Ein Mann für meine Mutter - Gert Rothberg - E-Book

Ein Mann für meine Mutter E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Dominik von Wellentin-Schoenecker, allgemein nur Nick genannt, schaute zufrieden über den langen Tisch. Zu dieser Mittagsmahlzeit gab's Rinderrouladen mit Rotkohl. Das aß er sehr gern, besonders wenn die Köchin Magda es zubereitet hatte. Wie die anderen Kinder von Sophienlust füllte Nick seinen Teller bis zum Rand. Dann machte er sich umgehend daran, die Riesenportion zu verdrücken. Hinterher überlegte er, ob er sich noch eine zweite Portion nehmen sollte. Bis ihm einfiel, dass es als Nachtisch Schokoladencreme mit Schlagsahne gab. Es wäre doch jammerschade, wenn er dafür keinen Appetit mehr hätte. Also verzichtete er auf die zweite Fleisch- und Gemüseportion und schaute erwartungsvoll zur Tür hinüber, ob die Schokoladencreme nicht bald serviert wurde. In diesem Moment beugte sich Pünktchen zu ihm herüber. Nick war während der Mahlzeit nicht aufgefallen, dass seine Freundin mit wenig Begeisterung auf ihrem Teller herumgestochert und kaum etwas von den Speisen angerührt hatte. »Ist es wirklich wahr, Nick, dass ihr heute Mittag schon wegfahrt?«, erkundigte sich Pünktchen. Ihre veilchenblauen Augen hingen dabei traurig an dem hübschen Gesicht des Jungen. Vergnügt antwortete Nick: »Ja, wir fahren gleich nach dem Mittagessen los. Mutti kommt von Schoeneich herüber und holt uns ab. Dann geht's weiter nach Heidelberg. Sascha weiß noch gar nicht, dass wir ihm eine Stippvisite abstatten. Der wird ganz schön Augen machen …« Erst jetzt fiel Nick auf, wie traurig Pünktchen ihn anschaute.

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Sophienlust Extra – 23 –

Ein Mann für meine Mutter

Markus hat einen genialen Plan …

Gert Rothberg

Dominik von Wellentin-Schoenecker, allgemein nur Nick genannt, schaute zufrieden über den langen Tisch. Zu dieser Mittagsmahlzeit gab’s Rinderrouladen mit Rotkohl. Das aß er sehr gern, besonders wenn die Köchin Magda es zubereitet hatte.

Wie die anderen Kinder von Sophienlust füllte Nick seinen Teller bis zum Rand. Dann machte er sich umgehend daran, die Riesenportion zu verdrücken. Hinterher überlegte er, ob er sich noch eine zweite Portion nehmen sollte. Bis ihm einfiel, dass es als Nachtisch Schokoladencreme mit Schlagsahne gab. Es wäre doch jammerschade, wenn er dafür keinen Appetit mehr hätte. Also verzichtete er auf die zweite Fleisch- und Gemüseportion und schaute erwartungsvoll zur Tür hinüber, ob die Schokoladencreme nicht bald serviert wurde.

In diesem Moment beugte sich Pünktchen zu ihm herüber. Nick war während der Mahlzeit nicht aufgefallen, dass seine Freundin mit wenig Begeisterung auf ihrem Teller herumgestochert und kaum etwas von den Speisen angerührt hatte.

»Ist es wirklich wahr, Nick, dass ihr heute Mittag schon wegfahrt?«, erkundigte sich Pünktchen. Ihre veilchenblauen Augen hingen dabei traurig an dem hübschen Gesicht des Jungen.

