Sophienlust 63 – Familienroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Sophienlust 63 – Familienroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren: Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die Dämmerung senkte sich über Sophienlust herab. Purpurrot färbte sich der Himmel. Denise von Schoen-ecker trat vor die Tür, um diesen herrlichen Anblick zu genießen. Doch wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich ein Junge vor ihr. Sie schätzte ihn auf etwa zehn Jahre. Das dunkle Haar hing ihm wirr in die Stirn, und sein Gesicht zeigte einen sehr entschlossenen, aber auch trotzigen Ausdruck. Er war keine Spur verwirrt, als sie ihn fragte, wer er sei. »Tonio«, erwiderte der lakonisch. »Und was möchtest du, Tonio?«, fragte Denise freundlich, denn es stimmte sie nachdenklich, dass ein Junge dieses Alters, den sie noch nie gesehen hatte, zu so später Stunde im Gutshof von Sophienlust erschien. »Hierbleiben«, erwiderte er kurz. »Dann komm erst mal herein«, forderte sie ihn auf. »Aber du musst mir schon ein wenig näher erklären, warum du hierbleiben willst und wer dich geschickt hat.« Der Junge trottete hinter ihr her. Auf dem Rücken hatte er einen kleinen Rucksack, in der Hand trug er eine Schultasche. Er war gut gekleidet und sah nicht so aus, als wäre er lange herumgelungert, was ja manchmal auch bei erst Zehnjährigen vorkam. Im Büro angekommen, machte Tonio keine Anstalten, von sich aus etwas zu sagen. Denise drückte ihn auf einen Stuhl und bot ihm Kekse an, von denen er ohne Schüchternheit ein paar nahm und in den Mund stopfte. Hunger hatte er offensichtlich. »Wer hat dich hergeschickt?«, fragte Denise. »Niemand«, kam die rasche Antwort. »Hier ist doch ein Kinderheim?« »Woher weißt du das?« »Von Frieder. Er hat gesagt, dass hier jeder aufgenommen wird. Und nun

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Sophienlust – 63 –

Unser Sonnenschein

Patricia Vandenberg

Die Dämmerung senkte sich über Sophienlust herab. Purpurrot färbte sich der Himmel. Denise von Schoen-ecker trat vor die Tür, um diesen herrlichen Anblick zu genießen. Doch wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich ein Junge vor ihr. Sie schätzte ihn auf etwa zehn Jahre. Das dunkle Haar hing ihm wirr in die Stirn, und sein Gesicht zeigte einen sehr entschlossenen, aber auch trotzigen Ausdruck. Er war keine Spur verwirrt, als sie ihn fragte, wer er sei.

»Tonio«, erwiderte der lakonisch.

»Und was möchtest du, Tonio?«, fragte Denise freundlich, denn es stimmte sie nachdenklich, dass ein Junge dieses Alters, den sie noch nie gesehen hatte, zu so später Stunde im Gutshof von Sophienlust erschien.

»Hierbleiben«, erwiderte er kurz.

»Dann komm erst mal herein«, forderte sie ihn auf. »Aber du musst mir schon ein wenig näher erklären, warum du hierbleiben willst und wer dich geschickt hat.«

Der Junge trottete hinter ihr her. Auf dem Rücken hatte er einen kleinen Rucksack, in der Hand trug er eine Schultasche. Er war gut gekleidet und sah nicht so aus, als wäre er lange herumgelungert, was ja manchmal auch bei erst Zehnjährigen vorkam.

Im Büro angekommen, machte Tonio keine Anstalten, von sich aus etwas zu sagen. Denise drückte ihn auf einen Stuhl und bot ihm Kekse an, von denen er ohne Schüchternheit ein paar nahm und in den Mund stopfte. Hunger hatte er offensichtlich.

»Wer hat dich hergeschickt?«, fragte Denise.

