Hochzeitsglocken in Sophienlust - Gert Rothberg - E-Book

Hochzeitsglocken in Sophienlust E-Book

Gert Rothberg

0,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. ein großzügiges, traditionsreiches Anwesen, gelegen in einem riesigen Park. Geleitet wird es von der warmherzigen Denise von Schoenecker, die für ihren halbwüchsigen Sohn Nick dieses Erbe bis zu seiner Volljährigkeit verwaltet. Denise, in zweiter Ehe verheiratet mit Alexander, dem Besitzer des benachbarten Gutes Schoeneich, ist auch Mutter des kleinen Henrik, der den Kopf voller Streiche hat. Jungen von Sophienlust, die ihre oft traurigen Schicksale an diesem heiteren und beschützten Ort vergessen können. Sie alle bestätigen aus vollem Herzen: Sophienlust ist das Haus der glücklichen Kinder! Die Nacht war wie verzaubert. Der Vollmond leuchtete hell am wolkenlosen, mit Sternen übersäten Himmel. Sein Licht versilberte den Park von Schoeneich. Andrea von Schoenecker stand am Fenster ihres Zimmers und blickte verträumt auf das zauberhafte Bild. Dabei dachte sie an den kommenden Tag. Für sie war es noch immer wie ein Wunder, dass es ihr Hochzeitstag sein sollte. Wenn man ihr vor wenigen Monaten gesagt hätte, dass sie Hans-Joachim von Lehn heiraten würde, hätte sie es nicht geglaubt. Denn er hatte sie immer wie ein Kind behandelt und sie niemals wirklich ernstgenommen. Sie aber hatte ihn schon seit langem heimlich geliebt. Andrea dachte auch an die zahlreichen Gedichte, zu denen Hans-Joachim sie inspiriert hatte. Ein Gedicht war sogar von einer Frauenzeitschrift abgedruckt worden. Zu dieser Zeit hatte sie unsagbar gelitten, weil Hans-Joachim mit einer Studentin auf Urlaub gefahren war. Sie hatte sich vorgenommen, nicht mehr an ihn zu denken und deshalb mit anderen jungen Männern geflirtet – auch mit dem jungen Freiherrn von und zu Eschenbach. Aber sie hatte sich in keinen ihrer Verehrer verlieben können, weil sie immer an Hans-Joachim hatte denken müssen. Schon damals hatte sie gewusst, dass sie nur mit ihm würde glücklich werden können – so glücklich, wie ihre Eltern es waren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 153

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Leseprobe

E-Book 1-5

Hochzeitsglocken in Sophienlust

Ohne Vater – ohne Mutter

Mutterhände

Unser Rotschopf

Eikos stiller Wunsch

Leseprobe: Wird jetzt endlich alles gut?

Michaela Dornberg ist mit ganzem Herzen in die bezaubernde Welt des Sonnenwinkels eingedrungen, sie kennt die so sympathische Familie des Professors Auerbach mit dem Nesthäkchen Bambi inzwischen schon besser als jeder andere. Die geliebte kleine Bambi wird in den neuen Romanen für besondere Furore sorgen, und eine erfrischend engagierte junge Ärztin wird den Sonnenwinkel gehörig aufmischen.

Sophienlust Extra – 1 –

E-Book 1-5

Gert Rothberg

Hochzeitsglocken in Sophienlust

Andreas großer Tag

Roman von Gert Rothberg

Sophienlust ist ein Kinderheim der ganz besonderen Art:

ein großzügiges, traditionsreiches Anwesen, gelegen in einem riesigen Park.

Geleitet wird es von der warmherzigen Denise von Schoenecker, die für ihren halbwüchsigen Sohn Nick dieses Erbe bis zu seiner Volljährigkeit verwaltet.

Denise, in zweiter Ehe verheiratet mit Alexander, dem Besitzer des benachbarten Gutes Schoeneich, ist auch Mutter des kleinen Henrik, der den Kopf voller Streiche hat. Seine und Nicks beste Spielgefährten sind die Mädchen und

Jungen von Sophienlust, die ihre oft traurigen Schicksale an diesem heiteren und beschützten Ort vergessen können. Sie alle bestätigen aus vollem Herzen: Sophienlust ist das Haus der glücklichen Kinder!

Die Nacht war wie verzaubert. Der Vollmond leuchtete hell am wolkenlosen, mit Sternen übersäten Himmel. Sein Licht versilberte den Park von Schoeneich.

Andrea von Schoenecker stand am Fenster ihres Zimmers und blickte verträumt auf das zauberhafte Bild. Dabei dachte sie an den kommenden Tag. Für sie war es noch immer wie ein Wunder, dass es ihr Hochzeitstag sein sollte. Wenn man ihr vor wenigen Monaten gesagt hätte, dass sie Hans-Joachim von Lehn heiraten würde, hätte sie es nicht geglaubt. Denn er hatte sie immer wie ein Kind behandelt und sie niemals wirklich ernstgenommen. Sie aber hatte ihn schon seit langem heimlich geliebt.

Andrea dachte auch an die zahlreichen Gedichte, zu denen Hans-Joachim sie inspiriert hatte. Ein Gedicht war sogar von einer Frauenzeitschrift abgedruckt worden. Zu dieser Zeit hatte sie unsagbar gelitten, weil Hans-Joachim mit einer Studentin auf Urlaub gefahren war. Sie hatte sich vorgenommen, nicht mehr an ihn zu denken und deshalb mit anderen jungen Männern geflirtet – auch mit dem jungen Freiherrn von und zu Eschenbach. Aber sie hatte sich in keinen ihrer Verehrer verlieben können, weil sie immer an Hans-Joachim hatte denken müssen. Schon damals hatte sie gewusst, dass sie nur mit ihm würde glücklich werden können – so glücklich, wie ihre Eltern es waren.

Darum hatte sie es kaum fassen können, als Hans-Joachim dann plötzlich doch Interesse für sie gezeigt hatte. An einem herrlichen Frühsommertag hatte er sie gefragt, ob er sie zu einer Autofahrt abholen dürfe. Mit Freuden hatte sie zugesagt. Dann waren sie lange spazieren gegangen.

Hans-Joachim war plötzlich stehen geblieben. »Andrea, du bist wunderschön«, hatte er leise gesagt. »Du hast herrliches Haar.« In seiner Stimme hatte ein unendlich zarter Ton mitgeschwungen, und in seinen Augen hatte es hell aufgeleuchtet. »Ich liebe dich, Andrea. Ich liebe dich mit der ganzen Kraft meines Herzens. Lange habe ich mich gegen diese Liebe gewehrt. Vergeblich, Andrea. Meine Liebe zu dir ist stärker als jedes andere Gefühl in mir. Bitte, schau mich an«, hatte er sie gebeten und sanft ihr Kinn angehoben. »Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt.«

»Ich dich auch, Hans-Joachim«, hatte sie erwidert. Ihre Stimme hatte ihr bei diesen Worten kaum gehorchen wollen vor seliger Erregung. Süße Schauer waren ihr über den Rücken gerieselt.

»Andrea!« Ihr Name hatte wie ein Aufschrei geklungen, und dann hatte er sie geküsst.

Von diesem Augenblick hatte Andrea schon oft geträumt. Doch dann hatte sie jeden Gedanken ausgeschaltet und seine Küsse leidenschaftlich erwidert.

Von diesem Tag an hatten sie beide gewusst, dass sie für immer zusammengehörten, dass es nichts gab, was sie trennen konnte – außer dem Tod.

Mit tiefer Dankbarkeit dachte Andrea an die Güte ihrer Eltern, die ihrem Glück keine Hindernisse in den Weg gestellt hatten und mit einer baldigen Hochzeit einverstanden gewesen waren. Dann wandte sie sich vom Fenster ab und trat vor den Spiegel. Eingehend musterte sie ihr Spiegelbild. Ja, sie war schön, stellte sie mit innerer Befriedigung fest. Und sie wollte schön sein. Schön für den geliebten Mann.

Fast andächtig strich sie über ihr dunkles, volles Haar, das sie in der Mitte gescheitelt trug und das so lang war, dass es ihr weit über Schultern und Rücken fiel. Dominierend in ihrem ovalen Gesicht mit der kleinen geraden Nase und mit den auffallend langen Wimpern. Ihre Taille war so schmal, dass ein Mann sie leicht mit beiden Händen umfassen konnte. Obwohl sie groß war, war sie doch zierlich gebaut. Auch war sie nicht mager. Neulich hatte Hans-Joachim gesagt, dass sie eine wunderschöne Figur habe.

Es klopfte leise an die Tür. Auf ihr »Herein« steckte Dominik seinen Kopf mit dem dunklen Haarschopf ins Zimmer. »Störe ich?«, fragte er, trat aber bereits ein. Er war schon im Pyjama, über dem er einen dunkelroten kurzen Morgenmantel trug.

»Aber nein, Dominik, du störst nicht!«, rief Andrea lächelnd. »Setz dich nur«, forderte sie ihn freundlich auf.

Das ließ der Junge sich nicht zweimal sagen. Er sank erleichtert auf einen Sessel und zog die Beine an.

Andrea setzte sich aufs Bett. »Ja, Nick?«, fragte sie gespannt.

»Ach, eigentlich wollte ich nichts Besonderes von dir«, brummte er. »Ich bin nur noch mal zu dir gekommen, weil du doch die letzte Nacht in Schoen­eich bist. Nicht wahr, der Polterabend war toll?«

»Ja, es war sehr schön heute«, gab Andrea zu. »Aber morgen wird es noch viel, viel schöner werden, Nick.«

»Ja, morgen.« Nick räusperte sich. »Ich werde mich nur schwer daran gewöhnen können, dass du ab morgen Andrea von Lehn heißt. Komisch, dass du heiratest.« Er stieß einen herzerweichenden Seufzer aus. »Eigentlich gefällt es mir nicht sehr, dass du nicht mehr in Schoeneich wohnen wirst«, bekannte er verlegen. »Weißt du noch, Andrea, wie oft ich am Abend heimlich zu dir ins Zimmer gekommen bin? Für ein Mädchen warst du immer ein pfundiger Kumpel«, setzte er rau hinzu.

