Sophienlust Extra 11 – Familienroman - Gert Rothberg - E-Book

Sophienlust Extra 11 – Familienroman E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die neue Ausgabe Sophienlust extra wird alle Freunde und Sammler dieser Serie begeistern. Sämtliche Romane, die wir in dieser neuen Ausgabe veröffentlichen, sind Kelter-Erstdrucke. So haben alle Leserinnen und Leser die Möglichkeit, die Lücken in ihrer Sophienlust-Sammlung zu schließen. Eine Windbö kam auf und wirbelte den beiden Kindern dicke Schneeflocken ins Gesicht. Pünktchen schüttelte die blonden Locken und lachte hellauf. "Wollen wir eine Schneeballschlacht machen, Heidi?", rief sie übermütig. "Oder ist es dir lieber, wenn wir einen Schneemann bauen? So einen großen, dicken mit Kohlestücken als Augen und einer Mohrrübe als Nase?" Als Pünktchen auf ihre Frage keine Antwort bekam, beugte sie sich hinunter zu der Dreijährigen, die in Sophienlust rasch die Herzen aller erobert hatte und zum Liebling von groß und klein geworden war. "Was ist los mit dir, Heidi? Gefällt dir der viele Schnee nicht? Also, ich finde den Winter prima." "Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Pünktchen", entgegnete Heidi mit merkwürdig belegt klingender Stimme. "Mein Kopf tut auf einmal so weh. Mir ist auch so schrecklich heiß. Am liebsten möchte ich meinen Mantel ausziehen und den dicken Pulli dazu. Meine Beine sind auch so schwer", setzte sie noch kläglich hinzu. Dann ließ sie das Köpfchen sinken und stand apathisch neben Pünktchen, die schon bei den ersten Worten der Kleinen einen ordentlichen Schrecken bekommen hatte. "Nun fängt es bei dir also auch an, Heidi", meinte Pünktchen mitleidig.

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Sophienlust Extra – 11 –

Ein Kind der Liebe

Warum kommt Mutti nicht zu mir?

Gert Rothberg

Eine Windbö kam auf und wirbelte den beiden Kindern dicke Schneeflocken ins Gesicht. Pünktchen schüttelte die blonden Locken und lachte hellauf. »Wollen wir eine Schneeballschlacht machen, Heidi?«, rief sie übermütig. »Oder ist es dir lieber, wenn wir einen Schneemann bauen? So einen großen, dicken mit Kohlestücken als Augen und einer Mohrrübe als Nase?«

Als Pünktchen auf ihre Frage keine Antwort bekam, beugte sie sich hinunter zu der Dreijährigen, die in Sophienlust rasch die Herzen aller erobert hatte und zum Liebling von groß und klein geworden war. »Was ist los mit dir, Heidi? Gefällt dir der viele Schnee nicht? Also, ich finde den Winter prima.«

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Pünktchen«, entgegnete Heidi mit merkwürdig belegt klingender Stimme. »Mein Kopf tut auf einmal so weh. Mir ist auch so schrecklich heiß. Am liebsten möchte ich meinen Mantel ausziehen und den dicken Pulli dazu. Meine Beine sind auch so schwer«, setzte sie noch kläglich hinzu. Dann ließ sie das Köpfchen sinken und stand apathisch neben Pünktchen, die schon bei den ersten Worten der Kleinen einen ordentlichen Schrecken bekommen hatte.

»Nun fängt es bei dir also auch an, Heidi«, meinte Pünktchen mitleidig. »Na ja, wenigstens bist du nicht allein. Im Moment leidet ja beinahe ganz ­Sophienlust an der Grippe. Komm, lass uns rasch zum Haus zurückgehen, ­damit du möglichst schnell ins Bett kommst. Bestimmt hast du Fieber. Dein Gesicht ist ganz rot. Aber es dauert ja zum Glück nicht lange«, fügte sie tröstend hinzu.

»Die ersten, die mit der Erkältung ins Bett mussten, laufen schon wieder quietschvergnügt herum.«

Liebevoll nahm Pünktchen das kleine Mädchen an der Hand und ging langsam mit ihm zu dem Gutsgebäude zurück, das jetzt, durch die wirbelnden Schneeflocken hindurch, wie ein verzaubertes Märchenschloss aussah. Doch dafür hatte im Moment keines der Kinder ein Auge.

