Das Mädchen ohne Namen - Gert Rothberg - E-Book

Das Mädchen ohne Namen E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. »Mutti, glaubst du, dass Pünktchen zu den Diehls nach Hamburg geht?«, fragte Nick. Seine dunkle Bubenstimme klang dabei bekümmert. Denise von Schoenecker nahm Gas weg und fuhr etwas langsamer. Die Straße zwischen dem Kinderheim Sophienlust und Gut Schoeneich war so wenig befahren, dass sie einen raschen Blick auf ihren Sohn wagen konnte. In gebückter Haltung saß er neben ihr und ließ den Kopf hängen. Sonst freute er sich immer über die schöne Landschaft, doch an diesem Tag hatte er keinen Blick dafür. Es war Denise von Schoenecker natürlich nicht verborgen geblieben, dass auch die anderen Kinder von Sophienlust seit kurzem traurig umherschlichen. Sie stocherten lustlos im Essen herum, und nicht einmal Magdas sonst so beliebter Schokoladenkuchen konnte Anklang finden. Auch die Jüngsten tobten nicht wie gewöhnlich lachend und lärmend durch das große Haus und den weitläufigen Park, sondern saßen still und stumm in einer Ecke. »Ich weiß nicht«, antwortete Denise ausweichend. Auch sie selbst konnte sich nicht richtig mit dem Gedanken vertraut machen, dass ausgerechnet Pünktchen, die nun schon so viele Jahre in Sophienlust lebte, sie bald für immer verlassen sollte. »Wenn die Zeitungen nicht über Sophienlust geschrieben hätten, dann hätte dieses Ehepaar aus Hamburg nie etwas von uns erfahren«, murrte Nick. Er war ein bildhübscher Junge mit blauschwarzem Haar und großen dunklen Augen. Wenn er so wie jetzt trotzig die Unterlippe vorschob und die Stirn in Falten legte, wirkte er noch sehr kindlich. Auch in seinem Wesen glich er noch immer eher einem liebenswerten Lausbuben als einem angehenden jungen Mann. Doch gerade das war es, was ihm bei Alt und Jung so viele Sympathien einbrachte. »Das lässt sich eben nicht vermeiden.«

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Sophienlust Extra – 49 –

Das Mädchen ohne Namen

Wenn ein Vater die eigene Tochter nicht erkennt …

Gert Rothberg

»Mutti, glaubst du, dass Pünktchen zu den Diehls nach Hamburg geht?«, fragte Nick. Seine dunkle Bubenstimme klang dabei bekümmert.

Denise von Schoenecker nahm Gas weg und fuhr etwas langsamer. Die Straße zwischen dem Kinderheim Sophienlust und Gut Schoeneich war so wenig befahren, dass sie einen raschen Blick auf ihren Sohn wagen konnte. In gebückter Haltung saß er neben ihr und ließ den Kopf hängen. Sonst freute er sich immer über die schöne Landschaft, doch an diesem Tag hatte er keinen Blick dafür.

Es war Denise von Schoenecker natürlich nicht verborgen geblieben, dass auch die anderen Kinder von Sophienlust seit kurzem traurig umherschlichen. Sie stocherten lustlos im Essen herum, und nicht einmal Magdas sonst so beliebter Schokoladenkuchen konnte Anklang finden. Auch die Jüngsten tobten nicht wie gewöhnlich lachend und lärmend durch das große Haus und den weitläufigen Park, sondern saßen still und stumm in einer Ecke.

»Ich weiß nicht«, antwortete Denise ausweichend. Auch sie selbst konnte sich nicht richtig mit dem Gedanken vertraut machen, dass ausgerechnet Pünktchen, die nun schon so viele Jahre in Sophienlust lebte, sie bald für immer verlassen sollte.

»Wenn die Zeitungen nicht über Sophienlust geschrieben hätten, dann hätte dieses Ehepaar aus Hamburg nie etwas von uns erfahren«, murrte Nick. Er war ein bildhübscher Junge mit blauschwarzem Haar und großen dunklen Augen. Wenn er so wie jetzt trotzig die Unterlippe vorschob und die Stirn in Falten legte, wirkte er noch sehr kindlich. Auch in seinem Wesen glich er noch immer eher einem liebenswerten Lausbuben als einem angehenden jungen Mann. Doch gerade das war es, was ihm bei Alt und Jung so viele Sympathien einbrachte.

