Biggi und ihre Tiere - Gert Rothberg - E-Book

Biggi und ihre Tiere E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Frau Rennert blickte zum strahlend blauen Himmel empor, an dem sich kein einziges Wölkchen zeigte. Bestimmt würde es auch an diesem Tag kein Gewitter geben. Auf die ersehnte Abkühlung würden sie also mindestens noch einen Tag warten müssen. Man schrieb zwar erst Mai, doch man hätte glauben können, die Hundstage seien bereits gekommen. In diesem Moment trat Carola Rennert, die Schwiegertochter der Heimleiterin, aus dem Herrenhaus von Sophienlust. Sie war schwer beladen. Auf jedem Arm trug sie einen ihrer Zwillinge. Frau Rennert trat rasch auf Carola zu und nahm ihr eines der Kinder ab. »Puh«, machte die junge Frau und blies eine Strähne aus der erhitzten Stirn. »Glaubst du, dass wir heute noch ein Gewitter kriegen? Ich wäre deshalb nicht böse. Bei dieser Hitze schwitzt man ja schon beim bloßen Nichtstun.« »Ich glaube nicht, dass wir heute noch mit einer Abkühlung rechnen können«, entgegnete die Heimleiterin und warf noch einmal einen abschätzenden Blick zum wolkenlosen Blau hinauf. Carola setzte die kleine Alexandra auf die Wiese und drückte ihr einen weichen Stoffball in die Hand, den sie aus der Kleidertasche gezogen hatte. »Hier, mein Liebling, spiel damit«, sagte sie leise. Dann fragte sie ihre Schwiegermutter: »Was ist heute eigentlich los in Sophienlust? Man hört keines der Kinder lachen oder rufen.

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Sophienlust Extra – 26 –

Biggi und ihre Tiere

Ist sie in Sophienlust in Sicherheit?

Gert Rothberg

Frau Rennert blickte zum strahlend blauen Himmel empor, an dem sich kein einziges Wölkchen zeigte. Bestimmt würde es auch an diesem Tag kein Gewitter geben. Auf die ersehnte Abkühlung würden sie also mindestens noch einen Tag warten müssen. Man schrieb zwar erst Mai, doch man hätte glauben können, die Hundstage seien bereits gekommen.

In diesem Moment trat Carola Rennert, die Schwiegertochter der Heimleiterin, aus dem Herrenhaus von Sophienlust. Sie war schwer beladen. Auf jedem Arm trug sie einen ihrer Zwillinge.

Frau Rennert trat rasch auf Carola zu und nahm ihr eines der Kinder ab.

»Puh«, machte die junge Frau und blies eine Strähne aus der erhitzten Stirn. »Glaubst du, dass wir heute noch ein Gewitter kriegen? Ich wäre deshalb nicht böse. Bei dieser Hitze schwitzt man ja schon beim bloßen Nichtstun.«

»Ich glaube nicht, dass wir heute noch mit einer Abkühlung rechnen können«, entgegnete die Heimleiterin und warf noch einmal einen abschätzenden Blick zum wolkenlosen Blau hinauf.

Carola setzte die kleine Alexandra auf die Wiese und drückte ihr einen weichen Stoffball in die Hand, den sie aus der Kleidertasche gezogen hatte. »Hier, mein Liebling, spiel damit«, sagte sie leise. Dann fragte sie ihre Schwiegermutter: »Was ist heute eigentlich los in Sophienlust? Man hört keines der Kinder lachen oder rufen. Die Stille macht einen geradezu nervös.«

Die Heimleiterin entgegnete lächelnd: »Schwester Regine ist mit den Kleinen in den Wald gegangen. Eine sehr vernünftige Idee bei dieser Hitze, wenn du mich fragst. Und die Großen sind um diese Zeit noch in der Schule. Allerdings werden die beiden Schulbusse bald wieder zurückkommen.«

»Glaubst du, dass ich die Zwillinge ein paar Minuten allein hier auf der Wiese lassen kann? Ich habe noch ein paar Hemden für Wolfgang zu bügeln.«