Frau Rennert, die Heimleiterin, stand gerade in der Halle, als die beiden Mädchen ins Haus kamen.

»Tante Ma, Heidi muss sofort ins Bett«, rief Pünktchen ihr entgegen. »Ich glaube, es hat sie jetzt auch erwischt. Sie klagt über Kopf- und Gliederschmerzen, und Fieber scheint sie außerdem zu haben.«

»Arme Heidi«, meinte Frau Rennert mitleidig, während sie sich mit einem raschen Blick in das brennende Gesicht der Kleinen von der Richtigkeit von Pünktchens Behauptungen überzeugte. »Doch Frau Dr. Frey wird schon dafür sorgen, dass du recht bald wieder gesund wirst«, fügte sie tröstend hinzu. »Sie ist übrigens gerade droben bei unseren übrigen Patienten. Komm, ich bring dich hinauf zu ihr, damit sie dich gleich untersuchen kann.« Frau Rennert nahm die Kleine auf den Arm und lief mit ihr die breite Treppe hinauf in den ersten Stock.

Auch Pünktchen wollte in ihr Zimmer gehen, um ihren Mantel und die feuchten Schuhe auszuziehen, als plötzlich abermals die Tür aufgerissen wurde und Nick und sein jüngerer Bruder Henrik hereingestürmt kamen. Beide hatten feuerrote Wangen von der frischen Luft und glänzende Augen. Man sah ihnen auf den ersten Blick an, dass sie kerngesund waren und dass der grassierende Grippevirus ihnen nichts anhaben konnte.

»Wie ist’s, Pünktchen, kommst du mit uns raus in den Park zu einer zünftigen Schneeballschlacht?«, rief Nick ausgelassen, als er das Mädchen erblickte.

»Ich komme gerade von draußen«, entgegnete sie zögernd. »Ich habe Heidi nach Hause gebracht. Sie scheint jetzt auch die Grippe zu haben.«

»Schlimm?«, erkundigte sich Nick teilnahmsvoll.

»Ich weiß es nicht. Frau Dr. Frey muss sie erst noch untersuchen. Sie ist gerade oben.«

»Alle werden krank, bloß ich nicht«, beschwerte sich Henrik plötzlich mit gekränktem Gesicht.

Die beiden anderen drehten sich nach ihm um und musterten ihn verwundert.

»Sag bloß, dir tut’s leid, dass du nicht auch im Bett liegen kannst«, meinte Nick verständnislos. »Krank zu sein ist doch etwas schrecklich Langweiliges …«

»Finde ich gar nicht«, verteidigte sich der Jüngere. »Man braucht nicht in die Schule zu gehen, darf den ganzen Tag im Bett liegen und kriegt alles zu essen, was man sich wünscht. Also, ich finde eine Grippe prima.«

»Versteh ich nicht!«, erklärte Nick und schüttelte den Kopf. »Sonst bist du doch immer froh, wenn du den ganzen Tag draußen sein und mit den anderen Kindern spielen darfst. Jetzt willst du auf einmal das Bett hüten …« Gleich darauf fügte er in dozierendem Tonfall hinzu: »Außerdem hat man auch gar keinen Hunger, wenn man krank ist. Es nützt dir also gar nichts, wenn man dir dann deine Lieblingsspeisen kocht.«

»Trotzdem«, maulte der Kleine. »Ich sehe einfach nicht ein, weshalb die andern alle die Grippe haben dürfen, bloß ich nicht! Sie können zu Hause im Bett bleiben – bloß ich muss in die Schule. Eine Ungerechtigkeit ist das!«

Das Klingeln des Telefons setzte der Diskussion der beiden Brüder ein Ende. Es klingelte ein paar Mal im Büro, doch niemand hob den Hörer ab.

»Tante Ma ist droben bei Heidi«, erinnerte sich Pünktchen plötzlich, »und Carola wird bei den Zwillingen sein. Willst du nicht abnehmen, Nick?«

Der Junge überlegte nur kurz, dann lief er schon ins Büro und nahm den Hörer ab. »Dominik von Wellentin-Schoenecker«, meldete er sich und lauschte, während Bruder Henrik und Pünktchen neugierig unter der Tür stehenblieben.«

»Büro Marina Pavese«, meldete sich am anderen Ende eine außerordentlich arrogant klingende weibliche Stimme. »Ich möchte Frau von Schoenecker sprechen. Möglichst rasch, bitte.«