»Ach, Nick, mir fällt es ja selbst ein bisschen schwer, von hier fortzugehen. Aber ich bin auch sehr, sehr glücklich darüber, dass ich Hans-Joachims Frau werde. Unser Leben wird einmalig schön werden. Und was für ein Glück, dass das Tierheim noch vor unserer Hochzeit fertig geworden ist.«

»Ja, ich freue mich auch ganz närrisch auf euer Tierheim. Da habt ihr eine großartige Idee gehabt. Wirklich toll, dass die Anlage noch fertig geworden ist. Aber das ist in der Hauptsache wieder einmal Muttis Verdienst. Selbst die Handwerker, die sich ja im allgemeinen hundertmal bitten lassen, bevor sie erscheinen, fressen ihr aus der Hand.«

»Ja, Nick, Mutti ist die liebste und beste Mutter auf der ganzen weiten Welt. Sie ist eine wunderbare Frau. Ich möchte genauso werden wie sie. Aber ich glaube, ich werde das nie schaffen«, fügte sie mit einem unterdrückten Seufzer hinzu.

»Warum nicht?« Dominik musterte seine Stiefschwester nachdenklich. »Obwohl du nicht ihre leibliche Tochter bist, siehst du ihr doch erstaunlich ähnlich. Das hat neulich auch einer meiner Freunde festgestellt, der sich in dich verknallt hat. Dein Haar wäre wunderschön, hat er gesagt, und du hättest eine tolle Figur. Es wäre alles da. Und du hättest Augen wie … wie … ist ja auch egal. Ja, du sahst aus wie eine Prinzessin aus dem Morgenland, hat er gesagt.«

Andrea lachte. »Geh, übertreib doch nicht so!«

»Ein bisschen hat er schon recht«, brummte Nick und blickte sich um. »Hast du eigentlich noch Kekse da? Ich habe einen Mordshunger.«

»Natürlich habe ich Kekse da. Aber dass du noch Hunger hast, ist mir unverständlich. Heute Abend hast du doch sehr viel gegessen. Immer, wenn ich dich gesucht habe, standst du am kalten Büfett.«

»Mein Magen muss ein Loch haben«, meinte der Junge vergnügt und griff nach der Keksdose. »Ich finde es auch große Klasse, dass Vati den Ausbau eurer Wohnung in der Lehnschen Villa veranlasst hat.«

»Ja, Vati ist sehr großzügig. Eigentlich wäre das gar nicht nötig gewesen. Mit meiner zukünftigen Schwiegermutter verstehe ich mich ausgezeichnet. Aber es ist auch herrlich, eine eigene Wohnung zu haben.«

»Die Villa von Herrn Dr. von Lehn ist riesengroß«, stellte Nick mit vollem Mund fest.

»Ja, so ist es. Auch der Garten ist sehr groß. Jedenfalls war genug Platz für das Gebäude des Tierheims.« Andrea gähnte verstohlen hinter der Hand.

Da klopfte es wieder. Denise trat ins Zimmer. »Ach, Nick, du bist da«, stellte sie fest.

»Ja, Mutti, aber ich geh schon wieder.« Mit sichtlichem Bedauern stellte er die Keksdose wieder auf ihren Platz. »Gute Nacht, Andrea.« Er gab ihr einen scheuen Kuss. »Gute Nacht, Mutti.« Einen Augenblick blieb er noch stehen und lachte verlegen, dann zog er die Tür leise hinter sich zu.

»Mein Kleines, ich wollte nur noch einmal nach dir schauen!« Denise sah ihre bildhübsche Stieftochter mit einem kleinen wehmütigen Lächeln an.

»Ich bin glücklich, Mutti, dass du noch einmal gekommen bist.« Andrea schmiegte sich an Denise. »Ach, Mutti, mir kommt das alles noch wie ein Traum vor.«

»Mir auch, mein Kleines. Für Vati und mich ist es nicht einfach, dich so früh herzugeben. Aber jung gefreit hat noch niemand gereut, besagt ein altes Sprichwort. Außerdem wissen wir, dass du bei Hans-Joachim in guten Händen bist, Andrea. Er ist ein Schwiegersohn, wie wir ihn uns immer gewünscht haben.«

»Ja, Mutti, er ist einfach wunderbar.« Ein schwärmerischer Ausdruck trat in Andreas Augen. »Und ich liebe ihn.« Ihr Blick suchte ihr Hochzeitskleid, das am Kleiderschrank hing. »Ich kann es kaum erwarten, das Kleid zu tragen.«

»Es ist ein bezauberndes Kleid, mein Liebling.«

»Ja, Mutti, du hast es ja auch für mich ausgesucht. dass der Stoff einen zarten bläulichen Schimmer hat, gefällt mir gut.«

»Ich weiß, mein Kleines. Aber nun musst du schlafen, damit du morgen mit blanken Augen aufwachst.«

»Ja, Mutti. Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Meine richtige Mutter hätte ich niemals so lieb haben können wie dich.«

»Und ich liebe dich wie meine eigene Tochter, mein Kleines.« Denise zog das Mädchen an sich. »Mir ist es, als sei es erst gestern gewesen, dass ich dich zum ersten Mal sah.«

»Ich kann mich noch gut an diesen Tag entsinnen, Mutti. Damals war ich acht Jahre alt.«

»Ich weiß. Aber nun marsch ins Bett.« Denise gab ihr einen liebevollen Klaps.

Dann war Andrea wieder allein mit ihren Träumen. Endlich forderte die Natur ihr Recht. Sie schlief ein.

*

Denise und Alexander von Schoenecker unterhielten sich noch ein Weilchen. Für sie würde der kommende Tag nicht leicht sein. dass Andrea so jung und so schnell heiraten würde, hätten sie sich nicht träumen lassen. Besonders Alexander fiel es schwer, seine einzige Tochter, die stets sein ganzer Stolz gewesen war, schon herzugeben. Er tröstete sich damit, dass Andreas Wahl auf einen Würdigen gefallen war. Sonst hätte er auch niemals erlaubt, dass sie schon heiratete.

Denise, die ebenfalls mit offenen Augen im Bett lag, vernahm Alexanders unterdrückten Seufzer. Ihre Hand suchte die seine. »Alexander, sei nicht traurig«, bat sie zärtlich. »Andrea war reif für die Ehe.«

»Das sage ich mir ja auch immer wieder. Trotzdem hätten wir sie vielleicht doch überreden können, noch ein Jahr mit der Hochzeit zu warten.«

»Vielleicht wäre uns das gelungen, weil Andrea immer ein nachgiebiges, anschmiegsames Kind gewesen ist. Aber damit hätten wir sie unglücklich gemacht. Ich halte alle Eltern, die darauf bestehen, dass ihre Kinder nicht so früh heiraten, für hartherzig. Besonders dann, wenn sie wissen, dass die Wahl ihrer Kinder auf einen anständigen Menschen gefallen ist.«

Alexander drückte die Hand seiner Frau. »Ja, Denise, da ist etwas Wahres dran«, gab er zu. »Aber wir Väter sind oft eifersüchtig auf unsere Töchter. Auch hätte ich mir gewünscht, dass alles so geblieben wäre, wie es war. Ich war immer stolz auf unsere große Familie.«

»Alexander, du musst das alles von einer anderen Seite betrachten. Du verlierst Andrea doch nicht, sondern bekommst noch einen Sohn dazu. Hans-Joachim ist ein reizender Mann und sehr tüchtig in seinem Beruf. Auch ist er sehr rücksichtsvoll. Nicht jeder junge Mann würde wie er auf die Hochzeitsreise verzichten, nur weil sein Vater momentan nicht ganz auf dem Damm ist und die Praxis nicht ausüben kann. Auch Andrea hat es als ganz selbstverständlich empfunden, die Hochzeitsreise zu verschieben. Außerdem kann sie es kaum erwarten, sich um das Tierheim zu kümmern. Die Hauptverantwortung für das Heim wird doch auf ihren Schultern liegen.«

»Ich weiß, Denise. Du verstehst es doch immer wieder, mich aufzuheitern«, erklärte er um vieles glücklicher und nahm seine Frau in die Arme.

*

Auch in Sophienlust schliefen noch nicht alle Kinder. Andreas Hochzeit war für sie alle eben ein sensationelles Ereignis.

Isabel und Pünktchen saßen noch bei Malu beisammen. Isabel würde morgen in der Dorfkirche, in der die Trauung stattfinden würde, die Solopartien singen. Pünktchen, Angelika und Vicky würden Rosen streuen, wenn das Paar nach der Trauung die Kirche verlassen würde. Zu diesem Zweck hatte Denise für die drei Mädchen lange duftige Kleider in unterschiedlichen Pastellfarben gekauft. Malus Aufgabe war es, die langen Haare der drei morgen früh zu Krönchen aufzustecken.

Das alles ließ Pünktchen einfach nicht müde werden. Sie war viel zu aufgeregt, um an Schlaf zu denken. Mit angezogenen Beinen hockte sie auf Malus Bett.

Murkel hatte es sich neben ihr bequem gemacht, obwohl er eigentlich nicht aufs Bett hinaufspringen durfte. Aber Malu übersah heute großzügig seine kleine Ungezogenheit.

Auch Malu war innerlich aufgewühlt. Sie war nur zwei Jahre jünger als Andrea und liebte sie wie eine Schwester. Dass Andrea morgen heiratete, war für Malu nicht leicht. Als verheiratete Frau würde sie nicht mehr der Welt der jungen Mädchen angehören.

