Ein Kind zu viel auf der Welt - Gert Rothberg - E-Book

Ein Kind zu viel auf der Welt E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Im Halbschlaf merkte Sabine Schröder, dass ihr Mann sich leise neben ihr erhob und mit seinen Sachen über dem Arm im angrenzenden Badezimmer verschwand. Seine Bemühungen, möglichst unhörbar zu sein, zauberten ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht. Das Wissen, geliebt zu werden, war unendlich schön, und sie hatte noch keinen einzigen Tag bereut, den einfachen Revierförster geheiratet zu haben. Besaß sie nicht alles, was eine Frau sich wünschen konnte? Einen Mann, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas, und Andi, den Sohn ihres Mannes aus erster Ehe, den sie wie ein eigenes Kind in ihr Herz geschlossen hatte. Eines Tages würde sie vielleicht noch zum Doktor der Tiermedizin promovieren, aber das hatte Zeit. Vorläufig brauchte sie der kleine Andi noch. Außerdem wusste sie nicht, was die Zukunft brachte. Ein Geschwisterchen wünschte sich nicht nur Andi. Auch sie und Klaus hätten nichts gegen einen Familienzuwachs einzuwenden gehabt. Jetzt kam Klaus Schröder fertig angekleidet wieder ins Zimmer. Er beugte sich über Sabine und streifte mit seinen Lippen ihre Stirn. »Klaus«, murmelte sie, »soll ich nicht doch …« »Still, Liebling«, sagte er. »Du weißt, was du mir versprochen hast. Schlaf noch eine Runde.« Sabine schloss gehorsam die Augenlider. Seitdem sie in der Praxis der Tierärzte von Lehn aushalf, führte Klaus ein strenges Regiment.

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Sophienlust Extra – 43 –

Ein Kind zu viel auf der Welt

Wer sind die Eltern des kleinen Peter?

Gert Rothberg

Im Halbschlaf merkte Sabine Schröder, dass ihr Mann sich leise neben ihr erhob und mit seinen Sachen über dem Arm im angrenzenden Badezimmer verschwand. Seine Bemühungen, möglichst unhörbar zu sein, zauberten ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht.

Das Wissen, geliebt zu werden, war unendlich schön, und sie hatte noch keinen einzigen Tag bereut, den einfachen Revierförster geheiratet zu haben. Besaß sie nicht alles, was eine Frau sich wünschen konnte? Einen Mann, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas, und Andi, den Sohn ihres Mannes aus erster Ehe, den sie wie ein eigenes Kind in ihr Herz geschlossen hatte. Eines Tages würde sie vielleicht noch zum Doktor der Tiermedizin promovieren, aber das hatte Zeit. Vorläufig brauchte sie der kleine Andi noch. Außerdem wusste sie nicht, was die Zukunft brachte.

Ein Geschwisterchen wünschte sich nicht nur Andi. Auch sie und Klaus hätten nichts gegen einen Familienzuwachs einzuwenden gehabt.

Jetzt kam Klaus Schröder fertig angekleidet wieder ins Zimmer. Er beugte sich über Sabine und streifte mit seinen Lippen ihre Stirn.

»Klaus«, murmelte sie, »soll ich nicht doch …«

»Still, Liebling«, sagte er. »Du weißt, was du mir versprochen hast. Schlaf noch eine Runde.«

Sabine schloss gehorsam die Augenlider. Seitdem sie in der Praxis der Tierärzte von Lehn aushalf, führte Klaus ein strenges Regiment. Er sorgte dafür, dass sie sich zu Hause ein wenig mehr Ruhe gönnte, und duldete vor allem nicht, dass sie am frühen Morgen, wenn er in den Wald fuhr, mit ihm aufstand. Wenn Sabine ihn neckend einen Haustyrannen nannte, lachte er nur. Und Sabine fügte sich.

Sabine wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie von einem Geräusch erwachte. Waren das nicht Schritte gewesen. Kam Klaus schon wieder zurück?