Die arrogante Stimme war Nick von der erste Sekunde an unsympathisch. Trotzdem erwiderte er höflich: »Meine Mutti ist im Augenblick nicht da. Kann ich ihr etwas bestellen?«

»Dann gib mir ihre Vertreterin, wenn deine Mutter nicht da ist!«, forderte die Stimme barsch. »Aber beeile dich ein bisschen!«

»Ich muss Frau Rennert erst suchen«, erklärte Nick, nur noch mit Mühe den höflichen Ton beibehaltend. »Einen Moment, bitte …«

»Nicht nötig. Ich habe keine Zeit, stundenlang am Telefon zu warten!«

Klack! Damit war die Verbindung unterbrochen.

Ganz verdattert legte Nick den Hörer auf die Gabel zurück. »Also, so etwas ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert!«, entrüstete er sich gleich darauf. »Sie hat mich behandelt, als ob ich ein unmündiges Baby wäre.« Nicks Stolz war tief getroffen. »Dabei bin ich doch schon fast erwachsen!«

»Wer war’s denn überhaupt, Nick?«

Pünktchen konnte ihre Neugier nicht länger zügeln.

»Büro Marina … Marina …« Nick überlegte. »Es hat so südländisch geklungen. Italienisch vermutlich.« Er legte seine glatte Bubenstirn in tiefe Denkerfalten.

Pünktchen hatte große Augen bekommen. »Marina Pavese vielleicht?«, erkundigte sie sich ein wenig atemlos.

Nick betrachtete sie überrascht. »Ja, so hat sie gesagt«, bestätigte er. »Aber woher weißt du das?«

»Aber Nick!«, tadelte seine langjährige Freundin. »Marina Pavese ist doch eine ganz berühmte Schauspielerin! Früher trat sie nur an Theatern auf. Aber nach den ersten Filmen, die sie gedreht hat, konnte man ihr Bild doch in allen Illustrierten sehen.«

»Ich schau mir selten mal eine Illustrierte an«, rechtfertigte sich Nick. »Höchstens mal beim Zahnarzt im Wartezimmer.«

Pünktchen hörte jetzt überhaupt nicht auf ihn. Schwärmerisch fuhr sie fort: »Sie ist wirklich ganz wunderschön, die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe – außer Tante Isi natürlich!«, fügte sie rasch und völlig überzeugt hinzu. »Und jetzt soll sie nach Hollywood gehen und dort Filme drehen. Was wollte sie eigentlich von Tante Isi, Nick?«

»Weiß ich doch nicht!«, knurrte der Junge, noch längst nicht versöhnt. Was konnte das schon für eine großartige Schauspielerin sein, wenn in ihrem Büro so unhöfliche Leute herumsaßen? Bestimmt war es einer dieser kurvenreichen Stars, die man weitgehend unbekleidet auf der Leinwand bewundern konnte. Aber so etwas fand Nick einfach zum Gähnen langweilig.

»Na, ihr schaut ja so nachdenklich aus, ihr drei!«, sagte in diesem Moment eine weiche, ungemein sympathisch klingende Stimme von der Tür her.

»Mutti!« und »Tante Isi!«, riefen die drei beinahe gleichzeitig und liefen auf die schöne, elegant gekleidete Frau an der Tür zu.

Lachend breitete Denise von Schoenecker die Arme aus. Sie fing die drei Kinder gleichzeitig darin auf. »Guten Tag, Pünktchen«, begrüßte sie zuerst das Mädchen. Dann wandte sie sich an ihre Söhne: »Ich kam gerade mit dem Wagen vorbei. Und da ich eure Angewohnheit kenne, jede freie Minute in Sophienlust zu verbringen, habe ich gedacht, dass ich euch nach Hause mitnehmen könnte. Es wird bald dunkel, und bei dem Schneegestöber, das im Moment draußen herrscht, wüsste ich euch nicht gern unterwegs nach Schoeneich, auch wenn ihr mittlerweile den Weg bereits im Schlaf kennt. So ein Schneetreiben ist tückisch.«

Denise richtete sich auf und rückte ihr Hütchen wieder gerade. »Gibt es hier in Sophienlust etwas Neues, Pünktchen?«, erkundigte sie sich anschließend.