»Weißt du, Malu«, riss Pünktchen sie aus ihrem Sinnen, »es gibt schon drei Patienten in dem Tierheim. Der erste war der Igel Mumps, den Nick verletzt auf der Autobahn gefunden hatte. Als er wieder gesund war, hatte ihn Hans-Joachim von Lehn ausgesetzt, aber er war wieder zurückgekommen, weil er bei den Lehns so gutes Fressen bekommen hatte. Jedenfalls ist Mumps so zahm geworden wie ein Haustier. Aber noch zahmer ist der Feldhase Langohr. Vicky und ich haben ihn ja in der Falle gefunden. Es war einfach schrecklich. Ich habe gedacht, ihm müsste der untere Teil des Hinterlaufs amputiert werden. Doch Hans-Joachim hat es geschafft, dass der Unterschenkel heilte. Aber auch der Hase möchte nicht mehr fort.«

»Warte nur ab, bis der Frühling kommt«, erwiderte Malu und kraulte Murkel selbstvergessen hinter den Ohren, der diese Zärtlichkeitsbezeugung als Zustimmung auslegte, auf dem Bett liegen zu dürfen. Erst jetzt schloss er mit einem zufriedenen Schnaufer die Augen.

»Auch das Reh Bambi, das seine Mutter verloren hatte und von Andrea mit der Flasche aufgezogen wurde, wird sicher im Tierheim bleiben«, überlegte Pünktchen. »Bambi ist auch ganz zahm. Das Tierheim ist wie ein kleiner Zoo. Gestern nachmittag war ich mit Nick und Andrea dort und habe mir den Bau angeschaut. Innen ist ein langer Gang, und auf beiden Seiten gibt es große und kleine Käfige. Auch Käfige für Vögel. Draußen sind dann noch die Gehege für die Waldtiere. In dem einen lebt Bambi. Ja, und auch Langohr war gestern draußen. Ach, Andrea hat es fein! Wenn ich einmal so groß bin und Nick heirate, möchte ich auch ein Tierheim haben.« Für Pünktchen war es schon lange eine Selbstverständlichkeit, dass Nick und sie einmal heiraten würden.

Malu lachte. »So, aber nun müsst ihr ins Bett. Oh je, es ist schon bald elf Uhr. Wenn Tante Ma wüsste, dass wir noch wach sind, würde sie sehr ärgerlich werden. Darum seid ganz leise, wenn ihr in eure Zimmer geht. Gute Nacht.« Sie gab den beiden jüngeren Mädchen einen Kuss und ließ sie dann leise aus ihrem Zimmer. Als sie sich überzeugt hatte, dass sie in ihren Zimmern waren, zog sie die Tür wieder behutsam ins Schloss.

Doch noch lange fand Malu keinen Schlaf. Sie hörte, wie die alte Standuhr in der Halle Mitternacht schlug. Andreas Hochzeitstag war angebrochen.

*

Als glühender Ball ging die Sonne auf und vergoldete mit ihren Strahlen die Wälder und Wiesen. Trotz der frühen Morgenstunde herrschte in Sophienlust und Schoeneich bereits reges Treiben.

Frau Rennert, ihre Schwiegertochter Carola, Schwester Gretli und zwei Praktikantinnen hatten alle Hände voll zu tun, um mit den aufgeregten Kindern fertig zu werden. Die Kleinen lachten und jubelten voller Freude, aber auch den Größeren fiel es schwer, sich ruhig zu verhalten.

Die beiden Schulbusse, mit denen die Kinder zur Kirche gefahren werden sollten, standen, mit Blumen geschmückt, im Gutshof von Sophienlust startbereit. Vor dem Gutshaus in Schoen­eich aber wartete die alte Kutsche, die einstmals Sophie von Wellentin gehört hatte, auf die junge Braut. Die Kutsche war bekränzt mit dunkelroten und weißen Rosen. Alexander hatte dafür gesorgt, dass seine schönsten Pferde, vier prachtvolle Goldfüchse, vorgespannt worden waren.

Zu dieser Zeit setzte Denise ihrer bildschönen Stieftochter das Brautkrönchen auf das dunkle Haar. Kaum merklich zitterten ihre Hände bei diesem Liebesdienst, und ihre Augen standen voller Tränen.

Alexander, der seine Tochter kurz darauf bewunderte, fühlte es ebenfalls heiß in seine Augen steigen. Wie schön Andrea war! Sie glich wirklich einer Märchenprinzessin. Das zartblaue Brautkleid brachte ihre Taille reizvoll zur Geltung, der weit fallende Rock reichte bis zu den Knöcheln. Nur die Spitzen der silbernen Schuhe wurden sichtbar, als die Braut graziös die leichtgeschwungene Treppe, die von der Galerie zur Halle hinabführte, herunterstieg. Wie gebannt richteten sich die Blicke der bereits anwesenden Gäste auf die zauberhafte Braut.

Dominik, der sich in seinem dunklen Anzug nicht sehr wohl fühlte, hielt ebenfalls den Atem an. Fast hätte er sich vergessen und laut gepfiffen – ein Zeichen seiner inneren Erregung. Seine schöne Schwester beeindruckte ihn zutiefst. Er stieß den neben ihm stehenden Sascha an und raunte ihm zu: »Was, Andrea ist ganz einfach Klasse!«

»Ja, Nick. Hans-Joachim hat großes Glück, dass er sie zur Frau bekommt.«

Das fand auch Michael Langenbach, der Bruder von Angelika und Vicky. Seit er mit Sascha in Heidelberg studierte, hatte er bei den Schoeneckers in Schoeneich eine zweite Heimat gefunden. Denn er und seine Schwestern hatten ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren. Andrea hatte ihm von der ersten Stunde an gefallen. Besonders in letzter Zeit hatte er viel an sie denken müssen, und manchmal hatte er sie auch in seine Zukunftsträume eingeschlossen. Ihre plötzliche Verlobung war für ihn ein arger Schock gewesen. Aber dann hatte er sich damit getröstet, dass es noch viele schöne Mädchen auf der Welt gab. Dies sagte er sich auch jetzt wieder, wobei sein Blick Kati von Wellentin suchte, die reizende Adoptivtochter von Dominiks Großeltern. Zwar war Kati in seinen Augen noch ein halbes Kind, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis sie zu den jungen Damen zählte.

Andrea sah sich mit leuchtenden Augen um. Ihr kam dieser Tag, ihr Ehrentag, wie ein wunderschöner Traum vor. Sie hatte das Gefühl zu schweben. Die festlich gekleideten Menschen um sie herum – Henrik sah in den langen hellgrauen Hosen und der dazu passenden Weste mit den Silberknöpfen wie ein kleiner Gentleman aus vergangenen Jahrhunderten aus – verschwammen immer wieder vor ihren Augen.

Denise, die ein bildschönes weinrotes Samtkostüm für die kirchliche Trauung trug, beobachtete Andrea besorgt. Die unnatürliche Blässe führte sie auf die seelische Erregung der Braut zurück. Sie wusste, dass Andrea sehr sensibel und leicht erregbar war. »Alexander«, bat sie ihren Mann leise. »Bitte, bringe doch deiner Tochter ein Glas Champagner, sonst kippt sie uns noch um.«

Andrea trank das Glas in schnellen, kleinen Zügen aus. Wenig später waren ihre Wangen sanft gerötet. Der Glanz in ihren Augen war nun noch intensiver.

Dann saß Andrea neben ihrem Vater in der Hochzeitskutsche, während Denise gegenüber von den beiden Platz genommen hatte. Der alte Justus hatte darum gebeten, kutschieren zu dürfen. Diese Bitte hatte man ihm gern erfüllt. Er trug einen schwarzen altmodischen Anzug, dazu einen steifen Zylinder. Alle waren der Ansicht, dass er wie ein Kutscher aus einem Bilderbuch aussah.

Alexander hatte darauf bestanden, dass die Trauungszeremonie nach altem Brauch vorgenommen wurde. Dazu gehörte auch, dass er als Brautvater die Braut in der Kirche dem Bräutigam zuführte.

Andrea stieß einen kleinen glücklichen Seufzer aus, als sie vor das Haus trat. Es war ein herrlicher warmer Septembertag, der bereits einen Hauch des Herbstes in sich trug. Das Laub zeigte eine leichte gelbliche Färbung, vereinzelt schwebten schon Blätter zu Boden.

Fröhlich trabten die Pferde nach Sophienlust. Dort wurde die Kutsche und die hinterherfahrenden Autos von den Kindern mit lautem Jubel begrüßt. Dominik, der von Schoeneich bis Sophienlust im Wagen seines Bruders mitgefahren war, stieg jetzt in einen der Schulbusse ein. Pünktchen strahlte ihn an, als er sich neben sie setzte.

Zu beiden Seiten der Straße, die ins Dorf führte, standen unzählige Schaulustige, als die lange Wagenkolonne zur Kirche fuhr. Alle Dorfbewohner und viele Leute aus den Nachbarorten waren gekommen, um die Hochzeit der schönen Andrea von Schoenecker mit dem jungen Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn mitzuerleben. Allgemein wurde der »Tierdoktor«, wie man ihn nannte, beneidet wegen der guten Partie, die er machte. Denn Andrea war nicht nur eine kleine Schönheit, sondern auch aus einem sehr wohlhabenden Haus.

Andrea lächelte den vielen Menschen, die sie teilweise gut kannte, freundlich zu. Je näher sie der Kirche kamen, um so lauter schlug ihr Herz. Dann erblickte sie Hans-Joachim. Er stand wartend zwischen seinen Eltern. In seinem festlichen Anzug sah er fantastisch aus. Unwillkürlich presste Andrea die Hände auf ihr wild schlagendes Herz.

Justus half der jungen Braut beim Aussteigen. Im gleichen Augenblick begannen die Kirchenglocken zu läuten. Ganz leicht legte Andrea ihre schmale Hand mit dem kostbaren Verlobungsring auf den Arm ihres Vaters, als sie neben ihm auf die Kirche zuschritt. Denise unterdrückte ihre Tränen, als sie den beiden nachblickte.

Dominik legte seine Hand unter den Ellbogen seiner Mutter. »Mutti, komm, wir müssen gehen«, bat er und kam sich sehr erwachsen vor.