»Das lässt sich eben nicht vermeiden.« Denise zuckte die Schultern. Sie hätte ihren Schützlingen diesen Kummer so gern erspart.

»Du hättest Herrn und Frau Diehl sofort wieder wegschicken müssen«, stieß Nick, der eigentlich Dominik hieß, trotzig hervor.

»Dann hätte ich Pünktchen die Chance genommen, ein neues Zuhause zu finden«, meinte die charmante Denise nachdenklich. Sie wusste selbst nicht, ob es ein Glück für Pünktchen bedeutete, von dem Ehepaar Diehl adoptiert zu werden. Konnte man so etwas überhaupt jemals voraussagen?

»Warum nehmen sie kein kleines Kind? Ein Baby?« Ärgerlich verzog Nick das Gesicht.

»Die Diehls sind schon älter, das weißt du ja, und könnten den Lärm eines Kleinkindes schlecht ertragen.«

»Mutti, ich hab Pünktchen so lieb wie eine Schwester …« Dominik kämpfte mit den Tränen. Er war bestimmt nicht weichlich, doch die Vorstellung, von Pünktchen schon in den nächsten Tagen für immer Abschied nehmen zu müssen, war für ihn sehr, sehr schmerzlich.

Denise verstand ihren Sohn sehr gut. Pünktchen und er waren zusammen aufgewachsen, waren seit sechs Jahren unzertrennlich. Viele schöne und auch schlimme Erlebnisse verbanden die beiden Kinder.

Eigentlich hieß Pünktchen Angelina und war elf Jahre alt. Den Kosenamen Pünktchen hatte die Kleine den kessen Sommersprossen auf ihrem Stupsnäschen zu verdanken.

»Weißt du noch, Mutti, wie ich Pünktchen damals gefunden habe?« fragte Nick. »Frierend und halb verhungert kauerte sie am Straßenrand. Sie war so klein und ganz verdreckt und hat immerzu geweint.«

»O ja, ich weiß das alles noch sehr gut.« Die noch immer jugendliche und außergewöhnlich schöne Denise lächelte. Für sie waren all diese Jahre voll glücklicher Erinnerungen. So vielen kleinen Buben und Mädchen hatte sie eine neue Heimat schenken können. Unzählige arme, verängstigte und verbitterte Kinder waren in Sophienlust wieder froh und glücklich geworden. Die meisten von ihnen hatten wieder einen Platz in einer Familie gefunden. Pünktchen war eines der wenigen Kinder, denen Sophienlust zur endgültigen Heimat geworden war. Doch nun sollte sich das ändern. Das war eine Möglichkeit, an die niemand mehr gedacht hatte.

»Glaubst du, Pünktchen wird uns ganz vergessen?« Insgeheim hatte Nick das hübsche blonde Mädchen mit den veilchenblauen Augen immer zur Familie gezählt. Dass es nun diese Familie verlassen sollte, war für ihn so überwältigend, dass er kaum noch an etwas anderes denken konnte.

»Ganz bestimmt nicht«, versicherte Denise sehr überzeugend. Gerade bog sie in die Einfahrt von Gut Schoeneich ein. Vor den Garagen stellte sie den Wagen ab.

Da kam auch schon Henrik, das Nesthäkchen der Familie von Schoenecker, herbeigelaufen. Stürmisch umarmte der Junge seine schöne Mama. »Bleibt Pünktchen bei uns?« fragte er dann sofort ängstlich.

Denise strich ihrem Jüngsten liebevoll über das dichte dunkle Haar. »Pünktchen darf das selbst entscheiden«, antwortete sie leise.

»Ich an ihrer Stelle bräuchte da überhaupt nicht zu überlegen«, prustete Henrik. »Ich würde hierbleiben!«

Ganz gegen seine Art kletterte Nick langsam und umständlich aus dem Auto. »Du hast auch Vati und Mutti hier«, verteidigte er seine kleine Freundin. »Aber Pünktchen hat niemanden. Wenn sie mit den Diehls nach Hamburg geht, bekommt sie Eltern.«

Henrik holte tief Luft. »Das stimmt gar nicht, dass Pünktchen hier niemanden hat«, protestierte er entrüstet. »Sie hat uns und Mutti und Frau Rennert …«

»Ach, das verstehst du doch nicht«, winkte Nick ungeduldig ab. Er war im Augenblick einfach nicht in der Stimmung, sich mit Henrik auf eine längere Diskussion einzulassen. Am liebsten wollte er jetzt allein sein.