»Ja, jetzt hat auch noch Heidi die Grippe bekommen«, berichtete das Mädchen eifrig. »Glaubst du, dass sie nun bald die Schulen schließen werden, Tante Isi? Die halbe Klasse ist bereits krank, und jeden Tag werden es noch mehr.«

»Ich weiß nicht, Pünktchen«, entgegnete Denise nachdenklich. »So schlimm wie in diesem Jahr war es allerdings noch selten.«

»Die Schulen schließen – das wäre ja herrlich, Mutti!«, rief Henrik plötzlich mit leuchtenden Augen. »Glaubst du, dass es recht lange dauern wird? Ein paar Monate – oder noch länger?« Erwartungsvoll hingen die Bubenaugen am Gesicht der Mutter.

Denise betrachtete ihren jüngsten Sohn verwundert. »Was ist nur los mit dir, Henrik? Früher bist du doch immer gern zur Schule gegangen, doch nun behauptest du plötzlich jeden Morgen, es gehe dir schlecht, du habest schreckliche Halsschmerzen oder sonst etwas. Dabei fehlt dir gar nichts. Sag mal, hat es Ärger mit den Lehrern gegeben?« Besorgt musterte sie das Gesicht des Jungen.

Henrik wich ihren Blicken aus. »Nein, Mutti, die Lehrer sind in Ordnung. Das weißt du doch. Du kennst sie ja.«

Nick fand, dass Henrik nun lange genug das Interesse aller auf sich gezogen habe. Kurz und bündig erklärte er: »Ich glaube, Henrik tut es nur leid, dass er nicht auch die Grippe bekommen hat wie alle anderen. Er will sich bestimmt nur ein bisschen von dir verhätscheln lassen, Mutti. Doch nun muss ich dir etwas ganz Wichtiges sagen. Vorhin hat eine Frau angerufen. Büro Marina Pavese, hat sie gesagt, und dann hat sie nach dir gefragt.«

Wortgetreu wiederholte Nick das für ihn so kränkende Telefongespräch.

Denise hörte ihrem Sohn schweigend zu. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, schüttelte sie verständnislos den Kopf. »Ich weiß allerdings auch nicht, was ich zu soviel Unhöflichkeit sagen soll«, meinte sie abschließend. »Warst du auch gewiss höflich zu der Dame, Nick?«

»Das war er, Tante Isi!«, verteidigte Pünktchen ihren Freund sofort. »Wir haben beide zugehört, Henrik und ich. An Nick hat es bestimmt nicht gelegen, dass die Dame sich so schlecht benommen hat.«

»Was wirst du nun unternehmen, Mutti?«, erkundigte sich Nick interessiert. »Die Schauspielerin deinerseits anrufen?«

Denise lächelte. »Nein, das werde ich nicht tun, mein Sohn. Wenn es sehr wichtig ist, wird die Dame ohnehin von selbst noch einmal anrufen. Wenn nicht, nun ja, dann um so besser. Unhöfliche Menschen sind mir nämlich genauso ein Gräuel wie dir.«

»Dann ist es ja gut«, erklärte Nick mit einem Aufatmen.

In diesem Moment hörten sie eilige Schritte die Treppe herunterkommen. Denise sah auf. »Ah, Sie sind es, Frau Dr. Frey«, begrüßte sie die junge Ärztin.

Diese strich eine Strähne ihres langen, mittelblonden Haares aus der Stirn und sagte seufzend: »Schon wieder ein neuer Patient, Frau von Schoenecker. Diesmal ist es die kleine Heidi. Frau Rennert bringt sie gerade zu Bett.«

»Ist es schlimm, Frau Doktor?«, erkundigte sich Denise mit besorgtem Gesicht.

Doch die junge Ärztin schüttelte den Kopf. »Nein, da kann ich Sie beruhigen. Die Fälle verlaufen allesamt harmlos. Ein paar Tage Bettruhe, bis das Fieber herunter ist – und dann sind die kleinen Patienten gewöhnlich wieder munter und fidel wie zuvor. Doch nun muss ich mich entschuldigen, Frau von Schoenecker. Ich habe zu Hause nämlich auch eine Patientin. Meine kleine Tochter. Ich habe ihr versprochen, so schnell wie möglich zurückzukommen.«

Denise lächelte. »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten, Frau Doktor. Viele Grüße an Felicitas. Und gute Besserung natürlich.«

»Vielen Dank, Frau von Schoenecker.« Damit war die junge Ärztin bereits draußen.

