Sonny ist traurig - Gert Rothberg - E-Book

Sonny ist traurig E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Felicitas Anstedt drückte auf eine Taste des Bandgerätes. Musik aus dem Ballett »Schwanensee« von Tschaikowsky erklang. »So, Kinder, und nun: Keulen schwingt – Keulen schwingt«, kommandierte Felicitas. Zugleich begann sie den Kindern die Übung vorzumachen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte ihren schlanken, mit einem eng anliegenden schwarzen Turnanzug bekleideten Körper, streckte den rechten Arm, in dem sie eine Keule hielt, und ließ ihn kreisen. Sehr hübsch sah sie dabei aus, die vierundzwanzigjährige Frau mit den langen blonden Haaren, die jetzt im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst waren. Man hätte sie noch für ein ganz junges Mädchen halten können. Nur die großen braunen Augen verrieten, dass Felicitas Anstedt schon einige Dinge erlebt haben musste, die jungen Mädchen meist noch unbekannt sind. Eine Liebe zum Beispiel, die wunderbar begann und sehr schmerzlich geendet hatte. »Marion, du musst den Arm weit ­ausstrecken und aus dem Gelenk heraus kreisen lassen«, sagte Felicitas nun zu einem kleinen Mädchen von etwa vier Jahren, das sehr blass aussah und einen schmerzlichen Zug um den Mund hatte. Sie stellte sich neben Marion, erfasste das dünne Kinderärmchen und half, den schwachen Arm aus dem Gelenk heraus kreisen zu lassen. »Siehst du, wenn wir das brav üben, wirst du bald wieder gesund sein und mit den anderen Kindern spielen können«, versprach Felicitas der Kleinen liebevoll und tröstend. Ein zärtlicher Blick aus den Kinderaugen dankte Felicitas für ihre tröstenden Worte. »Glaubst du wirklich, Tante Fee, dass ich wieder ganz gesund werde?«, erkundigte sich die Kleine zaghaft. »Aber natürlich«

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Sophienlust Extra – 33 –

Sonny ist traurig

Wer gibt ihm das Lachen zurück?

Gert Rothberg

Felicitas Anstedt drückte auf eine Taste des Bandgerätes. Musik aus dem Ballett »Schwanensee« von Tschaikowsky erklang.

»So, Kinder, und nun: Keulen schwingt – Keulen schwingt«, kommandierte Felicitas. Zugleich begann sie den Kindern die Übung vorzumachen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte ihren schlanken, mit einem eng anliegenden schwarzen Turnanzug bekleideten Körper, streckte den rechten Arm, in dem sie eine Keule hielt, und ließ ihn kreisen.

Sehr hübsch sah sie dabei aus, die vierundzwanzigjährige Frau mit den langen blonden Haaren, die jetzt im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst waren. Man hätte sie noch für ein ganz junges Mädchen halten können. Nur die großen braunen Augen verrieten, dass Felicitas Anstedt schon einige Dinge erlebt haben musste, die jungen Mädchen meist noch unbekannt sind. Eine Liebe zum Beispiel, die wunderbar begann und sehr schmerzlich geendet hatte.

»Marion, du musst den Arm weit ­ausstrecken und aus dem Gelenk heraus kreisen lassen«, sagte Felicitas nun zu einem kleinen Mädchen von etwa vier Jahren, das sehr blass aussah und einen schmerzlichen Zug um den Mund hatte. Sie stellte sich neben Marion, erfasste das dünne Kinderärmchen und half, den schwachen Arm aus dem Gelenk heraus kreisen zu lassen. »Siehst du, wenn wir das brav üben, wirst du bald wieder gesund sein und mit den anderen Kindern spielen können«, versprach Felicitas der Kleinen liebevoll und tröstend.

Ein zärtlicher Blick aus den Kinderaugen dankte Felicitas für ihre tröstenden Worte. »Glaubst du wirklich, Tante Fee, dass ich wieder ganz gesund werde?«, erkundigte sich die Kleine zaghaft.

»Aber natürlich«, antwortete Felicitas im Brustton der Überzeugung. »Du siehst ja selbst, wie sehr sich dein Ärmchen in den letzten vier Wochen gebessert hat.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte die Kleine nachdenklich und ließ die Keule eifrig kreisen.