»Ich versteh das ganz gut«, brüllte Henrik lautstark. Seine dunklen Augen blitzten kampfeslustig auf. »Wenn wir alle ganz lieb zu Pünktchen sind, will sie bestimmt nicht weg!« Auch Henrik hing mit zärtlicher Liebe an Pünktchen. Sie hatte ihn oft betreut, als er noch klein gewesen war, und sie hatte ihn zärtlich getröstet, wenn er sich wehgetan hatte. »Und deshalb …, deshalb hab ich für Pünktchen von meinem Taschengeld eine Puppe gekauft!«

Henrik schaute sich siegessicher um. Aber er wurde enttäuscht. Seine Äußerung machte auf den großen Bruder überhaupt keinen Eindruck.

»Wenn Pünktchen mit den Diehls nach Hamburg geht«, gab Nick gelassen zurück, »kann sie so viele Puppen haben, wie sie nur will. Die Diehls sind nämlich sehr reich. Und außerdem …, außerdem macht sich Pünktchen gar nichts aus Puppen.«

Nick ließ den Kleinen einfach stehen. Gewöhnlich herrschte zwischen den beiden Buben ein liebevolles Verhältnis. Doch an diesem Tag war Nick einfach nicht ansprechbar.

Henrik ließ sich jedoch nicht abschütteln. Hartnäckig blieb er an der Seite des großen Bruders. »Meine Puppe mag sie schon. Sie hat nämlich eine Tracht an, wie man sie früher hier getragen hat.«

Alexander von Schoenecker, der große, breitschultrige Gutsbesitzer, der trotz seiner erwachsenen Kinder noch erstaunlich jung und lebensfroh wirkte, kam von den Ställen herüber. Mit glücklichem Lachen ging er auf die kleine Gruppe zu. Er nickte seinen beiden Söhnen zu und schloss dann ungeniert seine Denise in die Arme. »Du siehst zauberhaft aus«, raunte er verliebt.

»Ich fühle mich aber reichlich unzulänglich«, klagte sie und blinzelte verschmitzt.

»Wegen Pünktchen?« fragte Alexander ahnungsvoll. Obwohl er auf Gut Schoeneich sehr viel Arbeit hatte, nahm er doch an allem, was Sophienlust betraf, regen Anteil. Auf das Heim der glücklichen Kinder, das Denise mit so viel Liebe und Eifer aufgebaut hatte, war er genauso stolz wie seine Frau.

»Ich weiß nicht, ob ich der Kleinen zu- oder abraten soll. Die Diehls aus Hamburg sind ganz vernarrt in das Mädchen und wollen es so rasch wie möglich mitnehmen. Aber wird es ein Glück sein für das Kind? Es lebt seit vielen Jahren bei uns auf dem Land, ist gewohnt, Tiere, Wiesen und Wälder um sich zu haben, und viel Freiheit zu genießen. Muss Pünktchen in der Großstadt nicht unglücklich werden?«

Alexander legte zärtlich den Arm um die Schultern seiner zierlichen schlanken Frau und ging mit ihr langsam zum Haus. »Ein Adoptionsvertrag wird erst nach einem Jahr rechtsgültig. Also wird Pünktchen genug Zeit für die endgültige Entscheidung haben«, versuchte er zu trösten.

»Und was ist, wenn Pünktchen zu stolz ist, um zu uns zurückzukommen? Wenn sie die Adoptionseltern nicht kränken will?«

»Denise«, meinte Alexander voll Zärtlichkeit, »wie viele Sorgen hast du dir schon um fremde Kinder gemacht? Und immer wieder hat sich alles zum Guten gewendet. Warum soll es nicht auch diesmal so sein?«

»Ja, Alexander, hoffen wir es.« Denise nickte zuversichtlich und lächelte ihrem Mann zu.

*

»Opa, darf ich mit Rosmarie spielen?« Karoline sah ihren Großvater bittend an.

Der alte Herr sah von seiner Zeitung auf. Über den Rand seiner Brille hinweg musterte er die Enkelin. Er hatte Karoline von Herzen gern und schlug ihr gewöhnlich keinen Wunsch ab. Nur durfte die Kleine niemals ohne Begleitung das Haus verlassen. Denn Karoline war der einzige Mensch, der dem vielfachen Millionär Richard Löhming aus Bremen geblieben war.

Karoline, die eben acht Jahre alt geworden war, hatte langes dunkelblondes Haar und wunderschöne braune Augen. Die reizvollen Grübchen und ihre Wangen erinnerten Richard Löhming ebenso an seine verunglückte Tochter wie der hübsche kleine Mund, der so gern fröhlich lachte.

