Elkes Lieblinge - Gert Rothberg - E-Book

Elkes Lieblinge E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Es geschah an einem herrlichen Sommertag. Am Donnerstag, dem siebzehnten Juni. Urban und Sabine Warburg gingen mit ihrer fünfjährigen Tochter Elke zum Strandbad am Main, das nur wenige Minuten von ihrem Haus entfernt war. Die beiden Erwachsenen waren Wasserratten, und auch Elke schwamm bereits wie ein Fisch in dem Kinderbecken umher. »Ich schwimme hinaus, Urban. Passt du auf das Kind auf?« »Natürlich! Viel Vergnügen!«, rief er ihr nach. Sabine warf sich in den Fluss. Mit kräftigen Schlägen strebte sie dem anderen Ufer zu. Da, ein schmerzhafter Wadenkrampf! Sie drehte sich auf den Rücken, hob das Bein aus dem Wasser, wartete mit zusammengebissenen Zähnen, dass der Krampf sich löse. Doch sie wartete vergeblich. Angst überkam sie. Würgende Angst! Sie rief um Hilfe. Urban Warburg ließ sich eben von der vergnügten Elke mit Wasser bespritzen. Plötzlich hörte er Schreie, sah Menschen zum Fluss hinunterrennen. Er ahnte, dass ein Schwimmer in Gefahr war.

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Sophienlust Extra – 45 –

Elkes Lieblinge

Eine junge Frau und ihre Tochter halten Sophienlust in Atem...

Gert Rothberg

Es geschah an einem herrlichen Sommertag. Am Donnerstag, dem siebzehnten Juni.

Urban und Sabine Warburg gingen mit ihrer fünfjährigen Tochter Elke zum Strandbad am Main, das nur wenige Minuten von ihrem Haus entfernt war. Die beiden Erwachsenen waren Wasserratten, und auch Elke schwamm bereits wie ein Fisch in dem Kinderbecken umher.

»Ich schwimme hinaus, Urban. Passt du auf das Kind auf?«

»Natürlich! Viel Vergnügen!«, rief er ihr nach.

Sabine warf sich in den Fluss. Mit kräftigen Schlägen strebte sie dem anderen Ufer zu. Da, ein schmerzhafter Wadenkrampf! Sie drehte sich auf den Rücken, hob das Bein aus dem Wasser, wartete mit zusammengebissenen Zähnen, dass der Krampf sich löse. Doch sie wartete vergeblich. Angst überkam sie. Würgende Angst! Sie rief um Hilfe.

Urban Warburg ließ sich eben von der vergnügten Elke mit Wasser bespritzen. Plötzlich hörte er Schreie, sah Menschen zum Fluss hinunterrennen. Er ahnte, dass ein Schwimmer in Gefahr war. Eilig zog er seine Tochter aus dem Wasser, übergab sie einem älteren Mädchen, das er kannte: »Du bleibst hier bei Renate, bis ich zurückkomme.«

Elke versprach es, und Urban rannte hinter den anderen her. Er sah draußen im Fluss einen blonden Kopf, und obwohl ihn die Sonne blendete, wußte er, es war Sabine, seine Frau! Urban stürzte sich in das Wasser, kraulte in Sabines Richtung. Neben und hinter ihm sah er Köpfe über der Wasserfläche, die demselben Ziel zustrebten. Die Angst verlieh ihm Riesenkräfte. Er schnellte vorwärts, bekam Sabine, die gerade untertauchte, an ihren blonden Haaren zu fassen.

Urban hatte einen Kurs als Rettungsschwimmer absolviert und legte seine Hände unter Sabines Kinn, zog seine Frau zum Ufer. Sabine schnappte nach Luft. Durch das eingedrungene Wasser waren ihre Atemwege blockiert. Urban bemühte sich, schneller zu schwimmen. Er hatte das rettende Ufer schon vor Augen, da lösten sich plötzlich seine Hände. Er versank lautlos.

Die Retter bargen beide. Sabine wurde hochgehoben, sodass das eingedrungene Wasser aus ihr herausfloss. Dadurch kehrte das Bewusstsein in sie zurück.

