5 Romane - 76-80 - Diverse Autoren - E-Book

5 Romane - 76-80 E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. E-Book 1: Die Kinder vom Märchenschloss E-Book 2: Ein Ausritt mit Folgen … E-Book 3: Auf Regen folgt Sonne E-Book 4: Die verlorenen Kinder E-Book 5: Wenn wir wieder eine Familie wären …

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Inhalt

Die Kinder vom Märchenschloss

Ein Ausritt mit Folgen …

Auf Regen folgt Sonne

Die verlorenen Kinder

Wenn wir wieder eine Familie wären …

Sophienlust - Die nächste Generation – Sammelband – 16 –

5 Romane - 76-80

Diverse Autoren

Die Kinder vom Märchenschloss

Ein Abenteuer endet mit Hochzeitsglocken …

Roman von Weißbacher, Carolin

»Und? Hast du inzwischen einen Ferienjob gefunden?« Emma Hartwig pickte die Waffel von ihrem Eisbecher, tauchte sie in die Sahne und schob sie sich genüsslich in den Mund. Dabei schaute sie ihre Freundin und Studienkollegin Lisa erwartungsvoll an.

»Ja, habe ich. Ich werde als Aushilfskellnerin arbeiten. Hier in München im Café Hofgarten.« Lisa verzog das Gesicht, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. »Besser als nichts ist es allemal«, seufzte sie. »Obwohl ich, ehrlich gesagt, eher an Führungen für Touristen durch die Pinakothek oder durchs Lenbach-Museum gedacht hatte. Aber da war leider nichts zu machen. Alles schon vergeben.«

»Nimm’s nicht so tragisch«, meinte Emma. »Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass du in den Semesterferien ein Kontrastprogramm zu deinem Kunststudium hast und zur Abwechslung einmal etwas anderes siehst als Gemälde und Skulpturen. Neue Eindrücke regen zu neuer Kreativität an. Abgesehen davon, dass Kellnern bestimmt sehr lukrativ ist, weil du zusätzlich zu deinem normalen Verdienst noch satte Trinkgelder einsacken kannst.«

»Wer’s glaubt?« Lisa verdrehte die Augen. »Oder denkst du wirklich, dass die Latte macchiato-Ladies, die sich im Café Hofgarten nachmittags ihre Langeweile vertreiben, besonders spendabel sind? Also, ich bin mir da längst nicht so sicher. Dein Ferienjob wäre mir jedenfalls entschieden lieber. Von Professor Haberland ins Allgäu mitgenommen zu werden zur Restaurierung der Gemäldegalerie auf Schloss Wolfsburg-Zell, war, glaube ich, der Traum aller Teilnehmer unseres Seminars. Natürlich gönne ich dir, dass du es warst, die das Rennen gemacht hat, aber ein kleines bisschen Neid kann ich mir trotzdem nicht verkneifen.«

»Kann ich verstehen«, gab Emma zurück. »Ich freue mich in der Tat riesig auf die Zeit im Schloss und auf meine erste praktische Erfahrung mit der Restaurierung alter Gemälde. Allerdings ist die Bezahlung nicht berauschend. Um nicht zu sagen ausgesprochen mies.«

Lisa zog die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Und ich dachte, dieser Fürst von Wolfsburg-Zell hätte Geld wie Sand am Meer.«

»Das hat er wahrscheinlich auch. Aber für mich und meine Arbeit wird davon leider nicht viel abfallen«, bedauerte Emma. »Ich bin schon froh, wenn das Geld, das ich verdiene, reicht, um den Sommer über meine Mietkosten zu decken. Von den notwendigen Rücklagen fürs Wintersemester ganz zu schweigen.«

»Puuh!« Lisa stieß mit aufgeblasenen Backen die Luft aus. »Das hätte ich nie und nimmer gedacht. Vielleicht solltest du unter diesen Umständen nach einem zweiten Ferienjob Ausschau halten.«

Emma nahm ein paar große Löffel Eis und wischte sich dann mit der Papierserviette über den Mund. »Das habe ich drei Wochen lang vergeblich versucht. Nichts, null, niente. Aber vor ein paar Tagen ist mir der Zufall zu Hilfe gekommen.«

»Echt jetzt? Und was hast du gefunden? Wo arbeitest du, ehe du auf der Wolfsburg loslegst?«

»Ich jobbe in einem Kinderheim«, grinste Emma.

Lisa ließ vor Überraschung den Eislöffel fallen, sodass er klirrend auf dem Tisch aufschlug. »In einem Kinderheim? Du?«

»Natürlich ich. Wer denn sonst.«

»Das …, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.« Ungläubig schüttelte Lisa den Kopf. »Mit Kindern hattest du doch noch nie besonders viel am Hut. Sollst du die Kleinen bespaßen? Oder gibst du ihnen am Ende Zeichenunterricht?«

»Mit den Kindern habe ich nichts zu tun. Ich werde in der Küche eingesetzt«, antwortete Emma.

»In der Küche? Ohne Witz?« Lisa lachte hellauf, verschluckte sich, musste husten und lachte weiter. »Das ist ja noch schlimmer. Du am Kochherd – ich fasse es nicht«, prustete sie.

»Hahaha«, äffte Emma die Freundin nach. »Lach dich nicht am Ende noch tot. Ich will nicht auf deine Beerdigung müssen. Außerdem verstehe ich nicht, was du an der Sache so lustig findest. Kannst du mir das bitte mal erklären?«

»Du …, du … und kochen«, japste Lisa. »Du kochst morgens die Frühstückseier eine halbe Stunde lang oder noch länger, damit sie endlich weich werden. Und mittags lässt du die Tiefkühlpizza anbrennen.«

»Jetzt übertreibst du aber gewaltig«, verteidigte sich Emma.

Lisa konnte sich nur langsam wieder beruhigen. »Na ja, ein ganz kleines bisschen vielleicht«, räumte sie, immer noch kichernd, ein. »Aber wirklich nur ein ganz kleines bisschen. Wie bist du eigentlich an diesen für dich gänzlich unpassenden Job gekommen? Und was für ein Kinderheim ist das überhaupt, das jemanden wie dich als Köchin einstellt?«

»Erstens: Das Kinderheim heißt ›Sophienlust‹ und befindet sich in Wildmoos. Das ist ein kleiner Ort im Württembergischen. Zweitens: Ich bin nicht als Köchin engagiert, sondern als Küchenhilfe. Und drittens: Den Job hat mir meine Tante Dora verschafft.«

»Aha. Das erklärt natürlich einiges. Trotzdem kann ich immer noch nicht verstehen, wie ein halbwegs vernünftiger Mensch ausgerechnet dich …« Lisa schüttelte sich, stützte dann ihren Kopf in ihre Hände und schaute Emma unverwandt an. »Deine Tante Dora – ist das nicht diese typisch schwäbische Hausfrau mit der weißen, spitzengesäumten Schürze, der moppeligen Figur und den Dauerwellen-Löckchen, von der du mir einmal ein Foto gezeigt hast? Die Frau, die jeden Tag das ganze Haus vom Keller bis zum Speicher putzt und wienert, Fenster inklusive? Die Frau, die fünf rotznasige Kinder hat und jeden Samstag vor ihrem Reihenhaus in Märzbach oder wie der Ort heißt stundenlang die Straße fegt?«

»Maibach«, verbesserte Emma. »Der Ort heißt Maibach. Und ich bin Tante Dora sehr dankbar, dass sie mir, als ich ihr von meiner Suche nach einem Job für die erste Hälfte der Semesterferien erzählt habe, so spontan zu Hilfe gekommen ist und die günstige Gelegenheit beim Schopf gefasst hat. Tante Dora hat nämlich eine gute Freundin, Magda, und Magda ist Köchin in diesem Kinderheim namens Sophienlust. Leider hat Magda sich vor Kurzem beim Hantieren mit der Küchenmaschine die Sehne des kleinen Fingers ihrer rechten Hand durchgeschnitten. Die Sehne musste im Maibacher Krankenhaus wieder zusammengenäht werden, und jetzt trägt Magda einen dicken Verband um ihre rechte Hand, der sie bei der Arbeit natürlich kräftig ausbremst.«

»Aha. Und just an diesem Punkt kommst du ins Spiel.«

»So ist es. Als Magdas Gehilfin. Magda wird mir sagen, was zu tun ist. Und ich führe es an ihrer Stelle aus. Als ihre rechte Hand sozusagen.«

»Super. Du schnippelst also Karotten, Bohnen, Zucchinis, Kartoffeln, Tomaten … Weißt du eigentlich, dass man dafür auch ein bisschen Übung braucht? Die Kinder werden deiner Langsamkeit wegen ihr Mittagessen frühestens zum Nachmittagskaffee bekommen, wenn nicht gar erst anstelle des Abendbrots.«

»Ich schnipple gar nichts. Das erledigt die Küchenmaschine für mich. Die Küchenmaschine, mit der Magda sich verletzt hat. Schon vergessen?«

»Ach so, klar. Das ändert natürlich alles. Abgesehen davon, dass man das Gemüse auch putzen muss, was die Küchenmaschine definitiv nicht übernimmt.«

Emmas Miene verfinsterte sich. »Willst du mir Bange machen? Ich werde übrigens hervorragend bezahlt.«

»Klar. Deine zu erwartenden grandiosen Leistungen müssen selbstverständlich entsprechend honoriert werden.«

»Genau.« Emma drehte ihrer Freundin keck eine lange Nase, stieß dann aber einen tiefen Seufzer aus. »Denkst du, ich weiß nicht selbst, dass ich in Haushaltsdingen, und vor allem im Kochen, eine komplette Niete bin? Gestern Nacht konnte ich eine Ewigkeit nicht einschlafen, weil ich andauernd über diesen unseligen Job nachgedacht habe. Ich hoffe nur, dass Tante Dora dieser Magda die Wahrheit über mich gesagt hat. Und mich nicht, nur um mir zu helfen, zu einer Hobby-Sterneköchin hochstilisiert hat. Zwar hat Tante Dora mir versichert, sie hätte aus meiner Unerfahrenheit keinen Hehl gemacht, aber so recht glauben kann ich ihr nicht. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass man mich als totales Greenhorn eingestellt hätte. Schließlich ist dieses Sophienlust ja nicht irgendein Kinderheim.«

»Sondern?«

»Sophienlust ist das ›Haus der glücklichen Kinder‹.«

»Das was?«

»Das Haus der glücklichen Kinder.«

»So ein Quatsch. Als ob Kinder, die keine Familie haben und in einem Kinderheim leben müssen, glücklich wären.« Lisa tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn.