Vergnügt antwortete Nick: »Ja, wir fahren gleich nach dem Mittagessen los. Mutti kommt von Schoeneich herüber und holt uns ab. Dann geht’s weiter nach Heidelberg. Sascha weiß noch gar nicht, dass wir ihm eine Stippvisite abstatten. Der wird ganz schön Augen machen …«

Erst jetzt fiel Nick auf, wie traurig Pünktchen ihn anschaute. ›Trottel!‹ schimpfte er sich selbst aus. ›Pünktchen tut es leid, dass ich ohne sie wegfahre, und ich sitze hier und schwärme auch noch von dieser Fahrt.‹

Rasch fügte er hinzu: »Aber wir bleiben ja nicht lange. Nur heute und morgen. Dann kommen wir schon wieder nach Sophienlust zurück. Außerdem bringen wir ein neues Kind mit, das wir in Heidelberg abholen werden.«

Pünktchens Gesicht belebte sich. »Ein neues Kind?«, wiederholte sie interessiert. »Ein Junge oder ein Mädchen?«

»Ein Mädchen«, antwortete Nick, wobei er befriedigt feststellte, dass Pünktchen schon nicht mehr an die bevorstehende Abreise dachte.

»Wie alt?«, wollte das Mädchen wissen.

»Zehn Jahre«, gab Nick Auskunft. »Und einen ganz verrückten Namen hat sie. Ahira oder so. Es stand in dem Brief, den Mutti bekommen hat.«

»Ahira …« Pünktchen ließ den Namen gleichsam auf der Zunge zergehen. »Hab ich noch nie gehört«, stellte sie abschließend fest.

»Ich auch nicht«, bestätigte Nick. »Aber ich finde, es klingt hübsch.«

Mit rasch erwachender Eifersucht blickte Pünktchen zu ihrem großen Freund hinüber. Nick würde sich doch nicht vielleicht stärker für das neue Kind interessieren als für sie, seine langjährige Freundin?

Pünktchen beschloss, ein wachsames Auge auf die beiden zu haben, sobald das Mädchen mit dem fremdländisch klingenden Namen in Sophienlust eingetroffen war.

Nick dachte in diesem Augenblick nicht mehr an Ahira. Denn eben wurde eine kleine Glasschüssel mit Schokoladencreme und einem ordentlichen Sahneberg darauf vor ihn hingestellt. Er nahm den Dessertlöffel in die rechte Hand und leerte mit unglaublicher Geschwindigkeit die kleine Schüssel.

Als er fertig war, schob Pünktchen ihm ihre Nachspeise über den Tisch zu. »Hier, diese Portion kannst du auch noch haben«, erklärte sie mit abgewandtem Gesicht.

»Nanu?«, machte Nick verwundert. »Seit wann magst du denn keine Schokoladencreme? Bist du etwa krank?« Aufmerksam betrachtete er das blasse Gesichtchen mit den lustigen Sommersprossen auf der Nase.

»Nein, ich bin nicht krank«, murmelte Pünktchen mit leiser Stimme. »Es ist nur, weil ihr doch wegfahrt, du und Henrik. Und weil du dich auf das neue Mädchen zu freuen scheinst.« Pünktchen hatte Mühe, die Tränen hinunterzuschlucken, die ihr in die Augen steigen wollten. ›Heulsuse!‹ schimpfte sie sich selbst. Nick brauchte nicht zu wissen, wie es in ihr ausschaute. Einfach blöd, diese Eifersucht.

Nick hatte schon verstanden. Tröstend meinte er: »Aber Pünktchen, ich freue mich auf Ahira nicht mehr als auf andere Kinder auch, die nach Sophienlust kommen. Schau, Ahiras Vater ist ein berühmter Archäologe. Das sind Leute, die irgendwo in der Wüste nach längstvergessenen Städten und allerlei Dingen buddeln.«

»Ich weiß«, sagte Pünktchen. Ihre Stimme klang noch immer erstickt.

»Genau dies tut also auch Ahiras Vater«, fuhr Nick in seinem Bericht fort. »Schon in wenigen Tagen wird er wieder abreisen. Nach Vorderasien, glaube ich.«

»Warum bleibt dieses Mädchen denn nicht bei seiner Mutter?«, erkundigte sich Pünktchen in aggressivem Tonfall.

