Eikos stiller Wunsch - Gert Rothberg - E-Book

Eikos stiller Wunsch E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Die Kinder von Sophienlust spielten an diesem herrlichen Sommertag im Park. Ihr übermütiges Lachen drang durch die geöffneten Fenster in das Herrenhaus. Doch Denise von Schoenecker konnte sich im Augenblick nicht daran erfreuen. Im Biedermeiersalon saß ihr ein Besucher gegenüber, dessen Schicksal sie ergriff. Es war der Arzt Dr. Gregor von Trota, ein stattlicher, gut aussehender Mann, dem man aber anmerkte, dass er große Sorgen hatte. Es schien ihm schwerzufallen, zu sprechen. Jetzt strich er sich zum wiederholten Male über die Stirn und über das volle dunkle Haar. Dann sah er Denise an. »Bitte, gnädige Frau, entschuldigen Sie mein Zögern. Mir geht es so wie allen Menschen, die vor einer schweren Entscheidung stehen. Ich meine immer, es müsste noch einen anderen Ausweg geben. Denn meiner Frau und mir wird die Trennung von Eiko sehr wehtun. Auch der Junge wird darunter leiden. Er ist erst fünf Jahre alt. Eine neue Umwelt ist immer ein entscheidender Einschnitt im Leben eines Kindes.« Dr. von Trota zuckte hilflos die Schultern. »Aber uns bleibt keine andere Wahl. Ich muss Ihnen dankbar sein, dass Sie meinen Jungen in Ihrem Kinderheim aufnehmen wollen.«

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Sophienlust Extra – 5 –

Eikos stiller Wunsch

Wird er in Erfüllung gehen?

Gert Rothberg

Die Kinder von Sophienlust spielten an diesem herrlichen Sommertag im Park. Ihr übermütiges Lachen drang durch die geöffneten Fenster in das Herrenhaus. Doch Denise von Schoenecker konnte sich im Augenblick nicht daran erfreuen. Im Biedermeiersalon saß ihr ein Besucher gegenüber, dessen Schicksal sie ergriff. Es war der Arzt Dr. Gregor von Trota, ein stattlicher, gut aussehender Mann, dem man aber anmerkte, dass er große Sorgen hatte. Es schien ihm schwerzufallen, zu sprechen.

Jetzt strich er sich zum wiederholten Male über die Stirn und über das volle dunkle Haar. Dann sah er Denise an. »Bitte, gnädige Frau, entschuldigen Sie mein Zögern. Mir geht es so wie allen Menschen, die vor einer schweren Entscheidung stehen. Ich meine immer, es müsste noch einen anderen Ausweg geben. Denn meiner Frau und mir wird die Trennung von Eiko sehr wehtun. Auch der Junge wird darunter leiden. Er ist erst fünf Jahre alt. Eine neue Umwelt ist immer ein entscheidender Einschnitt im Leben eines Kindes.« Dr. von Trota zuckte hilflos die Schultern. »Aber uns bleibt keine andere Wahl. Ich muss Ihnen dankbar sein, dass Sie meinen Jungen in Ihrem Kinderheim aufnehmen wollen.«

Denise sah den Arzt zuversichtlich an. »Eiko wird sich auf Sophienlust gewiss bald eingewöhnen. Wir hatten schon oft Kinder hier, bei denen wir befürchten mussten, dass sie nur schwer Kontakt finden würden. Aber bisher haben sich noch alle gut zurechtgefunden. Kinder sind meistens unproblematischer als Erwachsene und finden bald Kontakt zueinander. Ist Eiko Ihr einziges Kind, Herr Doktor?«

Gregor von Trota nickte. »Ja.« Ein flüchtiges Lächeln legte sich um seinen Mund. »Eiko ist unser ganzes Glück. Aber er war stets nur mit seiner Mutter beisammen und hängt in abgöttischer Liebe an ihr. Schon die ersten Anzeichen ihrer Krankheit haben ihn sehr bestürzt. Was uns jetzt erwartet, soll er nicht miterleben. Dafür ist er zu sensibel.« Gregor von Trota stand auf. Langsam ging er an das Fenster und sah in den Park hinaus.