»Und was ist mit dir los, Holger?«, erkundigte sich Felicitas nun bei einem fünfjährigen Jungen mit karottenroten Haaren, frechen Sommersprossen auf der Nase und funkelnden blauen Augen. »Du stehst da und starrst zum Fenster hinaus. Hast du keine Lust mehr, mit den anderen Kindern zu turnen?«

»Holger schüttelte energisch den Kopf. »Nee«, verkündete er freimütig, »überhaupt keine Lust. Draußen scheint so schön die Sonne – eigentlich möchte ich viel lieber schwimmen gehen. Ich schwimme nämlich so schrecklich gern, Tante Fee.« Treuherzig blickten die blauen Augen zu der jungen Frau auf.

Felicitas musste lachen. »Du, da muss ich dich aber warnen, Holger! Zwar scheint draußen die Sonne, aber im März ist es doch noch ein bisschen zu kühl, um im Freien schwimmen zu können. Warte lieber noch ein paar Monate mit diesem feuchten Sport, und turne unterdessen mit den anderen Kindern hier im warmen Saal.«

Holger tat, als müsse er über diesen freundlichen Vorschlag zunächst einmal nachdenken. Dann verkündete er gnädig: »Gut, Tante Fee, weil du es bist, turne ich noch ein bisschen mit dir. Aber das sage ich dir, mit einer anderen Frau würde ich das nicht tun. Nur mit dir!«

Felicitas biss sich fest auf die Lippen, bis sie weiß wurden. Holger durfte auf keinen Fall sehen, dass sie nur mit Mühe das Lachen unterdrücken konnte.

Schließlich hatte er ihr ein Kompliment machen wollen! Todernst entgegnete sie: »Das ist aber schrecklich nett von dir, Holger, dass du so viel für mich übrig hast. So, und nun nimm bitte wieder deine Keule und lass sie kreisen. Ich weiß, das kannst du schon ganz wunderschön. Die kleineren Kinder hier können sogar noch etwas von dir lernen.«

Der so Gelobte reckte sich, sodass er auf der Stelle um einige Zentimeter größer wurde und ließ die Keule kreisen. Ab und zu schielte er aus den Augenwinkeln heraus nach seinen kleineren Kollegen und Kolleginnen, um sich davon zu überzeugen, dass diese auch auf das gute Beispiel achteten, das er ihnen gab. Ihm wurde die Genugtuung zuteil, dass mindestens sechs Augenpaare auf die Keule in seiner Hand gerichtet waren.

Ein paar Minuten später sagte Felicitas zu den Kindern, die sie in Gedanken nur ›ihre‹ Kinder zu nennen pflegte: »So, das wär’s wieder mal für heute! Am nächsten Freitag sehen wir uns wieder. Vergesst das bitte nicht.«

»Och, schon vorbei?«, erklang es vielstimmig.

Obwohl diese Antwort beinahe regelmäßig nach Schluss der Turnstunde kam, freute sich die junge Frau doch stets darüber. ›Ihre‹ Kinder merkten wohl, wie sehr sie an ihnen hing. Und wie sehr sie sich jedes Mal freute, wenn eines von ihnen Fortschritte machte.

Denn Felicitas Anstedt war keine gewöhnliche Gymnastiklehrerin, sondern darauf spezialisiert, Kindern nach einem Arm- oder Beinbruch zu helfen, dieses Körperglied möglichst rasch wieder so wie früher gebrauchen zu können. Wenn die Eltern dieser Kinder wohlhabend ­waren, dann bezahlten sie den üblichen Preis. Mitunter kam auch die Krankenkasse für die Kosten auf. Doch recht oft erhielt Felicitas auch gar keinen Lohn für ihre Mühen. Dann nämlich, wenn die Eltern des erkrankten Kindes in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen lebten und sich diesen ›Luxus‹, der in Wirklichkeit gar keiner war, nicht leisten konnten. Felicitas redete niemals über diese Fälle.Ihr bedeutete es Lohn genug, wenn sie kranken Kindern helfen konnte. Sie war glücklich, wenn ihre kleinen Schützlinge nach einigen Wochen wieder so wie früher laufen und spielen konnten.

Jetzt ging die junge Frau mit den Kindern in den angrenzenden Raum, in dem es mehrere Waschbecken und eingebaute Duschen gab. Den Kleineren half sie beim Waschen und Anziehen. Die Größeren erledigten das allein und hinter sehr bunten Plastikvorhängen. Sehr leise ging es dabei nicht zu. Holger zum Beispiel konnte es einfach nicht lassen, die Mädchen nass zu spritzen und sich über deren Gekreisch königlich zu amüsieren.