Urban war jedoch auch durch pausenlose, künstliche Beatmung nicht mehr zu retten. Er wurde mit dem Krankenwagen in die Universitätsklinik gebracht. Doch weder die Schockbehandlung noch die Massage des Herzens war erfolgreich. Der Arzt hatte eine bereits weit fortgeschrittene Herzschädigung festgestellt, und die Aufregung hatte einen Infarkt ausgelöst. Urban war tot!

Als Sabine schonend davon unterrichtet wurde, presste sie die Lippen aufeinander. Keine Träne konnte ihren Schmerz erleichtern. Auch die Mahnung, dass ihr Töchterchen sie brauche, auf sie warte, löste ihre Starre nicht.

Sabines Nachbarin, Senta Bucher, war alarmiert worden und holte sie in der Klinik ab. »Elke weint nach Ihnen, Frau Warburg.«

Sabine hob die Augenbrauen, schaute sich wie eine Erwachende nach einem schweren Albtraum um. Sie folgte Senta Bucher heim in ihr Haus am Maasweg. Aber erst als sie Elke in ihre Arme schloss, taute der Reif um ihr Herz. Sie begann zu weinen.

Senta Bucher, die mütterliche, aber selbst kinderlose Nachbarin, hatte Elke gesagt, dass ihr Vati jetzt im Himmel sei. Die Fünfjährige hatte diese Nachricht sofort ihren Lieblingen, den beiden Puppen Perpetua und Ursi, dem Teddy Eisi und vor allem ihrem treuen Freund Miggi, dem Afghanen, mitgeteilt.

»Ihr müßt jetzt ganz besonders lieb zu Mutti sein«, fügte sie hinzu. »Sie ist traurig, weil Vati nicht mehr bei uns ist.« Sie zog der blonden Perpetua das Festkleid mit der rosa Schärpe an und Ursi das Lieblingskleidchen, rot mit weißen Tupfen, das so gut zu ihrem schwarzen Haar passte. Eisi, den Teddy, schmückte sie mit einer rosa Halsschleife. »Wir wollen im Garten ein Picknick veranstalten, Frau Bucher. Mutti hat das ganz besonders gern. Sie wird dann nicht mehr traurig sein.«

Senta Bucher fühlte ihre Augen feucht werden. Sie liebte dieses zärtliche kleine Mädchen, das noch ganz in seiner Kinderwelt lebte, dem das Spiel heiliger Ernst war. Sie half Elke beim Vorbereiten des Picknicks, trug Gläser und Milchkanne in den Garten, schenkte Elke zwei goldgelbe Äpfel. So empfing die Kleine ihre Mutti, als diese aus der Klinik zurückkam.

Sabine griff sich ans Herz. Dann setzte sie sich in das Gras, trank Milch, aß von den Orangenschnitten und ließ Elke plaudern.

»Miggi, Eisi, Perpetua und Ursi waren zuerst sehr traurig, als Frau Bucher uns sagte, dass unser Vati tot ist. Als ich ihnen aber erklärte, dass er im Himmel ist, haben sie wieder gelacht, Mutti. Und du wirst auch bald wieder fröhlich mit uns sein.«

»Ich will es versuchen«, versprach Sabine ihrem Kind. Sie brachte dabei sogar die Kraft auf, zu lächeln.

Elke war noch zu klein, um zu erkennen, wie traurig dieses Lächeln war. Sie warf sich der Mutter in die Arme. »Siehst du, nun bist du wieder so lustig wie immer, Mutti. Komm, leg' dich ein bisschen hin und schlafe. Miggi soll mit dir gehen, während ich hier Ordnung schaffe.« Und zu dem Afghanen gewandt sagte Elke: »Pass gut auf Mutti auf, Miggi. Bleib' vor ihrem Bett liegen, bis sie ganz fest schläft.«

Der Hund trottete neben Sabine in das Haus. Er legte sich vor das Bett, auf das die junge Frau sich geworfen hatte. Um Elke nicht zu belasten, presste Sabine das Gesicht in die Kissen, als die Tränen zu fließen begannen.

