen. Hast du so viel Geld bei dir?«

Sascha war meistens knapp bei Kasse. Er zählte seine Barschaft und stellte fest, dass er Tina auslösen konnte. Allerdings musste für seinen eigenen Imbiss dann die gute Tante Ma – so wurde Frau Rennert im Kinderheim Sophienlust genannt – bezahlen.

»Es wird gerade reichen, Tina. Wieso hast du gar nichts bei dir?«, erkundigte er sich.

»Weil Dirk mein Geld und mein Sparbuch bei sich hat. Er hat vielleicht gar nicht daran gedacht, dass ich ohne Geld niemals nach Hamburg zurückfahren kann. Außerdem will ich gar nicht zurück.« Sie klapperte mit den beiden Schlüsseln.

»Ich wüsste etwas für dich, Tina.«

»Du? Willst du auch verreisen? Nimmst du mich mit?« Sie sah ihn voller Hoffnung an.

»Nein. Mein Vorschlag ist wahrscheinlich viel besser.«

»Denkst du! Willst du mich jetzt zur Polizei schleppen? Da mache ich nicht mit. Ich laufe dir davon und verstecke mich.« Tina schaute sich um wie ein gehetztes Wild.

»Mit der Polizei habe ich gar nichts im Sinn, Tina. Aber was hältst du von einem gemütlichen Zimmer in einem großen Haus auf dem Lande? Es wohnen nur Kinder dort, und sie sind alle gern dort. Früher war es ein Herrenhaus. Ein richtiges Landgut mit Tieren, Feldern und so weiter gehört noch heute dazu. Jetzt leben eine Menge Kinder in dem Haus. Wie findest du das?«

»So etwas gibt es nicht. Du schwindelst.« Misstrauisch sah Tina den Studenten an.

»Du kannst es dir ja anschauen. Wenn es dir nicht gefällt, brauchst du bestimmt nicht zu bleiben. Das Heim heißt Sophienlust. Meine Mutter hat es vor vielen Jahren gegründet. Eigentlich gehört es meinem jüngeren Bruder Nick. Das ist eine ziemlich komplizierte Geschichte. Willst du sie hören?«

»Ein Herrenhaus und ein Gut, das einem Jungen gehört? Erzähle!«

»Meine Mutter hatte ihren ersten Mann sehr früh durch einen Unfall verloren. Sophie von Wellentin setzte später ihren Urenkel Nick, den Sohn meiner Mutter, der damals erst fünf Jahre alt war, zum Universalerben ein. Sie bestimmte in ihrem Testament, dass aus dem Herrenhaus eine Zufluchtstätte für Kinder in Not werden sollte. Meine Mutter übernahm es, diese Stätte ins Leben zu rufen. Jetzt leben viele Buben und Mädchen dort und fühlen sich sehr, sehr glücklich. Es gibt Ponys zum Reiten, einen See zum Schwimmen und sonst noch eine Menge, was sich Kinder wünschen. Ich bin ziemlich sicher, dass du dort bleiben kannst, wenn du möchtest. Da deine Eltern sowieso keine Zeit für dich haben, sind sie wahrscheinlich heilfroh, dich untergebracht zu wissen.«

»Warum gehört das Heim Nick und nicht auch dir? Bist du nicht neidisch?«

Sascha lächelte. »Ach so, das verstehst du natürlich nicht. Nicks Mutti ist meine Stiefmutter! Mein Vater war nämlich auch einmal verwitwet. Uns gehört das Nachbargut von Sophienlust. Es heißt Schoeneich.«

»Dein Vater und deine neue Mutter haben also geheiratet, als sie verwitwet waren. Nick ist in Wirklichkeit nur dein Stiefbruder – stimmt das?«

»Ja, das ist richtig. Wir sind eine ziemlich große Familie. Ich habe außerdem eine Schwester, die genau wie ich aus der ersten Ehe meines Vaters stammt. Das ist unsere Andrea. Sie hat schon geheiratet, und es gibt sogar bereits einen kleinen Jungen in ihrer Ehe.«

»Du bist dessen Onkel.«

»Ja. Peter ist sehr niedlich. Jeder verwöhnt ihn. Aber von Andreas Buben wollte ich eigentlich nicht sprechen. Wir haben nämlich in unserer eigenen Familie noch einen kleinen Jungen. Das ist Henrik. Er stammt aus der zweiten Ehe meines Vaters, also aus der Ehe meines Vaters mit meiner Stiefmutter.«

Tina, die aufmerksam zugehört hatte, nickte. »Das wäre dann also dein Halbbruder. Kommt ihr denn alle miteinander klar bei so verzwickten Familienverhältnissen?«