»So, und wir werden uns nun ebenfalls verabschieden«, sagte Denise zu ihren Söhnen. »Wenn euer Vater nach Hause kommt, möchte er gern sein Abendbrot haben. Es ist unhöflich, ihn unnötig warten zu lassen.« Doch plötzlich schien ihr etwas einzufallen. »Henrik, kommst du bitte mal einen Moment mit mir?«, sagte sie zu ihrem jüngsten Sohn und ging ihm voraus in das Biedermeierzimmer. Der Junge folgte ihr mit gesenktem Kopf.

In dem kostbar ausgestatteten Raum, der eine Atmosphäre des Behagens und der Gemütlichkeit verbreitete, ließ Denise sich in einen der Sessel sinken und zog Henrik an sich. Mit der rechten Hand fasste sie unter sein Kinn und zwang ihn so, ihr in die Augen zu schauen. »Hast du plötzlich kein Vertrauen mehr zu mir, Henrik?«, fragte Denise mit trauriger Stimme.

»Doch, Mutti«, erklärte der Kleine, wich aber den forschenden Blicken aus.

»Wenn du etwas angestellt hast, Henrik – du weißt, dein Vater und ich haben sehr viel Verständnis für die Sorgen der Kinder. Wir bestrafen euch nur sehr selten. Du brauchst also keine Angst zu haben.«

»Ich weiß, Mutti.«

»Und – kannst du mir nicht sagen, was du auf dem Herzen hast, Henrik? Ich möchte dir so gern helfen, mein Junge.«

»Ach, Mutti, das kannst du eben nicht!«, brach es verzweifelt aus Henrik hervor. »Niemand kann mir helfen …« Er verstummte mutlos.

Denise erschrak. Es musste ja weit schlimmer sein, als sie angenommen hatte. Aber was mochte der Kleine nur auf dem Herzen haben? Sie konnte es sich einfach nicht erklären.

Henrik gab sich nun einen Ruck. »Da ist seit letzten Herbst ein Mädchen in meiner Klasse«, begann er endlich. »Sofie heißt sie und ist schon zweimal sitzengeblieben. Sie ist viel größer und stärker als wir anderen in der Klasse. Alle haben Angst vor ihr. Nicht nur ich.«

Insgeheim atmete Denise auf. Das war es also. Er hatte Angst vor einer größeren und stärkeren Mitschülerin, die die Kleineren wohl nicht in Ruhe ließ. Nun, da konnte rasch Abhilfe geschaffen werden. Nachdem Henrik einmal den Anfang gemacht hatte, gab es nun kein Halten mehr für ihn. Aufgeregt sprudelte er hervor: »Wir müssen alles tun, was sie von uns verlangt, sonst droht sie, uns zu verhauen. Sie kann boxen wie ein großer Junge und …«

»Hat sie dich etwa auch schon verhauen, Henrik?«, unterbrach Denise ihren Sohn.

Henrik ließ den Kopf sinken. »Nein, das ist es ja gerade. Mich verhaut sie nie.«

»Das verstehe ich nicht. Warum bist du denn nicht froh darüber, dass sie dich in Ruhe lässt?

Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann sagte Henrik: »Sie verhaut mich nur deshalb nicht, weil sie mich liebt. Zumindest hat sie das behauptet. Und wenn wir einmal groß sind, will sie mich heiraten. Als ich ihr sagte, dass ich sie aber nicht heiraten wolle, hat sie gesagt, dann würde sie mich so verhauen, dass ich nicht mehr sitzen könnte. Sag, Mutti, – muss ich Sofie später heiraten? Sie ist doch so dick und hässlich …« Mutlos ließ er den Kopf sinken.

Denise konnte nur mit Mühe ein Lächeln verbeißen. Todernst entgegnete sie: »Selbstverständlich musst du diese Sofie nicht heiraten, Henrik. Wenn sie ein bisschen älter geworden ist, wird sie schon von selbst begreifen, dass man Liebe und Zuneigung nicht ausgerechnet mit Drohungen und Schlägen erzwingen kann. Nur Mut, mein Sohn! Ihr werdet mit dieser kleinen Tyrannin schon fertig werden, wenn ihr alle zusammenhaltet. Wenn man sich einschüchtern lässt, hat man bereits den ersten Schritt zur Niederlage getan. Das musst du dir merken. Aber nun müssen wir wirklich nach Hause fahren. Vati macht sich sonst Sorgen um uns.«

Denise nahm Henrik an der Hand und stellte mit einem verstohlenen Blick in sein Gesicht fest, dass seine Augen schon wieder viel fröhlicher in die Welt schauten als noch vor wenigen Minuten. Wenn man nur alle Probleme so leicht aus der Welt schaffen könnte wie dieses! dachte sie beklommen. Ein paar Wochen lang hatte es keine Aufregungen in Sophienlust gegeben – dann war prompt diese Grippeepidemie gekommen. Die Hälfte der Kinder war nun bereits krank gewesen. Hoffentlich gab es nicht noch verspätete Komplikationen.