Warum bin ich so weit hinausgeschwommen? Warum habe ich um Hilfe gerufen?, fragte sie sich. Der Krampf wäre doch von selbst vergangen! Wie oft schon hatte ich einen und war nie in Gefahr. Warum habe ich nicht darauf bestanden, dass Urban zum Arzt geht und sein Herz behandeln lässt? Er hat doch manchmal geklagt. Aber er wollte nicht zum Arzt gehen. Es geht von allein vorbei, hat er immer gesagt. Aber ich hätte ihn zwingen müssen, sich untersuchen zu lassen. Meinetwegen ist er gestorben. Die Angst um mich, die Anstrengung hat das Herzversagen ausgelöst. Ich bin schuld an seinem Tod. Wie soll ich mit diesem Kainsmal weiterleben?

Als Elke auf Zehenspitzen eintrat, ihre Puppen und den Teddy in den Armen, wußte Sabine es. Für ihr Kind, für ihr und Urbans Kind musste sie weiterleben mit dieser entsetzlichen Last auf ihrem Herzen.

Sabine trug ihren Mann zu Grabe. Zwei Kusinen, Freunde, Bekannte und Arbeitskameraden von Urban umstanden das Grab. Es wurden Reden gehalten, doch Sabine nahm kein Wort davon auf. Als Werner Bucher, der Nachbar, ihr sein Beileid aussprach, schaute sie ihn verwundert an. »Senta ist bei Elke, Frau Warburg«, murmelte er.

Sabine lächelte und erwiderte: »Ich bin ihr sehr dankbar dafür.«

Werner Bucher schossen die Tränen in die Augen. Er war ein warmherziger Mann und hing wie seine Frau an dem Kind. Ihm galten auch diese Tränen. Armes vaterloses Kind!

Die Fünfjährige aber glaubte ihren Vater im Himmel, unter fröhlich umherfliegenden Engeln. Als die Mutter an diesem Abend an ihrem Bett saß, setzte sie sich noch einmal auf und umschlang Sabines Hals. »Frau Bucher hat mir ein sehr schönes Lied beigebracht, Mutti. Soll ich es dir vorsingen?«

Sabine nickte.

Elke legte die Püppchen und den Teddy zurecht und sagte zu Miggi, der neben dem Bett saß: »Ihr müsst zuhören und dürft mich nicht stören! Also, dann fange ich an: Wie früh bist du geschieden

und ließest uns allein,

gingst ein zu Gottes Frieden,

wirst nun ein Engelein.

Wir steh'n …«

Elke stockte und schaute die Mutter schuldbewusst an. »Die zweite Strophe habe ich mir nicht merken können, Mutti. Kennst du das Lied?«

Wieder nickte Sabine. Sie sang die dritte Strophe, ihr selbst und ihrem Kind zum Trost:

»Doch wollen wir nicht klagen,

wir gönnen dir die Ruh

und denken, wenn wir spielen,

du schaust von oben zu.«

Elke musterte ihre Lieblinge: »Habt ihr es gehört? Der liebe Gott und unser Vati schauen uns zu, wenn wir spielen. Ihr dürft also nicht mehr streiten und müsst vor allem jetzt zu Mutti sehr sehr lieb sein. Wie ich auch!« Sie drückte Sabine feuchte Küsse auf den Mund, auf die Wangen, auf den Hals.

Die Zärtlichkeiten des Kindes legten sich wie Balsam auf Sabines Wunde. Sie war ihrer Tochter immer eine fröhliche Mutter gewesen und nahm sich nun ihr zuliebe zusammen. Sie weinte in den einsamen Nächten und strich über das Kopfkissen, auf dem Urbans dunkler Haarschopf nicht mehr ruhte.