»Ich werde auf die Kinder aufpassen«, versprach Frau Rennert und setzte Andreas zu Alexandra. »Geh nur schon ins Haus. Später kannst du mich ja ablösen. Ich muss noch ein paar Rechnungen durchgehen, die mit der Post gekommen sind.«

Nachdenklich schaute die Heimleiterin ihrer Schwiegertochter nach, die rasch zum Haus zurückging. Auch Carola war einst als Waisenkind nach Sophienlust gekommen wie so viele Kinder. Sie alle waren traurig und mutlos hergekommen und hatten in diesem »Haus der glücklichen Kinder« wieder das Lachen gelernt. Zu Carola war außerdem noch das ganz große Glück gekommen. Sie hatte hier ihren Mann Wolfgang kennen- und liebengelernt. Seither bildete die Familie Rennert eine kleine, aber höchst zufriedene und glückliche Gemeinschaft.

Das Klingeln des Telefons, das aus einem offenen Fenster des Hauses kam, riss die Heimleiterin aus ihren Betrachtungen. Rasch sprang sie von der Wiese, auf der sie neben ihren lebhaft herumkrabbelnden Enkelkindern gesessen hatte, auf und lief ins Haus. Den Kindern würde in der Zwischenzeit schon nichts passieren. Außerdem konnte sie die beiden ja vom Bürofenster aus beobachten.

Frau Rennert nahm den Hörer ab und meldete sich. Doch zunächst vernahm sie nur ein aufgeregtes Atmen.

Niemand sprach.

Frau Rennert konnte nicht sagen, weshalb ihr plötzlich ein kalter Schauer den Rücken hinabjagte. Sie räusperte sich und zwang sich, so ruhig wie möglich zu fragen: »Hallo, wer spricht dort?«

Endlich war eine Stimme zu hören. Sie gehörte einer Frau und klang noch sehr jung und hilflos. »Spreche ich mit Frau von Schoenecker?«, fragte die Stimme, wobei sie merklich zitterte.

»Frau von Schoenecker kommt erst heute Nachmittag nach Sophienlust«, gab Frau Rennert ruhig Auskunft. »Kann ich ihr etwas bestellen?«

Am anderen Ende herrschte wieder für wenige Sekunden Schweigen. Dann antwortete die gehetzte Stimme: »Würden Sie Frau von Schoenecker bitte sagen, dass sie …« Die junge Frau sprach plötzlich nicht weiter, als fürchte sie, von jemandem belauscht zu werden.

Wieder fühlte Frau Rennert einen kalten Schauer über ihren Rücken hinabjagen. Rasch rief sie: »Hallo? Was soll ich Frau von Schoenecker bestellen? Sind Sie noch da?«

»Sagen Sie Frau Schoenecker, dass ich sie bitte, heute Abend so lange in Sophienlust zu bleiben, bis ich mit Biggi dort eintreffe«, erklang nun wieder die gehetzte Stimme. »Ich kann Ihnen das jetzt nicht erklären. Ich bin nicht allein im Haus und …« Wieder eine kurze Pause, dann: »Biggi, meine Tochter, ist in Gefahr. Ich möchte, dass Sie sie für eine Weile in Sophienlust aufnehmen.«

»Ich werde Frau von Schoenecker alles bestellen«, versprach Frau Rennert hastig. Ein leises Klicken zeigte ihr gleich darauf an, dass am anderen Ende aufgelegt worden war.

Sehr nachdenklich kehrte Frau Rennert in den Park von Sophienlust zurück, wo ihre beiden Enkelkinder sich noch immer auf der Wiese mit dem Stoffball vergnügten. Doch jetzt konnte sich die Heimleiterin nicht über das fröhliche Treiben der beiden Kinder amüsieren. Sie musste ständig an die aufgeregte Stimme der jungen Frau denken, deren Kind in Gefahr war.

Hoffentlich kommt Frau von Schoenecker bald, überlegte Frau Rennert.

*

Denise von Schoenecker runzelte die hübsche weiße Stirn, als die Heimleiterin ihr aufgeregt von dem Anruf berichtete. »Es klang, als habe die Frau schreckliche Angst vor etwas«, schloss Frau Rennert.