Die kleine Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Alle verfolgten die Vorgänge am Altar mit großem Interesse.

Der Augenblick, als Alexander seine Tochter dem Bräutigam zuführte, prägte sich Denise unauslöschlich ein. Sie war sicher, noch niemals so viel Glück in den Augen zweier Menschen gesehen zu haben, als Andrea und Hans-Joachim sich anblickten.

»Hans-Joachim von Lehn sieht fantastisch aus«, flüsterte Malu.

»Ja, das stimmt. Aber wenn Nick erwachsen ist, wird er noch viel besser aussehen«, erwiderte Pünktchen.

»Pst«, machte jemand hinter den Mädchen, sodass Pünktchen dunkelrot anlief. Jetzt war die Trauungszeremonie vorüber. Isabel sang wieder. Ihre reine Sopranstimme füllte die Kirche und rührte viele zu Tränen.

Andrea sah ihren Mann an, und er erwiderte ihren Blick mit unverhüllter Liebe. Beide sehnten in diesem Augenblick die Stunden herbei, die ihnen allein gehören würden.

Pünktchen, Angelika und Vicky standen nun auf. In ihren hellgrünen, hellblauen und rosa Kleidchen boten sie ein hübsches Bild, als sie mit ihren Körben vor dem jung vermählten Paar hergingen, das die Kirche nun wieder verließ. Emsig streuten die Kinder die dunkelroten Rosen auf den Boden – einen Teppich der Liebe für das junge Paar.

Vor dem Portal der Kirche wartete die Kutsche. Unruhig stampften die Pferde. Justus zog den Zylinder vom Kopf und half Andrea beim Einsteigen. Hans-Joachim stieg auf der anderen Seite der Kutsche ein. Dann kletterte der alte Mann etwas mühselig auf den Bock und ließ die Peitsche knallen. Die vier Füchse setzten sich in Bewegung.

Hans-Joachim fasste nach Andreas Hand. »Ich bin froh, dass dieser feierliche Teil vorüber ist«, erklärte er aufatmend.

»Ich auch, Hans-Joachim«, erwiderte sie und blickte ihm tief in die Augen. »Ich kenne dich doch«, fügte sie schelmisch hinzu. »Alles, was dich beengt, macht dich nervös. Nicht wahr, du fühlst dich in deinem Anzug wie in einem Gefängnis?«

»So ist es, Andrea«, lachte er fröhlich. »Am liebsten würde ich die Jacke ausziehen. Aber das geht leider nicht.« Er seufzte auf. »Ach, Andrea, ich bin unendlich glücklich, dass wir endlich verheiratet sind. Es tut mir nur leid, dass du vorerst auf die Hochzeitsreise verzichten musst. Aber ich kann meinen Vater im Moment unmöglich allein lassen. In seinem Zustand kann er die Praxis nicht allein ausüben. Und da wir in dieser Gegend die einzigen Tierärzte sind, muss ich …«

»Bitte, Hans-Joachim, darüber brauchen wir doch nicht mehr zu reden«, unterbrach sie ihn lebhaft. »Ich bin gar nicht so wild auf die Reise. Ich freue mich sehr auf unsere Wohnung, auf das Tierheim und …« Sie breitete plötzlich die Arme aus. »Ich will nur bei dir sein, Hans-Joachim.«

»Andrea …« Hans-Joachim wurde sich erst jetzt wieder der Neugierigen bewusst, die noch immer zu beiden Seiten der Straße standen. »Wenn wir jetzt allein wären, würde ich dich küssen«, bemerkte er. »Aber wir sind leider nicht allein.«

»Später, wenn wir die Straße zwischen Sophienlust und Schoeneich entlangfahren, wird es möglich sein«, ließ sich da der alte Justus von seinem Bock vernehmen.

»Ach, Justus, du machst dich lustig«, lachte Andrea voller Übermut.

»Wirklich, Fräulein Andrea – oh, Verzeihung, Frau von Lehn.«

»Justus, sag das noch mal«, bat Andrea. »Du bist der erste Mensch, der mich mit meinem neuen Namen anredet. Frau von Lehn. Andrea von Lehn«, wiederholte sie mit einem glücklichen Seufzer.

»Ja, Andrea von Lehn«, sagte nun auch Hans-Joachim mit feierlichem Ernst. »Das klingt wundervoll.«

»Ja, Hans-Joachim, das klingt ganz wundervoll.« Wieder fanden sich ihre Hände.

Der alte Justus schnalzte mit der Zunge, um die Pferde anzutreiben. Glückliche Jugend, dachte er mit stiller Wehmut. Man sollte jeden Tag dieser herrlichen Zeit voll und ganz auskosten. Wie schnell verflog doch die Jugendzeit, viel zu schnell. Und sie kommt nie mehr wieder.

*

Der große Speisesaal in Schoeneich mit den steifen Renaissancesesseln und dem wuchtigen Büfett, der nur bei ganz besonderen Festlichkeiten benutzt wurde, erwartete das Hochzeitspaar und die Gäste. Martha, die Köchin von Schoeneich, und Magda, die Köchin von Sophienlust, die Schwestern waren, hatten sich mit ihren Kochkünsten gegenseitig übertroffen. Alexander aber hatte seinen Weinkeller geplündert. Der Champagner floss an diesem Tag in Strömen. Doch auch die guten Weine und die schärferen Getränke wurden nicht verschmäht.

Für die Kinder von Sophienlust waren in der Halle Tische gedeckt worden. Die etwas größeren Kinder bekamen eine leichte Bowle, um mit Andrea und ihrem Mann anstoßen zu können.

Dominik hatte bald einen Schwips und redete noch mehr als sonst. Auch Andrea schmeckte der Champagner. Bald befand sie sich in einer so ausgelassenen Stimmung, dass sie mit ihrem Charme alle bezauberte. Hans-Joachim konnte kaum seinen Blick von seiner schönen jungen Frau lösen.

Als er dann mit ihr den Tanz eröffnete, glaubte Andrea Flügel zu haben. Wie eine Elfe schwebte sie, umfangen von seinem Arm, im Walzerschritt über das spiegelblanke Parkett der Halle.

»Und nun die anderen auch!«, rief sie und kam sich wie eine Königin vor, die den Ball eröffnete.

Alle Freunde und Verwandten der Schoeneckers und Wellentins waren zu diesem Fest gekommen. Sie alle freuten sich mit der glücklichen Andrea, die sie meist von Kindesbeinen an kannten.

Als die Sonne hinter den Bäumen versank, und die Schatten immer länger wurden, suchte Andrea nach ihren Eltern. Sie fand sie auf der Terrasse und sagte ihnen, dass Hans-Joachim und sie jetzt heimfahren wollten.

»Fahrt nur«, lachte Alexander, doch dabei war ihm ganz weh ums Herz. Andrea war nun eine junge Frau, die bald eigene Kinder haben würde.

»Ihr braucht euch von keinem Menschen hier zu verabschieden«.

»Wirklich nicht? Da bin ich aber froh.« Andrea fiel ihrer Mutti um den Hals und küsste dann ihren Vater. Dann waren Alexander und Denise allein. Sie lächelten sich an und verstanden sich auch ohne Worte.

*

»Frierst du?«, fragte Hans-Joachim, als Andrea sich noch tiefer in den Pelz kuschelte, den sie rasch geholt hatte.

»Ein bisschen. Es ist nur die Aufregung, Hans-Joachim.« Andrea wandte ihm ihr liebliches Antlitz zu. Dann sank ihr Kopf an seine Schulter.

Als die beiden durch das weit offen stehende Tor in den Garten des Lehnschen Anwesens einfuhren, waren fast alle Fenster der Villa festlich erleuchtet.

»Meine Eltern scheinen schon daheim zu sein«, erklärte Hans-Joachim. »Sicherlich wollen sie noch mit uns anstoßen.«

So war es auch. Frau von Lehn erwartete das junge Paar unter der Haustür. Sie küsste Andrea auf die Stirn und sagte herzlich: »Willkommen daheim, meine Tochter.«

Einen Augenblick schmiegte sich Andrea an die rundliche, mütterliche Frau, die sie schon immer gern gehabt hatte. Auch mit dem alten Herrn von Lehn hatte sie sich stets glänzend verstanden.

Andrea und Hans-Joachim saßen noch ein halbes Stündchen bei den alten Lehns, dann zogen sie sich zurück.

Draußen blickte Andrea ihren Mann bittend an. »Wollen wir nicht noch zu den Tieren gehen?«, fragte sie und fasste nach seiner Hand.

»Wenn du das willst, schauen wir noch einmal ins Tierheim.« Hans-Joachim ahnte, was Andrea bewegte. Sie war ja noch so jung. Schließlich hatte er sie von der Schulbank weggeheiratet. »Komm, mein Liebling«, sagte er und verließ mit ihr das Haus.

Hand in Hand gingen sie durch den dunklen Garten. Das Tierheim befand sich am anderen Ende. Hans-Joachim schloss die Tür auf und knipste das Licht an. Noch roch es in dem Gebäude nach Farbe, aber das würde wohl bald vorbei sein.

Langsam schritten sie den Gang zwischen den Käfigen und Boxen entlang. Der Igel Mumps lag zusammengerollt in einer Ecke seines Käfigs, der Hase Langohr blinzelte und hoppelte erschrocken etwas zurück.

»Oh, wir haben ihn erschreckt«, bedauerte Andrea. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee von mir, hierher zu gehen, nur …«

»Andrea!« Zärtlich schloss er sie in die Arme und küsste sie sanft. »Du zitterst ja! Am Abend ist es schon sehr kühl. Komm ins Haus, mein Liebling.« Er legte seinen Arm um ihre Taille und führte sie zum Haus zurück.

Als Hans-Joachim seine blutjunge, bildschöne Frau über die Schwelle in ihr neues Heim trug, schlang sie die Arme ganz fest um seinen Nacken und schmiegte ihr Gesicht an das seine. Sie fühlte sich unendlich glücklich und geborgen.

