Mein Kind ist wichtiger als die Liebe - Gert Rothberg - E-Book

Mein Kind ist wichtiger als die Liebe E-Book

Gert Rothberg

0,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Henrik rieb sich verschlafen die Augen. Er hätte sich gern noch einmal auf die andere Seite gedreht und weitergeschlafen. Aber draußen war es bereits hell. Gleich würde Mutti hereinkommen und ihm erklären, dass es höchste Zeit sei, endlich aufzustehen und zu frühstücken. Seine Lehrerin wollte schließlich pünktlich mit dem Unterricht anfangen und nicht auf den Nachzügler warten. Aber der Junge hatte gar keine Lust, aufzustehen und in die Schule zu gehen. Er richtete sich ein wenig auf und blickte zum Fenster hinaus. Draußen ging ein kalter heftiger Schneeregen nieder. Wie richtige Sturzbäche rann das Wasser an den Fensterscheiben herunter. Fröstelnd kroch Henrik unter die Decke zurück. Auf seinem Nachttisch lag ein Buch mit wunderschönen Tieraufnahmen. Andrea hatte es ihm am Tag zuvor geliehen. Selig war er damit losgezogen. Tiere liebte er sehr. Dass seine Schwester einen Tierarzt geheiratet hatte und ein eigenes Tierheim besaß, das fand er einfach Klasse. Niemand in seiner Klasse hatte eine solche Schwester wie er. Henrik hätte gern in dem Buch auf seinem Nachttisch geblättert, aber er wusste, seine Mutti konnte jeden Augenblick hereinkommen. Da hörte er auch schon ihre raschen Schritte draußen auf dem Flur. Nun machten sie vor seiner Zimmertür halt. Vorsichtig wurde die Klinke heruntergedrückt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 155

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophienlust Extra – 50 –

Mein Kind ist wichtiger als die Liebe

Tinis Mutter braucht lange, um dies zu erkennen!

Gert Rothberg

Henrik rieb sich verschlafen die Augen. Er hätte sich gern noch einmal auf die andere Seite gedreht und weitergeschlafen. Aber draußen war es bereits hell. Gleich würde Mutti hereinkommen und ihm erklären, dass es höchste Zeit sei, endlich aufzustehen und zu frühstücken. Seine Lehrerin wollte schließlich pünktlich mit dem Unterricht anfangen und nicht auf den Nachzügler warten.

Aber der Junge hatte gar keine Lust, aufzustehen und in die Schule zu gehen. Er richtete sich ein wenig auf und blickte zum Fenster hinaus. Draußen ging ein kalter heftiger Schneeregen nieder. Wie richtige Sturzbäche rann das Wasser an den Fensterscheiben herunter. Dabei war schon Mitte April …

Fröstelnd kroch Henrik unter die Decke zurück. Auf seinem Nachttisch lag ein Buch mit wunderschönen Tieraufnahmen. Andrea hatte es ihm am Tag zuvor geliehen. Selig war er damit losgezogen. Tiere liebte er sehr. Dass seine Schwester einen Tierarzt geheiratet hatte und ein eigenes Tierheim besaß, das fand er einfach Klasse. Niemand in seiner Klasse hatte eine solche Schwester wie er.

Henrik hätte gern in dem Buch auf seinem Nachttisch geblättert, aber er wusste, seine Mutti konnte jeden Augenblick hereinkommen. Da hörte er auch schon ihre raschen Schritte draußen auf dem Flur. Nun machten sie vor seiner Zimmertür halt. Vorsichtig wurde die Klinke heruntergedrückt.

Rasch kniff Henrik die Augen zu und hoffte, einen recht natürlichen Schläfer abzugeben.

»Henrik!«, rief Denise von Schoenecker leise. »Henrik, es ist Zeit zum Aufstehen! Das Frühstück wartet schon.«

Der Junge tat, als erwache er gerade eben aus tiefstem Schlummer. Um diesen Eindruck noch zu unterstreichen, gähnte er fürchterlich. Dabei riss er seinen Mund so weit auf, dass ihm die Kinnladen wehtaten und er einen Schreck bekam. Ob er sich die Kinnladen ausgerenkt hatte? Doch als er gleich darauf zum Sprechen ansetzte, bemerkte er, dass noch alles funktionierte. »Ist Nick schon aufgestanden?«, erkundigte er sich und blickte seine Mutti treuherzig an.

