Mutterhände - Gert Rothberg - E-Book

Mutterhände E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Der Hund stemmte sich mit seinen vier Füßen kräftig gegen den Boden. Alles an ihm drückte Abwehr aus. Geschickt senkte er seinen schönen Kopf, um dem Strick, der ihn erbarmungslos vorwärtszerrte, zu entkommen. Trauer und Verzweiflung spiegelten sich in den ausdrucksvollen dunklen Augen des Tieres, als dies misslang. Dominik von Wellentin-Schoenecker beobachtete mit zusammengezogenen Brauen die Szene. Finster war sein Blick auf den Mann gerichtet, der den bedauernswerten Hund aus dem Auto stieß und dann hinter sich herzog. »Ist hier das Tierheim Waldi?«, fragte der Fremde mürrisch. Der Junge mit dem blauschwarzen Haar und den schönen dunklen Augen wies mit einer knappen Bewegung des Kopfes auf das breite Tor, über dem groß und deutlich ein breites Schild mit der Aufschrift prangte: »Waldi & Co. – Das Heim der glücklichen Tiere«. »Na, dann nimm mir endlich den Köter hier ab!« Der kleine dicke Mann wandte all seine Kraft auf, um den störrischen Hund über die Straße zu zerren. Er keuchte und schwitzte. Sein massiges Gesicht war rot angelaufen. Zornig blitzten seine kleinen Äuglein. Dominik, der von seinen Freunden stets nur Nick gerufen wurde, war sonst ein freundlicher, gefälliger Junge. Doch er verachtete Leute, die so gefühllos mit Tieren umgingen, wie es dieser Mann tat. Deshalb rührte er sich nicht, sondern blieb stumm bei seinem Fahrrad stehen. »Hörst du nicht?«, prustete der Dicke.

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Sophienlust Extra – 3 –

Mutterhände

Evely sehnt sich so sehr nach Geborgenheit!

Gert Rothberg

Der Hund stemmte sich mit seinen vier Füßen kräftig gegen den Boden. Alles an ihm drückte Abwehr aus. Geschickt senkte er seinen schönen Kopf, um dem Strick, der ihn erbarmungslos vorwärtszerrte, zu entkommen. Trauer und Verzweiflung spiegelten sich in den ausdrucksvollen dunklen Augen des Tieres, als dies misslang.

Dominik von Wellentin-Schoenecker beobachtete mit zusammengezogenen Brauen die Szene. Finster war sein Blick auf den Mann gerichtet, der den bedauernswerten Hund aus dem Auto stieß und dann hinter sich herzog.

»Ist hier das Tierheim Waldi?«, fragte der Fremde mürrisch.

Der Junge mit dem blauschwarzen Haar und den schönen dunklen Augen wies mit einer knappen Bewegung des Kopfes auf das breite Tor, über dem groß und deutlich ein breites Schild mit der Aufschrift prangte: »Waldi & Co. – Das Heim der glücklichen Tiere«.

»Na, dann nimm mir endlich den Köter hier ab!« Der kleine dicke Mann wandte all seine Kraft auf, um den störrischen Hund über die Straße zu zerren. Er keuchte und schwitzte. Sein massiges Gesicht war rot angelaufen. Zornig blitzten seine kleinen Äuglein.

Dominik, der von seinen Freunden stets nur Nick gerufen wurde, war sonst ein freundlicher, gefälliger Junge. Doch er verachtete Leute, die so gefühllos mit Tieren umgingen, wie es dieser Mann tat. Deshalb rührte er sich nicht, sondern blieb stumm bei seinem Fahrrad stehen.

»Hörst du nicht?«, prustete der Dicke. »Du sollst mich von diesem Ungeheuer befreien!« Wütend schaute er auf das Tier, das sich nach Kräften wehrte.