Denise von Schoenecker ließ ihm Zeit. Sie wartete geduldig, bis der Arzt sich zu ihr umdrehte. Aber in diesem Augenblick erschrak sie vor seinem vergrämten Gesicht. Gregor von Trota war zweiundvierzig Jahre alt, doch jetzt sah er wie ein alter Mann aus. Seine Schultern waren vornübergefallen. Und seine Stimme klang so dumpf, als komme sie von weit her.

»Meine Frau ist unheilbar krank – Leukämie. Es gibt keine Rettung mehr.«

Denise von Schoenecker kam es vor, als habe sich ein Ring um ihr Herz gelegt. Wie oft hatte sie in Sophienlust schon mit schweren Schicksalen zu tun gehabt, und noch jedes Mal hatte sie mit den Betroffenen gelitten. Besonders in den ausweglosen Situationen. Dazu gehörten die Todesfälle.

Leise fragte Denise: »Und Ihre Frau weiß …«

Dr. von Trota nickte. Er kam langsam zum Tisch zurück und stützte sich auf die Lehne des Sessels. »Ja, meine Frau weiß, dass sie nicht mehr zu retten ist. Wir haben alles versucht – es gibt keinen bekannten Kollegen mehr, den wir nicht besucht hätten. Doch obwohl ich den Ausgang dieser furchtbaren Krankheit kenne, habe ich mich plötzlich an jeden Strohhalm geklammert. Ich kann nicht fassen, dass ich, der Mediziner, meiner eigenen Frau nicht helfen kann. Ich muss die Hände in den Schoß legen und warten, bis sie stirbt.« Dr. von Trota presste die Hände an den Kopf. »Aber der Junge soll das nicht miterleben müssen.« Schwerfällig ließ er sich in den Sessel fallen. »Bekannte haben mir Ihr Kinderheim empfohlen. Sie sagten, hier werde jedes Kind individuell behandelt.«

»Ja, soweit es in unserer Macht liegt, tun wir das. Darauf hat jedes Kind ein Recht. Sie fürchten natürlich, dass Eiko großes Heimweh haben wird …«

»Ja. Meine Frau und ich haben ihm beigebracht, dass wir für mehrere Wochen verreisen wollen. Dagegen hat er sich sehr gesträubt. Er war gewohnt, uns auf unseren Reisen begleiten zu können. Seit seiner Geburt sind meine Frau und ich nicht mehr allein unterwegs gewesen. Seine Geburt war der glücklichste Tag in unserer Ehe. Wir hatten schon so lange auf ein Kind gewartet und die Hoffnung beinah aufgegeben. Meine Frau war vierunddreißig Jahre, als Eiko geboren wurde. Heute mache ich mir Vorwürfe. Seit der Entbindung ist meine Frau anfällig und geschwächt. Deshalb hat sie den Jungen auch immer für sich allein haben wollen. Sie muss geahnt haben, dass sie dieses Glück nicht mehr lange würde genießen können.«

»Und Sie wollen wirklich in der nächsten Zeit verreisen, Herr Doktor?«, fragte Denise.

»Ja. Wir wollen nach Port Vendres im Golf von Lion. Dort waren wir in den ersten Jahren unserer Ehe mehrere Male. Dieses Klima wird meiner Frau bekommen. Sie möchte dorthin.«

Denise musste sich sehr beherrschen, um ihre Erregung nicht zu zeigen. Schauer überfielen sie bei dem Gedanken, dass ein Ehepaar an jene Stätte fuhr, wo es einmal unendlich glücklich gewesen war, um dort nun den Tod der Frau abzuwarten. Sie verstand, wie diesem Mann zumute war. Aber an die Frau konnte Denise in diesen Minuten erst recht nicht denken, weil sie die Tränen sonst nicht mehr hätte zurückhalten können.

Denise wollte nicht länger in den Wunden des Arztes bohren, sie versuchte ihm statt dessen mit aller Eindringlichkeit klarzumachen, dass er sich um seinen Jungen nicht zu sorgen brauche.

Eine halbe Stunde später verließ Dr. von Trota Sophienlust und fuhr nach Marburg zurück. Dort hatte er seine Praxis, und dort lebte er mit seiner Familie.