»Wer ist Rosmarie?« fragte Richard Löhming interessiert. Er war dreiundfünfzig, aber er fühlte sich wie ein Greis, und er wirkte auch so. Seine Jugend hatte er dem Aufbau der Elektrogeräte-Fabriken gewidmet, die nun zu den bedeutendsten in Europa gehörten. Doch jetzt, da er reich und mächtig war, machte ihn die Einsamkeit zu einem hartherzigen, unnachgiebigen Firmenchef.

»Sie ist nur zwei Monate jünger als ich. Ihre Mutti arbeitet unten im Hotelbüro. Sie ist Set … Setär …«

»Sekretärin!« half der alte Herr aus und rümpfte die Nase. »Nein, du kannst nicht mit ihr spielen«, bestimmte er despotisch. »Du gehst mit Friedrich spazieren!«

Friedrich, das war die rechte Hand von Richard Löhming und sein engster Vertrauter. Friedrich war sehr intelligent. Er kannte sich nicht nur im Wirtschaftsleben aus, sondern verstand auch etwas von Diätküche, von Naturheilkunde, von schnellen Autos und vom Arrangieren vornehmer Gesellschaften. Aber er war zehn Jahre älter als Karolines Großvater, und er verstand kaum Spaß.

Karolines hübsches Gesichtchen verfinsterte sich. »Mit Friedrich ist es so langweilig«, beschwerte sie sich.

»Er kauft dir unterwegs neue Spielsachen und ein Eis«, versuchte Richard Löhming die Kleine zu überreden.

»Ich will mit Rosmarie spielen. Puppen und Teddybären hab ich genug!« Karoline sah so unglücklich aus, dass ihr Großvater zum ersten Mal nachgab.

»Gut. Aber ihr bleibt hier im Zimmer oder auf dem Balkon.« Richard Löhming wandte sich wieder den Börsennachrichten zu. Er war nach Baden-Baden gekommen, um hier von seinem Rheuma geheilt zu werden. Doch die Schmerzen waren nach dreiwöchigem Aufenthalt eher schlimmer als besser geworden.

»Danke, Opa!« Karoline drückte einen herzhaften Kuss auf die Wange des alten Mannes und wollte fröhlich davonhüpfen. Doch Richard Löhming hielt sie zurück.

»Friedrich holt die Kleine herauf«, ordnete er an und sah dabei auf den Diener.

Friedrich setzte sich sofort in Bewegung. Er kehrte gleich darauf mit einem hübschen kleinen Mädchen zurück, das nur wenig kleiner und zierlicher war als Karoline. Seine dunklen Locken waren durch zwei glänzende Zöpfchen gebändigt. Große braune Augen verrieten Intelligenz.

Rosmarie grüßte artig und verschwand mit Karoline im angrenzenden Zimmer.

»Hast du auch einen Opa?« erkundigte sich Karoline drüben. Treuherzig schaute sie die neue Freundin an. Diese trug zwar einfache, schlichte Kleidung, aber sie gefiel ihr trotzdem.

Karoline war in dem Bewusstsein erzogen worden, reich zu sein und deshalb über den anderen zu stehen. Sie durfte keine Schule besuchen, sondern wurde von einem Privatlehrer und einer Erzieherin unterrichtet. Trotzdem hatte sie eine freundliche, natürliche Art bewahrt.

»Ich weiß nicht«, antwortete Rosmarie kleinlaut.

»Aber, das musst du doch wissen«, drängte Karoline. »Denk doch mal nach.«

»Ich kann nicht«, bekannte die Kleine traurig.

Richard Löhming hatte in dem luxuriösen Baden-Badener Kurhotel gleich eine ganze Zimmerflucht gemietet. Auf seine Kosten und nach seinen Angaben waren alle Räume neu ausgestattet worden.

»Du kannst nicht?« wiederholte Karoline staunend.