An jedem Mittwochabend wurde Sabine von einer unbezähmbaren inneren Unruhe befallen. Es fiel ihr dann schwer, mit Elke zu singen und zu beten und ihr eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen. Die nachfolgende Nacht verbrachte sie meist schlaflos, von Selbstvorwürfen gepeinigt. Am Donnerstag brachte sie Elke wie immer gegen neun Uhr in den Kindergarten. Dann irrte sie unruhig durch das Haus. Sie ordnete die Blumen in der Vase, arrangierte sie um, ordnete die Sachen in den Schränken. Sie stand vor Elkes Bettchen und mit schmerzendem Herzen vor Urbans Bett. Sie bereitete das Mittagessen zu, gehetzt und immer dasselbe, Makkaroni mit Rindsrouladen, Urbans Lieblingsspeise. Die Rouladen hatten sie an jenem Unglückstag vor sieben Wochen gegessen. Pünktlich um viertel vor zwölf holte sie dann Elke aus dem Kindergarten ab.

»Warum müssen wir immer diese komischen Rollen essen, Mutti? Ich mag sie nicht.«

Sabine war sonst eine verständnisvolle moderne Mutter, die ihrem Kind nichts mit Gewalt aufzwang.

Aber an diesen Donnerstagen wurde sie ungeduldig.

Auch diesmal fuhr sie die Kleine an: »Du hast zu essen, was auf den Tisch kommt, Elke. Weißt du nicht mehr, wie gern Vati diese Rouladen mochte?«

»Ich hoffe nur, er muss diese Dinger im Himmel nicht mehr essen. Er hat sie ganz gewiss nur dir zuliebe gegessen. So etwas kann einfach keinem schmecken. Magst du sie vielleicht, Miggi?«

Der Afghane schaute bekümmert drein, und Elke wollte schon triumphieren. Da sah sie den abwesenden Blick der Mutter, ihr bleiches Gesicht. Rasch aß sie brav ihren Teller leer. Wenn Mutti traurig war, musste sie gehorchen, überlegte sie. Sonst würde ja der Vati, der als Engel alles sah, böse auf sie sein.

Elke half der Mutter beim Abtrocknen. »Wollen wir im Garten spielen, Mutti? Es ist so schön draußen im Gras und gar nicht so heiß.«

Sabine fuhr hoch, als erwache sie. »Heute ist doch Donnerstag, mein Liebling. Du weißt, dass ich zur Löwenbrücke muss. Bereite ein Picknick für später vor, aber jetzt lege dich hin und schlafe.«

Elke sammelte ihre »Familie« ein und ging mit ihr gemeinsam zu Bett, um einen Mittagsschlaf zu halten. Zu Miggi sagte sie: »Mutti geht nach fünf Uhr wieder zur Löwenbrücke. Mich will sie nicht dabeihaben, aber du musst gut auf sie aufpassen, damit sie nicht von einem Auto angefahren wird. Seitdem Vati tot ist, passt sie nicht auf. Man darf sie nicht aus den Augen lassen, Miggi.«

Während Elke schlummerte, bügelte Sabine die Wäsche. Immer wieder glitt dabei ihr Blick zur Uhr. Sie richtete einen Teller mit Obst, stellte Gläser auf ein Tablett und legte die rot-weiß gewürfelte Tischdecke zurecht. Elke trug später alles in den Garten. Dann stand sie am Zaun und winkte der Mutter nach: »Ich komme dich abholen, Mutti!«

Sabine hörte es nicht mehr. Mit steifem Rücken ging sie zur Löwenbrücke, die nur vier Minuten vom Haus entfernt war. Und dann stand sie auf der Brücke, die Ellenbogen auf das Geländer gestützt und starrte hinab in das Wasser. Ihr war dabei, als flöße ihre Seele mit der von Urban zusammen, sodass sie einem gemeinsamen Ziele zuströmten! Unentwegt schaute Sabine auf die Stelle, wo ihr Mann im Wasser versunken war.

*

Um diese Zeit schlenderten Denise und Alexander von Schoenecker mit Irmela Groote den Sanderring entlang. Sie hatten eben die Neue Universität besichtigt und wollten nun zur Löwenbrücke, die eigentlich Ludwigsbrücke hieß.