Graue Dämmerung drang durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden. Sabine sah auf die Leuchtziffern ihrer Uhr. Noch nicht einmal halb sechs. Merkwürdig. Sie wusste doch, dass Claus auf einen ganz bestimmten Bock pirschte. Dieser war ein gewiefter alter Herr und hatte seinen Einstand am äußersten Ende des Reviers. Er hatte Klaus schon im vergangenen Jahr mit Erfolg genarrt. Nun, seit dem Beginn der Bockjagd, verfuhr er nach dem gleichen Rezept.

Ob Klaus zum Schuss gekommen ist?, überlegte Sabine. Aber nein, dann wäre er erst recht noch nicht zurück. Überhaupt war es jetzt wieder ruhig. Gleichzeitig fiel Sabine ein, dass die Haustür nicht aufgeschlossen worden war. Also konnte es nicht Klaus gewesen sein. Das Geräusch von Schritten war sicher nur ihrer Einbildung entsprungen, oder sie hatte geträumt.

Noch eine halbe Stunde, dachte Sabine und drehte sich auf die andere Seite. Sosehr sie sich aber auch bemühte, es gelang ihr nicht, wieder einzuschlafen. Alle möglichen Dinge fielen ihr ein. Sie musste unbedingt mit Andi nach Maibach fahren. Er brauchte neue Schuhe, und ihr war die grüne Wolle für den Pullover ausgegangen, den sie heimlich für den Geburtstag von Klaus strickte. Wie es Senta wohl jetzt gehen mochte? Das war die Schäferhündin, die von einem Auto angefahren worden war. Man hatte sie zu Dr. von Lehn in die Praxis gebracht. Er hatte mit Sabines Hilfe operieren müssen und hatte danach ein bedenkliches Gesicht gemacht. Auch Sabine wusste, dass die Lage kritisch war. Hoffentlich erlag das Tier nicht seinen schweren Verletzungen. Senta war nämlich ein Blindenhund und für seinen Herrn so gut wie unersetzlich.

Sabine richtete ein paar recht unchristliche Wünsche an die Adresse wildgewordener Autofahrer, die alles niederwalzten, was sich ihnen in den Weg stellte. Nicht einmal die Tatsache, dass dem Fahrer des Wagens eine Blutprobe entnommen worden war, erschien ihr tröstlich. Es half weder Senta noch derem Herrn.

Sabine entschloss sich, nun auch aufzustehen. Sie fühlte eine unbestimmte Unruhe. Wahrscheinlich hing es mit Senta zusammen. Eine Ärztin konnte eben nicht so leicht abschalten. Da spielte es keine Rolle, ob der Patient ein Mensch oder ein Tier war.

Als Sabine ein wenig später gerade in den rehfarbenen Hosenanzug geschlüpft war und sich mit dem Kamm durch das kurz geschnittene braune Haar fuhr, hörte sie das Auto von Klaus. Nein, diesmal hatte sie sich nicht getäuscht. Der Wagenschlag knallte in der für ihren Mann typischen Weise zu.

»Sabine!«

Etwas in seiner Stimme ließ Sabine ans Fenster stürzen. Sie stieß die Läden auf und beugte sich hinaus.

»Wo brennt's denn, Klaus?«, rief sie munter. »Hast du am Ende den Bock ge…«

Das letzte Wort erstarb auf ihren Lippen. In maßloser Überraschung starrte sie zu ihrem Mann hinunter. Da stand er, ihr Klaus, mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Es presste die Fäustchen gegen die Augen und begann kläglich zu weinen.

Hin und wieder war es schon vorgekommen, dass Klaus ein verletztes Tier aus dem Wald nach Hause gebracht hatte, um es von Sabine verarzten zu lassen. Aber ein Kind?

Sabine nahm sich nicht die Zeit, über dieses Phänomen nachzudenken. »Ich komme, Klaus!«

Sie flog förmlich die Treppe hinunter und riss die Haustür auf.