»Tante Dora behauptet, dass die Kinder sich in Sophienlust sehr wohlfühlen. Johannes, einer ihrer fünf Rangen, nimmt in Sophienlust Reitstunden und ist hellauf begeistert. Nicht nur von den Reitstunden, sondern einfach von allem. Am liebsten würde er in Sophienlust einziehen, sagt Tante Dora. Sophienlust scheint, wenn man ihr glauben darf, für Kinder das reinste Paradies zu sein.«

»Aber nicht mehr lange«, frotzelte Lisa. »Wenn erst einmal du dort dein Unwesen treibst, wird sich das ganz schnell ändern.«

Emma überhörte die Spitze. »Sophienlust ist aus einer Art privaten Stiftung hervorgegangen«, redete sie stattdessen weiter. »Der jetzige Betreiber des Kinderheims, ein gewisser Dominik von Wellentin-Schoenecker, ist erst achtzehn oder so. Er hat Sophienlust von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin geerbt – mit der Auflage, das Herrenhaus in ein Heim für in Not geratene Kinder umzugestalten. Allerdings war er zum Zeitpunkt des Erbes selbst noch ein Kind, weshalb seine Mutter das Heim bis zu seiner Volljährigkeit für ihn verwaltet hat. Sie steht ihm auch jetzt noch mit Rat und Tat zur Seite.«

»Ein Herrenhaus, sagst du? Wow!« Lisa machte große Augen. »Und was für einen klangvollen Adelsnamen der Betreiber des Kinderheims hat: Dominik von Wellentin-Schoenecker! Du scheinst in diesem Sommer auf Herrenhäuser, Burgen und Blaublüter abonniert zu sein. Vielleicht angelst du dir ja sogar einen von diesen Adelsschnöseln. Dann bin ich in Zukunft mit einer Emma von Wellentin-Schoenecker befreundet. Oder mit einer Emma von Wolfsburg-Zell. Ich glaub, mich laust der Affe. Oder nein, mich tritt ein Pferd. Das passt besser zur Freundin einer Freifrau oder einer Fürstin.«

Emma verdrehte genervt die Augen. »Jetzt mach aber mal ganz schnell einen Punkt. Und komm gefälligst zurück auf den Teppich. Ich heirate nie. Egal wie adelig oder reich irgendein Typ ist. Hochzeit never ever. Das weißt du doch. Oder glaubst du etwa, ich habe es mir anders überlegt und will plötzlich so ein spießiges Hausmütterchen werden wie Tante Dora? Das kommt überhaupt nicht infrage.«

»Ein Freifrau oder eine Fürstin ist kein spießiges Hausmütterchen«, widersprach Lisa.

»Das ändert nichts daran, dass die Ehe eine völlig veraltete Institution ist. Finsterstes Mittelalter. Und patriarchalisch bis zum Gehtnichtmehr«, behauptete Emma im Brustton der Überzeugung. »Und wie ein auch nur halbwegs verantwortungsbewusster Mensch auf die Idee kommen kann, Kinder in eine ohnehin schon komplett überbevölkerte Welt zu setzen, in der es Kriege, Seuchen und jede Menge übelster Umweltverschmutzung gibt, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Wir sind die letzte Generation, schon vergessen?«

Diesmal war es an Lisa, die Augen zu verdrehen. »Vielleicht ist die Ehe weniger veraltet, als du meinst, Emma«, sagte sie. »Immerhin wird auch in unserer Zeit munter geheiratet. Menschen, die sich unsterblich ineinander verliebt haben und deshalb für immer zusammenbleiben möchten, geben sich feierlich vor Zeugen das Jawort und versprechen sich die Treue. Daran ist doch nichts Altmodisches. Und vielleicht setzt man Kinder in die Welt, weil man ganz einfach Kinder möchte? Weil Kinder etwas Wunderbares und ein Zeichen der Hoffnung sind? Weil sie ein Zeichen sind, dass das Leben allen Unkenrufen zum Trotz eben doch weitergeht?«

Emma löffelte so hingegeben ihren Eisbecher, als hätte sie Lisas Worte überhaupt nicht vernommen. »Mein Leben gehört der Kunst«, erklärte sie schließlich mit vollem Mund. »Ich werde fremde Bilder restaurieren und eigene Bilder malen, ausstellen und verkaufen. Und frei sein, wie ein Vogel in der Luft. Wenn ich Lust auf Zweisamkeit habe, nehme ich mir einen Liebhaber. Und wenn ich ihn satthabe, jage ich ihn fort.«

»Nette Zukunftspläne«, bemerkte Lisa. »Möglicherweise hat deine Tante Dora dir diesen Ferienjob in Sophienlust einfach nur deshalb vermittelt, weil sie möchte, dass du mit Menschen in Kontakt kommst, die anders denken als du. Und die dir helfen, deinen doch ziemlich einseitigen Lebensentwurf noch rechtzeitig zu korrigieren und anzupassen.«

Emma runzelte die Stirn. »Wenn man dich so reden hört … Würdest du denn heiraten und eine Familie gründen wollen, Lisa? Ich …, ich habe dich bis jetzt immer für kunstbegeistert gehalten, aber …«

»Natürlich bin ich kunstbegeistert. Sonst würde ich wohl kaum Kunst und Kunstgeschichte studieren. Trotzdem kann ich mir sehr gut vorstellen, dass irgendwann vielleicht Zeiten kommen, in denen in meinem Leben andere Dinge in den Vordergrund treten. Zum Beispiel Ehe und Familie. Dann muss die Kunst eben eine Zeit lang zurückstehen und warten. Was bestimmt kein Schaden ist. Hast du zu Anfang unseres Gesprächs nicht selbst gesagt, dass Abwechslung die Kreativität steigert?«

»So habe ich das aber nicht gemeint«, widersprach Emma und beschäftigte sich wieder mit ihrem Eisbecher.

Sie dachte an Tante Dora, und mit einem Mal kam ihr der leise Verdacht, dass Lisa, zumindest was Tante Dora betraf, recht haben könnte. Die Tante hatte ihr den Job in Sophienlust wohl wirklich mit Hintergedanken verschafft. Sie hatte gehofft, dass sie, Emma, auf diese Weise Freude an hausfraulichen Tätigkeiten und an Kindern bekommen würde.

Emma schüttelte entschieden den Kopf. Da hatte die Tante leider aufs falsche Pferd gesetzt. »Pech gehabt, Tante Dora«, murmelte sie vor sich hin.

»Hast du etwas gesagt?«, erkundigte sich Lisa.

Emma winkte ab. »Nichts von Bedeutung«, erwiderte sie. »Ich habe mich nur eben im Geiste mit Tante Dora auseinandergesetzt und ihr kurz und bündig meine Meinung kundgetan.«

*

Es war noch früh am Vormittag, als Emma mit ihrem knallroten, ein wenig klapprigen Uralt-Kleinwagen die Autobahn verließ, um über Landstraßen Richtung Sophienlust zu fahren.

Sie hatte die Strecke nach Maibach von den sporadischen Besuchen bei ihrer Tante in ungefährer Erinnerung, über den Stadtrand von Maibach hinaus war sie allerdings noch nie gekommen. Deshalb war sie ziemlich zeitig von München aufgebrochen. Selbst für den Fall, dass sie sich, da ihr Auto kein Navi besaß, bis Wildmoos und Sophienlust ein paarmal verfuhr, würde sie noch pünktlich sein.

Als Emma schließlich ein Ortsschild mit der Aufschrift ›Bachenau‹ passierte, wusste sie, dass sie es bald geschafft hatte. Der nächste Ort war in der Routenbeschreibung, die sie sich aus dem Internet ausgedruckt hatte, Wildmoos. Und von dort war es nach Sophienlust laut Routenplaner nur noch ein Katzensprung.

Unwillkürlich musste Emma schmunzeln, als sie kurz hinter den letzten Häusern von Wildmoos einen handbemalten hölzernen Wegweiser entdeckte. ›Sophienlust – Haus der glücklichen Kinder‹ stand in ungelenken, kunterbunten Krakelbuchstaben darauf. Zwischen den Buchstaben schwebten Vögel und Schmetterlinge in allen Regenbogenfarben. Und ganz oben in der rechten Ecke lachte ein Sonnengesicht, das über das ganze Bild hin seine goldfarbenen, glitzernden Strahlen aussandte.

Kunst sah natürlich anders aus, aber dass die Kinder offenbar Freude am Zeichnen und Malen hatten, ließ Emma warm ums Herz werden.

Freudig setzte sie den Blinker und schlug die Richtung ein, in die der Wegweiser zeigte.

Schon hinter der zweiten Kurve kam Sophienlust in Sicht.

Die Fenster des Herrenhauses, das wie ein Schlösschen wirkte, blinkten im Licht der Morgensonne, als wollten sie Emma freundlich zublinzeln. Und das schmiedeeiserne Tor, das die Zufahrt zu dem parkartigen Grundstück des Schlösschens bewachte, war einladend geöffnet, sodass Emma mit ihrem Fahrzeug ungehindert passieren konnte.