Irmela besuchte in Maibach das Gymnasium, um dort ihr Abitur zu machen. Sie wollte später Ärztin werden und dann zu ihren Eltern nach Bombay zurückkehren. Bis dahin sollte sie als Dauergast auf Sophienlust bleiben, wo sie sich nach anfänglichem Heimweh schon gut eingewöhnt hatte. Denise und ihr Mann hatten der Vierzehnjährigen, die durch den Tod des Vaters und die Wiederverheiratung der Mutter eine Krise durchgemacht hatte, die Schönheiten ihrer Heimat zeigen wollen. Deshalb waren sie mit ihr für drei Tage in die alte Bischofsstadt Würzburg gefahren.

»Ich finde es riesig nett von euch, Tante Isi und Onkel Alexander, dass ich mitfahren durfte«, sagte Irmela, ein hübsches, langbeiniges blondes Mädchen mit tiefblauen Augen, dankbar. »Am liebsten würde ich gleich von der Brücke in den Main springen! Mich gelüstet nach einem kühlen Bad!«

Denise und ihr Mann verstanden das junge sportliche Mädchen. Auch sie schauten sehnsüchtig in das Wasser hinab. Aber sie wollten Irmela noch das Räppele zeigen, diesen bekannten Wallfahrtsort, sowie die Festung. Am Abend des nächsten Tages wollten sie nach Sophienlust zurückkehren.

Plötzlich hielt Denise die beiden anderen an den Armen fest. »Schaut einmal die junge Frau dort an. Ist der Hund nicht ein prächtiger Afghane?«

»Wunderschön!«, bestätigte Alexander und musterte das Tier mit Kennerblicken.

Denise aber und Irmela wurden von der still verharrenden Sabine angezogen, die unentwegt in den Fluss hinabschaute.

»Sie könnte meine Mutter sein, Tante Isi«, murmelte das Mädchen. »So traurig und einsam hat meine Mutti nach dem Tod meines Vaters auch ausgesehen.«

»Viele Menschen werden vom fließenden Wasser bezaubert, Irmela. Sie müssen deswegen nicht traurig sein«, meinte Alexander von Schoenecker.

»Sie ist aber traurig! Ich fühle es ganz einfach.«

Denselben Eindruck hatte auch Denise, die, seit sie das Kinderheim Sophienlust leitete, schon viele unglückliche Menschen kennengelernt hatte. Sie wußte, diese Frau trug an einem schweren Leid. Deshalb hielt sie Irmela zurück, die sich der Fremden nähern wollte. »Störe sie nicht, bitte!«

Die drei lehnten sich an das Geländer und beobachteten aus den Augenwinkeln die hochgewachsene blonde Frau im schwarzen Trauerkleid. Und dann sahen sie ein süßes blondes Mädchen, das zwei Puppen und einen Teddy in den Armen trug, auf die reglos Dastehende zugehen. Das helle Stimmchen klang bis zu ihnen, sodass sie jedes Wort verstanden.

»Mutti, da bin ich! Wollen wir nun heimgehen und picknicken? Perpetua und Ursi haben schon mächtigen Hunger, und Eisi hat Durst. Kommst du mit?«

Die Sophienluster sahen, wie die Kleine ihre Hand in die der jungen Frau schob und die Mutter sanft mit sich fortzog.

Denise war eigenartig berührt. Sie sah, dass Irmela feuchte Augen hatte. Auch Alexander schaute bedrückt drein.

»Andrea würde dahinter bestimmt eine Tragödie vermuten«, murmelte Denise.

Alexander nickte. Vielleicht nicht zu Unrecht. Andrea hat so etwas wie einen sechsten Sinn - wie du übrigens auch, meine Liebe.«

Denise schaute dem seltsamen Paar nach. Dann sagte sie eilig: »Steigt ihr zum Räppele hinauf. Ich will sehen, wohin die Frau mit dem Kind geht.«

»Ich habe es geahnt«, meinte Alexander lächelnd. Zugleich zog er Irmela, die am liebsten mit ihrer Tante Isi gegangen wäre, mit sich fort.