»Nannte sie ihren Namen?«

»Nein, das tat sie nicht. Sie schien nur an ihr Kind zu denken. Und sie sprach davon, dass es in Gefahr sei.«

»Nicht gerade viel …«

»Ich hatte den Eindruck, die Frau fürchte einen heimlichen Lauscher«, fuhr die Heimleiterin fort. »Bestimmt will sie das Kind vor ihm in Sicherheit bringen.«

»Gut möglich …«

»Deswegen wird sie auch erst heute Abend kommen wollen«, vermutete Frau Rennert weiter. »Wenn es dunkel ist und sie das Kind unbemerkt fortbringen kann.«

»Hoffentlich kommt sie unbehelligt nach Sophienlust. Hier werden wir dann schon alle Hebel in Bewegung setzen, um das Kind zu beschützen, wenn es tatsächlich in Gefahr sein sollte«, entgegnete Denise.

»Sie werden also heute Abend hierbleiben, bis die Mutter mit ihrem Kind eingetroffen ist, Frau von Schoenecker?«

»Selbstverständlich werde ich das«, antwortete Denise. »Ich werde später meinen Mann anrufen und ihm Bescheid sagen, damit man in Schoeneich nicht mit dem Essen auf uns wartet.«

»Auf uns?«, wiederholte Frau Rennert fragend.

»Nick wird selbstverständlich auch dableiben wollen, wenn er erfährt, worum es sich handelt«, meinte Denise lächelnd. »Oder können Sie sich vorstellen, dass sich mein Sohn eine Sensation entgehen lässt?«

»Nein, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.« Frau Rennert musste lachen. »Und wenn es keine Sensation wird, dann wittert er zumindest eine …«

»Eine Sensation?«, rief in diesem Augenblick eine neugierige Bubenstimme hinter den beiden Frauen. »Darf ich wissen, worüber hier gesprochen wird? Oder handelt es sich um ein Staatsgeheimnis?«

»O Nick!«, seufzte Denise erbarmungswürdig. »Weshalb nur hat dir deine Urgroßmutter dieses Kinderheim vererbt? Eine Privatdetektei wäre viel angebrachter gewesen.«

Mit glänzenden Augen rief Nick: »Ich hab’s ja gewusst, es gibt also tatsächlich eine Sensation!«

Ernster geworden, antwortete Denise: »Frau Rennert und ich hoffen inständigst, dass es keine Sensation geben wird, Nick. Es handelt sich um eine junge Frau, die heute morgen hier angerufen hat. Sie will am Abend ihr Kind herbringen und sprach am Telefon von Gefahr. Mehr wissen wir auch nicht.«

»Wirst du hierbleiben, Mutti?«

»Ja.«

»Und ich?«

»Du darfst ebenfalls bleiben. Vorausgesetzt, dass deine Schularbeiten darüber nicht zu kurz kommen.«

»Ich habe meine Bücher mitgebracht«, rief Nick und rannte schon zur Tür. »Ich werde jetzt sofort lernen, damit wir nachher gemeinsam auf Mutter und Tochter warten können.«

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

*

Es war eine sehr lange Zeit, die die beiden warten mussten. Die Kinder von Sophienlust waren längst zu Bett gegangen, als Nick und seine Mutter noch immer in dem hübschen Biedermeiersalon saßen und darauf warteten, dass der angemeldete Besuch endlich eintreffe.

»Wir könnten Schach spielen«, schlug Nick seiner Mutter vor und schielte verstohlen nach der Armbanduhr. Schon zehn Uhr vorbei. Ob die Frau mit ihrer Tochter noch kommen würde? Nick zweifelte allmählich daran.

»Meinetwegen«, antwortete Denise lustlos. Sie wusste schon jetzt, dass sie sich nicht auf das Spiel würde konzentrieren können. Ihre Gedanken weilten bei der unbekannten jungen Frau, die sich auf dem Weg nach Sophienlust befand. Vorausgesetzt, dass sie unterwegs nicht von einem Verfolger abgefangen worden war.

Dann hörten die beiden Wartenden endlich draußen das Brummen eines Automotors. Gleichzeitig sprangen sie auf.