»Um alles in der Welt, Klaus, was hat das zu bedeuten?«

Klaus Schröder, sonst nicht auf den Mund gefallen, rang nach Worten. »Keine Ahnung«, brachte er endlich mühsam heraus. »Ich kam heim … ja, und da lag es.« Er wies auf die hölzerne Bank vor dem Haus. »Ich hab's sofort gesehen.«

»Ist ja auch groß genug«, meinte Sabine. Sie trat zu ihrem Mann. »Gib ihn mir… Oder ist es vielleicht eine kleine Dame?«

»Das konnte ich in der kurzen Zeit wirklich nicht feststellen«, verteidigte sich Klaus. Mit einem Seufzer der Erleichterung übergab er das Kind seiner Frau. In einer so ungewöhnlichen Situation fühlte er sich als Mann doch ziemlich hilflos.

»Na, mein Kerlchen«, sagte Sabine liebevoll und drückte das Bündel Mensch zärtlich an sich. »Du wirst uns ja leider noch nicht mitteilen können, wie du in unser abgelegenes Forsthaus gekommen bist.«

War es Sabines mütterliche Stimme oder die schützende Geborgenheit ihrer Arme … Auf jeden Fall versiegten die Tränen des Kindes. Zwar schluchzte es noch einmal trocken auf, aber dann schmiegte es sich zufrieden an Sabines Brust, ließ sich mucksmäuschenstill die Treppe hinauftragen und gab auch keinen Laut von sich, als Sabine es aus dem mit Lammfell gefütterten Nylonanzug löste.

»Sieht aus wie ein kleiner Nordpolfahrer«, bemerkte Klaus, der ihr dabei zusah. »Und das im Monat Juni!«

»Torheit … Dein Name ist Mann«, belehrte Sabine ihn mit einem spitzbübischen Seitenblick. »Die Nächte sind kühl, und man wollte wohl verhindern, dass das Kind sich erkältet.«

»Stimmt, teures Weib«, gab Klaus zu. »Kannst du mir vielleicht jetzt auch noch sagen …«

»Halt!«, unterbrach Sabine ihn. »Hier, am Pullover, ist ein Kuvert mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Laß sehen, was drin ist.«

Es war nur ein zusammengefalteter Zettel mit den lapidaren Worten darin: »Ich heiße Peterle. Bitte, seid lieb zu mir.«

Klaus und Sabine blickten sich an. Dann sagte Klaus: »Peterle … also ein junger Mann.«

Sabines Kirschaugen funkelten ihn an. »Ist das deine einzige Reaktion? Bist du dir überhaupt im Klaren darüber, was geschehen ist? Peterle ist ausgesetzt worden. Er ist ein Findelkind. Und man hat ihn auf unsere Schwelle gesetzt. Warum eigentlich ausgerechnet auf unsere?«, fügte sie tiefsinnig hinzu.

»Erstens war es nicht die Schwelle, sondern die Bank«, korrigierte Klaus, »und zweitens kann Peterle geradeso gut den Bullingers zugedacht sein.«

Der alte Oberförster Wilhelm Bullinger bewohnte mit seiner Frau Frieda das Untergeschoß des Försterhauses. Jung und Alt lebte im besten Einvernehmen unter einem Dach.

Wilhelm Bullinger schätzte seinen Revierförster und verehrte die zierliche Sabine. Ja, manchmal machte er ihr sogar, zum stillen Vergnügen seiner besseren Hälfte, mit altvaterischer Galanterie ein bisschen den Hof. Frau Frieda hingegen konzentrierte alle brachliegenden großmütterlichen Gefühle auf Andi. Sie war geradezu glücklich, wenn Sabine einmal nicht da war und sie den Jungen nach Herzenslust verwöhnen konnte.

»Sei nicht so pedantisch, Klaus«, tadelte Sabine. »Jedenfalls ist Peterle erst mal bei uns gelandet. Ob er wohl schon ein bisschen sprechen kann? Wie alt mag er überhaupt sein? Was meinst du, Klaus?«

Diese Frage versetzte den Förster in Verlegenheit. Seine Erfahrungen mit Kindern begannen und endeten bei seinem eigenen Sohn. Deshalb zuckte er nur schweigend die Achseln.