»Holger – lass das!«, rief Felicitas. Es sollte streng klingen. Aber sie konnte mal wieder das Lachen nicht verkneifen. Erst recht nicht, als Holger ihr treuherzig und mit gekräuselter Nase gestand: »Mädchen quietschen immer so schön, weißt du, Tante Fee. Sie tun es, als ob sie sich schrecklich ärgerten. Aber das stimmt gar nicht. Das hab ich längst rausgekriegt. Bei meiner großen Schwester zu Hause. Die tut auch immer bloß so …«

Doch dann wurde es unvermittelt still in dem hübschen Haus am Stadtrand von Frankfurt: Felicitas’ kleine Bande stürmte hinaus, wo sie meistens von den Müttern bereits erwartet wurde.

Nachdem auch die letzte Mutti mit ihrem Kind das Grundstück verlassen hatte, machte Felicitas kehrt und schritt den mit Kies bestreuten Weg zurück auf die Haustür zu.

Doch noch ehe sie die Klinke heruntergedrückt hatte, schien sie es sich anders überlegt zu haben. In ihrem schwarzen Turnanzug lief sie um das zweistöckige Haus herum, dessen Erdgeschoss sie nach dem Tod ihrer Eltern zu einem Turnsaal mit anschließenden Wasch- und Umkleideräumen hatte ausbauen lassen.

Die Terrasse sah um diese Jahreszeit noch recht kahl aus. Die Pergola zu beiden Seiten, an der sich im Sommer Heckenrosen, Glyzinien und Clematis emporrankten, wirkte einsam und verlassen wie ein verdorrter Baum. Aber auf dem Rasen blühten bereits Krokusse in Blau, Weiß und Gelb. Zwei Rondelle mit Stiefmütterchen, Tulpen und Narzissen zeigten erstes Grün. Bald würde es hier verschwenderisch blühen.

Unvermittelt fiel Felicitas ein anderer Frühlingstag ein. Der Tag, an dem sie Horst kennengelernt hatte. Ihr Herz zog sich bei diesem Gedanken schmerzhaft zusammen. So war es jedes Mal, wenn sie an diese Zeit dachte.

Felicitas wusste, sie musste sich ein für alle Mal klarmachen, dass nicht alle Männer so waren wie Horst. Dass nicht alle so schäbig handelten.

Zu Anfang – in eben jenem wunderschönen Frühling vor sechs Jahren – hatte Horst nur von Liebe gesprochen. Und davon, dass sie heiraten würden. Sofort nach Beendigung seines Studiums. Natürlich hatte Felicitas ihm jedes Wort geglaubt. Weshalb auch nicht? Sie war ja so jung gewesen. Und so sehr verliebt. Doch noch vor Schluss des Sommersemesters hatte Horst ein anderes Mädchen kennengelernt.

Felicitas hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, diese andere, die ihr den geliebten Mann weggenommen hatte. Viel älter als Horst war sie gewesen. Mager, mit scharfen Gesichtszügen und einem vergrämten Zug um den Mund. Aber ihr Vater war sehr reich gewesen. Und sie war die einzige Tochter und Erbin des väterlichen Vermögens gewesen.

Horst hatte sich die Sache nicht lange überlegt. Sehr kurz und sehr kühl war die Aussprache zwischen ihm und Felicitas damals verlaufen: »Du musst das einsehen, Fee«, hatte er zu ihr gesagt und über sie hinweggeblickt. »Mit dem Geld ihres Vaters kann ich mir gleich nach den drei Jahren als Assistenzarzt eine glänzende Praxis aufbauen. Oder vielleicht sattle ich auch gleich um und gehe ins Geschäft des Alten. Da springt garantiert noch mehr dabei heraus.«

Felicitas’ Liebe war nach dieser kurzen Aussprache mit einem Schlag verflogen gewesen. Aber nicht ihr Misstrauen gegenüber den Männern. Natürlich hatte sie in der Zwischenzeit noch sehr viele Vertreter des anderen Geschlechts kennengelernt. Männer, die ihr beteuert hatten, sie bis an ihr Lebensende lieben und verehren zu wollen. Aber Felicitas hatte ihnen keinen Glauben mehr schenken können. Sie hatte sich in ihren Beruf geflüchtet. Seither gab es für sie nur noch »ihre« Kinder.