»Ist das denn nicht Ihr Hund?«

»Glaubst du, ich würde mir eine solche Promenadenmischung kaufen?«, höhnte der Dicke. »Zugelaufen ist mir das Vieh! Und ich möchte ganz sicher sein, dass es mir nicht noch einmal begegnet. Deshalb bringe ich es hierher. Ihr müsst es einsperren! An die Kette legen!«

Nick sah sofort, dass der Hund nicht bösartig war. Er knurrte nicht, zeigte nicht die Zähne und versuchte auch nicht, seinen Widersacher anzuspringen. Das Tier war nur ängstlich und verstört. Es wehrte sich gegen den Zwang und fürchtete sich offenbar vor dem Dicken. Jetzt gelang es dem Hund endlich, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er war frei! Doch er lief nicht weg, wie der Mann befürchtet hatte, sondern flüchtete mit drei langen Sätzen zu Nick.

Einen Moment lang war der Dicke verblüfft. »Na, so was …«, meinte er kopfschüttelnd. Doch dann warf er Nick den Strick vor die Füße. »Hier, binde die Bestie fest!«

»Wollten Sie nicht zu Herrn Dr. von Lehn?«, fragte Nick, als er sah, dass der Fremde wieder zu seinem Wagen ging.

»Wozu? Mir ging’s ja nur darum, das Vieh loszuwerden!« Schon summte der Anlasser, der Motor sprang an, und das Auto fuhr davon.

Jetzt wandte sich Nick dem verängstigten Tier zu, das ihn aus klugen dunklen Augen aufmerksam ansah. Eine Augenweide war die Hündin bestimmt nicht. Sie hatte etwa die Größe eines Setters, doch ihr Fell war kurzhaarig. Es mochte braun sein. Jetzt aber war es schwarzgrau und struppig und strotzte vor Schmutz. »Wer bist du bloß?«, überlegte Nick laut. »Ich hab dich noch nie hier gesehen!«

Eine stumme Bitte um Vergebung war im Blick des Vierbeiners. Zaghaft bewegte sich die Schwanzspitze hin und her. Die Hündin schien sofort zu spüren, dass hier jemand war, der ein Herz für Tiere hatte. Auch dann, wenn sie nicht gerade hübsch aussahen.

»Du meine Güte, ist der schmutzig!« Mit diesen Worten trat ein blondes Mädchen aus dem Haus und schlug erschrocken die Hände zusammen. Die Kleine, die etwa elf Jahre alt sein mochte, trug Blue Jeans und einen Ringelpulli wie ein Junge. Die langen blonden Haare waren am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengenommen, der bei jeder Bewegung lustig wippte.

»Das ist kein ›Er‹, das ist eine ›Sie‹!«, belehrte Nick seine kleine Freundin. »Außerdem werde ich sie gleich baden. Sonst bekommt Andrea einen Schreck, wenn ich ihr den neuen Gast vorstelle.« Nicks Hand legte sich vorsichtig auf den Kopf der Hündin. Sie ließ es gern geschehen.

»Kannst du das denn?« Die Kleine zog das Näschen mit den vielen Sommersprossen, die ihr den Namen ›Pünktchen‹ eingebracht hatten, kraus.

»Vati sagt immer, man kann alles, wenn man nur will!« Entschlossen presste Nick die Lippen aufeinander. Er kannte zwar die Tierliebe seiner großen Stiefschwester Andrea, die zusammen mit ihrem Mann, dem jungen Tierarzt Dr. von Lehn, dieses Heim gegründet hatte. Doch er war trotzdem nicht ganz sicher, ob ein derart verwahrlostes Tier darin Aufnahme finden würde.

»Du, Nick, soll ich dir helfen?«, fragte Pünktchen, obwohl sie sich vor dem großen Hund ein wenig fürchtete. Doch sie ließ nie eine Gelegenheit aus, Nick ihre Anhänglichkeit zu zeigen und ihm ihren Mut zu beweisen.

Sechs Jahre war es nun schon her, dass Nick die hübsche Kleine gefunden und nach Sophienlust gebracht hatte. Sie hatte einst ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren und danach viel Schweres erlebt. Doch in Sophienlust, dem Heim der glücklichen Kinder, hatte Pünktchen, die eigentlich Angelina Dommin hieß, eine neue Heimat gefunden. Das vergaß sie keinen Augenblick. Immer würde sie Nick und seiner schönen Mama dankbar sein.