Ein paar Kinder winkten ihr zu, und ein großer, zottiger Bernhardinerhund bellte übermütig zur Begrüßung.

An einem Spielplatz mit Schaukeln, Rutschen und einem großen Sandkasten vorbei fuhr Emma auf das Herrenhaus zu. Auf dem kleinen Parkplatz davor stellte sie ihr Auto ab.

Erst als sie ausstieg, merkte sie, wie nervös sie war.

Mit kritischen Blicken schaute sie an sich herunter.

Ob sie mit der hellblauen Jeanshose, den weißen Sneakern und dem weißen T-Shirt mit dem Aufdruck ›Summertime‹ wirklich die passende Kleidung gewählt hatte?

Emma hatte mit dem saloppen Outfit zeigen wollen, dass sie kein Modepüppchen war, sondern bereit war, anzupacken, wenn man ihr Arbeit auftrug. Aber beim Anblick der Freitreppe und der Eingangstür mit dem verschnörkelten Türklopfer kam sie sich plötzlich wie Aschenputtel höchstpersönlich vor.

Und wie machte man sich hier überhaupt korrekt bemerkbar?

Sollte sie den Türklopfer betätigen?

Oder gab es eine Klingel?

Emma brauchte nicht lange darüber nachzudenken, denn noch während sie nach dem Klingelknopf Ausschau hielt, wurde die Tür geöffnet.

Unwillkürlich wich Emma erschrocken einen Schritt zurück, aber die schlanke, dunkelhaarige Frau, die im Türrahmen stand, schenkte ihr ein so warmes, beinahe liebevolles Lächeln, dass der Schrecken sich sofort wieder legte.

»Sie sind Emma? Emma Hartwig, nehme ich an?«, fragte die Frau.

Emma nickte. »Ich glaube, ich bin ein bisschen zu früh, aber …«

»Sie sind genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen, Emma. Nick und ich haben Sie schon erwartet. Ich bin übrigens Denise von Schoenecker.« Denise streckte Emma die Hand zum Gruß hin und wies dann auf den jungen Mann, der hinter sie getreten war: »Das ist mein Sohn Dominik, genannt Nick.«

Auch Nick begrüßte Emma mit einem festen Händedruck.

»Hatten Sie eine gute Fahrt, Emma?«, ergriff schließlich Denise wieder das Wort.

Emma nickte. »Ja, Frau von Schoenecker«, erwiderte sie höflich.

»Sagen Sie einfach Denise zu mir, Emma«, schlug Denise vor.

»Gerne, wenn ich darf«, gab sie ein wenig steif zurück.

Denise schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Natürlich. Die Kinder nennen mich übrigens Tante Isi. Und zu unserer Heimleiterin, Frau Rennert, sagen unsere Rangen ›Tante Ma‹. Aber jetzt kommen Sie am besten erst einmal mit Nick und mir ins Empfangszimmer, damit wir uns kennenlernen können. Nach unserem Gespräch zeige ich Ihnen dann alles, was für Sie in Sophienlust von Bedeutung ist. Und natürlich machen Nick und ich Sie auch mit unseren Kindern und unseren Tieren bekannt, damit Sie sich hier nicht wie eine Angestellte, sondern wie ein Familienmitglied fühlen.«

Emma schluckte gerührt. So herzlich hatte sie sich ihre Aufnahme in Sophienlust wahrlich nicht vorgestellt.

»Sie sind eine sehr erfolgreiche Kunststudentin, hat uns Ihre Tante Dora erzählt«, begann Denise, als sie und Emma sich schließlich im Biedermeierzimmer, das auch als Empfangszimmer genutzt wurde, gegenübersaßen.

Emma spürte, wie ihre Hände vor Aufregung schweißnass wurden.

Tante Dora schien wieder einmal aus dem Vollen geschöpft zu haben.

»Ja, ich bin Kunststudentin«, gab Emma zurück. »Aber so erfolgreich, wie meine Tante glaubt, bin ich mit Sicherheit nicht.«

»Nur keine falsche Bescheidenheit. Immerhin hat Ihr Professor Sie für die Restaurierungsarbeiten auf der Allgäuer Wolfsburg ausgewählt«, hielt Denise dagegen. »Und ich finde es im Übrigen bewundernswert, dass Sie, obwohl Sie Künstlerin sind, auch noch sehr gerne und gut kochen.«

Emma konnte ihren Herzschlag in den Schläfen pochen fühlen.

Ihre schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich Tante Doras Übertreibungen schienen sich zu bewahrheiten.

»Ja …, ja, ich koche gerne«, sagte sie. »Allerdings habe ich durch mein Studium leider nur sehr wenig Zeit für mein Hobby. Und deshalb bin ich … wahrscheinlich nicht sehr geübt und also vielleicht auch nicht so flink und so geschickt, wie ich es gerne wäre.«

Einen Moment lang glaubte Emma, auf Denises Zügen ein Schmunzeln wahrzunehmen, sagte sich dann aber, dass sie sich wohl getäuscht haben musste.

Immerhin hatte sie sich, wie sie fand, wacker herausgeredet.

»Das verstehe ich«, antwortete Denise denn auch prompt. »Wollen Sie später, nach Beendigung Ihres Studiums, Restauratorin werden? Oder Malerin? Oder Zeichenlehrerin?«

Schon wollte Emma antworten, dass Zeichenlehrerin wohl eher nicht infrage käme, besann sich aber gerade noch rechtzeitig eines Besseren. »Ich …, ich bin mir noch nicht sicher«, gab sie ausweichend zurück. »Ich glaube, ich muss noch einiges an Erfahrungen sammeln, um herauszufinden, was mir am besten liegt.«

»Dann wird dieser Sommer Sie mit Sicherheit ein großes Stück weiterbringen«, meinte Nick. »Auf der Wolfsburg können Sie sich als Restauratorin versuchen, zur freien künstlerischen Betätigung bleibt Ihnen, zumindest solange Sie hier in Sophienlust sind, mit Sicherheit genügend Zeit, und als Zeichenlehrerin können Sie sich bei uns ebenfalls ausprobieren. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie die Kinder hin und wieder ein bisschen zum Malen und Zeichnen animieren würden.«

»Mit Vergnügen«, antwortete Emma, auch wenn sie dabei ein flaues Gefühl in der Magengrube und ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Notlüge hatte.

»Wunderbar.« Denise erhob sich. »Ich schlage vor, Nick und ich zeigen Ihnen nun als Erstes unseren Park.«

Emma nickte zustimmend.

Wenig später fand sie sich im weitläufigen Park von Sophienlust wieder, umringt von einer Gruppe von Kindern und von den beiden Hunden Anglos und Barri. Während Anglos sich in gebührendem Abstand hielt, fasste Barri spontan eine sehr innige Zuneigung zu Emma. Er drückte seine Sympathie aus, indem er sich eng an ihre Beine schmiegte und immer wieder versuchte, ihr die Hände zu lecken.

Trotz dieser Liebesbeweise brauchte Emma eine geraume Weile, bis sie es wagte, vorsichtig über sein weiches Rückenfell zu streicheln.

»Du kannst ihn auch am Kopf kraulen. Das mag er nämlich sehr gerne«, schlug die 7-jährige Heidi vor. »Am liebsten ist es ihm hinter den Ohren. Schau, das macht man so.« Heidi wühlte mit ihren Fingern in den langen dichten Haaren hinter Barris Ohren. »Komm, mach es mir einfach nach«, forderte sie die immer noch zögernde Emma auf. »Barri tut dir ganz bestimmt nichts. Er hat dich lieb.«

Langsam und jeden Moment zum Rückzug bereit, berührte Emma mit spitzen Fingern Barris Kopf.

»Du darfst Barri ruhig fester anfassen«, sagte Heidi. »Oder magst du keine Hunde?«

»Doch, natürlich mag ich Hunde. Aber ich habe ein bisschen Angst vor ihnen, weißt du«, erklärte Emma.

»Hast du denn noch nie selber einen Hund gehabt?«, wunderte sich Heidi.

Emma schüttelte den Kopf. »Nein, noch nie. Ich bin in München aufgewachsen, weißt du. Mitten in der Großstadt«, berichtete sie. »In einer winzigen Mietwohnung. Da durften meine Mama und ich keinen Hund halten.«

Über das Gesicht der Siebenjährigen flog ein Schatten des Bedauerns. »Und auch kein Pferd?«, fragte sie mitfühlend.

Emma fiel es schwer, das Lachen zu unterdrücken. »Nein, leider auch kein Pferd«, antwortete sie.

»Du Arme«, meinte Heidi treuherzig. »Da hast du es aber bisher gar nicht schön gehabt. Das tut mir leid. Sei froh, dass du jetzt hier bei uns in Sophienlust bist. Wir haben Hunde und Pferde und Ponys. Und in Bachenau gibt es das Tierheim ›Waldi & Co‹, das auch das ›Heim der glücklichen Tiere‹ genannt wird. Da leben ganz viele Tiere, Fridolin, der Esel, und Balduin, das Lama. Und noch viele andere. Wir besuchen die Tiere mindestens einmal in der Woche. Wenn wir das nächste Mal nach Bachenau fahren, musst du unbedingt mitkommen und dir alle Tiere anschauen.«

»Ja. Ja, das mache ich ganz bestimmt«, versprach Emma. Obwohl sie sich nie besonders für Tiere interessiert hatte, brachte sie es nicht übers Herz, Heidi zu enttäuschen.

»Super. Das wird cool«, freute sich die Kleine denn auch prompt.

Sie klatschte in die Hände und winkte Emma gemeinsam mit den anderen Kindern nach, als Emma, gefolgt von Barri, mit Nick und Denise weiterging, um noch den Pavillon und die Ställe mit den Pferden und Ponys anzuschauen.