»Niemand«, kam die rasche Antwort. »Hier ist doch ein Kinderheim?«

»Woher weißt du das?«

»Von Frieder. Er hat gesagt, dass hier jeder aufgenommen wird. Und nun bin ich da.«

»Gut, du bist da, und ich freue mich, dass dir unterwegs nichts passiert ist. Woher kommst du?«

»Aus der Stadt.«

Denise seufzte in sich hinein. Es würde wohl geraume Zeit dauern, bis sie alles Wissenswerte aus ihm herausgeholt hatte. Von sich aus würde er sicher nichts erzählen. Aber ihr Mann würde daheim langsam ungeduldig werden, wenn sie wieder so lange ausbleiben würde. Sie rief ihn deshalb vorsichtshalber an, um ihm den Grund zu erklären. Dann wandte sie sich wieder dem Jungen zu.

»So, du kommst aus der Stadt und heißt Tonio. Und Frieder hat dir von Sophienlust erzählt. Ich nehme an, du sprichst von Frieder Baumgarten?«

Die Unterlippe des Jungen schob sich vor. »Gibt es keine anderen Frieder?«, fragte der aggressiv.

»Nein«, erwiderte Denise diplomatisch.

»Na ja, dann hab’ ich es also von ihm«, brummte Tonio.

»Und wie heißt du weiter?«, fragte Denise.

»Möchte ich nicht sagen.«

»Das musst du aber, wenn du hierbleiben willst«, stellte sie fest. »Wir haben unsere Bestimmungen.«

Seine feinen Augenbrauen schoben sich zusammen. »Helfert«, stieß er nach kurzem Überlegen hervor.

Auch diesen Namen hatte Denise noch nie gehört. Sie fragte sich, ob er wohl tatsächlich so heiße.

»Tonio Helfert heißt du also und bist zehn Jahre alt«, erklärte sie.

Staunend sah er sie an. »Woher wissen Sie das?«

»Ich kenne mehrere Zehnjährige«, erwiderte sie lächelnd.

»Du solltest mir jetzt aber sagen, ob deine Angehörigen wissen, dass du hier bist.«

»Großmutter ist ins Krankenhaus gekommen«, erklärte er gelassen.

Es befremdete Denise, dass es ihn nicht sonderlich zu berühren schien. Er sah sie nur sehr wachsam an.

»Ist sie sehr krank?«, fragte sie.

»Weiß ich nicht. Sie ist umgefallen. Vielleicht ist sie schon tot.«

Ein Frösteln kroch Denise über den Rücken. Doch sie wusste, man durfte bei Kindern solche Deutlichkeit nicht tragisch nehmen.

»Und sonst hast du niemanden?«, fragte sie leise.

»Nein.« Tonio machte eine kleine Pause. »Ich habe Hunger«, erklärte er dann gepresst.

Vielleicht kann Barbara mir Aufschluss geben, dachte Denise, die schon spürte, dass sie jetzt nicht mehr viel von dem Jungen erfahren würde.

»Du kannst mit den Kindern essen«, sagte sie freundlich. »Es ist gleich so weit.«

»Mein Fahrrad steht draußen. Es kommt wohl nicht weg«, meinte er.

Mit dem Fahrrad war er also aus der Stadt gekommen. Eine ganz schöne Strecke für einen kleinen Jungen. Angst schien er nicht zu kennen. Hemmungen auch nicht.

Denise geleitete Tonio, nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, zum Esssaal, wo die Kinder bereits an dem großen Tisch Platz genommen hatten.

»Ich bringe euch einen Gast. Malu und Pünktchen, ihr kümmert euch wohl ein wenig um Tonio.«

»Um mich braucht sich keiner zu kümmern«, erklärte Tonio energisch. »Vielen Dank, gnädige Frau.«

Pünktchen riss die Augen auf. »Gnädige Frau« hatte noch kein Kind zu Tante Isi gesagt.

Denise aber dachte für sich, dass er eine sehr gute Erziehung genossen haben müsse, die vielleicht ein wenig über das Maß hinausging. Sie beeilte sich, Barbara Baumgarten anzurufen, um von ihr vielleicht mehr über Tonio zu erfahren.