Sabine wandte sich daraufhin dem Jungen zu. »Peterle«, lockte sie, »verstehst du mich?«

Der Kleine blickte sie aufmerksam an. Dann flüsterte er: »Mami …«, und wandte den Kopf zur Tür.

»O Klaus«, rief Sabine mitleidig aus, »hast du das gehört? Er ruft nach seiner Mutter …«

»… die ihn herzlos auf unserer Schwelle deponiert hat, wie du eben so schön ausgedrückt hast. Was denkt sich so ein Frauenzimmer wohl dabei?«

Sabine wurde nachdenklich. »Vielleicht tun wir ihr unrecht? Vielleicht ist Peterle gekidnappt worden?«

Klaus lachte. »Jetzt geht aber die Fantasie mit dir durch, Bienchen! Wann hast du den letzten Krimi gelesen?«, zog er sie auf. Sabine hatte nämlich eine Schwäche für diesen Zweig der Literatur und musste sich manche Neckerei gefallen lassen.

»Ich werde wohl zur Polizei gehen müssen«, meinte er dann.

Sabine stimmte ihm zu. »Vielleicht wird irgendwo ein Kind vermisst.«

Klaus warf einen begehrlichen Blick auf den einladend gedeckten Frühstückstisch. »Meinst du, ich könnte vorher noch einen Kaffee trinken?«

»Aber sicher. Du Ärmster bist ja schon seit Stunden auf. Vielleicht kannst du schon das Wasser aufsetzen. Ich kümmere mich inzwischen um Peterle. Er braucht dringend etwas Frisches zum Anziehen. Ein Glück, dass die Sachen von Andi noch da sind.«

Sabine ging ins Kinderzimmer, wo Andi sich gerade den Schlaf aus den Augen rieb. Als er Sabine mit dem Kind sah, schoß er bolzengerade in die Höhe. »Mutti, haben wir ein Kind gekriegt?«, rief er voller Begeisterung.

»Das nicht gerade«, erwiderte Sabine. »Die Sache ist so, Andi. Der kleine Junge, er heißt übrigens Peterle, hat nämlich keine Eltern mehr …« Sie brach ab. Eigentlich wusste sie ja überhaupt nichts. Es war zwar möglich, dass sich irgendwo die Eltern um das Kind sorgten. Sehr viel mehr Wahrscheinlichkeit hatte jedoch die Version von Klaus, dass Peterles Mutter sich des Kindes entledigt hatte, weil es ihr lästig geworden war. Das aber konnte sie Andi nicht erzählen. Er würde es nicht verstehen. Und außerdem gab es da noch einen wunden Punkt. Andis Mutter hatte nämlich Mann und Kind um eines anderen Mannes willen verlassen. Für Andi war es ein Glück gewesen, dass er damals noch zu klein gewesen war, um das zu begreifen. Er sah nun in Sabine seine Mutti und liebte sie mit der ganzen Wärme und Hingabe seines Kinderherzens.

»Nun, Mutti?«, forschte Andi.

»Ach so …« Sabine strich sich ein wenig verlegen eine Locke aus der Stirn. Dann fuhr sie mit fester Stimme fort: »Wir wissen selbst nicht, was eigentlich mit Peterle los ist. Vati hat ihn heute morgen auf der Bank vor dem Haus gefunden. Sicher hat Peterle niemanden, der sich um ihn kümmert, und deshalb …«

»… hat man ihn zu uns gebracht, weil ich mir doch so sehr ein Brüderchen wünsche«, fiel Andi ihr strahlend ins Wort.

Sabine lächelte gerührt. »Hm. Vielleicht. Wir müssen abwarten.«

Sie setzte Peterle in einen Polstersessel und sagte zu Andi: »Paß auf, dass er nicht herunterfällt. Ich muss ein paar Sachen für ihn heraussuchen.«

Andi baute sich vor dem Jungen auf. »Peterle, ich bin der Andi. Kannst du dir das merken? An … di. Sag's mir einmal nach!«

Peterles dunkle Augen ruhten neugierig auf Andi. Plötzlich verzog er den Mund und stieß einen glucksenden Laut aus.

»Mutti, er lacht!« Helles Entzücken klang aus Andis Stimme.