»Und jetzt zeige ich Ihnen zu guter Letzt noch Ihr Zimmer, Emma«, sagte Denise, als die Runde schließlich beendet war und sie wieder zum Kinderheim zurückkehrten. »Dann können Sie sich ein bisschen frisch machen, ehe ich Sie zu Magda in die Küche bringe. Dort wird Magda die Einweisung übernehmen. Vielleicht können wir mit ein bisschen Glück zum Mittagessen bereits die erste Probe Ihrer Kochkunst genießen.«

*

»Das …, das ist ja wirklich Anglos. Er sieht auf dem Bild ganz genauso aus wie in echt. Er hat denselben Blick. Und sogar der dunkle, rautenförmige Fleck auf der Stirn stimmt.« Fabian Schöller starrte auf das Blatt Papier, auf dem Emma mit Zeichenkohle Anglos’ Kopf festgehalten hatte, und konnte sich vor Staunen kaum fassen. »Wie hast du das nur gemacht, Emma? So etwas könnte ich nie.«

»Das ist gar nicht so schwer«, erwiderte Emma. »Allerdings braucht man ein bisschen Übung. Und auch Geduld. Man darf sich nicht entmutigen lassen, wenn beim ersten Versuch, einen Hund zu zeichnen, das Ergebnis eher einem Schwein oder einem Esel ähnelt. Dann macht man eben einen zweiten und einen dritten und einen vierten Versuch. Und irgendwann klappt es.«

»Meinst du?«, zweifelte Fabian. »Bei mir wird es bestimmt nie ein Hund. Und schon gar nicht Anglos. Selbst wenn ich es hundert Mal oder noch öfter versuche.«

»Ich schenke dir das Bild, wenn du möchtest«, bot Emma an.

Fabian wandte sich ihr zu, Mund und Augen weit aufgerissen. »Du schenkst es mir? Wirklich?«, vergewisserte er sich. »Das …, das ist das schönste Geschenk, das ich seit Langem bekommen habe. Ich werde das Bild in meinem Zimmer über mein Bett hängen.«

Fabian hielt das Bild ein Stück von sich ab, um es noch einmal eingehend zu betrachten und mit dem echten Anglos, der zu seinen Füßen lag, zu vergleichen, dann drückte er das Bild an sich wie einen kostbaren Schatz, von dem er nie mehr lassen wollte. Einen Moment später rannte er, Anglos’ Porträt immer noch an sich gepresst, davon in Richtung Sophienlust, um sein Geschenk in seinem Zimmer in Sicherheit zu bringen. Anglos sprang in großen Sätzen hinter seinem jungen Herrn her.

Emma lehnte sich an den Stamm einer der alten Buchen im Park von Sophienlust und schaute Fabian und Anglos nach.

Sie konnte es kaum fassen, dass sie nun schon seit vier Wochen in Sophienlust war. Noch nie in ihrem bisherigen Leben schien ihr die Zeit so schnell vergangen zu sein. Und schon seit Ewigkeiten war sie nicht mehr so rundum glücklich gewesen.

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen erinnerte sie sich an ihren ersten und gottlob einzigen groben Fauxpas in Magdas Küche.

Es hatte Pfannkuchen mit Apfelkompott gegeben, ein Gericht, das die Kinder liebten. Leider hatte sie beim Zubereiten des Apfelkompotts Salz und Zucker verwechselt. Ihr Fehler war ihr allerdings erst bewusst geworden, als Magda beim Probieren das Gesicht verzogen hatte, als hätte sie plötzlich schreckliche Zahnschmerzen. Sie, Emma, hatte sich furchtbar geschämt und war in Erwartung eines Strafgerichts, vielleicht sogar einer fristlosen Entlassung, in Tränen ausgebrochen, aber zu ihrer Überraschung war Magda, als sie sich wieder gefasst hatte, ganz ruhig geblieben. Sie hatte ihr erklärt, dass so etwas jedem einmal passieren könnte und es halb so schlimm wäre. Weil für ein neues Apfelkompott keine Äpfel mehr im Haus waren, hatte sie ihr kurz entschlossen ein handgeschriebenes Rezept gegeben und ihr aufgetragen, Zitronencreme zu machen.

Die Kinder hatten nicht das Geringste bemerkt, sondern sich beim Mittagessen mit Begeisterung über die Pfannkuchen mit Zitronencreme hergemacht.

Magda hatte sich über den gesegneten Appetit der Kinder gefreut.

Und sie hatte ihr lediglich verschwörerisch zugeblinzelt und weder den Kindern noch Denise gegenüber ein Sterbenswörtchen von ihrem gemeinsamen Geheimnis preisgegeben.

Emma streckte sich, bis auch ihr Kopf den Stamm der Buche berührte und fasste hinter sich, um die raue Rinde des Baums an ihren Handflächen zu fühlen.

Obwohl sie im Grunde immer noch ein Großstadtmensch war, war ihr die Natur durch den wundervollen Park von Sophienlust inzwischen sehr viel nähergekommen.

Auch ihre Angst vor Hunden hatte Emma, dank Barris Freundschaft, inzwischen abgelegt. Nicht einmal vor Pferden fürchtete sie sich mehr, auch wenn sie nach wie vor zögerte, Nicks Angebot, ihr Reitunterricht zu erteilen, anzunehmen.

Und im Tierheim ›Waldi & Co‹, zu dem sie die Kinder jede Woche getreulich begleitet hatte, hatte sie sich allen Ernstes in einen jungen schwarzen Schäferhund namens Wido verliebt, den sie auf einem Ölbild festgehalten hatte.

Mit Abstand das Beste an ihrem Ferienjob waren und blieben jedoch die Kinder.

Verwundert über sich selbst schüttelte Emma den Kopf.

Wenn ihr ihre Freundin Lisa vor vier Wochen erzählt hätte, wie viel Freude sie an den Sophienluster Kindern haben und wie sehr sie sie in ihr Herz schließen würde, hätte sie Lisa rundweg ausgelacht und für komplett verrückt erklärt. Nicht in ihren absurdesten Träumen hätte sie sich vorstellen können …

»Emma, da bist du ja. Ich habe dich überall gesucht«, riss Pünktchen Emma aus ihren Gedanken.

Emma stieß sich vom Baumstamm ab und ging ein paar Schritte auf Pünktchen zu. »Was gibt es denn?«, wollte sie wissen.

»Wir sind im Pavillon. Kommst du mit?«, antwortete das Mädchen mit einer Gegenfrage.

»Und wer ist wir?«

»Ich, die Heidi, Kim, Vicky und Angelika. Und die kleine Sonja, die in Sophienlust bleibt, bis ihre Mama wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird. Wir haben unsere Zeichenblöcke von der Schule dabei, und wir haben jede Menge bunter Filzstifte.«

»Heißt das, ihr wollt malen?«

»Genau. Und wir möchten, dass du uns ein paar Tipps gibst, damit unsere Bilder besser gelingen. Machst du das?«

Emma nickte. »Warum nicht?«, meinte sie.

»Du kommst also wirklich mit? Jetzt gleich?«

»Klar«, versicherte Emma und folgte Pünktchen, die voller Eifer vorauslief, in Richtung Pavillon.

Nach ein paar Metern blieb Pünktchen plötzlich stehen und wartete, bis Emma aufgeholt hatte. Groß und ernst richtete Pünktchen ihre Augen auf Emma. »Ist es eigentlich wahr, dass du Sophienlust schon bald wieder verlässt?«, wollte sie wissen. Sie zögerte einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Ich …, ich wollte nicht lauschen. Wirklich nicht. Ich wollte nur zu Nick, weißt du. Aber er hat gerade mit Denise geredet, und da habe ich zufällig mitgehört. Nur ganz zufällig, großes Ehrenwort. Die beiden haben davon gesprochen, dass du schon in zwei Wochen nicht mehr bei uns sein wirst, Emma. Stimmt das nun oder stimmt es nicht?«

Eine seltsame Beklommenheit machte Emma das Herz schwer, und sie begriff mit einem Mal, dass es Abschiedswehmut war, die sie spürte. Und dass sie eigentlich gar nicht fortwollte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten die kommenden zwei Wochen liebend gerne zwei Monate oder zwei Jahre dauern können.

Sie seufzte leise.

»Ja, es stimmt«, sagte sie schließlich kaum hörbar.

»Und du kommst nicht wieder nach Sophienlust zurück? Nie mehr?«

»Das …, das … Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?«, verteidigte sich Emma. »Niemand von uns kann vorab sagen, wohin der Wind des Schicksals ihn letztendlich treibt.«

»Aber …« Pünktchen wusste nicht so recht, wie sie sich ausdrücken sollte. »Aber du hast doch, egal wo du später arbeitest, irgendwann einmal Urlaub. Alle Menschen haben schließlich Urlaub«, sagte sie nach einem Moment des Nachdenkens.

»Natürlich habe ich …«

»Verflixt, Pünktchen! Wo bleibst du denn? Hast du Emma nun gefunden oder …« Auch Vicki Langenbach, die, ebenfalls auf der Suche nach Pünktchen, den Pavillon verlassen hatte und quer durch den Park gelaufen war, verstummte abrupt.

Als sie Pünktchen und Emma beieinanderstehen sah, fühlte sie mit feinen Sinnen, dass ein Hauch von Traurigkeit in der Luft lag.

»Emma geht fort«, sagte Pünktchen, unfähig, die bedrückende Neuigkeit für sich zu behalten.

»Wirklich? Heute schon? Wirst du also nicht mehr mit uns malen?«, erkundigte sich Vicki.

»Ich verlasse Sophienlust doch nicht schon heute«, gab Emma zurück, die sich mittlerweile wieder gefasst hatte. »Und natürlich malen wir jetzt erst einmal zusammen. Dabei erzähle ich euch dann in aller Ausführlichkeit, wohin ich in zwei Wochen gehe und was ich dort mache.« Emma zögerte einen Moment, doch als sie in die immer noch niedergeschlagenen Gesichter von Pünktchen und Vicky blickte, fügte sie spontan hinzu: »Ich gehe für eine Weile auf eine große alte Burg im Allgäu. Und ihr dürft mich dort besuchen. Na, ist das ein Angebot nach eurem Geschmack?«

Vicky und Pünktchen schauten sich überrascht an, und ihre Augen begannen wieder zu strahlen.