Denise lächelte.

»Das hoffe ich«, antwortete sie.

»Genau kann ich es dir allerdings nicht sagen, mein Liebling. Nick hat heute doch in Sophienlust übernachtet. Erinnerst du dich nicht mehr?«

Henrik nickte. Da kam ihm eine prima Idee. Er blickte zum Fenster hinaus und behauptete: »Mutti, du wolltest mich doch heute selbst zur Schule fahren. Aber du könntest dir die Fahrt ersparen und mich einfach einen Tag hier in Schoeneich lassen. Die Lehrerin ist bestimmt nicht böse darüber, und du musst bei dem scheußlichen Wetter nicht raus. Mir würde es gar nichts ausmachen, einen ganzen Tag allein hier zu bleiben.« Hoffnungsvoll schaute er seine Mutter an.

Denise musste lachen. »So einfach geht das nicht, Henrik. Du weißt doch, jedes Kind muss in die Schule. Nur dann nicht, wenn es krank ist.«

Henrik starrte nachdenklich vor sich hin. Dann verkündete er mit Grabesstimme: »Mutti, ich glaube, ich habe mich erkältet. Na ja, bei dem scheußlichen Wetter draußen …« Anklagend deutete er zum Fenster.

Denise erschrak. »Tut es dir irgendwo weh, mein Liebling? Hast du Kopfschmerzen? Oder Halsschmerzen?«

Vorsichtshalber erklärte Henrik: »Mir tut einfach alles weh, Mutti. Aber am schlimmsten der Bauch.«

Blinddarm, fuhr es Denise durch den Kopf. Dann legte sie die flache Hand auf die Stirn ihres Jüngsten. Die Stirn fühlte sich kühl an. Aber das wollte nicht viel heißen.

»Ich hole gleich mal ein Thermometer«, sagte sie und verließ rasch das Zimmer ihres Sohnes.

Henrik überlegte krampfhaft. Nick und ein paar der größeren Kinder von Sophienlust hatten sich einmal darüber unterhalten, was man anstellen müsse, um die Quecksilbersäule auf dem Thermometer in die Höhe schnellen zu lassen. Aber es wollte Henrik einfach nicht mehr einfallen, was sie gesagt hatten. Schrecklich, dass er damals nicht aufgepasst hatte!

Denise erschien mit dem gläsernen Ins­trument und klemmte es Henrik unter den Arm. Dann setzte sie sich auf den Rand seines Bettes und wartete, was das Thermometer anzeigen würde.

Jetzt wurde es Henrik tatsächlich heiß unter der Bettdecke. Gleich würde Mutti wissen, dass er sie nur angeschwindelt hatte. Und plötzlich begann er sich zu schämen. Mutti belog Nick und ihn nie. Was würde sie jetzt bloß von ihm denken? Würde sie ihn vielleicht nicht mehr so liebhaben wie früher? Ein schrecklicher Gedanke!

»Du, Mutti«, begann Henrik vorsichtig.

»Ja, mein Liebling?«

»Eigentlich … Also, eigentlich tut mein Bauch kaum noch weh. Wirklich nicht.«

Erwartungsvoll schaute er zu seiner Mutti auf. »Es war bestimmt nichts Schlimmes. Wo es doch so schnell wieder vergangen ist.«

Denise holte das Thermometer unter dem Arm ihres Jüngsten hervor und warf einen kurzen Blick darauf. Sie unterdrückte ein leises Schmunzeln. »Ich glaube, diesmal kommst du noch einmal mit dem Leben davon, Liebling. Jetzt aber raus aus dem Bett! Wir werden ganz schön flitzen müssen, wenn wir noch rechtzeitig in die Schule kommen wollen.«

Henrik schob traurig eine Zehenspitze aus dem Bett. »Es ist kalt. Ich werde bestimmt einen Schnupfen kriegen«, behauptete er. Doch da hatte seine Mutti das Zimmer bereits wieder verlassen.

Henrik hatte gerade seine sparsame Toilette beendet – einmal mit dem angefeuchteten Waschlappen über das Gesicht gefahren, die blonden Haare mit den gespreizten zehn Fingern gekämmt – da wurde erneut die Tür seines Schlafzimmers geöffnet. Diesmal stand sein Vater auf der Schwelle.