*

Als die geplagte Arztfrau von Tonios Besuch in Sophienlust erfuhr, meinte sie, in diesem besonderen Fall würde sie lieber persönlich mit Denise sprechen. Da sie seit ein paar Wochen eine tüchtige Hilfe habe, könne sie mit ihrem Mann an diesem Abend noch schnell auf einen Sprung nach Schoen­eich kommen. Denise könne Tonio ­jedenfalls unbesorgt in Sophienlust behalten. Niemand werde ihn vermissen.

Denise hatte den Eindruck, dass Barbara im Moment von ihren Kindern umringt sei und sich deshalb nicht deutlicher äußern könne. Sie freute sich, dass dieser Anlass ein Beisammensein mit den beiden Baumgartens versprach, die selten genug Zeit für Besuche hatten, da Werner Baumgarten ein viel konsultierter Arzt war.

*

Währenddessen ließ Tonio sich das Abendbrot schmecken. Er verdrückte Mengen, dass Pünktchen die Augen übergingen. Aber schließlich wurde er doch satt.

»Hast wohl lange nichts gegessen?«, erkundigte sich Pünktchen kameradschaftlich und mitfühlend.

Tonio nickte. »Wieso heißt du Pünktchen?«, wollte er wissen. »Hast du keinen anderen Namen?«

Pünktchen fühlte sich nicht veranlasst, ihm Auskunft über ihre Person zu geben, nachdem er selbst so verschlossen war.

»Man nennt mich eben so«, entgegnete sie.

»Wegen der Sommersprossen«, kam ein Zwischenruf. »Angelina heißt sie«, rief ein anderes Kind.

»Alle sagen Pünktchen«, erklärte das Mädchen bockig.

»Hab’ ja nichts dagegen«, brummte der Junge. »Ich heiße bloß Tonio.«

»Und sonst hast du keinen Namen?«, fragte sie.

»Nein«, erwiderte er wortkarg.

»Bist du ausgerissen?«, fragte Pünktchen ihn flüsternd.

»Ich bin weggefahren«, erwiderte er ausweichend. »Und mehr sag’ ich nicht.«

Pünktchen fragte nun nicht mehr. Schon oft waren Kinder in Sophienlust gewesen, die anfangs nicht hatten reden wollen. Aber das hatte sich mit der Zeit gegeben. Schließlich bekamen sie ja doch immer heraus, wer die Kinder waren und woher sie kamen. Wenn Tante Isi Tonio aufnahm, dann hatte es schon seine Richtigkeit. Das war jedenfalls Pünktchens Ansicht.

*

Dominik war leicht gekränkt, dass man auch ihn auf sein Zimmer schickte, als das Ehepaar Baumgarten am Abend auf Schoeneich eintraf. Er fühlte sich jetzt schon ziemlich erwachsen und war überzeugt, dass wieder einmal etwas Interessantes erörtert wurde. Aber da er eine neue Schallplatte bekommen hatte, fiel es ihm dann doch nicht so schwer, auf sein Zimmer zu gehen.

»Es muss also erst etwas los sein, damit man euch mal bei uns sieht«, stellte Alexander von Schoenecker fest. »Von selbst kommt ihr nicht.«

»Man nimmt es sich hundertmal vor«, brummte Dr. Werner Baumgarten, »und neunundneunzigmal kommt etwas dazwischen.«

Während der Arzt sich nun mit Alexander von Schoenecker über allgemeine aktuelle Fragen unterhielt, wandten die Frauen sich dem eigentlichen Thema des Abends, nämlich Tonio, zu.

»Er heißt nicht Helfert, er heißt Boe­ring«, erzählte Barbara. »Sein Vater ist Chefarzt am Kreiskrankenhaus. Seine Mutter ist bei einem Skiunfall ums Leben gekommen, als er zwei Jahre alt war. Seither hat er bei seiner Großmutter gelebt. Ich kenne die Verhältnisse zufällig, weil Werner manchmal mit Doktor Boering zu tun hat. Warum der Junge aber bei seiner Großmutter, Frau Helfert, geblieben ist, nachdem Doktor Boering vor einem Jahr wieder geheiratet hat, weiß ich auch nicht. Denken könnte ich mir allerdings, dass Frau Helfert das so gewollt hat.«

Der Name Helfert war für Werner Baumgarten das Stichwort, sich in das Gespräch einzumischen.