»Nur wir beide oder alle Kinder aus Sophienlust?«, wollte Pünktchen wissen.

Emma wurde von einer Sekunde auf die andere klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

Wie hatte sie nur auf die unselige Idee kommen können, praktisch eine Einladung auf die Wolfsburg auszusprechen? Wenn nun Professor Haberland dagegen war? Und wenn der Fürst von Wolfsburg-Zell ebenfalls nicht bereit war, den Besuch der Kinder zu erlauben?

Vor allem Letzteres erschien Emma mit einem Mal sehr wahrscheinlich. Mit Sicherheit würde der Fürst sie nicht einmal zu sich vorlassen, sodass sie ihm ihre Bitte gar nicht erst vortragen konnte.

Emma kaute auf ihrer Unterlippe herum, ärgerlich über sich selbst. In was für eine unmögliche Situation hatte sie sich da bloß hineingeritten!

Aber jetzt einen Rückzieher machen – nein, das ging auch nicht. Vielleicht konnte sie ihre Zusage später widerrufen oder zumindest abmildern.

»Natürlich alle Kinder aus Sophienlust«, hörte sie sich sagen, wobei ihr die eigene Stimme fremd in den Ohren klang. »Zumindest alle, die …«

Weiter kam Emma nicht, denn Vicky und Pünktchen rannten bereits wie von der Tarantel gestochen davon in Richtung Pavillon, um die Neuigkeit sofort mit den anderen zu teilen.

*

Der Wind peitschte den Regen gegen die Fenster des Aufenthaltsraums von Sophienlust. Immer wieder zuckten grelle Blitze vom Himmel, gefolgt von dumpf rollendem Donner.

Das heftige Sommergewitter hatte den geplanten Ausflug der Kinder zum Waldsee im wahrsten Sinn des Wortes ins Wasser fallen lassen. Stattdessen saßen sie nun bei einem Eis und Keksen zusammen und bestürmten Emma, die sich nach dem Herrichten und Auftragen der Köstlichkeiten zu ihnen gesellt hatte, mit ihren Fragen.

Natürlich ging es wieder einmal um den Besuch auf der Wolfsburg, der den Kindern nicht mehr aus dem Kopf ging. Zumal der Tag von Emmas Abreise unerbittlich näher rückte.

»Gibt es in den Wäldern um die Wolfsburg herum wirklich Wölfe?«, wollte Martin Felder wissen. »Ich meine, richtig freilebende? Oder ist dort nur eine Art Wolfspark, wo man die Wölfe in großen, im Wald angelegten Gehegen anschauen kann?«

»Ich …, ich bin mir nicht sicher«, stotterte Emma. »Vielleicht … gibt es dort auch gar keine Wölfe. Vielleicht heißt die Burg nur so, weil es dort früher einmal Wölfe gab. Im Mittelalter zum Beispiel.«

»Bestimmt. Ich will nämlich nicht, dass es dort immer noch Wölfe gibt, wenn wir dich besuchen, Emma. Vor Wölfen habe ich eine Heidenangst«, ließ sich Angelika vernehmen. »Sie heulen so schaurig. Ich habe einmal einen Film gesehen, in dem Wölfe vorkamen. Jedes Mal, wenn sie geheult haben, habe ich am ganzen Körper Gänsehaut bekommen.«

»Weil du ein Angsthase bist. Ich finde Wolfsgeheul schön«, erklärte Martin Felder. »Es ist ein gemeinsamer Gesang, eine Art Chor, der die Zusammengehörigkeit im Rudel stärkt. Und jedes Rudel hat dabei seine eigenen, ganz besonderen Lieder.«

Angelika verdrehte die Augen. »Du weißt wohl alles über Tiere«, bemerkte sie, verärgert über die Bezeichnung ›Angsthase‹. »Du weißt Bescheid, egal, ob es sich um Wölfe, Spinnen oder Elefanten handelt. Willst du dir später, wenn du eine Tierarztpraxis hast, vielleicht einen eigenen Wolf halten? Oder auch zwei?«

»Nicht nur Wölfe heulen, sondern auch Geister«, warf ihre Schwester Vicky ein, noch ehe Martin etwas hätte erwidern können. »Und Geister heulen sogar noch viel schauriger. Sie machen nachts Huhuhu und fliegen dabei herum.«

»Huhuhu machen höchstens Eulen«, belehrte sie Martin. »Und weil Eulen bevorzugt nachts herumfliegen, halten Menschen, die das nicht wissen, sie für Geister.«

»Nein. Das stimmt nun wirklich überhaupt nicht. Eulen sind Eulen, und Geister sind Geister«, widersprach Angelika. »Da ist ein großer Unterschied. Eulen sind nämlich einfach nur Tiere, aber Geister sind tote Menschen, die um Mitternacht für eine Stunde aus dem Grab kommen dürfen, um …«

Ein mahnender Blick aus Nicks dunklen Augen ließ das Mädchen mitten im Satz verstummen. »Tote Menschen, die um Mitternacht aus dem Grab kommen, gibt es nur in schlechten Filmen und schlechten Büchern«, belehrte er Angelika. »Und außerdem finde ich es vorerst gar nicht so wichtig, herauszufinden, was es auf dieser Wolfsburg gibt oder nicht gibt. Auch wenn Emma euch versprochen hat, dass ihr sie dort besuchen dürft, ist es noch lange nicht sicher. Sollte der Fürst es nicht erlauben, ist die Burgbesichtigung leider gestrichen. Dann müsst ihr euch mit einem Ausflug ins Allgäu zum Bergwandern begnügen, auf dem Emma euch begleitet.«

»Der Fürst?«, hakte Heidi sofort nach, obwohl sie den Mund noch voller Kekse hatte. »Auf dieser Burg gibt es einen Fürsten? Ist ein Fürst so etwas Ähnliches wie ein König?«

»So etwas Ähnliches, ja«, stimmte Emma zu.

Heidi leckte sich ein paar Kekskrümel von der Oberlippe. »Dann trägt der Fürst auf der Wolfsburg also genau wie ein König den ganzen Tag eine goldene Krone?«, ließ sie nicht locker. »Sogar wenn er ein Eis und selbst gebackene Kekse isst, wie wir gerade eben? Und trägt er die Krone auch, wenn es regnet und der Wind geht?« Heidis Wangen färbten sich ganz rot vor Aufregung. »Klebt er die Krone bei einem Gewitter fest, damit er sie nicht verliert und der Sturm sie fortweht? Und was macht er nachts im Bett mit der Krone? Legt er sie auf seinem Nachttischchen ab? Oder muss er im Sitzen schlafen, damit er die Krone aufbehalten kann?«

Emma konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. »Ich glaube nicht, dass ein Fürst oder ein König seine Krone auch im Alltag trägt«, meinte sie. »Er trägt sie wahrscheinlich nur zu besonderen Anlässen.«

Heidi griff nachdenklich nach einem weiteren Keks. »Ach so. Und was ist für einen Fürsten ein besonderer Anlass?«, wollte sie wissen. »Wenn er in den Zirkus geht, um sich die Clowns anzuschauen? Oder wenn er einen Besuch im Zoo macht?«

»Beides könnte ich mir sehr gut vorstellen«, amüsierte sich Emma, während Nick hinter vorgehaltener Hand lachte.

»Hat der Fürst auch eine Frau?«, kam indessen bereits die nächste Frage, diesmal von der kleinen Sonja.

»Davon gehe ich aus«, gab Emma zurück. »Warum sollte ein Fürst keine Frau haben?«

»Und hat er auch Kinder?«, bohrte Sonja sofort weiter. »Und sind seine Kinder wirklich richtige Prinzen und Prinzessinnen?«

Emma nickte zustimmend. »Ja, seine Kinder sind richtige Prinzen und Prinzessinnen.«

»Prinzen und Prinzessinnen«, wiederholte Sonja beinahe ehrfürchtig. »Darf ich eigentlich auch mit auf die Wolfsburg?«

Emma nickte wieder. »Wenn deine Mama dann noch immer nicht gesund ist und du also noch bei uns in Sophienlust bist – natürlich.«

»Und wenn ich nicht mehr in Sophienlust bin? Darf ich dann trotzdem mit? Und meine Mama, wenn sie schon wieder gesund ist, auch?«, wollte Sonja wissen. »Meine Mama hat mir, ehe sie ins Krankenhaus gekommen ist, vor dem Einschlafen nämlich immer Märchen vorgelesen. Von Prinzen und Prinzessinnen. Von der Prinzessin auf der Erbse, zum Beispiel. Und von Prinz Eisenherz. Und vom Froschkönig. Bestimmt würde meine Mama sich freuen, die ganzen Geschichten einmal in echt zu sehen.«

Emma bückte sich und zog die Schnürung ihrer Turnschuhe fester, um ihr Lachen vor den Kindern zu verbergen.

»Diese Märchen sind …«, begann sie, als sie sich wieder gefasst hatte, wurde aber sofort von Fabian Schöller unterbrochen:

»Diese Märchen sind Mädchenkram«, fiel er Emma ins Wort und bedachte Sonja mit einem beinahe mitleidigen Blick. »In alten Gemäuern wie der Wolfsburg gibt es außer Prinzen und Prinzessinnen noch ganz andere Dinge, die im Übrigen sowieso viel interessanter und spannender sind.«

»Ach ja? Und was für Dinge sind das?«, erkundigte sich Nicks Halbbruder Henrik, der sich soeben den dritten Nachschlag Eis geholt hatte.