»Wenn du magst«, antwortete der Junge scheinbar gleichgültig. Und doch freute er sich immer wieder über das Interesse und den Eifer seiner kleinen Freundin. Er mochte Pünktchen von Herzen gern, und er hätte sich Sophienlust nicht mehr ohne sie vorstellen können. Wenn ihn die veilchenblauen Augen des Mädchens anstrahlten, wurde ihm ganz eigenartig zumute. Manchmal wurde er sogar richtig verlegen. Malu, das älteste der Sophienluster Kinder, behauptete manchmal, dass er Pünktchen einmal heiraten würde. Doch zu solchen Prognosen zuckte Nick nur die Schultern. Er war noch ein richtiges Kind. Und an solche Dinge mochte er noch gar nicht denken.

»Komm mit, wir gehen in die Waschküche!«, rief Nick.

Wie selbstverständlich folgte der Hund den Kindern. Er sah zu, wie Nick lauwarmes Wasser in eine große Wanne einlaufen ließ und wie er Bürste und Hundeseife richtete.

»Hast du den Mann gekannt, der die Hündin gebracht hat?«

»Keine Ahnung …« Nick prüfte die Temperatur des Wassers.

»Betti meint, es wäre der Apotheker Kopp aus Bachenau gewesen.«

Dominik wusste, dass man den Angaben von Betti, dem Hausmädchen bei dem jungen Ehepaar von Lehn, vertrauen konnte.

»So hab ich mir diesen Geizhals auch vorgestellt«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Wahrscheinlich hat er das arme Tier sogar geschlagen. Sonst wäre es nicht so scheu!« Nick kraulte den Hund am Kopf und führte ihn behutsam zur Wanne. »Komm, wir machen dich ganz sauber. Es ist überhaupt nicht schlimm. Du brauchst nur in der Wanne stehen …«

Das Tier schien jedes Wort zu verstehen. Vertrauensvoll schaute es die Kinder an und stieg dann gehorsam ins Wasser. Ruhig ließ es die Reinigungsprozedur über sich ergehen.

»Sieh nur, wie mager sie ist«, meinte Pünktchen mitleidig. »Man kann jede Rippe sehen! Und wundgelaufene Pfoten hat sie auch. Armes Hundchen …«

Nicks Augenschlitze verengten sich. »Das bedeutet doch, dass sie gar nicht aus der Gegend ist«, überlegte er.

»Man kann eine Anzeige aufgeben. Dann wird sich der Eigentümer bestimmt melden«, schlug Pünktchen vor.

»Ich weiß nicht …« Nick brauste nachdenklich die Hündin ab.

»Jetzt sieht sie schon ganz hübsch aus«, lobte Pünktchen. »Wir müssen einen Namen für sie finden.«

»Sie hat sicher schon einen. Doch wie sollen wir ihn erfahren? Kein Halsband, keine Hundemarke …«

»Ich weiß was! Wir nennen sie Perry! Das ist doch hübsch. Findest du nicht?«

Der Junge nickte zerstreut. Ihn beschäftigte wieder einmal brennend eine Frage: Woher kam dieser Hund? Und weshalb war er in Bachenau aufgekreuzt? Hatte man ihn ausgesetzt? Schlecht behandelt? Oder war er von seinem Herrchen oder Frauchen getrennt worden? Warum?

*

»In Bachenau ist ein Karussell und eine Schießbude«, verkündete Henrik, mit vollem Mund kauend.

Strafend sah Denise von Schoenecker ihren Jüngsten an. Doch ganz ernst bleiben konnte sie angesichts des drolligen Anblicks, den der Siebenjährige bot, nicht. Der kleine Schalk in ihren Augen verriet dann Henrik auch sofort, dass seine Mutti nicht ernstlich böse war. Hastig schluckte er und verkündete dann laut: »Ich weiß es von meinen Freunden in der Schule. Sie gehen heute Nachmittag hin. Darf ich auch, Mutti?« Henriks dunkle Augen bettelten.

»Vielleicht geht Tante Carola mit euch, wenn ihr mit den Schularbeiten fertig seid«, schlug Denise vor. Sie war nicht ängstlich, doch es war ihr lieber, wenn sie die Kleinen unter der Aufsicht einer erfahrenen Betreuerin wusste. Schließlich hatte sie die Verantwortung. Nicht nur für ihre eigenen Kinder, sondern auch für die vielen Buben und Mädchen, die in Sophienlust lebten.