»Weil es keine Mutter mehr hat«, erwiderte Nick geduldig. »Sie ist vor ein paar Monaten gestorben.«

Pünktchen hatte bereits Mitleid mit dem Mädchen, das keine Mutter mehr hatte und dessen Vater nun auch wieder abreisen sollte. Denn Pünktchen wusste, wie es war, wenn man plötzlich ganz allein auf der Welt stand. Einmal war es ihr genauso ergangen, damals, als ihre Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen waren. So erwiderte sie rasch besänftigt: »Sie wird sich schon bei uns eingewöhnen. Vielleicht gefällt es ihr dann so gut, dass sie gar nicht mehr weg will.«

Nick erkannte, dass sich Pünktchen mit den Tatsachen abgefunden hatte. Er schob ihr die volle Schüssel mit der Schokoladencreme wieder über den Tisch zu. »So, das isst du jetzt schön brav auf«, kommandierte er. »Und wenn die Schüssel nicht in fünf Minuten leer ist, gehe ich in die Küche zu Magda und sage ihr, dass dir die Creme nicht geschmeckt hat und dass sie dir in Zukunft keine mehr zu geben braucht.«

Rasch griff Pünktchen nach dem Löffel und machte sich über die kleine Glasschüssel her. Keine Schokoladencreme mehr für sie? Das durfte nicht sein. Schnell löffelte sie die Schüssel leer.

Kurz darauf fuhr draußen ein hübscher Sportwagen vor. Denise entstieg ihm in einem hellbeigen Seidenkostüm. Sie sah wunderschön darin aus. Nick, der mit Pünktchen auf dem Gutshof stand, war wieder einmal mächtig stolz auf seine aparte Mutti.

Denise von Schoenecker mahnte: »Bitte rasch einsteigen, Nick. Ich habe Herrn Professor Bornheimer versprochen, am späten Nachmittag bei ihm vorbeizuschauen zu einem ersten Informationsgespräch. Und ich möchte ihn nicht gern warten lassen.«

Henrik, der nun ebenfalls herbeigekommen war, zog einen Flunsch. »Gehen wir wirklich zuerst zu dem ollen Professor? Ich hab mich doch schon so auf Sascha gefreut. Und auch auf Michael.«

Denise legte tröstend ihren Arm um die Schulter ihres Jüngsten. »Natürlich fahren wir heute noch zu den beiden«, versprach sie. »Aber wir wollen uns doch auch ein bisschen mit dem kleinen Mädchen unterhalten, das bald zu uns nach Sophienlust kommen wird. Verstehst du? Für Ahira sind wir doch völlig fremde Menschen. Vielleicht hat sie sogar ein bisschen Angst vor uns. Oder sie hat keine Lust, nach Sophienlust zu kommen, weil sie sich nicht vorstellen kann, wie es bei uns zugeht. Diese Angst möchte ich ihr gern nehmen.«

»Angst – vor uns?« Henrik bekam große Kulleraugen. Dann lachte er laut. »Aber vor uns braucht sich doch niemand zu fürchten!«

»Das stimmt. Aber davon müssen wir Ahira erst überzeugen. So, und nun verabschiedet euch endlich von euren Freunden.« Denise blickte dabei zu den drei Mädchen hinüber, die inzwischen vor ihrem Wagen Aufstellung genommen hatten.

Zwei davon, Angelika und Vicky Langenbach, reichten zuerst ihrer geliebten Tante Isi die Hand, hinterher Nick und Henrik. »Grüßt unseren Bruder Michael vielmals von uns«, baten sie. »Und sagt ihm, dass er in den Semesterferien auch bestimmt wieder nach Sophienlust kommen soll. Wir freuen uns doch schon so auf ihn.«

»Machen wir«, versprachen die beiden Jungen.

