Der Fischerjunge Sven - Gert Rothberg - E-Book

Der Fischerjunge Sven E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Der Junge hatte einen dichten rötlich-blonden Haarschopf und blaue Augen. Auf seiner Nase und auf seinen Wangen breitete sich ein Netz von Sommersprossen aus. Er trug ein kariertes Hemd und bis zu den Knien hochgekrempelte Hosen. In der Hand hielt er eine Angelrute. »Hab's doch nicht so eilig, Deichgraf«, rief er einem prächtigen Collie zu. Doch sofort nach diesem Tadel strich er dem Hund liebevoll über den Kopf mit dem langen braunen und weißen Haar. »Ist schon gut, Deichgraf, ich schimpfe ja nicht mehr.« Der Junge blieb stehen und sah den Strand entlang. »Die haben's gut«, murmelte er in sich hinein. Diese resignierten Worte galten den Badegästen von Heiligenhafen. Sie schwammen in der Ostsee, spielten Federball und Boccia am Strand, aalten sich in der Sonne oder versteckten sich in den Strandkörben. Zu der einsamen Stelle am Strand, an der der Junge stand, verirrte sich höchstens einmal ein fanatischer Spaziergänger. Kein Wunder, denn das Ufer war hier steinig. Auch keines der schnittigen Motorboote machte hier fest. Dafür lagen ein alter verrosteter Fischkutter und mehrere Boote am Strand. Zu einem dieser Boote lief der Junge jetzt. Auf bloßen Füßen. Er schien die Steine nicht zu spüren.

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Sophienlust Extra – 29 –

Der Fischerjunge Sven

Wie er neue Freunde in Sophienlust fand

Gert Rothberg

Der Junge hatte einen dichten rötlich-blonden Haarschopf und blaue Augen. Auf seiner Nase und auf seinen Wangen breitete sich ein Netz von Sommersprossen aus. Er trug ein kariertes Hemd und bis zu den Knien hochgekrempelte Hosen. In der Hand hielt er eine Angelrute.

»Hab’s doch nicht so eilig, Deichgraf«, rief er einem prächtigen Collie zu. Doch sofort nach diesem Tadel strich er dem Hund liebevoll über den Kopf mit dem langen braunen und weißen Haar. »Ist schon gut, Deichgraf, ich schimpfe ja nicht mehr.« Der Junge blieb stehen und sah den Strand entlang. »Die haben’s gut«, murmelte er in sich hinein.

Diese resignierten Worte galten den Badegästen von Heiligenhafen.

Sie schwammen in der Ostsee, spielten Federball und Boccia am Strand, aalten sich in der Sonne oder versteckten sich in den Strandkörben.

Zu der einsamen Stelle am Strand, an der der Junge stand, verirrte sich höchstens einmal ein fanatischer Spaziergänger. Kein Wunder, denn das Ufer war hier steinig. Auch keines der schnittigen Motorboote machte hier fest. Dafür lagen ein alter verrosteter Fischkutter und mehrere Boote am Strand.

Zu einem dieser Boote lief der Junge jetzt. Auf bloßen Füßen. Er schien die Steine nicht zu spüren.

Der Collie rannte in großen Sprüngen voraus. Mit einem Satz war er im Boot, so dass es gefährlich schaukelte. Aber das störte den Collie nicht. Er fühlte sich allem Anschein nach in dem auf dem Wasser schwankenden Boot genauso sicher wie auf dem Erdboden.

Jetzt kläffte der Collie laut. Dass dieses Kläffen nicht so übermütig wie sonst klang, sondern eher aufgebracht, fiel dem Jungen nicht auf. Er hatte die Angelrute in das Boot geworfen und war damit beschäftigt, das Boot vom Pflock zu lösen. Nun stieß er es ab, lief ihm ins Wasser nach und kletterte über den Bootsrand. Sofort ergriff er die Ruder. »Was regst du dich denn so auf, Deichgraf?«, fragte er. »Lass mich in Ruhe.« Unwillig schob er die Schulter zurück, weil der Collie ihn mit der langen Schnauze fest gestupst hatte. »Setz dich endlich hin, Deichgraf. Du bist vielleicht ein dummer Kerl! Wir kentern ja noch, wenn du dich noch lange so anstellst. Platz, Deichgraf!« Das rief der Junge nun mit sehr energischer Stimme.