Denise von Schoenecker war so aufgewühlt, dass sie mit jemandem über diesen Fall sprechen mochte. Sie bat Schwester Gretli in ihr Zimmer, die mit dem kleinen Eiko von Trota in der nächsten Zeit am meisten zu tun haben würde. Sie würde ihm helfen müssen. Deshalb sollte sie schon jetzt sein Schicksal kennenlernen.

Schwester Gretli war fünfunddreißig Jahre alt und hatte ihr Leben ganz in den Dienst der Kinder gestellt. Oft schien es, als sei sie bereits hart und empfindungslos geworden. Aber Denise kannte sie besser. Sie wusste, dass Schwester Gretli sich nur gegen allzu weiche Gefühle wappnete. Um so mehr litt sie wahrscheinlich mit gequälten Kindern.

Jetzt rückte Schwester Gretli an dem dicken Knoten ihrer blonden Haare. Ihre blauen Augen sahen an Denise vorbei, als sie sagte: »Manchmal kann man das Leben wirklich nicht ergründen. Die einen vertragen sich nicht und machen sich die Tage mit Streit schwer, die anderen lieben einander und werden getrennt. Wie soll ein fünfjähriger Junge begreifen, dass er die Mutter verlieren muss? Ich verstehe Dr. von Trota. Er muss um seinen Jungen fürchten.«

Schwester Gretli stand auf und ging zur Tür. Ein ganz klein wenig schleppte sie das eine Bein nach. Vor Monaten war sie über die Treppe gestürzt und hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Obwohl sie viele Wochen im Krankenhaus gelegen hatte, litt sie doch noch immer unter diesem Unfall. Niemand in Sophienlust wusste, wie stark. Es gab Tage, an denen sie hätte verzweifeln können. Dann plagten sie die Schmerzen so sehr, dass es ihr schwerfiel, Treppen zu steigen und so beweglich zu sein wie früher. Aber sie war bisher immer mit ihren Sorgen allein gewesen und hatte sie stets ihren Schützlingen zuliebe zurückgestellt. So wollte sie auch diesmal kein Aufheben um ihre Person machen.

Als Denise jetzt meinte: »Schwester Gretli, Ihnen geht es doch noch gar nicht so gut, wie Sie uns immer vorgaukeln«, wischte die Schwester nur durch die Luft und lachte. »Es ist halb so schlimm, Frau von Schoenecker. Ich glaube, das Hinken ist nur eine schlechte Angewohnheit.«

Nach diesen Worten verließ Schwester Gretli schnell das Zimmer. Denise aber nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit der jungen Ärztin Dr. Anja Karsten zu sprechen. Sie betreute die Kinder von Sophienlust in so liebevoller Weise, seit sie die Praxis von Dr. Wolfram übernommen hatte, dass sie sich sicher auch gern der Kranken- und Kinderschwester annehmen würde. Vielleicht war Schwester Gretli der Ärztin gegenüber ehrlicher. Denise hoffte es jedenfalls.

*

Eine Woche später fuhr ein Wagen in Sophienlust vor. Dr. Gregor von Trota stieg aus. Mit einem Sprung folgte ihm der kleine Eiko. Er war ein zierliches blondes Bürschchen, dem man kaum glauben konnte, dass er bereits fünf Jahre alt war. Im Arm hielt Eiko einen großen grauen Teddybären mit schwarzen Knopfaugen und einem roten Maul.

Neugierig und anscheinend ein wenig scheu sah sich der Junge um. Jetzt lief er zur hinteren Tür des Wagens, die Gregor von Trota gerade öffnete. Er half seiner Frau aus dem Wagen und stützte sie einige Sekunden.

»Das ist also Sophienlust.« Gilda von Trota sah durch den Park und auf das Herrenhaus. Sie war groß und sehr schlank. Ihr schmales Gesicht war blass und abgespannt. Es wurde von ihren großen dunklen Augen beherrscht. Wahrscheinlich, weil diese in starkem Kontrast zu dem flachsblonden Haar standen.

»Muss ich wirklich hierbleiben, Mutti?«, fragte Eiko jetzt.

Gilda von Trota sah ihren Mann hilflos an. Ihre Augen wurden unsicher, um ihren Mund lag ein gequälter Zug. Jetzt legte sie den Arm um Eikos Schultern. »Komm, wir wollen uns erst einmal alles ansehen. Du weißt ja, Vati hat es hier gut gefallen.«

»Er braucht aber nicht hierzubleiben«, sagte Eiko trotzig und sah seinen Vater vorwurfsvoll an.