*

Dominik war, als Andrea und ihr Mann sich heimlich davongestohlen hatten, schnell hinaufgelaufen ins Turmzimmer. Von dort hatte er dem davonfahrenden Wagen nachgeblickt. Dabei war ihm ganz sonderbar ums Herz geworden. Am liebsten hätte er geweint, aber natürlich hatte er seine Tränen mannhaft unterdrückt.

Jetzt stieg Nick, da das Auto nicht mehr zu sehen war, langsam die Wendeltreppe wieder herunter. Er hatte auf einmal keine Lust mehr, zu den anderen zurückzukehren. Dafür zog es ihn zu Andreas Zimmer, dessen Tür nur angelehnt war. Dominik schob sie weiter auf und blickte in den Raum. Vor dem Bett standen noch Andreas Pantöffelchen, und im Kleiderschrank, der offen stand, hingen noch eine Menge Kleider.

Dominik trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Dann streckte er sich auf Andreas Bett aus und dachte über das Leben nach.

Schon bald tat der reichlich genossene Alkohol seine Wirkung. Immer schwerer wurden seine Lider, dann fielen sie ihm zu.

Denise, die noch einmal durch alle Räume ging, nachdem die letzten Hochzeitsgäste sich verabschiedet hatten, schaute auch noch in Nicks Zimmer. Überrascht stellte sie fest, dass das Bett unbenutzt war. Plötzlich fiel ihr auch ein, dass Nick ihr nicht gute Nacht gesagt hatte. Das hatte er bisher noch nie versäumt.

Alexander, der die Treppe heraufkam, bemerkte sofort, dass Denise erregt war. »Was ist denn los?«, fragte er kopfschüttelnd. »Du machst einen ganz verstörten Eindruck.

»Ich mache mir Sorgen um Nick. Er ist nicht in seinem Zimmer. Aber vielleicht ist er mit nach Sophienlust gefahren. Ich werde sofort drüben anrufen.«

Denise wollte die Treppe hinuntergehen. Doch Alexander rief sie zurück.

»Denise, komm mal her«, bat er und trat in Andreas Zimmer.

Denise folgte ihm und fand Nick schlafend auf Andreas Bett, ein Anblick, der sie zutiefst rührte. Auf Zehenspitzen ging sie zu dem Jungen hin. »Wollen wir ihn hier liegen lassen?«, fragte sie leise.

»Uns wird wohl nichts anderes übrig bleiben«, flüsterte Alexander zurück. »Ich glaube, er schläft so tief, dass ihn nichts wecken kann. Ich werde ihn ausziehen. Bitte, hole doch seinen Pyjama.«

Denise kehrte nach wenigen Sekunden wieder zurück. Als Nick für die Nacht umgekleidet war, deckte sie ihn sorgsam zu. Er hatte nicht ein einziges Mal die Augen aufgeschlagen.

»Schlaf gut, mein großer Junge«, sagte Denise zärtlich und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Alexander, Nick hängt sehr an Andrea«, erklärte sie draußen auf dem Korridor und hängte sich bei ihrem Mann ein. »Es scheint ihm sehr nahegegangen zu sein, dass sie geheiratet hat.«

»Nicht nur ihm, Denise. Wir alle werden Andrea vermissen«, erwiderte er bekümmert.

»Das ist nun mal der Lauf der Welt. Außerdem tut ihr ja gerade so, als lebe Andrea von nun an am anderen Ende der Welt«, lachte sie. »Wenn wir Lust haben, können wir sie doch jederzeit besuchen.«

»Das ist wahr.« Alexander lächelte schon wieder. »Du bist eine Zauberin, Denise. Immer gelingt es dir, mich wieder heiter zu stimmen«, fügte er mit einem verliebten Blick hinzu und zog sie an sich.

»Weil ich dich liebe, Alexander.« Sie schmiegte sich an ihn.

*

Andrea schwebte im siebten Himmel. Hans-Joachims Liebe, durchdrungen von Zärtlichkeit und tiefstem Verständnis, war für sie wie eine Offenbarung.

Natürlich nahmen die kranken Tiere keine Rücksicht auf die Flitterwochen der beiden. Aber Andrea war deswegen keineswegs betrübt. Im Gegenteil, es bereitete ihr große Freude, ihrem Mann in der Praxis zu helfen. Sie war eine gelehrige Schülerin, hatte eine liebevolle Hand für Tiere und griff überall zu, wo es nottat. Auch die drei Insassen des Tierheims versorgte sie und hoffte genauso wie Hans-Joachim, dass bald alle Käfige und Boxen besetzt sein würden.

Hans-Joachim richtete es in den ersten Wochen so ein, dass er an den Abenden nichts zu tun brauchte. Dann saß er mit Andrea in dem großen Wohnzimmer vor dem offenen Kamin mit dem prasselnden Feuer und schmiedete Zukunftspläne. Das waren für beide die schönsten Stunden des Tages.

Das Hausmädchen Betti, eine Nichte von Magda und Martha, kümmerte sich um den Haushalt, worüber Andrea sehr froh war. Auch war das junge Mädchen bereits eine gute Köchin. Kein Wunder, denn sie war bei ihrer Tante Magda in die Lehre gegangen, deren Kochkünste die Kinder von Sophienlust sehr schätzten.

Hans-Joachim hatte seine Eltern überredet, für einige Wochen nach Meran zu fahren. So hätte das junge Paar eigentlich völlig ungestörte Flitterwochen verleben können – doch da trat etwas Unerwartetes ein.

*

Dominik hatte seinem kleinen Bruder Henrik versprochen, mit ihm zusammen Brombeeren und Haselnüsse zu suchen. Da er den Wald zwischen Schoeneich und Sophienlust wie seine Hosentasche kannte, wusste er auch, wo es Brombeer- und Haselnusssträucher gab.

Gleich nach dem Mittagessen brachen die beiden auf. Als sie durch den Wald liefen, raschelte das Laub unter ihren Füßen.

»Da, Nick, schau! Dort sind Brombeeren!«, rief Henrik voller Begeisterung.

»Ja, ich sehe es. Pflücke aber nur die dunklen ab, Henrik, und pass auf, dass du dich nicht beschmierst«, warnte er ihn fröhlich.

»Ich pass schon auf«, versprach der Kleine eifrig. »Außerdem habe ich ja meinen alten Pullover an.« Henrik stellte das Körbchen neben sich auf den weichen Boden und begann emsig zu pflücken.

Dominik ging langsam weiter. Er suchte nach Haselnusssträuchern. Plötzlich stutzte er, weil er ein Geräusch vernahm. Ein Reh? Oder ein Hase? fragte er sich. Vermutlich hatte er irgendein Tier aufgescheucht. Es konnte auch ein Fasan sein.

Als er dann aber das riesige schwarze Tier zwischen den Bäumen erspähte, erschrak er sehr, denn im ersten Augenblick erkannte er nicht, was es war. Seiner Natur entsprechend schossen ihm sogleich die abenteuerlichsten Gedanken durch den Kopf. War vielleicht ein Raubtier aus einem Käfig ausgebrochen? Sollte es ein Panther sein? Aber dann sah er, dass es eine schwarze Dogge war.

»Was machst du denn hier?«, redete er den Hund erstaunt an. »Komm her.« Er schnalzte mit der Zunge.

Der Hund drehte sich um und floh tiefer in den Wald hinein. Nick rief hinter ihm her, aber der Hund verschwand im Dickicht.

»Was ist denn los?«, fragte Henrik. »Warum hast du gerufen?«

»Ich habe nicht dich gerufen, Henrik, sondern einen Hund. Eine riesige schwarze Dogge. Sicherlich geht sie hier im Wald mit ihrem Herrn spazieren, obwohl es ja jetzt im Herbst verboten ist, Hunde frei herumlaufen zu lassen.«

»Eine Dogge? Eine schwarze Dogge? War sie sehr groß?« Henrik sah seinen Bruder gespannt an.

»Riesengroß«, erwiderte Dominik lachend und zeigte die Höhe eines großen Mannes. »So, und nun pflücke weiter. Ach, dort ist ja auch ein Haselnussstrauch.«

Die Ausbeute der beiden Jungen war beträchtlich. Vergnügt liefen sie heim.

Denise erwartete sie schon voller Sorge, denn es dämmerte bereits, als sie in Schoeneich eintrafen.

»Du, Mutti, wir haben ein riesiges schwarzes Tier gesehen«, erzählte Henrik aufgeregt, als er das Körbchen mit den Brombeeren abstellte.

Dominik grinste verschmitzt. »Ja, Mutti, eine schwarze Dogge«, berichtete er. »Die Leute sind manchmal wirklich unvorsichtig. Dabei steht doch überall, dass Hunde an der Leine zu führen sind. Ein Glück nur, dass unser alter Förster nicht sofort schießt. Kennst du eigentlich jemanden, der hier in der Nähe eine schwarze Dogge besitzt?«

»Nein, Nick. Henrik, pass auf, dass du mit deinen Händen nicht an die Wand kommst. Lauf schnell nach oben und wasch dir die Hände.«

»Gut, Mutti.« Henrik lief selig nach oben. Ihm war nicht einmal bewusst geworden, dass er aufgeschnitten hatte, als er behauptete, auch er habe den Hund gesehen.

Auch beim Abendessen erzählten die Jungen natürlich von der Dogge.

»Nein, ich kenne auch keinen Menschen, der eine Dogge besitzt«, stellte Alexander nach einigem Nachdenken fest. »Vermutlich gehört sie einem Feriengast. Ach, Denise, ich war heute nachmittag auf einen Sprung bei Andrea. Sie wird morgen Abend mit Hans-Joachim zu uns kommen. Sie möchte noch einige ihrer persönlichen Sachen abholen.«

»Wie geht es ihr denn?«, fragte Dominik burschikos. »Morgen nach der Schule radle ich mal zu ihr. Ich möchte doch gern sehen, ob der Igel Mumps schon seinen Winterschlaf hält.«

»Darf ich mit?«, fragte Henrik. »Ich möchte auch gern die Tiere im Tierheim sehen. Ich habe doch auch ein Rad.«

Dominik warf seiner Mutter einen schnellen fragenden Blick zu.