»Es hat eigentlich noch nie ein Problem gegeben. Wir haben einander sehr lieb und denken kaum je darüber nach, dass wir unterschiedliche Verwandtschaftsgrade besitzen. Das spielt für uns keine Rolle.«

Tina seufzte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich zu Vatis Freundin jemals ein gutes Verhältnis finden könnte. Mit Jürgen Keller komme ich dagegen leidlich zurecht. Trotzdem – es ist alles völlig verfahren bei uns. Dass es auch anders geht, halte ich für ausgeschlossen. Mutti und Vati reden ständig davon, dass so etwas eben passieren könne. Man könne alles in Frieden regeln und so weiter. Aber sie zanken sich trotzdem bei jeder Gelegenheit. Deshalb bin ich ja abgehauen.«

Sascha nickte verständnisvoll. »In Sophienlust wärst du hübsch weit vom Schuss, Tina. Anschauen solltest du dir die Sache bestimmt.«

»Haben sie denn so einfach Platz für mich in dem Haus?«

»Ja, das lässt sich sicher einrichten. In etwa zehn Minuten erwarte ich unsere Tante Ma. Sie heißt eigentlich Frau Rennert und leitet das Heim. Wir können sie fragen.«

»Ist das auch keine Falle, Sascha? Ich mag mich nämlich nicht nach Hamburg zurückbringen lassen. Es passt mir einfach nicht, dass ich überall im Weg bin, die blöden Schlüssel nützen mir gar nichts. Früher brauchte ich keine Schlüssel, weil Mutti immer zu Hause war, wenn ich aus der Schule kam. Jetzt habe ich zwei Schlüssel, aber ich gehöre nirgends richtig hin.«

»Schau mich an, Tina! Sehe ich so aus, als würde ich dich anlügen? Ich habe dir einen Vorschlag gemacht. Mehr nicht. Wenn du nicht magst, kannst du nein sagen. Deinen Kuchen bezahle ich auf jeden Fall.«

»Das ist anständig von dir, Sascha. Auch Dirks Kuchen? Es könnte schließlich Ärger hier geben.«

»Ja, auch Dirks Torte. Keine Angst.«

Tina betrachtete ihre nicht sonderlich sauberen Finger. »Ich habe nichts dabei«, sagte sie unsicher, »nicht einmal Toilettenzeug.«

»Das ist nicht schlimm«, versicherte Sascha sogleich. Er war erleichtert, dass es ihm gelungen war, das Vertrauen des Mädchens aus dem fernen Hamburg zu gewinnen. Glücklicherweise besaß er im Umgang mit Kindern allerlei Erfahrung. Es war nicht das erste Mal, dass er ein hilfloses, vereinsamtes Kind für Sophienlust zu interessieren versuchte. Es war ihm, als sei die heutige Fahrt nach Maibach durchaus kein Zufall gewesen. Seine Langeweile im Kaufhaus war vergessen. Jetzt gab es für ihn wirklich etwas zu tun.

»Aber ich bin ziemlich schmutzig«, wandte Tina ein. »Umziehen müsste ich mich auch.«

»In Sophienlust wirst du alles finden, was du brauchst, Tina. Dort halten manchmal Gäste Einzug, die nichts mitbringen.«

»Mag sein. Trotzdem habe ich Angst. Frau Rennert oder deine Mutter rufen dann doch gleich die Polizei. Dirk wird Ärger kriegen, weil er mich mitgenommen hat. Und mich bringen sie natürlich zurück nach Hamburg. Das sehe ich schon.«

»Nein, Tina. So läuft die Sache mit Sicherheit nicht über die Bühne. Meine Mutter wird einmal bei deinem Vati oder deiner Mutti anrufen. Dabei wird sie dann besprechen, wie es weitergehen soll. Wenn du ein bisschen geschickt bist und obendrein noch darum bittest, darfst du sicher in Sophienlust bleiben. Das schaffen wir, wenn du es selber willst.«

»Anschauen kann ich es mir ja.«

»Es ginge auch noch nach den Pfingstferien, also für länger. Du kannst mit den anderen Kindern im Schulbus hierher nach Maibach fahren. Das Gymnasium ist sehr gut.«

Tina schob die Unterlippe vor. »Die Schule finde ich nicht so wichtig, Sascha. Aber wenn es durchaus sein muss, so gehe ich halt hin.«

Sascha lachte. »Willst du etwa dumm bleiben? Du musst viel lernen, damit du später einen guten Beruf bekommst. Dann brauchst du dich über die Trennung deiner Eltern nicht mehr zu grämen. Jeder junge Mensch muss auf eigenen Füßen stehen. Das ist sehr wichtig.«

»Ja, das sehe ich ein«, antwortete Tina aufatmend. »Du bist ziemlich klug, wie es scheint.«

»Nein, ich betrachte die Welt nur mit klaren Augen. Das solltest du ebenfalls tun. Es ist sinnlos, vor einer Schwierigkeit einfach wegzulaufen. In Sophienlust bekommst du die Möglichkeit, in einer glücklichen Umgebung zu leben und weiter zur Schule zu gehen. So etwas solltest du nicht ausschlagen. Auf die Dauer hättest du sowieso nicht mit deinem Freund Dirk durch Europa ziehen können.«

In diesem Augenblick betrat Frau Rennert das Café. Sie war mit vielen Paketen schwer beladen. Sascha sprang sofort auf, um ihr die Last abzunehmen.