Völlig in Gedanken war Denise vor die Haustür getreten. Erst als die ersten Flocken ihr Gesicht trafen und sofort schmolzen, kehrte sie in die Wirklichkeit zurück.

»Wir werden langsam fahren müssen, Mutti«, sagte Nick neben ihr. »Man sieht kaum noch die Hand vor den Augen. Und Nebel kommt außerdem auf.«

Denise nickte. Sie wollte sich jetzt ausschließlich auf die Heimfahrt konzentrieren.

An den mysteriösen Anruf dachte längst niemand mehr.

*

Am nächsten Morgen schien die Sonne auf eine glitzernde Märchenwelt. Die ganze Nacht hindurch hatte es geschneit. Dick lag nun der Schnee auf Ästen und Zweigen. Er funkelte und glitzerte in der Sonne, als habe jemand unzählige Diamanten über der Landschaft ausgestreut. Oder als sei ein talentierter Zuckerbäcker am Werk gewesen.

Als die Kinder am Morgen vor das Haus traten und ihre Busse besteigen sollten, um in die Schule zu fahren, gab es zunächst eine kleine Schneeballschlacht. Die frisch gefallene weiße Pracht hatte ganz einfach dazu verlockt. Doch nachher stiegen die Kinder brav in ihre Busse, um pünktlich zum Unterricht zu erscheinen. Manche hatten noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, dass es doch noch ein paar Tage zusätzlicher Ferien geben würde. Lehrer waren schließlich auch nicht gegen die Grippe gefeit.

Erst mittags kehrten die Kinder aus der Schule zurück, denn der Unterricht hatte wie gewohnt stattgefunden. Gerade als sie die beiden Busse verließen, glitt völlig geräuschlos ein großer schwerer Wagen die Auffahrt entlang und hielt vor der breiten Freitreppe.

Fabian, der sich als richtiger Junge in Wagentypen gut auskannte, erklärte mit respektvoll gedämpfter Stimme: »Das ist ein Rolls-Royce. Den sieht man selten hier in Deutschland. Der ist ganz schrecklich teuer.«

Doch die Mädchen hatten nur Augen für die Frau, die dem Wagen nun entstieg, nachdem ein uniformierter Chauffeur herausgesprungen war und eine der Türen aufgerissen hatte.

Die Frau war tatsächlich wunderschön. Ihre zarte schmale Gestalt wurde von dem flauschigen Mantel fast völlig eingehüllt. Ein großer Hut mit einem glockigen Rand beschattete ihr Gesicht, das sie zudem noch gesenkt hatte. Doch einmal hatte die Kinder ein Blick aus den riesigen grünen Augen getroffen, sodass sie alle verstummt waren. Sie blickten der Dame noch lange stumm nach, nachdem sich das Portal hinter ihr geschlossen hatte.

Erst nach einer Weile erwachten die Kinder aus ihrer andächtigen Versunkenheit. »Das war Marina Pavese. Ich hab sie genau erkannt«, berichtete Pünktchen aufgeregt den übrigen Kindern. »Gestern hat jemand aus ihrem Büro angerufen, und nun ist sie selbst gekommen.«

»Da, in dem Wagen, da sitzt ein Kind«, unterbrach Fabian sie. »Ob das Mädchen zu uns kommen soll?«

Die Aufmerksamkeit aller wandte sich nun wieder dem großen Wagen und seinen Insassen zu.

Tatsächlich, im Fond saß ein etwa achtjähriges Mädchen mit langen, goldblonden Haaren. Es blickte mindestens ebenso interessiert heraus zu den Kindern, wie diese den unbekannten Gast musterten. Es war ein ausgesprochen hübsches Kind mit runden, rosig angehauchten Wangen und großen blauen Augen. Es trug ein weißes Mäntelchen und ein dazu passendes Mützchen.