Denise zögerte einen Moment. Dann nickte sie und sagte: »Nick, du kannst den Kleinen mitnehmen. Nur musst du langsam radeln.«

*

Malu, die leidenschaftlich gern lange Spaziergänge unternahm, schon ihrem Murkel zuliebe, der ja einen Auslauf benötigte, ging am nächsten Tag sofort nach dem Mittagessen in den Wald. Sie führte den Hund an der langen Leine, die sie extra für Waldspaziergänge hatte anfertigen lassen. Tief in ihre Gedanken versponnen, schritt sie durch den Wald. Die herbstliche Stimmung war ganz nach ihrem Sinn.

Plötzlich zerrte Murkel bellend an der Leine. Malu sah sich ängstlich um. Wenn der Hund sich derart aufregte, musste entweder ein Mensch oder ein Wild in der Nähe sein. Jäh fiel ihr wieder ein, dass man sie ermahnt hatte, nicht allzu tief in den Wald hineinzugehen, um sich nicht unnötig in Gefahr zu begeben. Gesindel treibe sich in der heutigen Zeit überall herum, hatte Tante Isi mehrmals betont.

»Komm, Murkel!«, rief Malu. »Wir laufen heim!«

Aber der Hund wollte nicht mitkommen. Als es im Unterholz knackte, hielt Malu vor Schreck den Atem an.

Murkel bellte noch immer wütend. Und dann entdeckte Malu den schwarzen Hund, der nur wenige Meter entfernt auf dem Boden lag. Als sie näher ging, erhob er sich schwerfällig und trottete mit eingezogenem Schwanz davon.

Murkel riss an der Leine, sodass Malu ärgerlich rief: »Murkel, sei doch endlich still! Was willst du denn von der Dogge? Sie ist doch viel zu groß für dich!«

Aber Murkel ließ sich nur schwer beruhigen. Widerwillig lief er neben seinem Frauchen her, als Malu wieder die Richtung nach Sophienlust einschlug. Die Dogge ging ihr nicht aus dem Sinn. Sicherlich streunte sie. Sie hatte entsetzlich verwahrlost und halb verhungert ausgesehen.

Malu traf fast zur gleichen Zeit in Sophienlust ein wie Nick und Henrik, die von ihrem Besuch bei Andrea zurückkamen. Die Jungen stiegen von den Fahrrädern, lehnten sie an die Hauswand und liefen hinter Malu her.

»Malu, weshalb führst du Murkel an der Leine?«, fragte Dominik kopfschüttelnd.

»Wenn ich ihn loslassen würde, würde er in den Wald zurücklaufen. Wir haben eine schwarze Dogge gesehen.«

»Was! Du auch? War sie in Begleitung?«

»Nein, sie war allein. Ich habe niemanden in der Nähe gesehen. Sie sah sehr verwahrlost aus. Du, der Hund streunt ganz bestimmt. Hoffentlich wird er nicht von einem Förster erschossen. Im Herbst sind sie ja besonders scharf auf wildernde Hunde.«

»Was ist los?«, rief Pünktchen. Sie kam die Freitreppe heruntergesprungen, als die beiden zum Wintergarten gingen.

Malu berichtete. Etwas später wussten alle Kinder, dass es eine wildernde Dogge in der Nähe von Sophienlust gab.

»Wir müssen etwas unternehmen«, schlug Dominik vor. »Wir können doch nicht zulassen, dass die Dogge erschossen wird.«

»Nein, wir müssen sie beschützen«, meinte auch Isabel. »Aber vielleicht streunt sie gar nicht. Vielleicht war sie doch mit ihrem Herrn spazieren.«

»Ausgeschlossen.« Malu schüttelte den Kopf. »Ich habe den Hund ganz nahe gesehen. Er sah unendlich traurig aus und war so mager, dass man alle Rippen sehen konnte. Ganz gewiss hat er schon lange nichts mehr zu fressen bekommen.«

»Wir könnten die Dogge doch einfangen«, überlegte ein älterer Junge, der in Sophienlust weilte, weil seine Eltern eine längere Reise hatten machen müssen.

»Das ist leichter gesagt, als getan.« Dominik lehnte sich mit dem Rücken an eines der Fenster im Wintergarten und stützte sich auf das Fensterbrett. »Gestern, als ich sie gesehen habe, ist sie auf meinen Anruf hin davongelaufen.«

»Ja, auch bei mir war es so. Ich habe sie allerdings nicht angerufen, sondern Murkel hat sie verbellt. Eigentlich komisch, dass ein so großer Hund Angst vor Murkel hat, der ja bei Gott kein Riese ist«, wunderte sich Malu.

»Vielleicht hat die Dogge Tollwut«, meinte Angelika aufgeregt. »Dann verändert sich doch der Charakter eines Tieres völlig.«

»Ja, das ist wahr«, stimmte Pünktchen ihr sensationslüstern bei. »Rehe zum Beispiel werden plötzlich ganz zutraulich, auch Füchse und Hasen.«

»Ist denn Tollwut eine böse Krankheit?«, fragte Vicky mit großen ängstlichen Augen.

»Eine sehr böse, Vicky«, belehrte Nick sie.

»Na, hoffentlich hat sie keine.« Malu dachte daran, dass ihr Murkel sich angesteckt haben konnte, wenn er an einer Stelle geschnuppert hatte, an der sich etwas Speichel der Dogge befunden hatte. Ihr wurde plötzlich ganz elend vor Angst.

Da sagte Nick zu ihrer großen Erleichterung: »Bei uns in der Gegend gibt es keine Tollwut. Es wurden Tiere im Wald untersucht, darunter auch Füchse, die ja Keimträger dieser Krankheit sind. Nein, das glaube ich weniger. Trotzdem werde ich sofort mit Mutti telefonieren. Irgendetwas müssen wir auf alle Fälle unternehmen, um die Dogge einzufangen.«

Aber Dominik brauchte nicht in Schoeneich anzurufen, denn Denise fuhr soeben in den Gutshof von Sophienlust ein. Wahrscheinlich kommt sie wegen Henrik, überlegte der Junge. Sicher hatte sie doch Sorge um ihn.

Dominik hatte sich nicht getäuscht. Denise hatte tatsächlich keine Ruhe gehabt wegen Henrik. Die Straße von Sophienlust nach Bachenau war ziemlich befahren. Aber als Denise ihren Jüngsten wohlbehalten im Wintergarten vorfand, atmete sie erleichtert auf.

»Mutti, stell dir vor, Malu hat die Dogge auch gesehen«, erzählte Dominik.

»Ja, Tante Isi, die Dogge ist ganz bestimmt herrenlos.« Malu war nicht weniger aufgeregt als Nick.

»Wir haben auch schon überlegt, ob sie vielleicht Tollwut hat«, mischte sich Pünktchen ein.

»Aber nur überlegt«, beschwichtigte Nick sofort mit einem gereizten Seitenblick. »Denn es gibt ja keine Tollwut in unserer Umgebung. Aber wir müssen etwas unternehmen, Mutti. Sonst verhungert die Dogge noch. Malu sagt, dass sie schon ganz schwach ist.« Dominik blickte seine Mutter gespannt an.

»Wenn es sich wirklich so verhält, wie ihr annehmt«, meinte Denise, »dann müssen wir die Dogge natürlich einfangen. Doch zuerst will ich mich auf der Polizei erkundigen, ob nicht ein Hund als vermisst gemeldet wurde. Eine Dogge ist ein wertvoller Hund. Sollte sie fortgelaufen sein, wird man sie ganz gewiss suchen.«

»Und wenn eine Suchmeldung bei der Polizei vorliegt?«, fragte Nick.

»Dann ist die Dogge vermutlich nicht herrenlos. Vielleicht gehört sie einem Kind, das jeden Tag mit ihr herumstromert«, antwortete Denise.

»Das könnte allerdings stimmen«, meldete sich nun Malu wieder zu Wort. »Aber dann müssten wir mit dem Kind sprechen und ihm sagen, dass es den Hund im Wald an der Leine führen muss.«

»Das allerdings wäre nötig, Malu. Ja, Lena, was ist?«, fragte Denise, als das alte Hausmädchen von Sophienlust erschien.

»Der Herr Oberförster ist da, gnädige Frau. Er sagt, er müsse Sie unbedingt sprechen.«

»Gut, Lena, ich komme.« Denise nickte dem Mädchen zu.

»Ob er wegen der Dogge gekommen ist, Mutti?«, überlegte Dominik.

»Möglich wäre es schon.« Denise verließ den Wintergarten. Henrik und Dominik folgten ihr.

Der Oberförster wartete geduldig in der Halle. Frau Rennert, die sich mit dem alten Herrn ausgezeichnet verstand, hatte ihm bereits eine Flasche Schnaps und ein Glas hingestellt, denn sie wusste, dass er gern ein Gläschen trank.

»Wie geht es Ihrer Schwiegertochter?«, erkundigte sich der alte Mann freundlich, wobei er sich gewohnheitsgemäß über seinen langen weißen Bart strich.

Damit schnitt er ein für Frau Rennert unerschöpfliches Thema an, die nun mit ungewohnter Lebhaftigkeit von ihrer Schwiegertochter und deren Zwillingen erzählte. Doch als Denise mit ihren beiden Söhnen erschien, erhob sie sich sofort und zog sich diskret zurück.

»Herr Bullinger, Sie wollten mich sprechen?«, bemerkte Denise fragend.

»Ja, Frau von Schoenecker. Es handelt sich um einen streunenden Hund«, begann der alte Mann in seiner umständlichen Art.