»Endlich!«, murmelte Denise. Dann lief sie hinaus in die Halle und öffnete gleich darauf weit die Haustür.

Nick hatte unterdessen die Beleuchtung angeknipst, die die Auffahrt in taghelles Licht tauchte. So konnte er trotz der späten Stunde die beiden Ankömmlinge deutlich erkennen.

Die Frau sah noch sehr jung aus. Sie war klein und zierlich und hatte kurz geschnittenes dunkles Haar. Sie trug enge schwarze Hosen und einen schwarzen Pullover. Denise überlegte, ob die Unbekannte diese dunkle Kleidung mit Absicht gewählt hatte, um für einen etwaigen Verfolger nicht so leicht zu erkennen zu sein.

Das Kind an der Hand der jungen Frau war ebenfalls dunkel gekleidet. Es trug Blue Jeans und einen dunkelblauen, kurzärmeligen Pulli. Allerdings leuchteten seine langen hellblonden Haare, die zu zwei dicken Zöpfen geflochten waren, weithin. Denise schätzte das Alter des Kindes auf etwa zehn Jahre.

»Ich muss mich bei Ihnen wegen dieses späten Überfalls entschuldigen, Frau von Schoenecker«, begann die junge Frau hastig und mit zitternder Stimme.

Denise machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie werden Ihre Gründe dafür gehabt haben«, erwiderte sie ernst. »Außerdem hatten Sie sich ja bereits angemeldet. Aber kommen Sie doch bitte ins Haus.« Sie bückte sich und reichte auch dem kleinen Mädchen die Hand. »Du bist Biggi, nicht wahr?«, sagte sie freundlich.

Das Kind warf ihr einen langen, ernsten Blick aus seinen großen blauen Augen zu und antwortete danach voller Vertrauen: »Ja, ich bin Biggi. Meine Mutti hat gesagt, dass ich für eine Weile hier bei Ihnen bleiben müsse, solange Onkel Klaus bei uns ist. Mutti und ich fürchten uns nämlich vor ihm.«

»Biggi!«, rief die junge Frau.

Das hatte wohl streng klingen sollen, aber Denise hörte aus dem einen Wort nur die Angst heraus. Behutsam streichelte sie über die blonden Haare des kleinen Mädchens und sagte freundlich: »In Zukunft darfst du Tante Isi zu mir sagen, Biggi. So nennen mich auch die übrigen Kinder von Sophienlust. Und dies hier ist mein Sohn Nick. Er wird sich jetzt ein wenig um dich kümmern und dir dein Zimmer zeigen, während ich mich mit deiner Mutti unterhalte.«

Das Gesicht des Mädchens verzog sich, als wollte es jeden Augenblick zu weinen anfangen. »Darf ich meine Mutti denn nicht mehr sehen? Ich … Ich will mich doch wenigstens noch von ihr verabschieden! Ach, Mutti …!«

Schon rannen Tränen über die runden Kinderwangen.

Die junge Frau schloss ihr Kind in beide Arme. Während es in ihrem bleichen Gesicht schmerzlich zuckte, mahnte sie mit leiser Stimme: »Du hast doch versprochen tapfer zu sein, Biggi.«

Nick hielt es für richtig, jetzt die Initiative zu ergreifen. Er packte das kleine Mädchen an der Hand und zog es mit sich. »Komm, ich zeig dir jetzt zuerst einmal unseren Habakuk. Das ist ein Vogel, der sprechen kann. Wenn wir eine Weile mit ihm üben, wird er bald deinen Namen sagen können.«

Die Augen des Kindes weiteten sich. »Gibt es so etwas denn?«

»Klar gibt es das!«, antwortete Nick fest. »Zwar wird der gute Habakuk jetzt schon schlafen, aber wir werden ihn ganz einfach wecken. Schließlich muss er das neue Mitglied von Sophienlust doch gleich kennenlernen.«

Nicks Diplomatie hatte Erfolg. Zwar schaute sich Biggi noch ein paarmal zögernd nach ihrer Mutter um, doch als Denise den Kindern nachrief: »Deine Mutti wird nachher bestimmt noch einmal zu dir kommen und sich von dir verabschieden, Biggi«, folgte sie dem Jungen in den Wintergarten.