Henrik erschrak. Ob Mutti gepetzt hatte? Ob Vati nun gekommen war, um ihm eine Standpauke zu halten? Aber eigentlich sah er ganz freundlich aus. Nein, geradezu lustig, fand Henrik. Die Lachfältchen um seine Augen waren zusammengezogen. Auch um seine Mundwinkel zuckte es.

Alexander von Schoenecker legte den Arm um die Schulter seines Sohnes. »Na, nun rück schon damit heraus«, sagte er grinsend. »Was hast du in der Schule ausgefressen? Eine Fensterscheibe eingeworfen, oder was sonst? Du brauchst keine Angst zu haben, ich schimpfe bestimmt nicht sehr. Schließlich war ich einmal genauso alt wie du – und wahrhaftig kein Engel.«

Zuerst hatte Henrik seinen Vati verständnislos angeschaut. Nun grinste er ebenfalls. »Ausgefressen hab ich gar nichts, Vati«, gestand er. »Es war bloß so schön warm im Bett. Und draußen schneit und regnet es durcheinander. Außerdem hab ich so’n interessantes Buch von Andrea gekriegt. Da hab ich gedacht, wenn ich noch ’n bisschen im Bett bleiben und das Buch betrachten könnte …«

Henrik schaute zu seinem Vater auf. »Schlimm, Vati?«

Alexander musste sich wieder das Schmunzeln verbeißen. »Sagen wir mal so: Wenn du nie im Leben etwas Schlimmeres anstellst als das, dann wollen wir die ganze Geschichte vergessen. Aber nun nichts als runter und gefrühstückt.«

*

Als in der Schule die Pause kam, regnete und schneite es noch immer. Außerdem pfiff ein scharfer Wind. Darum hatte man den Kindern erlaubt, ihr Frühstücksbrot in den Klassenräumen zu verspeisen.

Henrik hatte das Brot und den Apfel ausgepackt, den seine Mutti ihm mitgegeben hatte. Er stellte sich damit ans Fenster und blickte hinab in den Schulhof, der an diesem Tag wie ausgestorben dalag. Ein sehr ungewohntes Bild, fand der Junge. Aber da entdeckte er plötzlich das Mädchen im hintersten Winkel des Schulhofs.

Nein, zuerst entdeckte Henrik nur einen roten Fleck. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, um besser sehen zu können, und stellte fest, es war ein Kind in einem hellroten Pullover und schwarzen Hosen. Es hatte lange blonde Haare, die an beiden Seiten mit roten Schleifen zusammengebunden waren. Ein Mädchen also, schloss Henrik messerscharf.

Das Kind stand mitten im Schneeregen, hatte den Kopf an einen Baumstamm gelehnt und bewegte ruckartig die Schultern. Es weint, dachte Henrik erschrocken. Außerdem wird es bald nass sein bis auf die Haut, wenn es in diesem Hundewetter stehen bleibt. Und dann kriegt es einen Schnupfen.

Henrik hatte in Sophienlust schon viele traurige Kinderschicksale miterlebt. Deshalb zog sich sein kleines Herz nun voller Mitleid zusammen. Ich muss ihr helfen, dachte er aufgeregt. Ich muss runtergehen und sie fragen, was ihr fehlt.

Henrik warf seinen angebissenen Apfel und das Brot auf seinen Tisch, schlüpfte in die Windbluse und sauste hinunter in den Schulhof, bevor die Lehrerin ihn zurückhalten konnte. Langsam näherte er sich dem weinenden Mädchen. Er sah, dass dessen schmaler Körper geradezu von Schluchzen geschüttelt wurde.

Henrik blieb stehen und überlegte. Was sollte er bloß zu der Kleinen sagen? Sie sollte nicht denken, dass er neugierig sei. Er wollte ihr wirklich bloß helfen. Schade, dass seine Mutti nicht in der Nähe war. Sie fand in solchen Situationen immer den richtigen Ton.

»Hm!« Henrik räusperte sich. Dann blieb er abwartend stehen.

Aber das Mädchen schien ihn gar nicht gehört zu haben. Es weinte weiter. Das klang so trostlos, dass der weichherzige Henrik am liebsten mitgeweint hätte.