»Hörst du die Kinder im Park, Eiko?«, fragte die Mutter, während sie miteinander auf das Herrenhaus zugingen. »Sie spielen und toben. Ich glaube, sie sind sehr lustig.«

»Ich brauche die Kinder nicht, Mutti, ich will nur mit dir und Vati mitfahren. Warum soll ich hierbleiben?«

Weder Gilda noch Gregor von Trota antworteten dem Kind. Beide kannten diese Fragen und Vorwürfe seit Tagen. Jetzt hofften sie nur, in Denise von Schoenecker eine entscheidende Hilfe zu bekommen.

Die Herrin von Sophienlust und Schoeneich empfing ihre Besucher in der gewohnt freundlichen Art, ohne von Eiko zu auffallend Notiz zu nehmen. Sie hatte sofort festgestellt, dass er ein liebes Kerlchen sein musste. Allem Anschein nach hatte er seine zarte Konstitution von der Mutter geerbt. Freilich entging Denise auch nicht, dass der Junge im Augenblick aufsässig war.

Während Denise mit den Besuchern durch das ganze Herrenhaus ging, um ihnen alles zu zeigen, kam Henrik von Schoenecker ihnen nach. Er schielte neugierig auf Eiko. Neue Kinder auf Sophienlust – und besonders Jungen – interessierten Henrik immer sehr. Er hatte hier schon viele Freundschaften geschlossen, aber die meisten wieder beenden müssen, dann nämlich, wenn seine Spielkameraden Sophienlust ver­lassen hatten. Dann war er immer tagelang traurig gewesen. Denn das, was die Mutter ihm dann stets einredete, dass er den Kindern gönnen müsse, wieder zu ihren Eltern oder Verwandten zurückkehren zu dürfen, wollte ihm nicht so recht in den Kopf.

Jetzt streckte Henrik die Hand aus. »Kommst du mit mir? Ich zeige dir die Ponys auf dem Gut.«

Eiko sah ihn prüfend an. Kurz machte er den Eindruck, als wollte er Henriks Einladung folgen, aber dann sah er zu seiner Mutter auf und schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Ponys.«

Henrik sah den Jungen entgeistert an. Das war ihm noch nicht passiert, dass sich jemand nicht für Ponys interessierte.

»Ich habe meinen Teddy«, fuhr Eiko fort und drückte den Bären an sich.

»Der lebt ja nicht.« Das kam etwas abfällig über Henriks Lippen, aber das wollte er sofort wieder gutmachen. Deshalb fragte er: »Wie heißt denn dein Teddy?«

»Schorschi.«

»Das ist ein ulkiger Name für einen Teddy«, meinte Henrik.

Dr. von Trota fühlte sich verpflichtet, dazu eine Erklärung abzugeben. »Meine Frau stammt aus München. Sie hat einen Vetter, der so heißt. Von ihm ist der Teddy. Da hat Eiko ihn eben Schorschi getauft.«

Denise von Schoenecker führte ihre Besucher in ihr Zimmer. Henrik verdrückte sich wieder, nachdem er seinen Sturmangriff auf Eiko als gescheitert ansehen musste.

»Die Schlafzimmer der Kinder haben Sie ja gesehen«, sagte Denise. »Es sind immer zwei Betten drin. Eikos Zimmerkamerad wird Wolfgang Bönisch sein. Er ist acht Jahre alt und geht hier zur Schule. Wir mögen ihn alle sehr gern. Er bleibt auch nur vorübergehend in Sophienlust, aber er hat sich schon sehr gut eingewöhnt. Und er freut sich auf dich, Eiko. Ich werde euch dann gleich miteinander bekannt machen.«

»Muss ich denn wirklich hierbleiben?«, fragte Eikö wieder. »Ich durfte sonst immer mit Vati und Mutti verreisen. In einem Kinderheim sind doch nur Kinder, die keine Eltern mehr haben.«

Denise beobachtete den Jungen sehr genau. Nein, er war kein von Grund auf trotziges und aufsässiges Kind, ganz bestimmt nicht. Eiko mochte nur die Gefahr spüren, die auf ihn zukam. Instinktiv wehrte er sich dagegen.