Peterle patschte in die Hände und sagte: »Adi! Adi!« Und von seinen eigenen Künsten offensichtlich berauscht, fuhr er mit Nachdruck fort: »Adi … essen!« Beim letzten Wort klopfte er sich so energisch auf sein Bäuchlein, dass keiner über seinen Wunsch im Zweifel bleiben konnte.

»Oje«, sagte Sabine erschrocken. »Vor lauter Aufregung vergesse ich das Wichtigste. Andi, ab mit dir ins Badezimmer. Kannst du dich heute mal allein waschen und anziehen?«

»Natürlich«, erklärte Andi wichtig. »Ich bin ja schließlich schon groß.«

Er flitzte aus dem Zimmer, und Sabine sputete sich mit dem Wechseln von Peterles Garderobe. Bei dieser Gelegenheit stellte sie fest, dass seine Wäsche, ebenso der Pulli und die lange dunkelblaue Kordhose, von guter Beschaffenheit und bestimmt nicht billig gewesen waren. Genügte diese Tatsache schon, um wirtschaftliche Not als Motiv für die Handlungsweise von Peterles Mutter auszuschließen? Wohl kaum. Es gab viele Mütter, die lieber selbst hungerten, als an ihren Kindern zu sparen.

Als Peterle fertig angezogen war, stellte Sabine ihn auf die Beine: »So, nun wollen wir mal sehen, wie es mit dem Laufen steht, kleiner Mann. Schön langsam … Schrittchen für Schrittchen.«

Zuerst hielt Sabine ihn an beiden Händchen fest. Ein wenig tapsig bewegte sich Peterle zunächst, dann aber mit wachsender Sicherheit. Schließlich genügte es, dass sie ihn an einer Hand führte. Und so kamen die beiden an den Frühstückstisch, wo sich auch Andi bereits eingefunden hatte.

Sabine kniff ein Auge zusammen. »Katzenwäsche, Andi?«

»Ausnahmsweise, Mutti«, antwortete er und wurde ein bisschen rot dabei.

»Also, laufen kann er auch«, stellte Klaus fest. »Von seinen Sprachkünsten hat mir Andi bereits berichtet. Für wie alt hältst du ihn, Sabine?«

»Ja, da muss ich überlegen«, meinte sie, während sie mit flinken Händen Milch wärmte und sie mit Haferflocken, geschabten Äpfeln und Nüssen vermischte. »Ein Jahr auf jeden Fall. Dass er schon zwei ist, glaube ich nicht. Also irgendwo in der Mitte.« Sie tat das Müsli in zwei Suppenteller, stellte den einen Teller vor Andi und schickte sich an, Peterle zu füttern. Das aber schien nicht nach dem Geschmack des Kleinen zu sein. Er schüttelte widerspenstig den Kopf und griff nach dem Löffel. »Peter …selber essen.«

»Na, so was«, meinte Sabine verblüfft. »Ich glaube, Peterle hat noch einige Überraschungen für uns.«

Alle sahen zu, wie Peterle nicht einmal so ungeschickt den Löffel eintauchte und sogar das meiste davon in seinen Mund beförderte.

»Ein selbständiges Kind«, sagte Sabine nachdenklich. Sie tauschte einen Blick mit ihrem Mann. Beide dachten dasselbe. Wahrscheinlich hatte sich bisher niemand besonders um Peterle gekümmert oder kümmern können.

»Peterle bleibt doch bei uns, Vati?«, fragte Andi.

»Tja, zunächst wohl schon. Ich meine, wenn sich niemand meldet, der größere Rechte hat und wenn es Mutti nicht zu viel wird. Wenn sie nur nicht gerade jetzt bei Dr. von Lehn aushelfen müsste.«

»Ach, ich schaffe das schon, Klaus«, warf Sabine ein. »Außerdem übernimmt Frau Bullinger auch gern mal die Kinder.«

»Weiß Oma Bullinger schon davon?«, erkundigte sich Andi interessiert.