Der Collie setzte sich auf den Boden des Bootes. Er kläffte jetzt nicht mehr, knurrte aber statt dessen sehr böse.

Der Junge ließ die Ruder sinken und sah den Hund verwundert an. »Ich möchte wirklich wissen, was du willst, Deichgraf. Du bist …« Die Stimme des Jungen brach ab. Er riss die Augen auf und beugte sich zu der Sitzbank am Heck des Bootes hinab. Jetzt griff er nach einem Jutesack, der von der Bank herunterhing, und riss ihn weg. »Mensch!« Mehr brachte der Junge zunächst nicht hervor. Dann aber rutschte er auf den Boden des Bootes neben den Collie und schrie: »Hol den mal herauf, Deichgraf.«

»Nein, nicht, bitte nicht, ich komme ja schon von selbst heraus«, erklang eine ängstliche Stimme. Zuerst tauchten zwei schmutzige Füße in Sandalen auf, dann braungebrannte Beine, eine blaue Badehose, ein nackter Oberkörper und danach ein strubbeliger Kopf. »Entschuldige, dass ich mich in dein Boot geschlichen habe, aber ich wollte mit dir zum Fischfang hinausfahren. Ich heiße Henrik.« Das sagte ein stämmiger Junge. Er hatte dabei ein sehr verlegenes Gesicht.

»Es ist mir egal, wie du heißt. Du bist ein blinder Passagier und wirst gleich an Land gebracht«, regte sich der kleine Herr des Collies auf. »Aber du hast Glück, dass Deichgraf dir nicht die Hose zerrissen hat. Setz dich endlich. Sonst fällst du gleich um.«

Henrik ließ sich auf der Sitzbank nieder. Mal schielte er zu dem Jungen hin, mal zu dem Collie. »Sven, du brauchst auch nicht gleich so unfreundlich zu sein, ich …«

»Woher weißt du denn, wie ich heiße?«, fragte der Fischerjunge.

»Ich habe mich eben nach deinem Namen erkundigt. Du heißt Sven Jörgensen und fährst oft hinaus, um Fische zu angeln. Ich habe dich schon beobachtet. Nimm mich bitte diesmal mit. Das Boot ist groß genug. Henrik griff in die Hosentasche. »Ich gebe dir auch etwas dafür.« Er zog ein kleines Flugzeug aus der Tasche. »Oh, jetzt ist eine Tragfläche abgebrochen. Das kommt nur davon, dass es da unten so eng war.« Er zeigte unter die Bank.

»Warum kriechst du auch darunter? Das hat dir ja niemand befohlen.« Sven schielte auf das in der Sonne silbern glitzernde Leichtmetallflugzeug. Jetzt verzog er den Mund ein wenig. »Vielleicht kann man die Tragfläche anlöten. Ich glaube, meine Schwester bringt das fertig. Sie ist sehr geschickt. Zeig mal her!« Er streckte die Hand aus.

»Erst, wenn du mir versprichst, dass du mich nicht gleich wieder an Land setzt, Sven. Ich würde dir auch beim Fischen helfen. Ganz bestimmt.«

Sven lachte und zeigte mit dem Finger auf Henrik: »Du? Das glaubst du doch selbst nicht. Du bist eine Landratte. Das sieht man dir an. Sicher traust du dich nicht einmal, einen Fisch vom Angelhaken zu nehmen. Der wäre dir bestimmt zu glitschig.«

»So zimperlich bin ich nicht«, verteidigte sich Henrik. »Ich war schon öfter beim Angeln. Halt nur am Bach. Willst du das Flugzeug?«

Einige Sekunden überlegte Sven noch, dann streckte er die Hand aus. »Gib schon her! Für dich taugt es doch nichts mehr mit der abgebrochenen Tragfläche.«

»Kehrst du jetzt nicht um, Sven?« Henriks Wangen glühten vor Erregung.