»Ich habe mich gleich erkundigt, was mit ihr los ist. Sie hatte einen Schlaganfall und ist in die Privatklinik von Doktor Gebhardt eingeliefert worden.«

»Obwohl ihr Schwiegersohn Chefarzt im Krankenhaus ist?«, bemerkte Denise fragend.

»Sie sind übers Kreuz«, stellte Werner Baumgarten fest.

»Man muss Doktor Boering natürlich mitteilen, dass sein Sohn in Sophienlust ist«, überlegte Denise. »Tonio ist sehr verschlossen. Davon, dass er einen Vater hat, hat er nicht gesprochen.«

»Frau Helfert wird ihm schon eingeimpft haben, dass sein Vater nichts taugt«, brummte Dr. Baumgarten. »Früher war sie mal meine Patientin. Na, ich war ganz froh, als sie sich einen anderen Arzt ausgesucht hatte.«

Mehr ließ er sich über Frau Helfert nicht aus. Dennoch war das alles sehr aufschlussreich für Denise. Sie entschloss sich, trotz der späten Stunde noch Dr. Boering anzurufen.

Im Krankenhaus war der Chefarzt nicht mehr. Vor einer halben Stunde wäre er heimgefahren, sagte man ihr und gab ihr, jedoch erst auf ihr Drängen, seine Privatnummer.

*

Madeleine Boering brachte eben ihr Töchterchen Jasmin zu Bett, als das Telefon läutete. Jasmin hatte heute länger aufbleiben dürfen, weil sie ihren fünften Geburtstag gefeiert hatten und der Papi erst so spät nach Hause gekommen war.

Jasmin, die von ihrer jungen, schönen Mutter mit in die Ehe gebracht worden war, liebte ihren Papi abgöttisch. Marcus Boering aber wurde durch dieses Kind für vieles entschädigt, was sich an Bitterkeit in ihm angesammelt hatte. Allerdings wurde er auch durch seine zweite Frau Madeleine entschädigt, die es verstanden hatte, den ernsten verschlossenen Mann wieder zum Lachen zu bringen.

Eben waren sie alle drei noch sehr vergnügt gewesen, aber als Madeleine nun in das Wohnzimmer zurückkam, war die Miene ihres Mannes düster.

»Frau Helfert ist in die Klinik gekommen, und Tonio hat sich selbstständig gemacht«, stieß Marc Boering hervor. Er sprach immer von »Frau Helfert«, er sagte nie, »meine Schwiegermutter«. Madeleine hatte sich schon daran gewöhnt.

»Wieso selbstständig?«, fragte sie bestürzt.

»Er hat sein Fahrrad genommen und ist nach Sophienlust gefahren. Frau von Schoenecker hat mich eben davon unterrichtet.«

»Was fehlt Frau Helfert?«, erkundigte sich Madeleine.

»Schlaganfall. Ich muss gleich mal bei Gebhardt anrufen. Schließlich werde ich mich jetzt um den Jungen kümmern müssen, wenn ihr Zustand bedenklich ist.«

Kümmern hatte er sich schon immer um ihn wollen. Auch Madeleine hatte gehofft, dass Tonio zu ihnen kommen würde, nachdem sie geheiratet hatten, aber Johanna Helfert hatte dem ein hartes Nein entgegengesetzt.

»Du weißt, dass ich Tonio sehr gern bei uns haben würde«, sagte Madeleine leise.

Marc senkte den Kopf. »Gerade jetzt? Ich kann mir ausrechnen, was das für Aufregungen mit sich bringt.«

Madeleine erwartete in Kürze ein Baby, auf das sie sich beide ebenso freuten wie die kleine Jasmin. Deshalb hatte Marc ernste Bedenken, seinen Sohn aus erster Ehe, der von seiner Großmutter gegen ihn und erst recht gegen seine zweite Frau aufgehetzt worden war, gerade jetzt zu sich zu nehmen.