»Um eine Dogge, nicht wahr?«, fragte Dominik aufgeregt. »Siehst du, Mutti, sie streunt doch«, fügte er triumphierend hinzu.

»Ja, wir haben eine riesengroße Dogge gesehen«, mischte sich nun auch Henrik ein.

»Kinder, seid mal still. Ihr lasst ja Herrn Bullinger nicht zu Wort kommen«, mahnte Denise. Danach berichtete sie: »Die Kinder haben die Dogge auch schon gesehen. Merkwürdig, dass man auf ein so wertvolles Tier so wenig aufpasst.«

Der Oberförster seufzte. »Einige Leute haben den Hund schon länger beobachtet. Manche nennen ihn sogar ›Geisterhund‹, weil er stets unerwartet vor ihnen steht, um dann ebenso plötzlich wieder zu verschwinden. Bisher scheint die Dogge noch keinen Schaden in unserem Wildbestand angerichtet zu haben. Aber wie man sich erzählt, sei sie bis auf die Knochen abgemagert. Falls sich der Besitzer des Hundes nicht meldet, bin ich gezwungen, das Tier zu erschießen, so leid mir das auch täte. Deshalb wollte ich Sie, Frau von Schoenecker fragen, ob Sie vielleicht wissen, wem die Dogge gehören könnte.«

Denise schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Bullinger, niemand von uns weiß es.«

»Dann allerdings müssen wir den Hund töten.«

»Bitte, Herr Bullinger, tun Sie das nicht!«, rief Nick und sprang auf. »Wir könnten ihn doch einfangen.«

»Nick, das haben wir bereits versucht. Gestern waren mein Forstgehilfe und zwei Burschen aus dem Dorf fast den ganzen Tag im Wald, um den Hund aufzuspüren. Gegen Mittag haben sie ihn dann auch gesehen. Sie haben alles versucht, um ihn zu erwischen. Doch ohne Erfolg.«

Dominik standen plötzlich Tränen in den Augen. »Aber man kann die Dogge doch nicht einfach abknallen wie einen tollwütigen Hund!«, stieß er hervor. »Es gibt doch in unserer Gegend keinen Tollwutfall, nicht wahr?«, fügte er leiser hinzu.

»Noch wissen wir keinen, Nick. Aber trotzdem muss man in Erwägung ziehen, ob der Hund krank ist.«

»Ja, Nick, Herr Bullinger hat recht«, mischte sich Denise wieder ein. »Mir tut der Hund ebenfalls leid. Aber manchmal muss man hart sein, um andere zu schützen.«

»Und wenn wir Kinder eine Treibjagd veranstalten würden?« Dominik gab nicht so schnell auf. Es wollte ihm ganz einfach nicht in den Kopf, dass ein so schöner Hund erschossen werden sollte.

»Das wäre viel zu gefährlich, Nick«, erwiderte der alte Mann betrübt. Die verzweifelten Bemühungen des Jungen, den Hund zu retten, rührten ihn. Doch er hatte seine Dienstvorschriften, nach denen er sich richten musste.

»Gefährlich? Warum?« Dominik presste seine Hände tief in die Hosentaschen und legte seine Stirn in Falten. Ein Zeichen, dass er intensiv nachdachte. Er wollte die Dogge unbedingt retten.

»Ein so scheuer Hund kann gefährlich werden, weil er Angst hat, Nick«, klärte der Oberförster ihn auf. »Sollte die Dogge nicht krank sein, muss sie sehr schlecht behandelt worden sein. Deshalb ist sie so furchtsam und misstrauisch. Denn ein normaler ausgehungerter Hund würde die Menschen suchen. Bei diesem Hund besteht jedoch die Gefahr, dass er beißt, wenn man ihn anfasst. Siehst du nun, Nick, dass wir keines der Kinder und auch dich nicht in diese Gefahr bringen dürfen?«

»Ja, Nick, Herr Bullinger kennt sich in diesen Dingen aus. Wir können in diesem Fall nichts unternehmen, mein Junge.« Denise blickte ihren Sohn mitfühlend an.

»Dann muss der große schwarze Hund sterben«, stellte Henrik weinerlich fest. »Das ist nicht lieb.«

»Ja, mein Kleiner, das ist nun mal so. Also, dann werde ich nicht länger stören.« Der alte Mann trank den letzten Schluck Schnaps und erhob sich.

»Oh, ich hab’s!«, rief Dominik plötzlich begeistert. »Es gibt doch einen Ausweg! Wirklich, ich habe eine ganz tolle Idee!«

»Ach, Nick, du mit deinen Ideen«, lachte Denise.

»Es ist bestimmt eine gute Idee, Mutti. Bitte, bitte, Herr Bullinger, hören Sie mich noch an. Sollten Sie meinen Vorschlag ablehnen, dann gebe ich mich geschlagen.«

Der Oberförster setzte sich wieder und bedankte sich, als Denise ihm noch einmal einschenkte. »Gut, mein Junge, ich höre.«

»Im Fernsehen habe ich schon oft gesehen, wie man wilde Tiere einfängt, ohne sie ernstlich zu verletzen. Mit einer Betäubungsflinte nämlich, wie sie die Großwildjäger besitzen. Damit könnte man doch auch die Dogge einfangen.«

»Die Idee ist nicht schlecht, Nick«, gab der alte Mann zu. »Aber ob man sie in die Praxis umsetzen kann, ist fraglich. Auch müsste man eine solche Flinte haben.«

»Man müsste eine organisieren«, überlegte Dominik.

»Wie stellst du dir das vor?«, fragte Denise.

Diesmal hatte Henrik einen Einfall. Er hatte aufmerksam zugehört und erinnerte sich, dass Onkel Max, ein Freund seines Vatis, in der letzten Woche in Schoeneich gewesen war und von seinem Aufenthalt in Afrika erzählt hatte. »Onkel Max hat bestimmt eine solche Waffe«, meinte er stolz, weil ihm das eingefallen war.

»Aber ja, Onkel Max!« Dominiks Wangen begannen vor Aufregung zu glühen. »Du bist wirklich gescheit, Henrik. Onkel Max fängt doch Tiere für den Zoo. Wir müssen sofort Vati anrufen, damit er mit Onkel Max spricht.«

»Sie sehen, Herr Bullinger«, lachte Denise. »meine Söhne versuchen alles, um die Dogge zu retten. Da sollte man nicht so hart sein.«

»Ich würde mich ja selbst freuen, wenn man den Hund am Leben lassen könnte. Aber lange können wir beim besten Willen mit der Aktion nicht mehr warten,«

»Das sehe ich natürlich ein.« Denise erhob sich. »Ich rufe meinen Mann an.

Alexander versprach, sofort zu kommen. Zehn Minuten später war er auch da und meldete telefonisch seinen und des Oberförsters Besuch bei seinem Freund Maximilian Bendlow an.

Der Großwildjäger bewohnte in der Nähe von Maibach ein hübsches Landhaus. Er war mit einer reizenden Frau verheiratet und hatte drei kleine Kinder.

Herzlich begrüßte er seinen Freund Alexander, den Oberförster Bullinger und Nick, der natürlich mitgefahren war.

»Meine Frau ist mit den Kindern bei ihren Eltern, sodass ich im Augenblick Strohwitwer bin. Bitte kommt doch weiter«, sagte er und trat vor seinen Gästen in ein geräumiges Zimmer, das vollgestopft war mit den Trophäen, die er von seinen vielen Jagden im Dschungel mitgebracht hatte.

Dominik war sehr beeindruckt von diesen Dingen. Hätte ihm das Leben der Dogge nicht so sehr am Herzen gelegen, hätte er Onkel Max bestimmt mit vielen Fragen bestürmt. Doch so setzte er sich still auf das Ledersofa und hörte zu, als sich die Herren unterhielten.

Maximilian Bendlow ließ den Oberförster berichten. Dann schüttelte er den Kopf. »Im allgemeinen ist es nicht üblich, Hunde auf diese Weise einzufangen.«

»Aber in diesem Fall wäre es vielleicht angebracht«, meinte Bullinger nachdenklich.

»Na ja, man könnte natürlich eine Ausnahme machen. Außerdem benutzt man bei Raubtieren und so großen Hunden keine Flinte, sondern eine Pistole.«

»Aber nicht wahr, du hast doch eine solche Pistole?«, erkundigte sich Nick.

»Natürlich habe ich eine. Also gut, ich werde mich an der Jagd nach dem Hund beteiligen«, versicherte der Großwildjäger.

»Heute noch?«, fragte Dominik rasch.

»Heute? Das wird wohl kaum möglich sein«, meinte Alexander und blickte auf seine Armbanduhr. »Es ist gleich halb sechs. In einer guten Stunde wird es um diese Jahreszeit schon dämmrig.«

»Dann morgen.« Dominik seufzte auf. »Aber morgen habe ich doch Schule. Zu blöd!«, ärgerte er sich.

»Nick, ich kann dir deshalb beim besten Willen keinen Entschuldigungszettel schreiben«, erwiderte Alexander schmunzelnd.

»Eigentlich könntest du doch …«

»Nein, Nick. So, und nun verlassen wir dich wieder«, sagte Alexander zu seinem Freund.

»Schade. Meine Frau und die Kinder kommen erst nächste Woche wieder, sodass ich gern länger Gesellschaft gehabt hätte.«

»Dann komm doch mit zu uns«, schlug Alexander vor. »Meine Frau und meine Kinder freuen sich sehr über deinen Besuch. Du könntest auch in Schoeneich übernachten, damit wir morgen in aller Herrgottsfrühe losziehen können, um die Dogge zu suchen.«

»Ein fantastischer Vorschlag, den ich aus ganzem Herzen akzeptiere«, erwiderte der Großwildjäger in bester Laune. »Ich packe nur das Nötigste zusammen und natürlich auch die Pistole mit den Betäubungspatronen.«

*

In den nächsten Tagen blieb die Dogge jedoch unsichtbar, sehr zum Kummer von Dominik und den anderen Kindern in Sophienlust.