Denise legte ihre Hand auf den Arm des Jungen und lachte. »Eiko, Sophienlust ist kein Waisenhaus, wie du denkst. Natürlich sind bei uns oft Kinder, die ihre Eltern verloren haben, aber auch viele, die nur einige Wochen bei uns bleiben, damit ihre Eltern ohne Sorgen sein können. Schau, deine Mutti war krank, sie soll sich jetzt erholen …«

»Ich mache meiner Mutti doch keine Arbeit, ich bin ganz brav.« Eiko sah seine Mutter bittend an.

In den Augen Gilda von Trotas standen Tränen, in ihrem Gesicht arbeitete es.

Denise schnürte es das Herz zusammen. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie sie selbst sich verhalten würde, wenn sie sich von ihren Kindern so gewaltsam trennen müsste – mit dem Wissen, sie nie wiederzusehen. Was von Gilda von Trota verlangt wurde, war unmenschlich. Es ging über das, was eine Mutter zu ertragen vermochte, hinaus.

Dr. von Trota stand auf und zog seinen Jungen an sich. »Nein, du würdest Mutti keine Arbeit machen. Das wissen wir, Eiko. Aber lass uns trotzdem allein reisen. Bitte! Mach es Mutti doch nicht so schwer. Schau, sie wird in Südfrankreich noch einmal in ein Sanatorium gehen. Ich kenne dort einen Kollegen, der sie ganz gesundmachen kann. Du wirst es hier sehr schön haben. Wir werden dich oft anrufen. Dann kannst du uns erzählen, was du erlebst. Alle werden dich hier lieb haben.«

Denise wusste, dass der Vater jetzt das Sanatorium aus Hilflosigkeit erfunden hatte. Denn für Gilda von Trota gab es keine Rettung mehr. Aber das Argument des Vaters nützte bei Eiko. Er fügte sich jetzt dem Wunsch seiner Eltern.

Wenig später stand der Junge an Denises Hand vor dem Tor von Sophienlust. Er hatte sich von den Eltern schon im Herrenhaus verabschiedet. Seine Mutter saß bereits neben seinem Vater. Doch plötzlich legte Gilda von Trota ihre Hand auf den Arm ihres Mannes und redete auf ihn ein. Er hielt den langsam fahrenden Wagen wieder an. Gilda von Trota stieß die Tür auf und taumelte hinaus.

Denise war zu Tode erschrocken, als sie in das Gesicht der Frau sah. Alles Leid dieser Welt stand darin.

Gilda von Trota kam auf ihren Jungen zugestürzt, hockte sich vor ihn hin und presste ihn an sich. »Eiko, mein kleiner lieber Eiko. Gott mit dir …« Sie riss sich los und lief taumelnd zum Wagen zurück.

Mit versteinertem Gesicht gab Dr. von Trota Gas und brauste davon.

Denise wischte sich über die Augen. Hatte sie eben einen Spuk erlebt? Einen grauenhaften Spuk? Sie starrte den Jungen an. Sein Gesicht war durchscheinend blass, aber in seinen Augen stand keine Träne. »Tante Isi, wird meine Mutter nie wiederkommen?«, fragte er mit brüchiger Stimme.

Denise würgte es im Hals. Dass der Junge ›Tante Isi‹ zu ihr sagte, zeigte ihr, dass er sich in diesen Minuten an sie klammerte. Wohl hatte sie ihm den Kosenamen angeboten, mit dem sie die anderen Kinder von Sophienlust bedachten, aber Eiko hatte ihn bisher noch nicht gebraucht.

»Warum sollte deine Mutti nicht wiederkommen?«, sagte Denise zögernd und war auf sich selbst böse, weil ihr nichts Besseres einfiel.

»Weil meine Mutti sehr krank ist. Sie nimmt mich nur nicht mit, damit ich das nicht sehe.«

Denise war erleichtert, dass in diesem Augenblick Henrik auf sie zustürmte und noch einmal einen Anfreundungsversuch bei Eiko unternahm. Jetzt hatte er mehr Glück als zuvor. Eiko ging mit ihm zu den Ponys. Aber mit trüben Augen und ohne jede Freude.