»Verliese zum Beispiel«, antwortete Fabian. »In diese Verliese wurden im Mittelalter die in der Schlacht besiegten gegnerischen Ritter geworfen. Oder verurteilte Verbrecher wie Mörder und Diebe. Es war dort schrecklich langweilig. Und außerdem gab es kein Tageslicht und nur sehr wenig zu essen. Dafür liefen jede Menge Ratten, Spinnen und Mäuse herum.«

»Igitt«, stieß Angelika hervor und schüttelte sich vor Ekel.

»Alte Burgen haben auch einen Burggraben«, fuhr Fabian ungerührt fort. »Das ist ein Wassergraben, der sich rund um die Burg zieht. Er verhindert, dass eingebrochen wird.«

»Quatsch«, widersprach Pünktchen, die inzwischen, genau wie Henrik, bereits bei der dritten Portion Eis angelangt war. »Ein Wassergraben verhindert mit Sicherheit keinen Einbruch. Schließlich kann man ihn ganz leicht durchschwimmen. Und wenn die mittelalterlichen Einbrecher zu Pferd waren, weil es damals ja noch keine Autos gab, brauchten sie nicht einmal zu schwimmen. Dann haben das die Pferde für sie erledigt, und die Einbrecher saßen faul im Sattel und bekamen höchstens ein bisschen nasse Füße.«

Fabian verdrehte die Augen. »So ein Blödsinn. Der Wassergraben war im Mittelalter ein unüberwindliches Hindernis. Weder Mensch noch Tier konnte ihn ohne Gefahr für Leib und Leben durchqueren, weil nämlich Dutzende von Krokodilen darin herumschwammen und hungrig und mit weit aufgesperrten Mäulern auf Fleisch warteten. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass so ein Burggraben auch heute noch voll von Krokodilen ist und deshalb besser vor Einbrechern schützt als jede moderne Alarmanlage.«

»Jetzt übertreibst du aber gewaltig, Fabian«, wehrte sich Pünktchen, obwohl ihr deutlich anzumerken war, dass der Gedanke an die Krokodile ihr nicht ganz geheuer war. »Willst du uns am Ende gar glauben machen, dass es auf der Wolfsburg auch feuerspeiende Drachen gibt?«

Einen Moment lang wurde Fabian unsicher, fing sich aber sofort wieder. »Drachen gibt es in der heutigen Zeit natürlich nicht mehr«, räumte er ein, »aber im Mittelalter waren sie Gang und Gäbe. Ich kenne ein Computerspiel von einer mittelalterlichen Burg, in dem man riesige Drachen besiegen muss. Wenn man es schafft, bekommt man dafür bunte Edelsteine als Belohnung, für die man rund um die Burg Land erwerben, Häuser bauen und ein Dorf gründen kann.«

Denise, die soeben den Aufenthaltsraum betrat und Fabians Erklärung gehört hatte, zog unwillig die Augenbrauen hoch, weil sich ihre Begeisterung für Computerspiele in Grenzen hielt. Mit einer raschen Handbewegung verschaffte sie sich Aufmerksamkeit. »Burgen und Schlösser, Drachen und Krokodile sind ja gut und schön«, meinte sie, »aber habt ihr in der vergangenen halben Stunde eigentlich auch nur einen einzigen Blick aus dem Fenster geworfen?«

Alle Köpfe drehten sich gleichzeitig der Fensterfront des Aufenthaltsraums zu.

Draußen lachte bereits wieder die Sonne, und das Gewitter war vorüber.

»Wir können ins Freie. Der Wind und der Regen haben endlich aufgehört«, jubelte Pünktchen. »Vielleicht kann der Ausflug zum Waldsee doch noch stattfinden!«

Denise schaute auf ihre Armbanduhr und wandte sich, nachdem sie einen fragenden Blick mit Nick getauscht hatte, wieder den Kindern zu. »Es ist schon fast fünf Uhr nachmittags«, meinte sie. »Ich fürchte, für den Waldsee ist es jetzt zu spät. Schließlich soll der Rückweg keine Nachtwanderung werden.«

»Das sehe ich auch so«, pflichtete Nick seiner Mutter bei. »Aber wie wäre es stattdessen mit einem Besuch auf unserer Pferdekoppel? Unsere Pferde und vor allem das gefräßige Pummel-Pony Sancho würden sich über ein paar Karotten und Äpfel und auch über ein paar Streicheleinheiten mit Sicherheit sehr freuen.«

»Ja. Das ist ein Super-Vorschlag«, kam es sofort von Martin. »Wer kommt mit zur Pferdekoppel?«

Fast alle Finger schossen in die Höhe, nur Heidi, Kim und Sonja zeigten sich nicht sonderlich begeistert.

»Wollt ihr lieber auf unseren Spielplatz im Park?«, erkundigte sich Emma und erbot sich, als die drei eifrig nickten, sofort bereitwillig als Begleitung.

Denise war überrascht. »Sie wollen wirklich Ihre Freizeit opfern, Emma?«, erkundigte sie sich. »Zwei ganze Stunden bis zum Abendessen, die Sie für sich privat nutzen, sich ausruhen oder ein Bild malen könnten?«

»Kein Problem«, erwiderte Emma, ohne auch nur eine Sekunde lang zu überlegen.

Fröhlich und beschwingten Schrittes lief sie wenig später, Kim im Schlepptau, Heidi und Sonja rechts und links von ihr gehend, in Richtung Spielplatz.

Kim rannte, als sie den Spielplatz erreicht hatten, sofort auf das hölzerne Klettergerüst zu, Heidi auf eine der Schaukeln. Emma machte es sich auf der Reifenschaukel bequem, stieß sich ab und scharrte, da sie als Erwachsene zu groß für die Reifenschaukel war, mit ihren Füßen im Kies.

»Möchtest du zu mir auf den Reifen kommen?«, fragte sie die kleine Sonja, als sie sah, dass das Mädchen noch unschlüssig vor den Spielgeräten stand und nicht wusste, wohin es sich wenden sollte.

Sonja zögerte einen Moment, dann nickte sie, sprang zu Emma auf die Reifenschaukel und rückte ganz dicht an sie heran. »Ist es wahr, was Angelika vorhin gesagt hat?«, fragte sie plötzlich. »Ich meine, das mit den Geistern? Glaubst du, dass es auf der Wolfsburg wirklich Geister gibt, die nachts ihr Unwesen treiben?«

»Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, erwiderte Emma wahrheitsgemäß. »Böse Geister gibt es nicht.«

»Das beruhigt mich. In den Märchen, die meine Mama mir vorgelesen hat, gab es sie nämlich auch nicht. Stattdessen tauchten manchmal gute Geister auf«, wusste Sonja. »Feen zum Beispiel, die einem einen Herzenswunsch erfüllen.«

»Feen gibt es«, nickte Emma. »Da hast du recht. Und es gibt auch Engel, die einen beschützen, wenn man in Gefahr ist. Und manchmal erfüllen sie ebenfalls Wünsche, genau wie die Feen.«

»Das gefällt mir«, meinte Sonja.

»Mir auch.« Lächelnd erhob sich Emma von der Schaukel und setzte Sonja in die Mitte des Reifens. »Und jetzt gebe ich der Reifenschaukel einen kräftigen Schubs«, kündigte sie an. »Dann kannst du fliegen, als ob auch du eine Fee oder ein Engel wärst, Sonja.«

Keine zwei Minuten später krähte Sonja vor Vergnügen, als sie mit Emmas Hilfe hoch in die Luft flog. Auch Heidi hatte mit ihrer Schaukel schon eine beachtliche Höhe erreicht. Und Kim stieß einen lauten Triumphschrei aus, als er es bis zum obersten Punkt des Klettergerüsts geschafft hatte.

Emma klatschte ihm Beifall und fragte sich dann, was sie sich wünschen würde, wenn auch zu ihr eine gute Fee oder ein Engel käme und ihr einen oder mehrere Wünsche zubilligen würde.

Dass sie immer noch malen wollte, stand fest. Aber da war inzwischen noch viel mehr. Sie wollte auch Kinder um sich haben. Und sie wollte am liebsten in ihrem ganzen Leben diese familiäre Geborgenheit spüren, die sie in den wenigen Wochen in Sophienlust kennen und schätzen gelernt hatte.

*

Idyllische Dörfer mit Holzhäusern und geranienbestückten Balkonen, saftige Weiden mit gemütlich grasenden, braunen und schwarz-weiß gefleckten Kühen, ein munter dahinplätscherndes, sich in einen kleinen See ergießendes Bächlein, grüne Hügel und, in einiger Entfernung, zackige Bergriesen mit steil emporragenden Felsgipfeln. Und zwischen allem das graue Band der Landstraße, die sich kurvenreich durch die Allgäuer Voralpenlandschaft schlängelte …

Emma genoss die abwechslungsreiche Fahrt.

Sie merkte nicht, wie die Zeit verging, und war überrascht, als plötzlich auf einem sich hoch über die Landschaft erhebenden, dicht bewaldeten Hügel das imposante Gebäude der Wolfsburg in Sicht kam. Majestätisch und herrschaftlich thronte es dort wie ein Adlerhorst.

Die Zufahrt zum Schloss bestand aus einem Sträßchen, das nach etlichen hundert Metern in den Wald abbog und sich, von hohen Bäumen gesäumt, in serpentinenähnlichen Kurven emporschraubte. Die Kurven wollten einfach nicht enden, und Emma glaubte schon, sich verfahren zu haben, als sich der Wald endlich lichtete und die Wolfsburg vor ihr lag.

Im ersten Moment fühlte Emma fast so etwas wie Erschrecken.

Aus der Nähe besehen war die Burg riesig.

Der Kontrast zu dem wesentlich kleineren, dafür aber ungleich freundlicher wirkenden Schlösschen von Sophienlust hätte nicht größer sein können.