»Das ist ein gutes Zeichen«, überlegte Malu, die verständiger war als die anderen. »Sicherlich hat der Hund wieder heimgefunden.«

»Das könnte schon sein«, stimmte Isabel ihr bei. Doch der folgende Tag zeigte, dass das ein Irrtum war. Pünktchen war wieder einmal auf ihren Lieblingsplatz in der Ulme geklettert, der ihr einen herrlichen Ausblick nach allen Seiten gewährte. Sie hatte sich von Herrn Rennert das Fernglas ausgeliehen, um besser sehen zu können. Eigentlich dachte sie im Augenblick nicht mal an die Dogge, denn auch sie war der Meinung, dass sie wieder zu Hause sei.

Eine Zeitlang beobachtete Pünktchen die Autos auf der Autobahn, die ununterbrochen vorbeiflitzten. Doch dann wurde ihr das zu langweilig. Sie richtete das Fernglas nun auf die Wiesen und Wälder.

Plötzlich stutzte sie, als sie am Rand des Waldes, dort wo der Forellenbach entlangfloss, einen dunklen Schatten erspähte. Nein, es ist kein Schatten, korrigierte sie sich selbst. Das muss die Dogge sein … Vor Aufregung verlor das kleine Mädchen fast das Gleichgewicht. »Nick!«, rief sie. »Nick!«

Dominik war mit zwei großen Jungen auf der Terrasse und hörte Pünktchens Ruf. »Da ist doch etwas los«, sagte er und lief schon zu der Ulme.

»Nick, ich habe sie gesehen! Die Dogge, meine ich. Schau doch selbst.« Pünktchen deutete in die bewusste Richtung.

Dominik kletterte behende auf den Baum hinauf, nahm Pünktchen das Fernglas ab und schrie: »Ja, dort ist die Dogge. Sie kann kaum mehr laufen. Nun nichts wie los!« Er rutschte wieder vom Baum herab und flitzte schon ins Haus.

»Ich muss Onkel Max und den Förster anrufen!«, rief er Frau Rennert zu. »Die Dogge ist noch da!« Mit fliegenden Händen wählte er die Nummer von Schoeneich, ließ Maximilian Bendlow an den Apparat bitten und atmete hörbar auf, als dieser versprach, sofort zu kommen.

Danach telefonierte Dominik mit dem Oberförster, der ebenfalls so schnell wie möglich kommen wollte. Dann rief er noch bei seinem Schwager an.

»Gut, Nick«, meinte Hans-Joachim, »ich werde mich frei machen. Andrea wird mich inzwischen hier vertreten. Ich bin in einer Viertelstunde bei euch. Ich nehme den Caravan, damit wir den betäubten Hund sofort in meine Praxis bringen können. Aber du musst dich mit dem Gedanken vertraut machen, dass ich die Dogge einschläfern muss, wenn nur der geringste Verdacht auf Tollwut besteht.«

»Das weiß ich, Hans-Joachim. Aber ich drücke beide Daumen, dass das nicht nötig sein wird«, erwiderte Nick nach einem tiefen Atemzug.

*

Eine gute halbe Stunde später waren alle zur Stelle. Auch Alexander war nach Sophienlust gekommen, von Denise begleitet. Sie erkundigte sich bei ihrem Schwiegersohn nach Andrea.

»Andrea geht es ausgezeichnet. Sie lässt euch alle herzlich grüßen und hat sehr bedauert, dass sie nicht mitfahren konnte. Aber einer muss daheim bleiben, um die Telefongespräche entgegenzunehmen. Jedenfalls augenblicklich, weil ja meine Eltern noch in Meran sind. Betti ist zwar ein tüchtiges Dienstmädchen, aber mir ist es doch lieber, wenn Andrea mit den Leuten spricht. Sie ist bei allen sehr beliebt«, fügte er mit Stolz hinzu.

Dann brachen Alexander, Nick, der Oberförster Bullinger, Hans-Joachim und Maximilian Bendlow auf, um nach der geheimnisvollen Dogge zu suchen. Die Kinder hatten sich im Gutshof versammelt und sahen dem Auto nach.

»Ob sie die Dogge wirklich finden werden?«, meinte Pünktchen skeptisch.

*

Die vier Herren und Dominik stiegen an der Stelle aus dem Wagen, an der Pünktchen den Hund zuvor entdeckt hatte. Doch jetzt war er nicht zu sehen.

»Vielleicht ist die Dogge bereits so erschöpft, dass wir sie auch ohne die Betäubungspatrone einfangen können«, meinte der Oberförster.

»Möglich wäre es schon.« Maximilian Bendlow entsicherte die Pistole. »Wenn ich sie treffe, dauert es noch fünfzehn bis zwanzig Minuten, bis das Betäubungsmittel wirkt.«

Dominik war ein Stück vorangelaufen. Plötzlich blieb er ruckartig stehen und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Dort ist sie«, flüsterte er aufgeregt. »Dort vorn.«

Leise kamen die Herren näher.

»Wir werden versuchen, sie so einzufangen. Ich habe einen Maulkorb im Wagen«, sagte Hans-Joachim.

»Gut.« Alexander ging einige Schritte weiter und lockte den Hund: »Komm! Komm her!«

Die Dogge spitzte die Ohren und lief davon. Im gleichen Augenblick schoss Maximilian Bendlow. Er traf den Hund genau in die rechte Hinterflanke.

»Das ist eine Wucht«, erklärte Dominik fasziniert. »Schießen kannst du ganz toll.« Voller Bewunderung sah er den Großwildjäger an.

»Das muss ich auch, Nick. Beim Einfangen der wilden Tiere muss man darauf achten, dass ein Tier nicht unnötig verletzt wird. Aber nun müssen wir der Dogge nachlaufen, damit wir sie nicht aus den Augen verlieren.«

Der Hund schnappte immer wieder nach hinten, zu der Stelle, wo die Patrone ihn getroffen hatte. Dann lief er langsam weiter. Doch die Betäubungspatrone wirkte schneller, als Bendlow geglaubt hatte. Wahrscheinlich lag das an der allgemeinen Erschöpfung des Hundes, der ja vermutlich seit Tagen kaum etwas gefressen hatte.

Dicht bei dem Forellenbach begann die Dogge plötzlich zu schwanken. Dann fiel sie plötzlich um und blieb liegen. Hans-Joachim ging zu ihr hin und hob eines der Augenlider an. »Sie ist bewusstlos«, sagte er. »Mein Gott, wie sieht das Tier nur aus.« Er deutete auf die unzähligen kleinen Wunden, die den großen Körper bedeckten. Noch an Ort und Stelle horchte er das Herz des Hundes ab, der so mager war, dass man jede einzelne Rippe zählen konnte. Mit einem Seufzer richtete er sich auf. »Ich glaube kaum, dass wir ihn durchbekommen. Aber natürlich werde ich alles versuchen. Jetzt muss er erst einmal auf dem schnellsten Weg zu mir.«

Alexander, dessen Freund Bendlow und Hans-Joachim trugen den Hund zum Wagen und legten ihn vorsichtig hinten hinein. Dann fuhren sie los. Aber sie hielten nicht in Sophienlust an, wie die Kinder gehofft hatten, sondern fuhren auf dem schnellsten Weg nach Bachenau weiter.

Andrea, die den Wagen durch die Fenster der Praxisräume kommen sah, lief aus dem Haus. Sie trug Blue Jeans und einen saloppen Pulli. Sie sah bezaubernd aus, als sie mit einem kleinen Lächeln alle begrüßte. »Ich habe schon alles vorbereitet«, sagte sie eifrig und eilte voraus, als die Männer den Hund ins Haus trugen.

Auf dem Behandlungstisch band Hans-Joachim der Dogge die Schnauze mit einem Band zu und untersuchte sie gründlich. »Symptome von Tollwut kann ich nicht feststellen. Trotzdem mache ich noch eine Blutprobe.«

Dominik, der interessiert zugeschaut hatte, seufzte erleichtert auf. »Er wird wach!«, rief er nach einer Weile, als die Dogge die Augen aufschlug und mit ihrer Rute mehrmals auf den Tisch schlug. Sonst rührte sie sich jedoch nicht.

»Ich glaube, sie weiß, dass wir ihr helfen«, meinte Andrea mit einem glücklichen Lächeln. »Nicht wahr, Hans-Joachim, wir werden sie durchbekommen?«

»Ich hoffe es sehr, Andrea. Gib mir bitte einen frischen Tupfer.«

»Sofort.« Ihr Gesicht zeigte wieder aufmerksamen Ernst, als ihr Mann den Hund weiter verarztete.

Nachdem Hans-Joachim alle Wunden gesäubert und mit einer mildernden Salbe bestrichen hatte, verlangte er nach der schon vorbereiteten Stärkungsspritze. »Er bekommt vorerst nur etwas Milch und Haferschleim«, sagte er. »Es ist bei ihm genauso wie bei einem Menschen, der lange nichts zu essen bekommen hat. Der Organismus muss sich erst wieder an die Nahrungsaufnahme gewöhnen.«

»Ich hole Milch. Lauwarme Milch, nicht wahr?«

»Ja, mein Liebling.« Verliebt blickte Hans-Joachim seiner Frau nach.

»Mensch, Andrea ist wirklich eine Wucht«, ließ sich Dominik vernehmen. Seitdem seine Schwester verheiratet war, sah er in ihr ein höheres Wesen. Nun gesellte sich aber noch Stolz und Achtung hinzu.

»Ja, sie ist wunderbar. Nick, bitte, rufe doch deinen Vater, damit wir den Hund ins Tierheim hinübertragen können. Ich glaube kaum, dass er schon laufen kann.«

»Aber ich kann dir doch helfen. Schau doch, wie stark ich bin.« Nick ballte seine Faust und zog den Arm an, um seinen Bizeps zu zeigen.

»Ich sehe es, Nick. Doch ich möchte, dass dein Vater mir hilft. Die Dogge ist sehr schwer.«