Solange er allein geblieben war, war noch einigermaßen mit der alten Frau auszukommen gewesen. Er hatte Tonio hin und wieder besucht und auch Ausflüge mit ihm gemacht. Doch seit dem Tag, da Madeleine seine Frau geworden war, hatte es keine Begegnungen mehr zwischen ihm und seiner Schwiegermutter gegeben. »Tonio will das nicht«, hatte es geheißen, wenn er davon zu sprechen begonnen hatte. »Du weißt nicht, was du dem Jungen angetan hast«, war stets das nächste Wort gewesen.

Marcus Boering war achtunddreißig Jahre alt und seit sieben Jahren allein gewesen, als er Madeleine kennengelernt hatte.

Diese Frau war die große Liebe seines Lebens, da er mit der unbeherrschten Tatjana kein wahres Glück gefunden hatte. Madeleine aber bedeutete ihm alles. Ihr Kind, das aus einer missglückten Ehe hervorgegangen war, betrachtete er als sein eigenes. Die sonnige Jasmin hatte keinerlei Probleme verursacht, und manchmal fragte sich Marc, warum es bei Tonio nicht auch so sein konnte.

»Ich werde morgen nach Sophienlust fahren und mit Frau von Schoenecker sprechen«, sagte er deprimiert.

»Vielleicht ist Tonio jetzt zugänglicher, wenn seine Großmutter ihn nicht mehr beeinflusst«, stellte Madeleine fest.

Doch eine solche Hoffnung hegte Marc nicht. »Auf jeden Fall halte ich es für besser, wenn er in dem Kinderheim bleibt, bis die Verhältnisse geklärt sind. Es kommt gar nicht infrage, dass du in diesem Zustand seelischen Belastungen ausgesetzt wirst, Mädi.« Zärtlich strich er ihr durch das seidige aschblonde Haar.

»Er ist dein Sohn, Marc«, flüsterte sie. »Vielleicht lernen wir einander doch noch verstehen. An mir soll es nicht liegen.«

»An dir gewiss nicht, aber solange sie atmet, steht eine Mauer zwischen uns. Ihre Liebe für Tatjana war krankhaft. Den Jungen aber hat sie nur zu sich genommen, um ihn gegen mich aufzuhetzen. Ich hätte mich von Anfang an dagegen wehren müssen, aber was sollte ich mit einem kleinen Kind? Ich war damals auch noch zu jung, um die Tragweite zu begreifen. Ich fürchte, es wird eine verfahrene Geschichte bleiben.«

»Nein, Marc, ich werfe die Flinte nicht ins Korn. So wie Jasmin deine Tochter geworden ist, soll Tonio mein Sohn werden.«

»Du mit deinem großen, liebevollen Herzen«, murmelte er und nahm sie in die Arme. »Du hast mir das Leben wieder lebenswert gemacht. Es soll kein Schatten auf unser Glück fallen, Liebstes.«

Aber der Schatten stand nun schon vor ihnen, und Madeleine war sich bewusst, dass er nicht zu verdrängen war.

Als gegen zehn Uhr das Telefon wieder läutete, zuckte Marc zusammen. Deshalb nahm Madeleine den Hörer ab. Es war ihr Schwager Jürgen, Marcs jüngerer Bruder.

»Eben aus dem Urlaub zurück«, tönte seine muntere Stimme durch das Telefon. »Wollte schon früher kommen, um Jasmin zu gratulieren, aber diese blöde Maschine hatte Motorschaden und konnte nicht starten. Kann ich noch auf einen Sprung zu euch kommen, damit unser Sonnenscheinchen wenigstens morgen früh gleich ein Geschenk von ihrem einzigen Onkel vorfindet?«

Vielleicht war es ganz gut, wenn Jürgen ihren Mann ein wenig aufmunterte, dachte Madeleine und sagte zu. Marc war darüber allerdings nicht sehr begeistert.

»Jürgen findet kein Ende«, brummte er.

»Und ich muss morgen früh raus, wenn ich mein Pensum schaffen will, bevor ich nach Sophienlust fahre.«

»Dafür wird Jürgen schon Verständnis haben«, meinte Madeleine.