»Prima, Mutti!« Henrik wäre am liebsten aufgesprungen und zu seiner schönen Mama gelaufen. Doch er war ja schon ein großer Junge und wusste, dass er damit warten musste, bis Martha den Tisch abgeräumt hatte. »Ich bin auch ganz schnell fertig«, versicherte er eifrig.

»Seit wann sind dieses Karussell und die Schießbude denn da?«, fragte Nick, der sich heimlich darüber ärgerte, dass Henrik diesmal mehr wusste als er. Normalerweise passierte in der ganzen Umgebung nichts, ohne dass er schnellstens darüber informiert war. Doch gestern hatte er den ganzen Nachmittag im Tierheim verbracht. Und heute in der Schule war er reichlich unaufmerksam gewesen, weil er immerzu an den fremden Hund hatte denken müssen.

»Schon seit gestern. Das weißt du nicht?« Henrik schaute seinen älteren Bruder an, als sähe er ihn zum ersten Mal.

Nick nahm sich nicht die Zeit zu einer Rechtfertigung. »Dann könnte Perry doch diesen Leuten gehören«, meinte er nachdenklich.

Alexander von Schoenecker war ein moderner Vater. Er nahm jede Gelegenheit wahr, sich mit seinen Kindern zu unterhalten. Auch räumte er ihnen das Recht ein, selbst zu Wort zu kommen. Auch bei Tisch. Lächelnd beobachtete er seine Buben. Seit Sascha, sein Ältester, in Heidelberg studierte und Andrea mit Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet war, war die Tischrunde merklich kleiner geworden. Doch die Gespräche waren nicht weniger interessant.

»Perry, das ist wohl der Hund, der gestern ins Tierheim kam? Andrea hat mir erzählt, dass er wieder weggelaufen ist.«

Nick legte Messer und Gabel weg. Sekundenlang brachte er den Mund nicht zu. »Aber das ist doch unmöglich«, keuchte er dann. »Ich hab ihn selbst in den Zwinger gesperrt …«

»Er hat unter dem Zaun hindurch ein Loch gegraben.« Alexander zuckte bedauernd die Schultern. Er wusste, dass gerade dieses Tier Nick ganz besonders beschäftigte.

»Bestimmt sucht er etwas. Ich hab’s schon gestern bemerkt. Er muss wahnsinnig hungrig gewesen sein. Trotzdem wollte er nicht fressen und winselte nur immerzu.«

»Was sucht er denn?«, fragte Henrik.

»Seine Familie natürlich. Aber wahrscheinlich gibt es sie nicht mehr …«

»Nick«, mahnte Denise leise. Sie spürte, dass sich ihr Sohn wieder einmal aufs Glatteis begab.

»Man muss das doch wissen, Mutti«, verteidigte sich der Junge gegen den unausgesprochenen Vorwurf. »Sonst kann man den Hund doch gar nicht richtig behandeln.«

»Vielleicht kommt er auch gar nicht mehr wieder«, prophezeite Henrik. Doch diese Bemerkung trug ihm einen vernichtenden Blick seines Bruders ein. Deshalb löffelte er jetzt eifrig seinen Nachtisch. Er wollte möglichst rasch nach Bachenau kommen, um dort die verlockenden Neuheiten zu bestaunen.

*

Dass Dominik noch vor ihm in Bachenau sein würde, ahnte Henrik nicht. Die Dorfjugend drängte sich um die willkommene Abwechslung. Das Karussell war ständig voll besetzt, und auch der Schießstand machte gute Geschäfte. Wahrscheinlich war Dominik der einzige Junge, der sich nicht für dieses Vergnügen interessierte, sondern ganz andere Interessen hatte. Er suchte Perry, den Hund, dessen traurige Augen ihn sogar im Traum verfolgt hatten. Doch er fand ihn nicht. Aus den Lautsprechern drang Blechmusik, die Stimme des Ansagers schnarrte, Kinder quietschten, lachten und weinten durcheinander. Es herrschte ein grässlicher Lärm.

Ganz klar, dass er hier den Hund nicht finden konnte. Doch vielleicht war er in einem der Wohnwagen.