Nun verabschiedete sich Pünktchen von den Abreisenden. So leise, dass die anderen es nicht verstehen konnten, sagte sie zu Nick: »Richte Ahira aus, dass die Kinder von Sophienlust sich schon auf sie freuen. Sie braucht sich nicht davor zu fürchten, hierherzukommen.«

Eine Sekunde lang blickte Nick seine Freundin verblüfft an. Dann zog ein Leuchten über sein hübsches Jungengesicht. »Pünktchen, du bist ein Pfundskerl!«, versicherte er. Das war das höchste Lob, das er zu vergeben hatte.

*

Einige Stunden später hielt Denises Wagen vor einem alten, etwas außerhalb von Heidelberg stehenden Haus. Es war ringsum von einem großen, ein wenig verwilderten Garten umgeben und war geradezu romantisch aus mit seinen unzähligen Türmchen, Erkern und diversen Vorbauten. Der Garten war von einer hohen Mauer umgeben, die an manchen Stellen bereits baufällig war und einzustürzen drohte. Trotzdem wirkte das ganze Anwesen nicht ärmlich oder heruntergekommen. Es dokumentierte vielmehr, wer hinter dieser hohen Mauer wohnte: Ein Gelehrter, der sich mehr für seine Bücher interessierte als für die realen Dinge, die ihn tagtäglich umgaben. Vermutlich war ihm die Verwilderung noch gar nicht aufgefallen.

»Das erinnert aber stark an Dornröschen und das Schloss, in dem seit hundert Jahren keiner mehr war«, sagte Nick auch prompt. »Nur dass die Schlingpflanzen hier von den Bäumen herunterhängen und sich nicht um das Haus ranken.«

»Aber schön ist’s hier«, lautete Henriks Kommentar. »In dem Garten kann man bestimmt prima Verstecken spielen.«

»Aber nicht Fußball«, antwortete Nick skeptisch. »Schau mal, die vielen alten Bäume mit den dichten Laubkronen … Wenn sich da ein Ball drin verfängt, kriegt ihn keiner mehr runter.«

»Man könnte raufklettern«, entschied Henrik. Er blickte abschätzend zu den Bäumen hinüber, um den Abstand der untersten Äste vom Erdboden zu berechnen. »Doch, das müsste zu schaffen sein«, stellte er abschließend fest.

Denise meinte lächelnd: »Ihr sollt hier nicht Fußball spielen, sondern einen Besuch abstatten. Bitte vergesst das nicht. So, und nun steigt endlich aus.«

Die beiden Jungen krochen aus dem Wagen und blickten an der Mauer hoch, über die der voll erblühte Flieder seine weißen und lilafarbenen Dolden herabhängen ließ. Es duftete betäubend nach Flieder und Jasmin an diesem wunderschönen Frühlingstag.

An der Gartentür suchte Nick lange nach einer Klingel oder einem Namenschild. Bis Henrik probeweise auf die Türklinke drückte, die jämmerlich quietschte und nach Öl verlangte.

Henrik sagte verwundert: »Es ist ja gar nicht abgeschlossen!« Schon marschierte er über die Steinplatten, die früher wohl einen Weg markiert hatten, zwischen denen jetzt jedoch das Gras knöchelhoch wuchs.

Nick und Denise folgte ihm.

Die Haustür war verschlossen. Auf der rechten Seite hing ein altmodischer Klingelzug. Denise streckte die Hand aus und zog ein wenig an dem hübsch geschmiedeten Griff. Drinnen war ein melodisches Läuten zu hören.

Sekunden später öffnete sich die schwere Eichentür vor ihnen. Ein Mann erschien in ihrem Rahmen. Er mochte etwa fünfundvierzig Jahre alt sein, hatte dunkle Haare, die an den Schläfen bereits einen silbrigen Schimmer aufwiesen, sehr wach blickende dunkle Augen, die sein gesamtes schmales Gesicht zu beherrschen schienen, und eine schlanke, fast zart wirkende, hochgewachsene Figur. Er trug helle, nicht mehr ganz sauber wirkende Kordhosen und einen saloppen schwarzen Rollkragenpullover. Im Übrigen wirkte er genau wie sein Haus: ein wenig vergammelt, aber ungeheuer sympathisch.