Nun machte er einen Schritt vorwärts und legte vorsichtig die Hand auf die Schulter des Mädchens, dessen Pullover – genau wie er vermutet hatte – patschnass war.

Das Kind fuhr herum und funkelte ihn wütend an. »Was willst du?«, rief es. »Lass mich allein!« Dann presste es beide Hände vor das Gesicht und weinte weiter.

Henrik trat ratlos von einem Fuß auf den anderen. »Nichts will ich von dir«, entschuldigte er sich. »Das heißt, ich wollte dich fragen, ob ich dir nicht helfen kann. Außerdem kriegst du einen Schnupfen, wenn du hier draußen stehen bleibst.«

»Das ist mir egal«, entgegnete das Mädchen schluchzend. »Vielleicht komm ich dann auch in ein Krankenhaus. Das wär mir bloß recht.«

»Was, du willst in ein Krankenhaus?«, rief Henrik entsetzt. »Dorthin geht doch keiner freiwillig. Da muss man immer im Bett liegen, kriegt Sachen zu essen, die man nicht mag – und überhaupt daheim ist es schöner als im Krankenhaus«, schloss er etwas unzusammenhängend.

Das Mädchen ließ die Hände sinken und schaute den Jungen mit seinen blauen, vom Weinen stark geröteten Augen an. »Aber ich will eben in ein Krankenhaus, verstanden?«, rief es. Doch das klang nicht mehr so kriegerisch, sondern eher verzweifelt.

Henrik schaute die Kleine, die er nicht kannte, ratlos an. Vielleicht wohnte sie noch nicht lange in dieser Gegend? Die Kinder seines Alters, die die Volksschule hier besuchten, kannte er doch fast alle. Zumindest vom Sehen.

»Was sagt denn deine Mutti dazu, dass du ins Krankenhaus willst?«, erkundigte er sich diplomatisch.

Das Mädchen schluckte krampfhaft. Dann verkündete es: »Meine Mutti ist gar nicht hier.«

»Hm«, machte Henrik. Diese Antwort war für ihn nicht gerade aufschlussreich. »Wo ist denn deine Mutti?«, nahm er einen neuen Anlauf. Dann schauerte er zusammen. Selbst in seinem gefütterten Anorak fror er noch.

»In einem Sanatorium«, antwortete das Mädchen mit trotzig vorgeschobenen Lippen. »Schon seit ein paar Monaten. Sie hatte eine Lungenentzündung. Und der Arzt hat gesagt, dass sie weg muss. Sonst kommt was an der Lunge oder so. Mutti hat sehr geweint. Sie wollte nicht weg. Meinetwegen, weißt du.«

Henrik merkte, dass die Kleine allmählich aufzutauen begann. Eifrig erklärte er: »Das verstehe ich sogar prima. Meine Mutti würde bestimmt auch nicht wegwollen, wenn Nick und ich daheim bleiben müssten. Wo ist denn dein Vati? Konnte er sich nicht um dich kümmern?«

»Mein Vati ist tot. Schon lange«, antwortete das Mädchen mit tonlos klingender Stimme.

»Das tut mir schrecklich leid«, bekannte Henrik aufrichtig. »Aber komm, wir gehen rein ins Haus. Da können wir auch miteinander reden, werden aber nicht so nass sein wie hier.«

Das Mädchen warf ihm noch einen abschätzenden Blick zu. Dann sagte es: »Meinetwegen.« Zusammen liefen sie auf das Schulhaus zu. Drinnen schlug ihnen eine angenehme Wärme entgegen.

»Ist deine Mutti jetzt noch immer in dem Sanatorium?«, setzte Henrik sein Verhör fort, als sie im Trockenraum waren. Er fand, wenn er dem Mädchen helfen wollte, musste er einiges von ihm wissen.

Die Kleine nickte. »Ja, schon seit ein paar Monaten. Aber sie hat meiner Omi geschrieben, dass sie bald wieder ganz gesund sein und nach Hause kommen wird. Wir wohnen nämlich in München, musst du wissen«, fügte sie erläuternd hinzu.