Als Sabine verneinte, hatte der Junge es auf einmal sehr eilig. Er brannte sichtlich darauf, den beiden alten Herrschaften im Erdgeschoss die umwerfende Neuigkeit zu berichten.

»Du könntest im Tierheim vorbeifahren, Klaus, und mich für heute entschuldigen. Wenn du die näheren Umstände schilderst, wird Frau von Lehn bestimmt gern für mich einspringen. Und vergiss nicht, dich zu erkundigen, wie es Senta geht, hörst du?«

Klaus versprach alles und machte sich dann auf den Weg zum zuständigen Polizeirevier in Wildmoos.

*

Die Nachricht von dem Findelkind im Forsthaus breitete sich in Windeseile in ganz Wildmoos und Umgebung aus. Hier kannte einer den anderen, und jeder nahm Anteil an allen Geschehnissen.

Eine so hoch interessante Neuigkeit hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Ein Findelkind! Besonders im Kinderheim Sophienlust ergab sich daraus immer neuer Gesprächsstoff.

Seitdem Sophie von Wellentin ihren ganzen Besitz testamentarisch ihrem Urenkel Dominik von Wellentin-Schoenecker hinterlassen hatte, um dadurch das an ihm und seiner Mutter, Denise von Schoenecker, begangene Unrecht zu sühnen, war Sophienlust für viele Kinder Zuflucht und Heimstatt geworden. Man nannte es allgemein nur »das Heim der glücklichen Kinder« … und diese Behauptung stellte wahrhaftig keine Übertreibung dar.

Denise von Schoenecker, die bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes Dominik das Heim leitete, war die Seele des Ganzen. Mit leidenschaftlicher Hingabe kümmerte sie sich um jedes einzelne Schicksal. Neben Herzensgüte und Klugheit besaß sie ein besonderes Einfühlungsvermögen, sodass es ihr schon oft möglich gewesen war, scheinbar total verfahrene Situationen durch tatkräftige Hilfe, manchmal aber auch nur durch einen guten Rat, wieder ins rechte Lot zu bringen.

Trotz dieser großen Beanspruchung vergaß Denise aber nie ihre eigene Familie. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hatte sie Alexander von Schoenecker geheiratet, der damals ebenfalls verwitwet gewesen war. Mit ihm war sie sehr glücklich geworden. Sascha, Alexanders Sohn aus erster Ehe, studierte in Heidelberg, und Alexanders Tochter Andrea war vor einiger Zeit die Frau des Tierarztes Hans-Joachim von Lehn geworden. Beide Kinder hatten ein ebenso gutes Verhältnis zu Denise wie Dominik … oder Nick, wie er meistens gerufen wurde … zu Alexander. Dann gab es noch den siebenjährigen Henrik, einen frischen, aufgeweckten Jungen, der sich über die etwas verwickelten familiären Beziehungen überhaupt nicht den Kopf zerbrach. Seine Eltern, seine drei Geschwister und dazu das ganze große Sophienlust … Das alles genügte ihm, um sich zufrieden und glücklich zu fühlen.

Seitdem Andrea ihr erstes Kind erwartete, hatte man ihr trotz aller Proteste ein bisschen Schonung auferlegt. Das war auch der Grund, weshalb Sabine Schröder nun häufiger in der tierärztlichen Praxis aushelfen musste, besonders dann, wenn schwierige Eingriffe auszuführen waren, wie etwa bei der Hündin Senta.

Von sich aus hätte Andrea bestimmt nicht kürzergetreten. Sie hielt eine Schwangerschaft für die natürlichste Sache der Welt. Aber sie gab den anderen zuliebe nach … wenn auch mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Alle wollten ja nur das Beste für sie, und das wusste sie.

Waren ihrem quicklebendigen Temperament nun auch gewisse Zügel angelegt, so ließ Andrea es sich doch nicht nehmen, sich für alles, was um sie herum geschah, lebhaft zu interessieren. Als sie durch Klaus Schröder von Peterle erfuhr, hätte sie sich am liebsten sofort ins Auto gesetzt, um mit Denise darüber zu diskutieren. Sie war überzeugt, dass dies ein Fall für ihre Mutter sei.