Ob sie sich hier überhaupt wohlfühlen würde? Ob es ihr auf der Wolfsburg auch nur annähernd so gut gefallen würde wie in Sophienlust?

Emma zweifelte daran, rief sich allerdings rasch zur Ordnung.

Sie war hier nicht zum Vergnügen. Es ging schließlich nicht darum, auf der Wolfsburg heimisch zu werden, sondern sie hatte hier eine Aufgabe zu erfüllen, die von Wichtigkeit für ihr weiteres Studium und für ihre ganze spätere Karriere sein konnte.

Trotzdem erinnerte sich Emma, als sie auf dem Platz vor der Burg aus ihrem Auto stieg, spontan wieder an ihre Ankunft in Sophienlust. Ob die fürstliche Familie sie genauso freundlich empfangen würde, wie es Denise von Schoenecker und ihr Sohn Nick getan hatten?

Zögernd bewegte Emma sich auf das Gebäude zu.

Nein, es gab keinen Burggraben mit Krokodilen, wie Fabian Schöller vermutet hatte. Und auch keine abweisend hochgezogene Zugbrücke, wie sie selbst es schon des Öfteren auf Bildern von alten Burgen gesehen hatte.

Stattdessen stand Emma nach wenigen Schritten vor einer hölzernen, von einer weißen Kletterrose umwucherten portalartigen Eingangstür, aus der zu ihrem Empfang allerdings nicht der Fürst höchstpersönlich trat, sondern die vertraute Gestalt von Professor Haberland.

Er trug über einer verwaschenen, ausgeblichenen Jeans einen alten grauen, von oben bis unten mit Farbe bekleckerten Kittel, was Emma vermuten ließ, dass er bereits vor dem vereinbarten Termin angereist war und schon mit der Arbeit begonnen hatte.

Emmas schlechtes Gewissen meldete sich mit Macht. Glühend heiß fiel ihr plötzlich ein, dass sie sich bis jetzt nur sehr unzureichend über die Aufgabe informiert hatte, bei der sie Professor Haberland in den kommenden Wochen unterstützen sollte.

Dabei hatte sie sich ernsthaft vorgenommen, während ihrer Zeit in Sophienlust umfangreiche Recherchen über die Kunstschätze anzustellen, die die Wolfsburg beherbergte, und sich vor allem aufs Genaueste über die Gemälde zu informieren, die bei dem Brand im Ostflügel zu Schaden gekommen waren und nun einer gründlichen Wiederherstellung bedurften.

Auch über die fürstliche Familie hatte sie alles Wissenswerte in Erfahrung bringen wollen, um während ihres Aufenthalts auf der Wolfsburg nicht unbeabsichtigt in ein Fettnäpfchen zu treten und einen groben Fauxpas zu begehen.

Leider hatte sie so gut wie gar nichts von all diesen Vorhaben realisiert.

Waren ihre Tage in Sophienlust wirklich so randvoll ausgefüllt gewesen, dass sie ihre übliche Gewissenhaftigkeit, die Professor Haberland so sehr an ihr schätzte, diesmal derart vernachlässigt hatte?

Oder waren ihr Magdas leckere Kochrezepte und vor allem die Kinder unbegreiflicherweise wichtiger gewesen als ihre künstlerischen Ambitionen und ihr Studium?

Mit Sicherheit würde Professor Haberland bodenlos enttäuscht von ihr sein, wenn er bemerkte, dass sie …

»Willkommen auf der Wolfsburg, Frau Hartwig. Ich freue mich auf Ihre künstlerische Unterstützung«, sagte der Professor in diesem Moment und beförderte Emma damit unvermittelt ins Hier und Jetzt zurück.

Emma brachte ein dünnes Lächeln zustande und wollte ebenfalls ein paar nette Begrüßungsworte sagen, doch Professor Haberland schien wieder einmal ganz von seiner Arbeit besessen und nicht zu Small Talk aufgelegt zu sein.

»Ich schlage vor, Frau Hartwig, dass wir uns gleich Ihrem Aufgabengebiet widmen«, drängte er. »Ich führe Sie unmittelbar in die Gemäldegalerie, die, wie ich mich überzeugen konnte, durch den Brand in der Tat sehr gelitten hat. Auf diese Weise sparen wir uns weitere Verzögerungen, sodass Sie sich noch heute Vormittag in die Arbeit stürzen können.«

Emma warf einen unsicheren Blick auf ihr Auto. »Ich habe zwar nicht besonders viel Gepäck«, begann sie, »doch …«

Der Professor ließ sie ihren Satz nicht zu Ende führen. »Wenig Gepäck ist immer gut«, lobte er. »Je geringer der Ballast, desto geringer der Aufwand. Das Auspacken kann somit getrost bis zum Feierabend warten.« Er nickte Emma zu und wies ihr mit dem ausgestreckten Arm den Weg ins Innere von Schloss Wolfsburg-Zell. »Sie werden im Übrigen hier auf dem Schloss übernachten, Frau Hartwig. Im Gästeflügel ist ein Zimmer für Sie hergerichtet, in das Sie Annegret, die Haushälterin des Fürsten, am Ende Ihres ersten Arbeitstages führen wird. Der Gästeflügel befindet sich auf der Südseite des Schlosses. Die Fenster Ihres Zimmers gehen auf den Schlossweiher hinaus und bieten einen ausgesprochen idyllischen Blick über das Dorf Bergenweiler.«

Emma nickte zerstreut. Ein wenig verwirrt von all den neuen Eindrücken folgte sie Professor Haberland, wobei sie angesichts seiner ausgreifenden Schritte Mühe hatte, mit ihm auf gleicher Höhe zu bleiben.

»Sind …, sind Sie auch im Gästeflügel untergebracht, Herr Professor?«, erkundigte sie sich schließlich, weil ihr der Gedanke, nach getaner Arbeit mit ihr völlig unbekannten Menschen in einem riesigen Schloss allein sein zu müssen, Unbehagen einflößte.

Der Professor schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er. »Mir wurde zwar ebenfalls ein Gästezimmer angeboten, aber ich habe dankend abgelehnt. Stattdessen habe ich mir für die Dauer meiner Tätigkeit eine kleine Ferienwohnung in Bergenweiler gemietet. Ich habe mich dort bereits mit meinen Büchern und meinem Computer häuslich eingerichtet. Das Dorfgasthaus liegt in unmittelbarer Nähe, sodass es mir, auch was die Mahlzeiten betrifft, nicht am Nötigsten fehlen wird.«

»Und …, und ich?«, wollte Emma wissen. »Soll ich ebenfalls im Dorfgasthaus essen oder …«

»Für Ihr leibliches Wohl wird im Schloss gesorgt«, versicherte Professor Haberland. »Kost und Logis sind sozusagen ein Teil Ihrer Bezahlung. Aber das wird Ihnen alles Annegret erklären.«

Mit für sein Alter von fast 60 Jahren erstaunlich flinken Füßen klomm der Professor, ohne sich noch einmal nach Emma umzusehen, eine weitere, mit einem roten Teppich belegte ausladende Treppe empor und durchquerte neuerlich einen der weitläufigen Flure, während Emma sich nach Kräften bemühte, mit ihm Schritt zu halten.

Zunehmend machte sich ein leicht brenzliger Geruch bemerkbar, und an den weiß getünchten Wänden zeigten sich immer mehr dunkle, verrußte Stellen, vermischt mit Löschwasserflecken.

»Das sind die Spuren des Brandes«, erläuterte Professor Haberland und öffnete plötzlich eine der seitlich vom Flur abgehenden Türen. »Voilà, die Gemäldegalerie«, sagte er mit einer leichten Verneigung, als gälte es, eine Person vorzustellen.

Emma trat ein und hielt unwillkürlich den Atem an, erschrocken und beinahe ehrfürchtig erstaunt zugleich.

Die Gemälde waren vom Feuer teils stark beschädigt, aber ihre ursprüngliche Schönheit war immer noch unschwer zu erahnen. Die Bandbreite der Sammlung erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte, umfasste Landschaftsbilder ebenso wie Stillleben, dazu zahlreiche Gemälde von Tieren und Porträts.

»Überwältigt?«, fragte Professor Haberland, als Emma nach mehreren Minuten immer noch staunend vor den Kunstwerken stand und ihre Blicke kaum mehr abwenden konnte.

»Und ob. Wie könnte man von so viel Schönheit nicht überwältigt sein«, erwiderte Emma nach einer Weile mit leiser Stimme.

Sie trat ein paar Schritte nach vorn und blieb vor einem Porträt stehen, das eine junge Frau zeigte. Trotz der Brandschäden war auf den ersten Blick zu erkennen, dass die junge Frau mit ihren klaren blauen Augen, ihrer hellen Haut und den glatten, pechschwarzen langen Haaren eine Schönheit war.

»Dieses Porträt ist übrigens neueren Datums«, erklärte Professor Haberland, als er Emmas Interesse bemerkte. »Der Künstler, der es gemalt hat, lebt noch. Silvio Andreotti, wenn Ihnen der Name etwas sagt. Das Gemälde stellt übrigens Katharina von Wolfsburg-Zell dar.«

Emma biss sich unsicher auf die Unterlippe, weil sie von einer Katharina von Wolfsburg-Zell noch nie gehört hatte, aber zu ihrer Erleichterung schien den Professor ihr fehlendes Wissen über die fürstliche Familie nicht im Geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil trat ein vergnügtes Schmunzeln auf seine Lippen.