*

In den nächsten Tagen bestätigte sich Denise von Schoeneckers Vermutung, dass der kleine Eiko nicht von Natur aus trotzig war. Er versuchte sich anzupassen, auch wenn es ihm Schwierigkeiten bereitete. Das Leben mit so vielen Menschen war ihm fremd. Deshalb suchte er Anschluss an eine Person. Seine Wahl war auf Schwester Gretli gefallen. Ihre Art, zuzuhören und abzuwarten, schien ihm am meisten zu liegen. Sie redete nicht auf ihn ein, sie nahm ihn so, wie er war. Selbst auf die Klagen nach seiner Mutter ging sie ein und versuchte nicht, ihn in einem fort abzulenken. Sie wusste, dass Eiko das Bedürfnis hatte, von der Mutter zu sprechen. Mit ihr war er bisher zu jeder Stunde beisammen gewesen. Der Vater stand ihm als vielbeschäftigter Arzt wohl nicht ganz so nahe.

Auch Henrik akzeptierte Eiko bald ganz. Er ging jetzt mit ihm nicht nur zu den Ponys, sondern auch zum Tierheim »Waldi & Co.«

Andrea und Dr. Hans-Joachim von Lehn wussten von Denise, welches Schicksal den kleinen Eiko erwartete. Sie zitterten mit den anderen vor der Stunde, die nicht ausbleiben konnte. Deshalb gab sich jeder Mühe, Eiko das Gefühl zu geben, einen Ersatz für sein Zuhause zu haben.

Im Tierheim ging der Junge mehr aus sich heraus. Er konnte stundenlang mit den kleinen Bären Taps und Tölpl spielen. Sie hatten es ihm am meisten angetan. Vielleicht deshalb, weil er in ihnen lebendige Teddybären sah. Oft ritt er auch auf dem halbblinden Esel Benjamin durch das Freigehege. Und Eiko ließ sich gern von dem kleinen Wastl erzählen, dem der Esel Benjamin einmal gehört hatte.

Mit Wolfgang Bönisch kam Eiko ebenfalls gut zurecht. Wolfgang war ein stiller Junge. Er hörte gern zu. Und am Abend konnte es passieren, dass Eiko das Bedürfnis hatte, zu erzählen – von allem, was er mit der Mutter erlebt hatte, wie es in Marburg war, und immer wieder von der Sorge um die Gesundheit der Mutter.

Davon brachten ihn auch die Telefonanrufe aus Port Vendres nicht ab. Sie frischten seine Erinnerung nur immer wieder auf. Und jedes Mal fragte Eiko: »Mutti, wann kommst du zurück?«

*

Als Dr. von Trota seinem Jungen vorgeschwindelt hatte, dass die Mutter in Südfrankreich in ein Sanatorium müsse, hatte er nicht angenommen, dass dies Wahrheit werden würde.

Doch nachdem das Ehepaar miteinander einen Monat in einer Pension gelebt hatte, wurde Gilda von Trota so schwach, dass sie nicht länger das etwas unruhige Leben ertragen konnte. Sie sprach selbst den Wunsch aus, in ein Sanatorium zu gehen.

Tagelang suchte Gregor von Trota einen geeigneten Platz. Mit verzweifeltem Herzen und oft dem Ende seiner Kraft nahe. In dieser Zeit wünschte er sich, er hätte seine Frau täuschen können. Lieber wäre er mit seinem Schmerz allein gewesen, als ihre wissenden Augen zu sehen. Gilda klagte nicht. Sie versuchte jede Stunde des Beisammenseins noch zu nutzen, aber ihr Mann wusste, ohne ihr Kind führte sie bereits nur ein halbes Leben. Je seltener sie von Eiko sprach, umso mehr quälte sie sich um ihn. Sie kannte den Jungen noch besser als er und wusste, wie unerträglich es für Eiko sein würde, ihren Tod hinnehmen zu müssen.

Dr. von Trota fand in der Nähe von Port Vendres ein Sanatorium mit Blick auf das Meer. Er wusste, dass Gilda dieser Platz gefallen würde. Sie konnte stundenlang in Gedanken versunken auf das Meer hinausstarren. Es war dann, als finde sie sich mit der Vergänglichkeit des Lebens leichter ab. Stets schien sie dann etwas abgeklärter zu sein.