*

Das leise Weinen drang wie aus weiter Ferne zu Felicitas. Überrascht und erschreckt zugleich hob sie den Kopf und lauschte. Kein Zweifel, da weinte jemand. Ein Kind. Denn die Stimme klang hoch und dünn. Sie kam von jenseits der dichten Rhododendronhecke, die die beiden benachbarten Grundstücke voneinander abtrennte.

Der Garten nebenan gehörte Professor Jochum. Felicitas kannte den Mann kaum. Eigentlich hatte sie ihn nur einige Male gesehen, als er in seinen kleinen Sportflitzer gestiegen war. Ein schlanker, hoch aufgeschossener Mann, dem man schon von Weitem ansah, dass er mit seinen Gedanken stets weit weg war. Das konnte man von seiner Frau allerdings nicht behaupten. Deren Gedanken weilten zweifellos immer in der Gegenwart.

Felicitas versuchte sich nun durch die dichte Hecke zu zwängen. Es gelang ihr jedoch nicht. Die Sträucher standen schon seit vielen Jahren da. Ihre Zweige hatten sich buchstäblich ineinander verfilzt.

Felicitas überlegte nur kurz. Dann rief sie leise: »Hallo, Sonny, bist du dort drüben?«

Das unterdrückte Weinen verstummte einen Augenblick. Dann hörte die junge Frau, wie drüben jemand eifrig schluckte, noch einmal tief aufseufzte, sich geräuschvoll über die Nase fuhr und anschließend antwortete: »Ja, ich bin’s.«

»Ist etwas passiert, Sonny?«

Das Weinen setzte so unvermittelt wieder ein, dass Felicitas erschreckt zusammenfuhr. Es klang so trostlos, so verzweifelt. Nie hätte sie gedacht, dass ein kleines Kind so würde weinen können. Denn Sonny war höchstens vier Jahre alt.

Abermals zwängte sich die junge Frau zwischen die Zweige der Rhododendronhecke. Diesmal gelang es ihr wenigstens, einen Blick auf den schluchzenden Jungen zu werfen. Seine hellblonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn, die blauen Augen sahen verquollen aus, über die roten Backen kullerten dicke Tränen. »Tante Fee«, murmelte er, als er das Gesicht seiner freundlichen Nachbarin erkannte. Doch dann setzte sofort wieder das trostlose Schluchzen ein.

»Willst du mir nicht sagen, was passiert ist, Sonny?«, fragte Felicitas mit sacht drängender Stimme. »Vielleicht kann ich dir helfen?«

Vertrauensvoll blickte der Kleine zu ihr auf. Von Tante Fee hielt er eine ganze Menge. Jedes Mal, wenn er ihr auf der Straße begegnete, hatte sie ein freundliches Wort für ihn. Oder auch ein paar Bonbons oder eine Tafel Schokolade. Sonny war noch nie mit kleinen Geschenken verwöhnt worden. Doch darüber sprach er selbstverständlich nicht.

»Mein Vati … Er ist mit dem Wagen… verunglückt …« Stockend war das gesagt, von kleinen Schluchzern begleitet.

Felicitas fuhr erschreckt zusammen. »Verunglückt?«, fragte sie mit schwacher Stimme. »Und deine Mutti, ist sie bei ihm? Besucht sie ihn im Krankenhaus?«

Sonny schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel seines Pullovers übers Gesicht. »Mutti war auch … in dem Wagen«, brachte er endlich hervor.

Diesmal musste Felicitas heftig schlucken. Großer Gott, das war ja entsetzlich! Die Eltern des Kindes verunglückt. Sie waren doch hoffentlich nicht …

Die junge Frau wagte es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Behutsam fragte sie: »Wer hat es dir denn gesagt, Sonny? Dass deine Eltern verunglückt sind, meine ich?«

Sonny wischte sich wieder geräuschvoll über die Nase. Dann sagte er mit tonloser Stimme: »Mechthild hat es mir gesagt. Sie hat geschimpft, weil Mutti und Vati im Krankenhaus bleiben müssen und sie jetzt allein auf mich aufpassen muss. Sie mag mich doch nicht, weißt du …« Er verstummte und ließ den Kopf sinken. Die blonden Haare fielen ihm über die Augen.