»Wie ich Sie kenne, Frau Hartwig«, sagte er, »haben Sie in den vergangenen Wochen alles darangesetzt, sich sowohl über die Wolfsburg-Zell’sche Gemäldesammlung als auch über die Familie des Fürsten von Wolfsburg-Zell zu informieren.« Als Emma nur stumm und mit gesenktem Kopf dastand, redete er, immer noch schmunzelnd weiter: »Ihrem Schweigen entnehme ich, dass Sie dabei alles andere als erfolgreich waren.« Wieder machte der Professor eine kleine Pause. »Das liegt allerdings nicht an Ihnen. Es fehlt ganz einfach an den entsprechenden Informationen, denn die Wolfsburg-Zells sind eine Adelsfamilie, die nicht den geringsten Wert darauf legt, Woche für Woche in der Boulevardpresse und in sämtlichen einschlägigen Zeitschriften präsent zu sein. Sie gehören zu den selten gewordenen Adelsfamilien, deren Mitglieder sich nicht im Fernsehen in irgendwelchen Talkshows präsentieren, sondern ein stilles und abgeschirmtes, bewundernswert normales Leben führen.«

»Nun ist mir auf alle Fälle klar, weshalb ich über die Wolfsburg-Zells und ihr Schloss trotz meiner Bemühungen kaum etwas herausfinden konnte, Herr Professor.« Erleichtert hob Emma wieder ihren Kopf.

Professor Haberland nickte zufrieden. »Hier also ein kleines Update mit dem Notwendigsten, das Sie über die fürstliche Familie wissen sollten, Frau Hartwig«, erklärte er. »Der Besitzer der Wolfsburg mit all ihren Kunstschätzen und den zur Wolfsburg gehörigen weitläufigen Ländereien ist der schon seit vielen Jahren verwitwete Fürst Bernhard von Wolfsburg-Zell, ein noch sehr agiler und jung gebliebener Mann Ende Sechzig, der von Beruf Rechtsanwalt ist und in München eine ebenso erfolgreiche wie lukrative Kanzlei betreibt. Sein einziger Sohn, Hanno von Wolfsburg-Zell, der später sowohl den Fürstentitel als auch die Wolfsburg erben wird, ist Anfang dreißig. Er ist ebenfalls Rechtsanwalt und Partner seines Vaters in dessen Münchner Kanzlei. Auch Hanno von Wolfsburg-Zell ist bereits verwitwet, und zwar seit knapp drei Jahren. Seine Frau Katharina kam bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben.«

Unwillkürlich wanderten Emmas Blicke wieder zu dem Porträt, das sie zuvor bereits bewundert hatte. »Sie ist also schon tot?«, vergewisserte sie sich.

»Ja, sie ist tot. Hanno von Wolfsburg-Zell war lange Zeit untröstlich, aber inzwischen scheint er die Krise überwunden zu haben.«

»Und …, und gibt es Kinder aus Hannos und Katharinas Ehe?«, erkundigte sich Emma.

Professor Haberland nickte. »Ja. Es gibt zwei Kinder: Andreas und Elena.«

»Die beiden müssen noch sehr klein sein«, bemerkte Emma.

»In der Tat«, antwortete der Professor. »Der Junge ist acht Jahre alt, das Mädchen fünf.«

»Die armen Kinder, die nun ohne Mutter aufwachsen müssen«, brach es spontan aus Emma heraus. »Leben sie hier auf dem Schloss, oder leben sie in einem Heim?«

Professor Haberland bedachte Emma mit einem fragenden Blick. »Die Arbeit in diesem Sophienlust hat wohl Ihr Interesse für Kinder geweckt, Frau Hartwig«, stellte er fest. »Leider kann ich Ihre Neugier, was Andreas und Elena betrifft, nur sehr ungenügend befriedigen. Die beiden leben hier im Schloss, das ist aber auch schon alles, was mir bekannt ist. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass weder Sie noch ich die Kinder allzu häufig sehen werden. Andreas wird von einer Hauslehrerin unterrichtet, und normalerweise gibt es, vor allem Elenas wegen, auch noch ein Kindermädchen. Im Augenblick ist die Stelle des Kindermädchens allerdings vakant.«

Emma machte ein betretenes Gesicht.

Ob die beiden Kinder mit ihrem offenbar ziemlich einsamen Leben auf dem Schloss glücklich waren? Ob sie wenigstens einen Hund oder eine Katze hatten? Ob zumindest hin und wieder andere Kinder, vielleicht Söhne und Töchter von Freunden oder Verwandten der Wolfsburg-Zells zu Besuch kamen, um mit Andreas und Elena zu spielen oder gemeinsam mit ihnen etwas zu unternehmen? Ob Papa und Opa sich für die beiden Zeit nahmen, wenn sie schon weder Mutter noch Großmutter hatten? Oder gingen der alte Fürst und sein Sohn vollkommen in ihrer Arbeit für die Kanzlei auf?

Unwillkürlich musste Emma an die Kinder von Sophienlust denken.

Sie hatten Denise, sie hatten Nick. Sie hatten Tante Ma, Schwester Regine und Magda. Sie hatten ihre Schulkameraden und die vielen anderen Heimkinder, mit denen sie spielen, toben, lachen und Geburtstage feiern konnten. Sie hatten Pferde und Ponys. Sie hatten Barri und Anglos. Und die vielen Tiere im Tierheim ›Waldi & Co.‹ …

»Wenn Sie sich für Kinder interessieren, Frau Hartwig, kann ich Ihnen zum Einstieg in Ihre Arbeit hier auf dem Schloss zwei Bilder anbieten, die aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammen«, drang plötzlich Professor Haberlands Stimme wieder in Emmas Gedanken. »Sie zeigen die Urgroßeltern des Fürsten in deren Kindheit. Zum Glück sind die beiden Bilder nicht allzu stark beschädigt, sodass auch Sie als Anfängerin Ihre Fähigkeiten problemlos an ihnen erproben können.«

»Sehr gerne. Vielen Dank, Herr Professor«, erwiderte Emma pflichtschuldigst und folgte Professor Haberland zu den beiden Bildern.

Eines der Ölgemälde zeigte einen etwa zehnjährigen Jungen in sehr stolzer, aufrechter Haltung neben einem Hund, der den Betrachter nicht weniger würdevoll anblickte als der Junge. Auf dem anderen war ein etwa gleichaltriges Mädchen dargestellt, das aussah wie eine erwachsene Frau in Miniaturausgabe und einen Blumenstrauß in seinen kleinen Händen hielt.

Natürlich hatte Emma schon viele solcher Gemälde gesehen, sie aber bis jetzt nur aus kunsthistorischer Sicht betrachtet. Nun allerdings sah sie die Bilder plötzlich mit anderen Augen und fragte sich, was diese Kinder wohl empfunden hatten.

»Solche Bilder wirken auf uns heutige Betrachter manchmal ein wenig befremdlich«, ließ sich in diesem Augenblick Professor Haberland erneut vernehmen. »Die Kinder waren sich ungeachtet ihres noch sehr jugendlichen Alters ihres Standes voll bewusst, wodurch sie eigentlich gar nicht wie richtige Kinder aussehen. Aber sie lebten einfach in einer anderen Zeit.«

Während der Professor Emma die benötigte Vorgehensweise zur Wiederherstellung der Bilder erläuterte, gelang es ihr nur lückenhaft, sich darauf zu konzentrieren. Immer wieder kehrten ihre Gedanken stattdessen nach Sophienlust zurück. Mit einem Mal fiel ihr auch das Versprechen wieder ein, die Sophienlust-Kinder auf die Wolfsburg einzuladen.

Als der Professor am Ende seiner Erläuterungen angelangt war, fasste sie sich deshalb ein Herz, erzählte ihm von dem Wort, das sie den Kindern bei ihrem Abschied gegeben hatte, und bat ihn, sich beim Fürsten oder seinem Sohn für die Sophienlust-Kinder zu verwenden.

Professor Haberland schaute Emma daraufhin so entgeistert an, als hätte sie ihn gebeten, für sie den Mond vom Himmel zu holen. Oder zumindest einen besonders großen Stern.

»Wie stellen Sie sich das eigentlich vor, Frau Hartwig?«, erkundigte er sich nach einer geraumen Weile des Schweigens mit einem deutlich ungehaltenen Unterton in der Stimme. »Der Fürst hat mir erlaubt, Sie als Assistentin mitzubringen, obwohl Sie erst im dritten Semester ihres Studiums und noch weitgehend unerfahren sind. Sie dürfen für die Zeit Ihrer Tätigkeit ein Zimmer im Schloss beziehen, als wären Sie ein Gast des Fürsten. Und Sie bekommen obendrein für Ihre Arbeit noch eine Art Taschengeld. Was, in aller Welt, wollen Sie noch, Frau Hartwig? Ein ganzes Kinderheim hier einquartieren? Mit all den Unannehmlichkeiten, die das für den Fürsten, für seinen Sohn und für die Bediensteten mit sich bringen würde? Ich finde, Sie sollten sich in Bescheidenheit fassen und die Chance, die Ihnen geboten wurde, wertschätzen. Ich habe mich bei Fürst Bernhard und bei Prinz Hanno bereits in Ihrem Namen bedankt. Eine Bitte, egal welcher Art, werde ich allerdings nicht für Sie vorbringen.«

Emma ließ mutlos die Schultern sinken. Das war ja wohl gründlich schiefgelaufen! »Tut mir leid. Ich wollte Ihnen selbstverständlich nicht zu nahe treten, Herr Professor«, murmelte sie. »Und ich wollte auch niemandem Unannehmlichkeiten bereiten. Ich dachte nur, vielleicht …«

»Was mich betrifft, denke ich, Sie sollten sich jetzt frisch und munter an die Arbeit machen, Frau Hartwig«, beendete Professor Haberland das Gespräch. »Alles, was wir brauchen, habe ich bereits dort drüben in dem kleinen Nebenraum der Galerie deponiert. Es kann also sofort losgehen! In der ersten Woche werde ich Ihnen noch über die Schulter schauen, um Ihnen gegebenenfalls mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Später erwarte ich selbständiges Arbeiten, wobei Sie sich dann, entsprechend Ihrer Leistung, auch an schwierigeren Objekten versuchen dürfen.«