Langsam schlenderte Nick zwischen den Buden hindurch. Er schaute in jeden Wohnwagen, konnte aber nicht viel sehen. Nick glaubte sich unbeobachtet. Doch plötzlich ließ ihn eine Stimme herumfahren.

»Was suchst du hier?«

Unmittelbar hinter Nick stand ein kleiner schmächtiger Bub und schaute ihn herausfordernd an.

Nick wusste sofort, dass dieses Kind den Schaustellern gehören musste, denn er hatte es noch nie gesehen. Doch irgendwie passte der kleine, blasse Bub nicht in die laute, lärmende Umgebung.

»Ich suche einen Hund. So groß et­wa­ …« Nick zeigte eine Spanne von ungefähr sechzig Zentimetern. »Braunes Fell, einen sehr hübschen Kopf …«

»Hier ist kein Hund«, erklärte das Kind leise. »Ich hätte so gern einen, aber Vati sagt, es geht nicht, weil wir fast jede Woche in einer anderen Stadt sind. Deshalb darf ich auch nicht zur Schule gehen …«

»Du darfst nicht zur Schule gehen?«, wiederholte Dominik gedehnt. Er selbst hätte gegen ein derartiges Verbot durchaus nichts einzuwenden gehabt. Nur eines verstand er nicht: Weshalb machte der Junge ein so trauriges Gesicht? Nicht in die Schule zu müssen war doch alles andere als traurig.

»Nein. Meine Eltern haben mich zurückstellen lassen. Vati sagt, es hat keinen Sinn, weil ich in jedem Ort doch nur ein- oder zweimal zum Unterricht gehen könnte.« Der Kleine seufzte hörbar.

»Wie alt bist du denn?«, fragte Nick teilnahmsvoll. Der Jüngere gefiel ihm. Er hatte dichtes blondes Haar und große helle Augen. Sein schmales, blasses Gesichtchen war für sein Alter ungewöhnlich ernst. »Acht«, antwortete der Junge bekümmert.

»Und du möchtest gern zur Schule?«

»Ja«, kam es sehnsüchtig von den Lippen des Jüngeren. »Ich möchte so gern lesen und schreiben lernen wie alle anderen Kinder. In meinem Alter können andere schon Bücher lesen. Und ich …« Dieter Kaiser senkte beschämt den Kopf. »Wenn ich eine Omi hätte, bei der ich bleiben könnte … Aber …« Traurig senkte sich der Blondschopf noch tiefer herab.

»Und wenn du in einem Kinderheim wohnen würdest?«

Dieter schüttelte entrüstet den Kopf. »Das ist doch viel zu teuer. Das kann mein Vati nicht bezahlen. Wer bist du eigentlich?« In Dieters Blick mischte sich Bewunderung mit Misstrauen.

»Dominik von Wellentin-Schoenecker. Mir gehört das Gut Sophienlust. Aber das wirst du nicht kennen.« Nick sprach die Worte so selbstverständlich aus, dass der Gedanke an Stolz oder Hochmut überhaupt nicht aufkam. Wie überall, so gewann der reizende Erbe von Sophienlust auch hier durch seine Natürlichkeit.

»O doch. Ich hab davon gehört. Das ist doch ein richtiges Schloss«, staunte Dieter.

»Es sieht nur so aus. Früher gehörte es meiner Urgroßmama. Bevor sie starb, bestimmte sie in ihrem Testament, dass aus Sophienlust ein Kinderheim werden solle. Und das hat Mutti dann auch getan.«

»Deine Urgroßmama war sicher eine sehr gute Frau«, meinte Dieter träumerisch.

»Ich hab sie nicht gekannt.«

»Du hast sie nicht gekannt?« Dieter runzelte die hohe Stirn.

»Die Wellentins lehnten meine Mutti ab, weil sie Balletttänzerin war. Mein Vati starb, noch bevor ich zur Welt kam. So musste Mutti für unseren Lebensunterhalt sorgen. Es war bestimmt nicht leicht.«

Nur noch undeutlich konnte sich Nick an die Zeit erinnern, in der er von seiner geliebten Mutti hatte getrennt leben müssen. Doch dass es schlimm für ihn gewesen war, wusste er noch ganz genau. Deshalb hatte er auch viel Verständnis für Kinder, die ihre Eltern verloren hatten.