»Nein.« Sven hatte das Flugzeug auf den Boden des Bootes gelegt. Aber so, dass er es sehen konnte. Jetzt griff er nach den Rudern. »Ich bleibe aber nur eine Stunde draußen. Mein Onkel wartet auf frischen Fisch zum Abendessen. Kommst du von Heiligenhafen?«

»Ja, ich bin mit meinen Eltern und mit meinem Bruder dort. Sie sind alle am Strand. Ich bin froh, dass du nicht zu lange auf dem Meer bleibst, Sven. Dann wird mich vielleicht noch niemand vermissen.«

»Wie heißt du denn noch? Ich meine, außer Henrik?«

»Von Schoenecker.«

Sven ließ die Ruder sinken. Seine Augen kullerten. »Mensch, ich habe mir ja gleich gedacht, dass du zu den feinen Leuten gehörst. Von Schoenecker! Ist dein Vater da ein Fürst oder ein Graf? Meine Schwester sagt, die heißen ›von‹. Albern finde ich das.«

»Nein, mein Vater ist kein Fürst und kein Graf. Wir heißen einfach genauso von Schoenecker wie du Jörgensen heißt.« Henrik sagte das voll Eifer. Er hatte das sichere Gefühl, dass Sven feine Leute nicht mochte, aber er wollte dessen Freund werden. Einen Fischerjungen zum Freund zu haben, das wäre einmal etwas anderes! Damit würde er in Sophienlust ordentlich angeben können. Erst recht, wenn er öfter zum Fischfang würde mitfahren dürfen.

Sven machte ein skeptisches Gesicht. »Meinst du wirklich, dass da kein Unterschied ist zwischen von Schoenecker und Jörgensen?«

»Nein, ganz bestimmt nicht, Sven«, versicherte Henrik.

»Aber ich kenne Leute, die haben einen ganz feinen Namen und sind sehr gemein. Die heißen nicht ›von‹, aber Heidkämper. Das ist bei uns auch so, als wären sie Fürsten oder Grafen.«

»Heidkämper?« Henrik dachte nach. Man sah es, weil er den Finger auf den gespitzten Mund legte. »Den Namen habe ich noch nie gehört. Aber ich kenne viele Namen, weil wir ein Kinderheim haben.«

»Ein Kinderheim?«, fragte Sven, vergaß aber trotz seiner Neugierde nicht, die Angelrute auszuwerfen. Das Boot stand jetzt still. »Sind dort Kinder, die keine Eltern mehr haben?«

»Ja. Manchmal sind auch Kinder bei uns, die nur keinen Vater oder keine Mutter mehr haben.«

»Ich habe auch keine Eltern, aber ich würde nie in ein Kinderheim gehen. Das brauche ich auch nicht. Ich habe ja Kerstin.« Sven zog mit einem Ruck die Angelrute ins Boot. »Der passt mir.« Er befreite einen kleineren Fisch vom Köder und warf ihn in einen hohen Eimer, der mit Wasser gefüllt war.

»Ist Kerstin deine Schwester?«, fragte Henrik. »Ich habe auch eine Schwester. Sie heißt Andrea und ist schon verheiratet.«

»… Ja, Kerstin ist meine Schwester, aber verheiratet ist sie noch nicht. Sie soll auch nicht heiraten.«

»Aber warum denn nicht?«, fragte Henrik sehr verwundert.