»Danke, Sascha«, pustete die Heimleiterin. »Ich habe noch drei große Tüten bei Adam & Co. stehen. Da fahren wir am besten mit dem Wagen vorbei. Die übrigen Sachen werden geschickt. Jetzt trinke ich erst einmal eine Tasse Kaffee.«

Sascha führte Frau Rennert zu dem Tisch, an dem Tina wartete. Er wies auf das verlegene Mädchen, das nicht recht wusste, wohin es blicken sollte.

»Tante Ma, dies ist Tina. Sie möchte mit uns nach Sophienlust kommen.«

Frau Rennert besaß aus langer Erfahrung ein besonderes Gespür für Kinder und Jugendliche. Ihr sechster Sinn signalisierte ihr sogleich, dass mit Tina etwas nicht in Ordnung war. Deshalb stellte sie zunächst keine einzige Frage, sondern setzte sich mit der größten Selbstverständlichkeit an den Tisch. Dann streckte sie Tina die Hand entgegen, in die das Kind zögernd einschlug.

»Fein, dass du uns in Sophienlust besuchen willst, Tina. Willst du länger bleiben? Wir haben zufällig ein besonders hübsches Zimmer frei. Das wäre eigentlich gerade richtig für dich.«

»Kann man denn einfach in Sophienlust bleiben, wenn man will?«, erkundigte sich Tina scheu.

»Das kriegen wir schon hin, Tina. Du kannst mich Tante Ma nennen, wie alle. Wir nehmen dich im Auto mit, und wenn wir erst an Ort und Stelle sind, besprechen wir alles mit Tante Isi.«

»Wer ist das?«, warf Tina ein.

»Meine Mutter, Tina«, warf Sascha ein. »Ihr Vorname ist Denise. Das haben die Kinder in Tante Isi verkürzt.«

»Ich …, ich habe ein bisschen Angst, dass ich störe«, stotterte Tina. »Ich störe nämlich meistens – jedenfalls bei meiner Mutti und bei meinem Vati.«

»Bei uns stören Kinder nie«, verkündete Frau Rennert warm und herzlich. »Nick hat Sophienlust das Haus der glücklichen Kinder genannt. Dabei soll es bleiben. Wenn bei uns ein Kind anklopft, dann machen wir die Tür ganz weit auf. Auch für dich, Tina.«

In Tinas Gesicht strahlte ein Lächeln auf. »Ich bin froh, dass ich mitkommen darf, Tante Ma«, flüsterte sie. »Geld habe ich nicht dabei, und wo ich heute Nacht schlafen soll, weiß ich nicht.«

»Bloß gut, dass wir gerade heute in Maibach sind«, stellte Frau Rennert zufrieden fest. Sie winkte die Serviererin herbei und bat um eine Tasse Kaffee.

Tina lehnte weiteren Kakao oder Kuchen dankend ab. Sie hatte wirklich genug. Auch Sascha wollte nichts mehr haben.

»Verrätst du uns jetzt deinen vollen Namen?«, fragte die Heimleiterin, sobald Ihre Tasse Kaffee vor ihr stand.

»Tina Hellbach.«

»Hm, und deine Eltern?«

»Vati ist Zahnarzt – Dr. Viktor Hellbach. Mutti heißt mit Vornamen Ada. Die Adressen kann ich dir aufschreiben, Tante Ma. Sie sind nicht so leicht zu behalten.«

»Das machen wir in Sophienlust, Kind. Du hast Glück. Heute Abend gibt es Eierkuchen mit Apfelmus. Unsere Magda ist nämlich die beste Köchin der Welt.«

»Hunger habe ich nicht, Tante Ma. Schon gar nicht auf etwas Süßes.«

»Sie hat vier Stück Torte intus«, erklärte Sascha.

Plötzlich lachten sie alle drei.

»Magda macht dir ebenso gern etwas Herzhaftes, Tina. Du darfst dir ganz sicher wünschen, was du haben willst.« Frau Rennert legte die Hand auf Tinas Arm und sah sie fröhlich an. »Es wird dir bei uns gefallen. Und unsere Kinder freuen sich bestimmt, dass wir endlich wieder Zuwachs kriegen.«