»Weißt du, ich hab alles vergessen, was früher war. Und das, was man mir jetzt sagt, weiß ich meistens auch gleich nicht mehr. Die Ärzte sagen, ich hätte eine Gedächtnisstörung. An meinen Vati kann ich mich auch nicht mehr erinnern.«

Karoline legte das Köpfchen schief. Dabei fielen ihr die dunkelblonden Haare ein wenig ins Gesicht. »An meinen Vati kann ich mich auch nicht mehr erinnern …«, stellte sie nachdenklich fest. »Aber Opa sagt, er sei ein böser Mensch gewesen. Er habe nicht arbeiten wollen und habe meine Mutti nur geheiratet, weil sie so viel Geld hatte. Und dann war er auch noch schuld daran, dass sie gestorben ist.«

Rosmarie schwieg. Wie immer, wenn andere etwas erzählten, fühlte sie sich hilflos und unzulänglich. Für sie gab es keine Erinnerungen. Sie lebte immer nur für die Gegenwart. Schon Stunden später hatte sie alles, was gewesen war, wieder vergessen.

»Ich glaube, meine Mutti war so hübsch wie deine«, erklärte Karoline. Ihre klaren Kinderaugen bekamen einen schwärmerischen Glanz. Nur zweimal hatte sie Rosmaries Mutti gesehen, als sie mit dem Stenoblock durch die Hotelhalle gegangen war.

Und doch hatte sie sich sofort zu der schlanken jungen Frau hingezogen gefühlt.

»Meine Mutti ist sehr lieb«, sagte Rosmarie und war stolz, dass sie wenigstens das wusste.

»Ich möchte gern einmal mit ihr sprechen.« Karolines Stimme hatte einen sehnsüchtigen Klang. Nie hatte sie jene Zärtlichkeiten kennengelernt, die nur eine Mutter schenken kann.

»Das geht nicht, weil sie immer arbeiten muss.« Rosmaries süßes Gesichtchen wurde noch bekümmerter.

»Aber abends hat sie doch für dich Zeit …«

Rosmarie nickte unsicher.

Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern, was am Abend vorher gewesen war. Es gelang ihr nicht. Es war, als würden all ihre Erlebnisse sofort wieder ausgelöscht werden.

»Darf ich deine Puppe mal anfassen?« fragte Rosmarie, um der peinlichen Unterhaltung ein Ende zu bereiten. Verlangend schaute sie auf die wunderschöne Puppe mit den langen, goldblonden Haaren. Sie hatte die Größe eines zweijährigen Kindes und konnte sprechen und laufen.

»Nimm sie nur«, meinte Karoline großzügig. »Zu Hause habe ich noch eine ganze Menge Puppen. In allen Größen.«

Habe ich auch Puppen, fragte sich Rosmarie sofort. Sie konnte sich nicht erinnern. Sie wusste nicht mehr, wie es bei ihr zu Hause aussah, wusste nicht mehr, dass sie mit ihrer Mutti die kleine Wohnung am Fremersberg erst vor wenigen Stunden verlassen hatte.

*

»Bitte, sag nicht wieder nein. Ich habe die Theaterkarten bereits bestellt. Und danach werden wir sehr gemütlich irgendwo essen.« Verliebt sah Hans Zander auf seine hübsche Sekretärin. Sie arbeitete seit mehr als einem Jahr bei ihm. Sechs Heiratsanträge hatte er ihr in dieser Zeit schon gemacht. Doch Ruth war immer ausgewichen.

Die junge Frau mit den schweren dunklen Locken und dem ebenmäßig schönen Gesicht blickte von ihrer Arbeit auf. Ihre klaren grünen Augen sahen bekümmert auf den Hotelbesitzer.

Hans Zander war einer der begehrtesten Junggesellen der Kurstadt Baden-Baden. Von seinem Vater hatte er mehrere gutgehende Hotels übernommen. Er besaß einen wunderschönen Bungalow und mehrere Sportwagen und war bei allen Partys der vornehmen Gesellschaft ein gern gesehener Gast. Die Töchter der reichsten Familien gaben dem dreiunddreißigjährigen Hotelier zu verstehen, dass sie einer Heirat nicht abgeneigt wären. Doch Hans Zander hatte sich in seine hübsche Sekretärin verliebt und hatte nur Augen für sie.

»Ich kann Rosmarie nicht allein lassen«, erwiderte Ruth entschuldigend. Seit jenem schrecklichen Unfall vor eineinhalb Jahren war sie bei Tag und bei Nacht in der Nähe ihres Kindes. Sie hatte diese Stelle angenommen, weil sie Rosmarie hier mit ins Büro bringen durfte.

»Sie wird ja nicht allein sein. Ich werde unser zuverlässigstes Zimmermädchen zu euch schicken.« Hans Zander lachte Ruth Borsig gewinnend an.

Traurig schüttelte die junge Frau den Kopf. »Es geht nicht.«