Als Professor Bornheimer die hübsche Frau vor seiner Tür gewahrte, bekam er einen Schreck. »Frau von Schoenecker?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Genau die bin ich«, antwortete Denise und unterdrückte ein Lächeln. »Und dies sind meine beiden Söhne Nick und Henrik«, stellte sie anschließend vor. »Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen …«

Professor Bornheimer biss sich auf die Lippen. »Keinesfalls«, sagte er rasch. »Das heißt …«, kam es zögernd hinterher, »ich hatte bereits völlig verschwitzt, dass Sie heute herkommen und mit Ahira sprechen wollten. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Es ist überhaupt nichts gerichtet. Hier drinnen schaut’s schrecklich aus. Die Aufwartefrau war schon seit einer Woche nicht mehr da und …« Er verstummte unglücklich.

»Das macht doch überhaupt nichts«, tröstete Denise den Mann mit Wärme. »Ich kann mir recht gut vorstellen, dass Sie nicht alles gleichzeitig erledigen können, Herr Professor. Für einen einzelnen Menschen ist es einfach zu viel, gleichzeitig Kindermädchen, Haushälterin, Aufwartefrau und Universitätslehrer spielen zu müssen.«

Professor Bornheimer quittierte diese Trostworte mit einem erleichterten Aufatmen. Dann trat er etwas zur Seite und bat mit verlegenem Lächeln: »Kommen Sie doch bitte herein und schauen Sie möglichst großzügig über die Unordnung hinweg.«

Denise betrat die große Halle, die fast das gesamte Erdgeschoss einnahm. Nick und Henrik folgten ihr voller Neugier. Sie waren gespannt, welche Berge von Schmutz sie vorfinden würden. Doch sie wurden maßlos enttäuscht.

An den Wänden der weitläufigen Halle standen unzählige geschnitzte Truhen. Darauf standen – Henrik traute seinen Augen kaum – lauter Scherben. Es waren Tonscherben, wie er gleich darauf feststellte. Wohl ehemalige Vasen. Oder auch Krüge. Aber jetzt waren nur noch Bruchstücke davon vorhanden. Komisch, dass der Professor so etwas aufhob. Wenn zu Hause in Schoeneich oder in Sophienlust etwas kaputt ging, dann wurde es rasch in den Mülleimer geworfen.

Aber es schien das Steckenpferd des Professors zu sein, solche Scherben zu sammeln. Die Erwachsenen hatten mitunter schon seltsame Einfälle, dachte Henrik. Nun sah er auch, dass die Scherben voller Staub waren. Auch die Truhen waren schon lange nicht mehr gesäubert worden.

Da sagte der Professor auch schon entschuldigend: »Außer meiner Frau durfte hier niemand Staub wischen. Sie hatte unglaubliches Fingerspitzengefühl für diese Dinge. Sie fasste die Scherben an, als ob sie Lebewesen seien. Unter ihren Händen ist niemals etwas zerbrochen.« Er schwieg und wandte das Gesicht ab.

Denise erwiderte nichts. Sie hatte erkannt, dass der Mann noch immer unter dem Tod seiner Frau litt. Er musste sie wohl sehr geliebt haben.