»Und dann?«, fragte Dieter interessiert.

Nick hatte sich auf einer kleinen Bank niedergelassen, die vor dem Wohnwagen stand. Dieter setzte sich dicht neben ihn.

»Als wir in Sophienlust einzogen, gab es eine Menge Leute, die uns das Erbe nicht gönnten. Doch Herr von Schoenecker, unser Nachbar, half uns. Später haben Mutti und er geheiratet. Er war nämlich Witwer und hatte zwei Kinder.

Andrea und Sascha wurden meine Geschwister.«

»Das ist ja wie im Märchen«, staunte Dieter mit großen Augen.

»Hast du ’ne Ahnung«, lachte Nick. »Auf Sophienlust geht es sehr munter und laut zu, kein bisschen märchenhaft. Und auf Schoeneich wirbelt Henrik herum und bringt alles durcheinander.«

»Wer ist Henrik?«

»Mein jüngster Bruder. Eigentlich Stiefbruder, aber daran denkt niemand von uns. Wir sind eine richtige Familie.«

»Schön ist das. Ich wünsche mir auch Brüder und Schwestern, denn ich bin immer allein.« Traurig schaute Dieter zu Boden.

»Und die vielen Kinder, die zu eurem Karussell kommen?«

»Sie lachen mich aus, weil ich nicht einmal lesen und schreiben kann. Ich hab noch nie einen Freund gehabt …«

Jetzt schwieg auch Nick nachdenklich.

»Soll ich dir jetzt helfen, deinen Hund zu suchen?«, erbot sich der Kleine.

»Nett, dass du daran denkst. Aber lass nur. Ich muss jetzt nach Hause. Morgen komme ich wieder.«

»Bestimmt?« Ungläubig schaute Dieter hoch. Er war in seinem jungen Leben zu oft enttäuscht worden. Würde es auch diesmal so sein?

»Ganz bestimmt«, versprach Nick rasch. Er hatte schon wieder ein neues Problem, das ihn beschäftigte.

*

»Das sind meine Puppen! Du hast sie überhaupt nicht anzufassen!« Therese Cronauer stellte sich vor ihr Regal und streckte die Arme aus, so weit es nur ging. Hastig zog sie den modernen Puppenwagen zu sich her. »Alles hier gehört mir! Merk dir das! Du hast nichts, gar nichts! Vati sagt, du bist hier nur geduldet. Und das stimmt auch. Wir können dich auf die Straße jagen, denn du gehörst gar nicht zu uns!« Theresas helle Augen funkelten zornig.

Ihre um ein Jahr jüngere Cousine, der dieser Angriff galt, stand in eini­gem­ Abstand und ließ resignierend die Arme hängen. Ihre großen dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Glänzend hingen sie an den langen dichten Wimpern und rollten dann langsam über die Bäckchen.

Evely kam sich hilflos und verlassen vor. Sie fühlte sich Theresa unterlegen. Deshalb machte sie auch gar nicht den Versuch, sich zu behaupten oder gar zu verteidigen.

Zu viel war in den letzten Wochen auf die Kleine eingestürmt. Mehr, als ein siebenjähriges Mädchen verkraften konnte. Da war die Krankheit der Mutter gewesen, deren Tod, die Beerdigung, der Abschied von dem geliebten Vati und die Übersiedlung ins Haus der Tante.

Willenlos hatte Evely alles über sich ergehen lassen. Geduldig ertrug sie auch die gehässigen Reden der Cousine.

Theresa hatte all das, was sie selbst verloren hatte: Eltern, eine Heimat, Geborgenheit. Doch Theresa hatte noch weit mehr. Sie besaß die schönsten Spielsachen, die sich ein Mädchen nur wünschen konnte, Modellkleidchen aus Paris und Schuhe aus Rom. Sie hatte eine englische Gouvernante und ein eigenes Haus in Lugano.

Mit ihren langen blonden Locken und dem aparten Gesichtchen wirkte Theresa wie eine junge Dame. Doch schon in der nächsten Minute konnte sie zu dem entzückenden, lausbubenhaften Fratz werden, der alle Erwachsenen um den Finger wickelte.