Denise folgte Sabine und Elke vorsichtig. Die Kleine plauderte munter, doch Sabine schwieg und ging so steif, als habe sie einen Stock verschluckt. Sie öffnete das Gartentor und ging auf dem gepflegten Kiesweg zum Haus. Dann verschwanden Mutter und Tochter im Haus.

Denise sah die rotweiß gewürfelte Decke auf dem Rasen, die Gläser, die Früchte. Die Kleine hatte von einem Picknick gesprochen, aber die Haustür blieb geschlossen.

Sehr nachdenklich folgte Denise ihrem Mann und Irmela zum Räppele hinauf. In der Nacht fand sie lange keinen Schlaf. Die Fremde, die mit ihrem Kind in dem roten Haus verschwunden war, geisterte auch noch durch ihre Träume.

Beim Frühstück war Denise sehr wortkarg. Alexander betrachtete sie amüsiert. »Lässt dir das süße Mädchen keine Ruhe, Denise? Aber du hast doch gesagt, dass Mutter und Tochter ein hübsches Haus bewohnen. Also siehst du Gespenster, wo keine sind.«

Denise lächelte ihren Mann an, aber er kannte sie so gut, dass er sich über ihre Weigerung, mit auf die Festung zu kommen, nicht wunderte.

»Ich habe die Festung schon einmal besichtigt, Alexander«, erklärte Denise.

»Ich weiß, Liebste! Das rote Haus hat mehr Anziehungskraft für dich.«

»Wie gut du mich verstehst, Alexander«, sagte sie dankbar. »Wir sind uns doch einig, dass viel Leid nicht sein müsste, wenn wir uns mehr um unsere Mitmenschen kümmern und nicht achtlos an ihnen vorübergehen würden.«

Er musste ihr recht geben. Auch die Vierzehnjährige schaute ihre Tante Isi zufrieden an und sagte schließlich: »Nick hat mir erzählt, wie ihr zu dem Kinderheim gekommen seid. Ich finde, Sophie von Wellentin hätte sich keine besseren Erben aussuchen können als dich und deinen Sohn Nick. Ihr habt aus dem Kinderheim wirklich das gemacht, was die alte Dame sich wünschte. Einen Ort des Friedens, wo unglückliche Erwachsene, vor allem aber verlassene und einsame Kinder, eine Zuflucht und ein Heim finden. Wie glücklich war meine Mutti, als sie mich in der schweren Zeit zu dir bringen konnte, Tante Isi. Ebenso glücklich ist sie darüber, dass ich auch jetzt noch bei euch bleiben darf. Vielleicht braucht dieses kleine Mädchen mit seinen Püppchen und dem Teddy dich auch.«

»Das will ich herausbekommen, Irmela. Darum will ich zu der jungen Frau gehen und versuchen, mit ihr zu sprechen. Wir treffen uns am besten auf der Bank am Mainlaitenweg, direkt am Fuße der Treppe zum Räppele. Einverstanden?«

»Um wieviel Uhr, Denise?«

»Vielleicht so gegen elf Uhr?«

Sie einigten sich auf diesen Zeitpunkt. Alexander von Schoenecker und Irmela Groote stiegen zur Festung Marienberg hinauf, um diese und das Mainfränkische Museum zu besichtigen. Denise aber schlenderte zum Maasweg und blieb am Zaun des roten Hauses stehen. Sie sah auf dem Rasen Mutter und Kind spielen. Die beiden warfen sich einen großen Ball zu, und der Afghane jagte bellend hinterher. Auf der rot-weiß gewürfelten Decke saßen die zwei Puppen und der Teddy. Die Kleine rief ihnen öfters zu: »Kann ich den Ball nicht prima fangen? Und seid ihr nicht auch froh, dass wir nicht in den Kindergarten müssen? Mutti, pass auf!«

Der Ball flog in die Luft, und die gertenschlanke, graziöse Frau fing ihn geschickt auf, lachend und glücklich.