Doch Henrik schüttelte verständnislos den Kopf. »Wenn deine Mutti schon bald wiederkommt, warum willst du dann in ein Krankenhaus? Warum freust du dich denn nicht auf deine Mutti?«

»Ich freu mich ja!«, stieß das Mädchen unglücklich hervor. »Aber ich wohne doch, bis meine Mutti heimkommt, bei meiner Omi. In Bachenau. Und meine Omi ist nun auch krank geworden.«

Allmählich begann Henrik zu begreifen. »Muss deine Omi auch in ein Krankenhaus?«, erkundigte er sich.

Die Kleine nickte abermals heftig.

»Und du willst, dass du mit ihr gehen kannst? Ist deine Omi denn schlimm krank?«

Die blauen Augen des Mädchens füllten sich erneut mit Tränen. »Ganz schlimm sogar. Ich hab es bisher nicht gewusst, und meine Omi auch nicht, glaub ich. Aber heute Morgen, da kam der Arzt schon ganz früh. Ich hab gehört …, ich hab gehört …«

Die Kleine schluchzte so heftig, dass sie nicht weitersprechen konnte. Schüchtern streichelte Henrik ihren Rücken. Er wagte es nicht, das Mädchen jetzt anzusprechen.

Allmählich beruhigte sich die Kleine wieder und fuhr fort: »Da hab ich gehört, wie der Arzt zu der Nachbarin gesagt hat, dass es meiner Omi sehr schlecht geht, dass sie vielleicht nie mehr ganz gesund wird. Und dass sie heute noch ins Krankenhaus muss. Oder spätestens morgen.«

Henrik nickte verständnisvoll. »Da hätt ich auch geheult – ganz bestimmt«, versicherte er. »Aber vielleicht können die Ärzte deine Omi doch wieder gesund machen«, meinte er gleich darauf tröstend.

Das Mädchen schaute ihn traurig an. »Aber was soll ich jetzt machen? Wo soll ich denn hin, wenn sie meine Omi wegbringen? Sie lassen mich doch bestimmt nicht allein in Omis Haus wohnen. Und bis meine Mutti kommt, was soll ich denn da machen?«

»Das ist gar kein Problem«, behauptete Henrik. »Du kommst ganz einfach zu uns. Das heißt …« Er runzelte die Stirn. »Ich muss erst noch mit meiner Mutti darüber sprechen. Aber die nimmt dich ganz bestimmt. Also, ich futtere einen Besen samt Stiel, dass sie dich nimmt.«

Das Mädchen hatte ihn mit großen Augen gemustert. »Ich soll zu euch nach Hause kommen?«, fragte es ratlos. »Das geht doch nicht, dass du so einfach fremde Kinder mit nach Hause bringst. Deine Mutti wird bestimmt schimpfen.«

Henrik grinste. »Meine Mutti bestimmt nicht«, versicherte er im Brustton der Überzeugung. »Und dann bring ich dich ja auch nicht in unser Haus, sondern nach Sophienlust. Hast du noch nie etwas von dem Kinderheim Sophienlust gehört?«

»Doch, natürlich«, antwortete das Mädchen eifrig. »In meiner Klasse sind zwei Kinder von Sophienlust. Sie haben gesagt, es gefällt ihnen prima dort. Auch im Tierheim Waldi. Dieses Haus gehört doch einem Tierarzt und seiner Frau, nicht wahr? Und die sind irgendwie mit den Leuten in Sophienlust verwandt.«

Henrik lachte übers ganze Gesicht. »Dann weißt du ja schon Bescheid!«, rief er. »Ich bin also Henrik«, stellte er sich vor und machte sogar einen kleinen Diener vor dem Mädchen. »Meinem Bruder Nick wird das Kinderheim einmal gehören, wenn er groß genug ist, um es selbst zu verwalten. Und das Tierheim mit all den vielen Tieren, das gehört meiner Schwester Andrea. Und Hans-Joachim, das ist ihr Mann. Die beiden haben auch ein Baby. Es ist furchtbar süß und heißt Peter. Aber wir sagen alle Peterle.«

Es war ein bisschen viel auf einmal gewesen, was die Kleine da zu hören bekommen hatte. Doch das Wichtigste hatte sie verstanden. »Du meinst also, dass ich nach Sophienlust kommen könnte?«, fragte sie eifrig. »Dass deine Mutti nichts dagegen haben würde? Ich heiße Martina. Martina Geldner. Aber meine Mutti und meine Omi sagen alle Tini zu mir. Wann sprichst du mit deiner Mutti? Heute noch?«

»Gleich nach der Schule«, versprach Henrik. In diesem Moment läutete es. Die Pause war zu Ende.