Sven zuckte die Schultern. »Was sollte ich dann machen? Mit Onkel Pieter allein in der Kate leben? Der ist doch schon so alt und kann sich selbst kaum noch helfen. Er fährt nur noch ganz selten zum Fischfang hinaus. Kerstin will nicht, dass er sich so plagt. Sie sagt immer, was wir zum Leben brauchen, verdient sie. Und die Fische zum Essen fange ich.«

»Und was macht deine Schwester, Sven?« Henrik war von Natur aus etwas neugierig, aber das Schicksal des Fischerjungen interessierte ihn ganz besonders.

»Kerstin arbeitet in Heiligenhafen. Im Hotel ›Zur Fähre‹. Dort spricht sie mit den Gästen deutsch, englisch, ­französisch und dänisch. Ja, meine Schwester ist sehr gescheit.« Sven steckte jetzt schon den vierten Fisch in den Wassereimer.

Vor lauter Zuhören hatte Henrik ganz vergessen, dass er ebenfalls angeln wollte. Doch als er jetzt darum bat, sah Sven ihn ablehnend an. »Jetzt geht das nicht mehr, Henrik. Wir müssen zurück. Onkel Pieter macht sich Sorgen um mich, wenn ich so lange draußen bleibe. Und du musst ja auch zurück, wenn deine Eltern nicht einmal wissen, wo du bist.« Er wendete das Boot sehr geschickt und griff in die Ruder. »Du kannst ja ein anderes Mal mit mir zum Fischen fahren. Aber da musst du deinen Eltern vorher Bescheid sagen.«

Henriks Augen strahlten. Vor Freude streichelte er den Collie und schielte zu Sven. »Magst du mich jetzt, Sven?«, fragte er.

Sven sah ihn unter der Stirn herauf an. »Ich glaube schon. Vielleicht sind wir gleich alt. Ich werde acht. In drei Wochen.«

»Ich erst in ein paar Monaten. Gehst du in Heiligenhafen in die Schule, Sven?«

»Ja, aber jetzt nicht. Wir haben doch Ferien.«

»Wir auch. Aber die sind bald um.« Henrik machte ein betrübtes Gesicht. »Wir fahren schon nächste Woche nach Hause.« Als er sah, dass sich das Boot dem Ufer näherte, fragte er: »Darf ich dich mal besuchen, Sven? In eurem Haus? Vielleicht begleiten mich meine Eltern.«

Sven sprang ins Wasser und zog das Boot auf den steinigen Strand. »Meinetwegen könnt ihr kommen. Onkel Pieter und Kerstin werden sicher nichts dagegen haben, obwohl wir nie Besuch bekommen.«

Deichgraf und Henrik sprangen zur gleichen Zeit aus dem Boot.

Jetzt kläfft er mich nicht mehr so wütend an.« Henrik lachte. »Mir ist vielleicht unter der Bank komisch geworden. Ich wusste ja nicht, dass du mit einem Hund kommen würdest.«

Sven band das Boot fest und griff dann nach seiner Angelrute und dem Eimer. »Deichgraf begleitet mich immer. In den letzten Tagen war er nur ein bisschen krank, deshalb hast du mich allein gesehen. Aber jetzt geht es ihm wieder gut.«

»Ich mag Collies auch so gern. Wir haben zu Hause viele Hunde, aber keinen Collie.«

»Viele Hunde? Wie viele denn?«, fragte Sven, als misstraue er Henrik schon wieder.

»Wir haben einen Bernhardiner, eine Dogge und drei Dackel. Die meisten Hunde gehören meiner Schwester Andrea und ihrem Mann. Er ist Tierarzt. Er und meine Schwester haben ein Tierheim.«

Sven setzte seinen Eimer wieder ab. »Was ihr nicht alles habt«, staunte er. »Ein Kinderheim und ein Tierheim?«

Henriks Augen glänzten vor Stolz. »Ja, Sophienlust ist das Heim der glücklichen Kinder, und Waldi & Co. ist das Heim der glücklichen Tiere.«

»Was soll denn das wieder sein – Waldi & Co? Ihr habt aber ulkige Namen, Henrik.«

»Der Name ist gar nicht ulkig. Das Tierheim heißt so. weil unser Dackel Waldi dort Chef ist«, erklärte Henrik sehr eifrig.