»Sollen wir diesen Familientratsch mit ihm erörtern? Ich mag das nicht.«

»Es geht doch auch ihn an«, meinte Madeleine begütigend. »Und er hat manchmal recht gute Ideen.«

»Ideen helfen uns leider nicht«, stellte Marc fest.

Zehn Minuten später war Jürgen schon da, tief gebräunt von südlicher Sonne und Frohsinn verbreitend. Er trug ein riesiges Paket unter dem Arm.

Madeleine bekam einen Kuss auf die Wange, Marc einen herzlichen Händedruck.

»Na, wie geht es denn unserem Baby?«

»Bestens«, erwiderte die junge Frau. »Was hast du denn da wieder alles eingekauft?«

»Nur ein Stück, aber ich hoffe, dass es Jasmin gefällt«, erwiderte Jürgen schmunzelnd. »Sie soll es selber auspacken. Ich verrate nichts.«

Jasmin war selbst ihm, dem ewigen Junggesellen, ans Herz gewachsen. Er war rein närrisch mit der Kleinen und wollte noch unbedingt einen Blick in ihr Zimmer werfen. Aber Jasmin schlief selig und süß.

»Wie viel glutäugige Spanierinnen sind denn wieder auf der Strecke geblieben?«, fragte Marc anzüglich.

»Die wollen ja gleich geheiratet werden«, seufzte Jürgen. »Da kapituliere ich.« Er warf seiner Schwägerin einen schrägen Blick zu. »Die einzige Frau, die mich an die Kette hätte legen können, hast du mir weggeschnappt. Nun müsst ihr mit einem ewigen Junggesellen vorliebnehmen.«

So gern hörte Marc das nicht, obgleich es heiter gesagt war. Denn Jürgen verehrte, für seinen Geschmack, Madeleine etwas zu sehr. Sie selbst fasste das allerdings nicht so ernst auf, denn Jürgen war nun mal ein Herzensbrecher, und wenn er nicht bald eine Frau fand, dann sah sie tatsächlich schwarz. Er hatte wohl ein bisschen zu viel Erfolg bei Frauen, obgleich er keiner jemals Hoffnungen machte.

Jürgen hatte das Naturell, alles von der leichten Seite zu nehmen. Aber als sie dann auf Tonio zu sprechen kamen, wurde selbst er ernst.

»Was wäre da schon noch zu machen«, meinte er. »Bei der Erziehung kann man nicht mehr viel erwarten.

So traurig es auch ist, aber da bin ich mit meinem Latein auch am Ende. Vielleicht ist ein Heim wirklich das Beste für ihn, damit er erst mal mit Kindern beisammen ist. Ich kenne ihn ja kaum noch. Mir war der Umgang mit ihm sowieso verboten.«

Dafür hatte es allerdings einen Grund gegeben, den Madeleine nicht kannte und den Marc nur ahnte. Tatjana hätte viel lieber Jürgen geheiratet, aber dieser hatte nichts für sie übrig gehabt. Aber das war Marc auch erst bewusst geworden, nachdem Tatjana ihn umgarnt hatte und seine Frau geworden war.

Jürgen verabschiedete sich bald. Er war ebenfalls Arzt und am gleichen Krankenhaus tätig wie Marc. Allerdings war er Gynäkologe, während sein Bruder Chirurg war.

Seinen Beruf nahm er im gleichen Maße ernst, wie er das Leben von der heiteren Seite nahm. Auch achtete er sehr darauf, dass niemand ihm nachsagen konnte, er leiste sich Extravaganzen, weil sein Bruder Chefarzt war.

»Halte dich tapfer, Madeleine«, sagte er zu seiner Schwägerin. »Lass alles an dich herankommen. Wenn das Baby erst da ist, werden wir schon weitersehen.«

Aber so leicht konnte es Madeleine doch nicht nehmen. Tonio war Marcs Sohn. Man konnte ihn nicht einfach seinem Schicksal überlassen. Sie grübelte noch lange darüber nach, was wohl die beste Lösung für sie alle wäre, aber sie kam auch zu keinem Ergebnis.

*