Inzwischen war der Professor ein Stück weitergegangen. Er blieb nun vor einer großen Glastür stehen. »Ahira ist hier drinnen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. Dann räusperte er sich und schien über etwas nachzudenken. Schließlich fuhr er noch etwas leiser fort: »Sie weiß gar nicht, dass Sie heute kommen. Ich …, ich hatte einfach nicht den Mut, es ihr zu sagen. Sie will sich nicht von mir trennen und hat mich wiederholt gebeten, sie mit nach Kleinasien zu nehmen, wenn ich demnächst an die Ausgrabungsstätte zurückkehre. Ich konnte ihr das einfach nicht abschlagen. Sie war so unglücklich, denn sie hat unbeschreiblich an ihrer Mutter gehangen«, schloss er etwas zusammenhanglos.

Denise nickte. Sie hatte nicht nur Mitleid mit der kleinen Ahira – sie hatte beinahe noch mehr Mitleid mit dem Mann vor ihr. Er liebte sein Kind sehr und wagte es deshalb nicht, ihm die Wahrheit zu sagen. Nämlich, dass sie sich nun trennen mussten. Er brachte es nicht fertig, seiner kleinen Tochter wehzutun.

Zugleich wusste Denise aber auch, was dies für sie bedeuten würde: Sie musste sehr behutsam vorgehen, um das Vertrauen ihres neuen Schützlings zu erringen.

Rasch blickte Denise zu ihren beiden Söhnen hinüber. Henrik besichtigte noch immer voller Interesse die zahllosen Tonscherben. Doch Nick erwiderte ihren Blick. Er hatte sie verstanden. Und Denise wusste, dass sie sich auf ihren Sohn verlassen konnte. Er würde alles tun, um Ahira das Leben in Sophienlust schmackhaft zu machen.

Einigermaßen erleichtert wandte sich Denise wieder der großen Glastür zu, die nun vor ihr geöffnet wurde. Danach trat Professor Bornheimer etwas zur Seite, um Denise so den Vortritt zu lassen.

Zunächst sah Denise nur ein Gewirr und Geranke in Hell- und Dunkelgrün. Dies war kein gepflegter Wintergarten wie in Sophienlust – dies war eine Dschungellandschaft in natura.

Erst dann gewahrte Denise das Kind, das am Boden kauerte. Die schönen Augen der Gutsherrin weiteten sich überrascht.

Ahira war in ein feuerrotes Stück Seide gewickelt, das ihr von den Schultern bis zu den Fußspitzen reichte. Sehr kunstvoll war die Seide drapiert. Genau in der Art, wie es bei indischen Frauen üblich war.

Und wie eine kleine Inderin sah Ahira auch aus. Ihre langen, blauschwarzen Haare fielen offen über ihren Rücken. Die Haut ihres sehr feinen Gesichtes war braun getönt, das Figürchen zart und unglaublich grazil. Die riesigen, mandelförmigen Augen waren beinahe schwarz, die Hände lang, schmal und biegsam. Ein wunderschönes Kind! Denise hatte noch nie zuvor ein solches Kind gesehen.

Nick und Henrik starrten Ahira an wie ein Wundertier. Da fing Denise einen bittenden Blick des Professors auf, der etwas hilflos an einem Bambusgitter lehnte, an dem sich blühende Orchideen emporrankten. Sie ging auf das Mädchen, das noch immer am Boden kauerte und die kleine Gesellschaft aus ihren großen dunklen Augen forschend musterte, zu, reichte ihm die Hand und sagte freundlich: »Guten Tag, Ahira. Ich freue mich, dich kennenzulernen, und hoffe, dass wir bald Freunde werden. Willst du mir nicht die Hand geben?«

Denises Gesichtsausdruck blieb auch dann noch freundlich, als Ahira trotzig die Hand hinter dem Rücken versteckte und mit unglaublich melodisch klingender Stimme erklärte: »Nein, das will ich nicht.«

Professor Bornheimer machte zwei rasche Schritte auf die kleine Gruppe zu. Doch Denise hielt ihn mit einem leichten Schütteln des Kopfes zurück. Lassen Sie mich nur machen, baten ihre Augen.

Unentschlossen blieb der Professor stehen. Ratlos schaute er von einem zum anderen.