Jetzt lachte Sven.

»Ein kleiner Dackel ist Chef? Du willst mich wohl verpflaumen? Da würde aber mein Deichgraf schon besser als Chef passen. Er ist wenigstens groß genug.«

»Das schon, aber Deichgraf ist auch ein ulkiger Name, Sven. Den habe Ich noch nie gehört.«

»Weil du eben eine Landratte bist. Deichgrafen sind am Meer die Männer, die alles bestimmen. Besonders wenn eine Sturmflut kommt.«

Jetzt lachte Henrik. »Du wolltest doch mit Grafen nichts zu tun haben, Sven. Deinem Collie aber hast du einen solchen Namen gegeben.«

»Das ist ja auch etwas ganz anderes. Ich sage ja, das verstehst du nicht. Aber jetzt muss ich gehen, Henrik.« Sven griff wieder nach seinem Eimer mit den Fischen.

»Aber du musst mir doch noch sagen, wo du wohnst, Sven. Damit ich dich besuchen kann«, drängte Henrik.

»Ach so!« Sven zeigte auf die Steilküste. »Siehst du das große Haus da oben?«

»Das ist schön. Dort möchte ich wohnen«, unterbrach Henrik ihn begeistert. »Meinen Eltern gefällt es auch so gut. Wem gehört es?«

»Den Heidkämpers.« Sven machte ein grimmiges Gesicht. »Das Haus heißt Möwennest. Aber das kümmert uns ja nicht. Hinter dem Haus ist die Steilküste zu Ende. Dann kommt eine tiefe kleine Bucht. Sie gehört uns.« Stolz klang jetzt durch Svens Stimme.

Henriks Augen kugelten. »Was, eine ganze Bucht? Und ich dachte, du bist ein armer Fischerjunge.«

»Bin ich ja auch. Von der kleinen Bucht haben wir ja nichts. Wir können dort kaum etwas anbauen. Aber mein Großvater hat sie mal gekauft. Er war Fischer. In seinem Haus leben wir jetzt. Kerstin und ich waren nicht immer in der Möwenbucht. Wir sind aus Kopenhagen gekommen. Aber daran erinnere ich mich nicht mehr.«

»Alles heißt hier nach den Möwen?«, wunderte sich Henrik.

Wieder einmal zuckte Sven die Schultern. »So ist das eben. Die Möwenbucht hat einmal zum Möwennest auf der Steilküste gehört. Frau Heidkämper möchte die Möwenbucht immer zurück haben, aber Kerstin und Onkel Pieter geben sie nicht her.«

»Da haben sie auch recht.« Henriks Gesicht glühte. »Ich würde eine kleine Bucht auch nicht hergeben. Überhaupt nicht an so reiche Leute. Wenn ihr arm seid, müsst ihr die Möwenbucht behalten.«

»Das tun wir ja auch. Wiedersehen, Henrik. Lauf schnell zu deinen Eltern zurück. Komm, Deichgraf!« Sven ging über den steinigen Strand, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Henrik folgte der Aufforderung des neuen Freundes erst nach geraumer Zeit. Er hatte über vieles nachzudenken und war nicht ganz sicher, ob er das beim Laufen auch tun konnte.

Als er sich aber dann auf die Socken machte, brauchte er nicht lange, bis er bei den Strandkörben seiner Eltern war.