Wenig später saß Denise ihrem nächtlichen Gast im Biedermeiersalon gegenüber. Magda, die auch an diesem Tag wieder bis spät am Abend in der Küche gearbeitet hatte, servierte den beiden Frauen Tee.

»Mein Name ist Walden. Marion Walden«, stellte sich die junge Frau vor, nachdem sie einen Schluck aus der Tasse genommen hatte. »Ich glaube, ich hab mich heute morgen am Telefon nicht einmal vorgestellt, aber ich war so kopflos …«

»Das macht doch nichts«, beruhigte Denise ihren Gast.

»Ich hatte nur eines im Sinn«, fuhr Marion Walden fort, »mein Töchterchen in Sicherheit zu bringen, und zwar so rasch wie möglich.«

»Hier ist Ihre Tochter bestimmt in Sicherheit, Frau Walden«, entgegnete Denise fest. »Wir haben genügend Personal, das sich ständig um die Kinder kümmert. In dieser Hinsicht kann ich Sie völlig beruhigen.«

Ein tiefer Atemzug hob die Brust der jungen Frau. »Gott sei Dank«, murmelte sie mit kaum vernehmlicher Stimme. »Nun werde ich endlich wieder ruhig schlafen können – zum ersten Mal seit Wochen.«

Nachdenklich rührte Denise in ihrer Tasse. Sie musste wissen, in welcher Gefahr Biggi schwebte. Nur dann konnte sie wirksame Schritte zur Sicherheit des Kindes ergreifen. Doch ihr Gegenüber war so aufgeregt, dass sie nur ungern das Gespräch auf dieses Thema brachte.

Da begann Marion Walden von selbst zu sprechen. »Klaus Walden, den Biggi vorhin erwähnte, ist mein Schwager, der älteste Bruder meines Mannes. Ich lernte ihn vor etwa zwölf Jahren kennen. Damals war ich gerade achtzehn Jahre alt und noch voller Romantik – wie es ja häufig bei jungen Mädchen der Fall ist, die sehr behütet aufwachsen und das Leben noch kaum kennengelernt haben. Klaus sah gut aus, und er machte mir mit wahrer Leidenschaft den Hof. Natürlich imponierte mir das mächtig. Außerdem ahnte ich damals noch nichts von jener anderen Leidenschaft, der er verfallen war.«

Marion Walden verstummte und rührte in ihrer Teetasse. Ihre Gedanken schienen jetzt weit weg zu sein – in jener Zeit vor zwölf Jahren, als alles begonnen haben mochte.

Denise störte die junge Frau nicht in ihren Gedanken. Sie lauschte vielmehr, ob sie im Gang etwas von Nick und Biggi hörte. Aber kein Laut war in dem gemütlichen Biedermeiersalon zu vernehmen. Nick hatte die Kleine vermutlich also schon auf ihr Zimmer gebracht.

»Eine Weile war ich sehr verliebt und auch sehr glücklich«, fuhr Marion Walden nun fort. »Ich weiß nicht mehr, wie lange dies währte. Doch eines Tages fiel mir etwas Ungewöhnliches auf. Klaus besuchte mich damals in meinem Elternhaus, und meine Eltern hatten durchaus nichts dagegen einzuwenden. Klaus war gut erzogen, stets höflich und zuvorkommend. Außerdem stammte er aus einem sehr begüterten Haus. Sein Vater war der Besitzer einer gut gehenden Fabrik. An jenem Tag also kam Klaus wie gewöhnlich am Nachmittag und wollte mich zum Tennisspielen abholen. Es fiel mir auf, dass er außergewöhnlich nervös und fahrig war. Ich fragte, ob ihn etwas bedrücke, ob er Kummer habe, aber er fuhr mich nur unwirsch an, ich solle ihn gefälligst in Ruhe lassen. Diesen Ton kannte ich bis dahin nicht an ihm und war deshalb sehr bestürzt. Aber ihm schien das überhaupt nicht aufzufallen. Seine Augen blickten so gehetzt umher, als suche er einen Schlupfwinkel, irgendeinen Ort, an den er flüchten könne. Ja, dies beschreibt die damalige Situation wohl am besten.«

Marion Walden verstummte abermals und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn. Denise sah, dass Schweißtropfen auf ihr glänzten. Der Bericht aus längst vergangenen Jahren schien die junge Frau sehr aufzuregen. Aber Denise wusste auch, dass es bedrückten Menschen guttat, sich einmal allen Kummer von der Seele zu reden. So goss sie noch einmal Tee in die leere Tasse der jungen Frau, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und wartete.