Felicitas überlegte. Mechthild, das war wohl das Hausmädchen der Jochums. Ein etwas dralles Mädchen mit braunen, kurz geschnittenen Haaren, grünen Augen und meist superkurzen Röcken. Felicitas war ihr mitunter beim Einkaufen begegnet. Dann hatte das Mädchen meist hochnäsig über sie hinweggeblickt. So, als schäme man sich im Hause Jochum dieser ­›kleinbürgerlichen‹ Nachbarschaft. Felicitas hatte darüber nur schmunzeln können. Doch nun ärgerte sie sich plötzlich über das Benehmen dieser Mechthild. Vermutlich hatte die Polizei angerufen und dem Mädchen, als einziger Anwesenden im Hause der beiden Verunglückten, über den Unfall berichtet. Und diese Mechthild hatte nichts anderes zu tun gehabt, als diesem kleinen Jungen hier schonungslos an den Kopf zu werfen, dass seine Eltern verunglückt seien.

Felicitas schluckte ihre Empörung hinunter. Betont ruhig fragte sie: »Gewiss werden deine Eltern bald wieder nach Hause kommen, Sonny. Willst du nicht jetzt herüberkommen zu mir, Sonny? Wir könnten zusammen Abendbrot essen. Da braucht sich Mechthild nicht um dich zu kümmern. Das wird ihr nur recht sein.«

Sonny schob die Unterlippe nachdenklich vor. »Hunger hab ich keinen«, verkündete er danach. »Aber mit dir kommen, das will ich schrecklich gern.« Man sah ihm an, wie froh er war, Mechthild für eine Weile entronnen zu sein.

Sonny hatte keinerlei Mühe, die dichte Rhododendronhecke zu durchdringen. Er legte sich ganz einfach platt auf den Boden und robbte durch das Gesträuch.

Als er sich hinterher wieder aufrichtete, zierten etliche Schmutzflecke seine Bluejeans und seinen Pullover. Aber das störte Felicitas nicht. »So, mein Lieber, das ist aber recht, dass du mich endlich einmal zu Hause besuchst«, sagte sie und nahm den Jungen an die Hand.

Einträchtig schlenderten die beiden über die Gartenwege auf das zweistöckige weiße Haus zu. Wenn ich doch immer so einen kleinen Kerl um mich haben könnte!, schoss es Felicitas unvermittelt durch den Kopf. Erst als sie daran dachte, dass sie dann ja zuerst einen Mann kennenlernen müsste, der der Vater dieses Kindes sein würde – und dass dieser Mann sie womöglich auch wieder verlassen würde –, erst dann schob sie diesen verlockenden Gedanken rasch wieder von sich. Sie packte die kleine warme Kinderhand, die sich so sympathisch in ihrer großen Hand anfühlte, noch etwas fester und sagte fröhlich: »Wenn du schon nicht bei mir essen willst, dann wollen wir wenigstens einmal nachschauen, ob wir für dich etwas zu spielen finden.«

Sonny nickte eifrig. »Spielsachen mag ich«, erklärte er eifrig. »Besonders solche, die Räder haben und fahren. Autos zum Beispiel.«

Felicitas lächelte. »Davon hab ich sogar eine ganze Menge.«

Kurz darauf betrachtete Sonny begeistert die Spielzeugkiste, die Tante Fee vor ihm auf den Boden gestellt hatte. »So, ich hoffe, du findest einige Dinge darin, die dir gefallen«, sagte die junge Frau lächelnd. »Mich musst du jetzt für eine Weile entschuldigen. Im Gegensatz zu dir­ habe ich nämlich einen mächtigen Hunger. Außerdem möchte ich mich gern umziehen.«

Sonny nickte. »Geh nur, Tante Fee«, sagte er eifrig. »Ich kann schon eine Weile allein spielen. Zu Hause muss ich das ja auch oft.«

Die letzten Worte hatten sehr traurig geklungen. Doch Felicitas hatte jetzt ­keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste vor allen Dingen den Turnanzug mit einem Kleid vertauschen. Und anschließend einen schweren Gang unternehmen. Dass sie Hunger habe, war nur eine Ausrede gewesen.

Felicitas lief nach oben, wo sich ihr Schlafzimmer befand sowie die beiden Wohnräume, ihr ehemaliges Kinderzimmer, das Büro und die Küche.