Denise von Schoenecker sah ihn vorwurfsvoll an. »Sage einmal, Henrik, wo treibst du dich herum? Nick ist dich schon suchen gegangen. Jetzt können wir wieder auf ihn warten. Du weißt doch, dass Vati und ich heute ins Kurkonzert gehen wollen.«

»Aber nur Vati und du, Mutti. Nick und ich gehen nicht mit.«

Alexander von Schoenecker beugte sich aus seinem Strandkorb heraus. »Das brauchst du uns heute nicht noch einmal zu sagen, Henrik. Wir wissen schon, wie unmusikalisch ihr beiden seid.«

»Das ist nicht wahr, Vati. Ich habe in Singen eine Eins, aber bei den Kurkonzerten ist es doch so schrecklich langweilig. Ich weiß etwas viel Schöneres.« Henrik setzte sich in den Sand zwischen die beiden Strandkörbe seiner Eltern. »Ihr erratet bestimmt nicht, wo ich war.«

»Auf der Rutsche oder auf der Schaukel. Dort bist du doch nicht wegzubringen«, entgegnete Denise lachend.

»Nein, dort war ich heute nicht.« Henrik sah von seinem Vater zu seiner Mutter, als müsste er erst sondieren, wie die Stimmung sein würde, wenn er tatsächlich gestand, wo er gewesen war.

»Also, heraus mit der Sprache«, forderte Alexander von Schoenecker. »Du wirst ja nicht gerade blinder Passagier gespielt haben und mit einer Fähre auf der Insel Fehmarn gewesen sein. Dazu hätte die Zeit auch nicht gereicht. Beschwindle uns gefälligst nicht, sonst müsste ich unseren Kindern in Sophienlust recht geben, die einhellig der Meinung sind, Henrik von Schoenecker gibt manchmal schaurig an.«

»Das tue ich nie!«, rief Henrik entrüstet. »Du willst mich nur ärgern, Vati. Und – ätsch! – ich war doch blinder Passagier. Aber auf einem Fischerboot.«

»Henrik!« Denise richtete sich auf. »Willst du uns einen Schrecken einjagen?«

»Nein, Mutti.« Henrik machte ein reumütiges Gesicht. »Ich weiß doch, dass du dich hier erholen sollst. Nur deshalb sind wir doch nach Heiligenhafen gefahren.«

Denise sah ihren Mann vielsagend an. »Deine Begründung für diese Reise trägt Früchte, Alexander. Bald werde ich sie wohl selbst glauben. Dabei erinnere ich mich noch ganz genau daran, mit welcher Heimlichtuerei ihr Reisekataloge gewälzt und euch schließlich für zehn Tage Ostseeurlaub in Heiligenhafen entschieden habt. Ich meine, da habt ihr mehr an euch, als an mich gedacht.«

»Aber es gefällt dir doch hier, Mutti. Oder nicht?« Henrik rutschte ein Stückchen näher an den Strandkorb seiner Mutter heran.

Als er gerade mit seiner Beichte von Neuem beginnen wollte, erklang eine ärgerliche Stimme: »Da hockst du im Sand, und ich rase durch die Gegend, um dich zu suchen.«

»Du hättest ja langsam gehen können, Nick. Ich habe nicht gesagt, dass du rennen sollst. Überhaupt, du brauchtest mich doch nicht gleich zu suchen. Ich bin bereits sieben Jahre alt und werde mich schon nicht verirren. Und schwimmen kann ich auch«, protestierte Henrik. Dabei sah er seinen großen Bruder herausfordernd an.

Der fünfzehnjährige Nick war wütend. »Ja, schwimmen kannst du wie eine Kaulquappe. Gib also nicht so an. Ich hatte mich mit Freunden verabredet, aber jetzt …«

»… und mit Freundinnen«, warf Henrik kichernd ein. »Wenn ich das zu Hause Pünktchen erzähle …«

Nick sah seine Mutter an. »Mutti, »verbiete ihm doch endlich den frechen Mund. Ich fahre nicht mehr mit, wenn Henrik dabei ist. Da gehe ich lieber in ein Jugendlager. Dort brauche ich wenigstens nicht Gouvernante zu spielen.«

Henrik sprang auf.