Gleich darauf setzte Marion Walden ihren Bericht fort: »Endlich hielt es Klaus nicht länger im Wohnzimmer aus. Er murmelte eine kurze Entschuldigung und stürzte förmlich aus dem Raum. Ich folgte ihm einigermaßen befremdet. Doch als ich in den Flur trat, hörte ich nur noch die Tür des Badezimmers hinter ihm ins Schloss fallen. Gleich darauf wurde der Schlüssel von innen herumgedreht.

Eine volle Minute blieb ich ratlos vor der Tür stehen. Dann kehrte ich ins Wohnzimmer zurück, musste aber nicht lange auf Klaus warten. Als er zurückkam, war er strahlender Laune, fröhlich und ausgeglichen – beinahe nicht mehr wiederzuerkennen.«

Marion nahm einen Schluck Tee und fuhr dann in ihrer Erzählung fort: »Damals konnte ich mir noch keinen Reim auf dieses Benehmen machen, aber damals stand auch noch nicht so viel von Rauschgiftsüchtigen und deren Verhaltensweisen in den Zeitungen und Zeitschriften wie jetzt. Ich hielt das alles ganz einfach für Launenhaftigkeit, bis mir eines Tages Klaus’ Bruder Horst einen Besuch abstattete. Er bat mich um eine Unterredung unter vier Augen, die ich ihm auch gewährte. So erfuhr ich endlich die brutale Wahrheit: Klaus war schon seit einigen Jahren rauschgiftsüchtig. Einmal war er auch schon in einem Sanatorium gewesen und als geheilt entlassen worden. Doch kurz darauf war er dem Laster erneut verfallen. Auch jetzt wollte man ihn wieder wegbringen. Horst war zu mir gekommen, um mir das zu sagen. Sein Bruder sei nicht schlecht, erklärte er, nur sehr labil. Es wäre am besten, wenn ich ihn aufgäbe, sonst zöge er mich unweigerlich mit ins Unglück.

Ich sah ein, dass Horst recht hatte. Klaus gehörte in ärztliche Behandlung, und ich war noch viel zu jung, um ihm wirklich eine Hilfe sein zu können.«

Marion Walden seufzte schwer. Bedrückt sagte sie: »Klaus kam wirklich in ein Sanatorium. Natürlich besuchte ich ihn dort. Ich fühlte mich dazu einfach verpflichtet. Aber er schien sich über diese Besuche überhaupt nicht zu freuen. Er wirkte völlig apathisch, seitdem man ihm das gewohnte Gift langsam, aber sicher entzog. Doch ein anderer freute sich über meine Besuche: Klaus’ Bruder Horst. Jedes Mal, wenn ich in das Sanatorium kam, traf ich ihn dort an. Und ich kam bald dahinter, dass er nur meinetwegen so häufig dort aufkreuzte. Bitte halten Sie mich jetzt nicht für herzlos oder schlecht, Frau von Schoenecker«, wieder traf Denise einer dieser flehenden Blicke aus den großen dunklen Augen, »aber ich begann mich damals in Horst zu verlieben, obgleich ich die Pflicht gehabt hätte, darauf zu warten, dass Klaus wieder gesund wurde. Doch die Liebe war mächtiger als ich. Horst glich seinem Bruder sehr, aber er besaß außerdem das, was Klaus in so erschreckendem Maße entbehrte: Er war tatkräftig, unternehmungslustig, zuverlässig. Kurz, er war genau der Mann, der einem jungen Mädchen gefallen musste, den es sich zum Ehemann wünschte.