Als Henrik in seine Klasse zurückgekehrt war, überlegte er, dass es eigentlich doch gut gewesen war, dass er an diesem Tag nicht krank gefeiert hatte, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Sonst hätte er Tini ja nicht helfen können.

*

Mit dem roten Schulbus fuhr Henrik nach dem Unterricht nach Sophienlust. Es war beinahe selbstverständlich für die beiden Brüder Nick und Henrik, dass sie die Nachmittage zusammen mit den Kindern von Sophienlust verbrachten. Dort war ja auch ständig etwas los. Es gab so viel Unterhaltung, dass es manchmal Mühe machte, die Hausaufgaben zu erledigen.

Der Bus war noch nicht richtig zum Stehen gekommen, da riss Henrik bereits die Tür auf und sprang hinaus. »Hoppla!«, rief der Fahrer mit erschrecktem Gesicht hinter ihm her. »Das sollt ihr doch nicht machen. Wie schnell ist etwas passiert! Und ich mach mir dann mein Leben lang Vorwürfe.«

»Es kommt bestimmt nicht wieder vor«, schrie Henrik über die Schulter zurück und sauste schon ins Haus hinein. Er rannte auf die Tür des Büros zu und riss sie auf. »Ist meine Mutti da?«, erkundigte er sich mit roten Backen bei Frau Rennert.

Die schüttelte verwundert den Kopf. »Nein, deine Mutti war heute noch nicht da«, gab sie Auskunft. »Sie wird heute erst am Nachmittag von Schoeneich herüberkommen. Warum? Ist etwas passiert, Henrik? Kann ich dir vielleicht helfen?«

Mit wichtigem Gesicht schüttelte der Junge den Kopf. »Ich hab etwas mit meiner Mutti zu besprechen«, erklärte er würdevoll. »Etwas Wichtiges.«

»Aha«, bemerkte Frau Rennert und verbiss sich das Lachen. »Dann kann ich natürlich deine Ungeduld verstehen. Geh nur schon rüber in den Speisesaal zum Mittagessen. Bis ihr mit dem Essen fertig seid, wird deine Mutti wahrscheinlich da sein.«

»Hm«, machte Henrik und verließ mit nachdenklichem Gesicht das Büro. Sein Gesicht war noch immer sehr nachdenklich, als er mit dem Löffel in seiner Suppe herumrührte.

Nick, der neben seinem kleineren Bruder saß, erkundigte sich grinsend: »Na, was hast du denn für weltbewegende Probleme in deinem Kopf herumzuwälzen? Habt ihr in der Schule heute Morgen einen neuen Buchstaben gelernt?«

Henrik schaute seinen Bruder mit funkelnden Augen an. »Du weißt genau, dass ich längst das ganze ABC kann. Ich kann sogar schon allein lesen. Du brauchst gar nicht so großspurig zu tun!« Wütend schaufelte er die Suppe in sich hinein.

»Na, Kleiner, so böse war’s doch gar nicht gemeint«, versuchte Nick den Bruder zu besänftigen.

Aber Henriks Augen funkelten noch immer wütend, als er antwortete: »Immer machst du dich darüber lustig, dass ich jünger bin als du. Da für kann ich doch nichts. Oder bin ich schuld daran, dass du früher auf die Welt gekommen bist als ich?«

Nick runzelte die Stirn. Dann erklärte er: »Nein, dafür kann keiner etwas. Genauso gut könntest du sieben Jahre älter sein als ich. Ich geb zu, die Frotzelei vorhin war blöd von mir. Bist du mir wieder gut?«

Mit sehr viel Würde schüttelte Henrik die dargebotene Hand seines Bruders. »Alles wieder in Ordnung«, verkündete er. Dann nahm er sich einen zweiten Teller Suppe.

»Du, ich wär da mal vorsichtig«, riet Nick ihm. »Iss nicht so viel Suppe, sonst kriegst du den Nachtisch nicht mehr runter.«

»Pudding kann ich immer noch essen«, behauptete Henrik. »Auch wenn ich bis zum Platzen voll bin.«