Zunächst ging Felicitas ins Bad, streifte den Turnanzug ab, wusch sich kurz ab, bürstete ihr langes blondes Haar und fasste es anschließend wieder zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann ging sie ins Schlafzimmer, wählte ein gestreiftes Hemdblusenkleid, das genau zu diesem hellen Frühlingstag passte, und schlich danach so geräuschlos wie möglich die Treppe hinab.

Eine ganze Weile lauschte sie an der Tür zum Warteraum, hinter der Sonny sich befand. Jetzt weinte der Junge wieder. Es klang genauso trostlos und verlassen wie vor einer halben Stunde, als Felicitas ihn hinter der Rhododendron­hecke gefunden hatte.

Einen Augenblick zögerte sie. Am liebsten wäre sie hineingelaufen und hätte den Jungen in ihre Arme geschlossen. Doch dazu war jetzt keine Zeit. Etwas anderes war wichtiger. Sie musste sich Gewissheit verschaffen …

Auch die Haustür drückte Felicitas so geräuschlos wie möglich ins Schloss.

Dann rannte sie hinaus auf die Straße und klingelte an der Gartentür des Nachbarhauses.

Eine geraume Weile musste Felicitas warten. Dann meldete sich eine unwirsch klingende Frauenstimme durch die Sprechanlage: »Was ist los?«

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, Mechthild?«, fragte Felicitas. »Es geht um Sonny. Er ist bei mir.«

Bevor die Sprechanlage außer Betrieb gesetzt wurde, hörte Felicitas noch, wie Mechthild brummte: »Nichts als Scherereien mit diesem Bengel!«

Ein Summen ertönte jetzt. Felicitas stieß die Gartentür auf. Beinah im gleichen Moment öffnete Mechthild die Haustür und erschien auf der Schwelle.

Für einige Sekunden stockte Felicitas der Atem. Unwillkürlich blieb sie stehen und starrte ihr Gegenüber an wie eine Erscheinung.

Mechthilds pummelige Gestalt steckte in einem hautengen silberdurchwirkten Abendkleid, das an der Seite bis zum Oberschenkel geschlitzt war und dadurch höchst raffiniert wirkte. Allerdings nicht an Mechthilds Figur, für die dieses Kleid ganz bestimmt nicht geschneidert war. Felicitas erinnerte sich, dass Frau Jochum öfter solche Kleider trug. Sie konnte solche Kleider allerdings auch tragen. Bei ihr wirkten sie wie eine zweite Haut.

Es bedurfte keiner großen Fantasie, um herauszufinden, womit sich Mechthild nach dem Unfall ihrer Arbeitgeberin beschäftigt hatte: Sie vertrieb sich die Freizeit damit, die Kleider von Frau Jochum der Reihe nach auszuprobieren. Im Moment war sie gerade bei den Abendkleidern angelangt.

Wenn der Anlass nicht so traurig gewesen wäre, hätte Felicitas vermutlich nur ein amüsiertes Lächeln für das Mädchen übrig gehabt. Doch jetzt erfüllte sie das Benehmen des Mädchens mit geheimer Wut. Statt sich um den kleinen Sonny zu kümmern, hatte diese dumme Gans nichts anderes zu tun, als sämtliche Kleider ihrer Arbeitgeberin anzuprobieren. Wenn sie ihr wenigstens noch gepasst hätten! Aber sie sah in dem silberdurchwirkten Kleid aus wie eine Wurst in einem zu engen Darm.

Mechthild fühlte sich sichtlich ertappt.

Doch sofort setzte sie wieder ihre hochmütig-eisige Miene auf. »Sie wünschen?«, erkundigte sie sich arrogant.

Felicitas musste sich sehr große Mühe geben, die andere ihren Unmut nicht merken zu lassen. So ruhig wie möglich sagte sie: »Ich habe Sonny zu mir genommen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen? Er war im Garten und weinte. Ich wollte ihn ein bisschen ablenken.«

Mechthild machte ein Gesicht, als müsste sie erst überlegen, was diese Nachricht für sie bedeutete. Eine Freudenbotschaft, weil sie sich nicht mehr um das Kind zu kümmern brauchte – oder eine Frechheit dieser Nachbarin, die sich Sonny einfach ›angeeignet‹ hatte.