»Meine beiden Söhne wollten dich gern kennenlernen, Ahira«, fuhr Denise nun fort, als sei nichts geschehen. »Ich möchte sie dir gern vorstellen. Der große Junge hier ist Nick. Und dies ist mein jüngster Sohn, Henrik. Die beiden haben sich schon sehr auf dich gefreut.«

Das Gesicht des Mädchens blieb auch jetzt noch trotzig abgewandt. Die freundlichen Worte Denises schienen es überhaupt nicht zu beeindrucken.

Denise sprach freundlich weiter: »Die beiden sind ausgesprochene Tierfreunde. Magst du Tiere auch, Ahira?«

»Nein!« Das wirkte genauso trotzig wie ihr Gesichtsausdruck.

Zum ersten Mal drohte Denise zu kapitulieren. Sie warf einen fragenden Blick zu dem Professor hinüber. Der erwiderte unglücklich: »Sie lügt, Frau von Schoenecker. Sie liebt Tiere sogar abgöttisch. Als ihr kleines Kätzchen starb, das meine Frau ihr geschenkt hatte, war sie todunglücklich. Sie bekam hohes Fieber und phantasierte tagelang.«

Ahira warf ihrem Vater einen unergründlichen Blick zu. »Xana ist tot«, sagte sie rau. »Ich will nie mehr ein Tier haben. Tiere sind genau wie Menschen. Sie verlassen einen. Zuerst ist Mutti gegangen. Und du …« Unvermittelt füllten sich die großen dunklen Augen mit Tränen. Doch schon im nächsten Augenblick sprang Ahira unglaublich gelenkig auf, sauste an der verdutzt dreinblickenden kleinen Gruppe vorbei und rannte aus dem Wintergarten. Sekunden später war sie verschwunden.

»Es tut mir leid«, murmelte Professor Bornheimer verlegen. Er wagte es nicht, Denise anzublicken. »Ich habe einen Fehler begangen, das sehe ich jetzt ein. Ich hätte Ahira wenigstens auf Ihren Besuch vorbereiten sollen. Kein Wunder, dass sie nun so reagiert hat. Sie will nicht weg von hier.«

Denise schaute ihn verwundert an. »Ich denke, Ahira weiß gar nicht, weshalb wir hergekommen sind«, sagte sie dann.

Der Professor zuckte die Achseln. »Natürlich habe ich ihr nichts davon gesagt«, bestätigte er. »Aber das will bei Ahira überhaupt nichts heißen. Die weiß auch dann Bescheid, wenn ihr keiner etwas sagt.«

Henrik hatte bei diesen Worten des Professors Mund und Augen aufgesperrt. Dann erkundigte er sich atemlos: »Heißt das, dass sie …, dass Ahira … Gedanken lesen kann?«

Zum ersten Mal zog ein kleines Lächeln über das ernste Gesicht des Professors. »So etwas Ähnliches soll es tatsächlich geben, kleiner Mann«, bestätigte er. »Du hast es Ahira ja sicher angesehen – ihre Mutter war eine Inderin. Ahiras Mutter hatte auch die Fähigkeit, Dinge zu ahnen, die in der Zukunft lagen und die ihre eigene Person betrafen.«

»Wie die Huber-Mutter«, rief Henrik laut. Er war froh, so genau verstanden zu haben, worüber der Professor sprach.

Als Professor Bornheimer etwas verdutzt dreinblickte, fügte Denise erklärend hinzu: »In Sophienlust gibt es eine alte Frau, die manchmal ebenfalls Dinge voraussagt, die später auch tatsächlich eintreffen. Die Kinder schwören auf sie. Allerdings handelt es sich dabei meist um Dinge, die andere Menschen betreffen. Oft sind es Leute, die die Huber-Mutter noch niemals gesehen hat. Ich muss zugeben, es ist eine höchst erstaunliche Fähigkeit.«